11

 

Wie jedes Mal, wenn sie den Friedhof betrat, schnürte es ihr die Kehle zu. Jeder Schritt fiel ihr so schwer, als hätte sie tonnenschwere Bleigewichte unter den Füßen und trotzdem drängte es sie an diesen Ort. Sie schritt den langen, geraden Sandweg zwischen Eichen und Buchen hindurch, die ihre jungen Knospen dem Himmel entgegenstreckten. Die Sonne blinzelte zwischen den Zweigen hervor und verzauberte die kleine Grabstätte, die Noel jetzt erreichte, in ein Spiel aus Licht und Schatten. Das hätte Amelie gefallen. Fast hörte sie ihr herzliches Lachen.

Noel kniete sich vor das Grab und schloss die Augen. Vor ihrem inneren Auge tanzte Amelie, lachte und sprang zwischen den Bäumen umher, strahlte ihre ganze Lebensenergie aus dem kleinen Körper. Eine Kraft, der Noel kaum hatte standhalten können. Es war nicht selten gewesen, dass Noel sich mit ihr zusammen ins Bett gekuschelt hatte, während sie ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte und erst spät in der Nacht wieder aufgewacht war. Mit an den Bauch gezogenen Beinen hatte sie dann in dem kleinen Kinderbettchen gelegen, ein Arm, manchmal auch ein Bein von Amelie quer über dem Gesicht. Trotz der verbogenen Beine, die sie kaum noch hatte rühren können, war es zu schön gewesen, um aufzustehen.

Noel würde ihr eigenes Leben geben, wenn sie nur noch ein einziges Mal einen dieser Momente erleben dürfte. Sie krümmte sich vor Schmerz und weinte, schluchzte, stöhnte. Eine Zeitlang hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, dass der Schmerz nachlassen oder zumindest erträglicher werden könnte. Inzwischen, nach nunmehr über vier Jahren, wusste sie es besser. Dieser Schmerz, diese innere Qual, die ihr tagtäglich das Herz in Stücke riss, würde niemals geringer werden. Und das wollte sie auch nicht, denn das würde heißen, dass die Erinnerung an ihre kleine Tochter verblassen würde. Um nichts in der Welt würde sie das zulassen.

Seufzend richtete sich Noel auf, küsste den bunten Blumenstrauß, den sie auf dem Weg zum Friedhof besorgt hatte, und legte ihn auf das Grab.

„Ich bin deinen Mördern auf der Spur, mein Engel. Mami wird keine Ruhe geben, bevor nicht jeder seine verdiente Strafe bekommen hat.“ Sie stand auf. „Ich werde dafür sorgen, dass niemandem mehr dasselbe passieren kann, was dir geschehen ist.“ Sie stockte, schluchzte und rang um Fassung. „Ich habe dich lieb, mein Engel. Auf immer und ewig.“

Dann drehte sie sich um und ging mit großen, eiligen Schritten den Weg zurück. Auch wenn hier nur Amelies sterbliche Überreste lagen, war es ihr doch jedes Mal, als müsse sie ihre Tochter aufs Neue zurücklassen. Sie allein lassen, wo sie nicht auf sie aufpassen konnte. Genau wie damals, als es geschah.

 

Eilig zog Marc den Kopf hinter dem Baum zurück, als sie sich umdrehte und sichtbar aufgewühlt das Grab verließ. Er fühlte sich dreckig bei dem Gedanken, ihr gefolgt zu sein. Schließlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie, nach dem er sie vor dem Tiefparterre erwischt hatte, auf den Friedhof fahren würde. Tatsächlich hatte er sie einen Moment lang verdächtigt. Die gerade beobachtete Szene ließ den Gedanken jedoch ins Wanken geraten.

Er sah, dass Noel in ihr Auto stieg und davon fuhr. Erst dann kam er hinter dem Baum hervor und trat an das Grab heran, an dem sie sich eben die Seele aus dem Leib geweint hatte. Wie gerne hätte er sie tröstend in den Arm genommen, aber das lag so fern, wie nichts anderes auf der Welt. Vor dem Grabstein hielt er inne und las die Inschrift. Amelie Mendel *6.6.1999, *17.10.2002 In ewiger Liebe, Mami.

Marcs Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ihm schwante, dass es nicht irgendein Mädchen war. Noel selbst war diese ‚Mami’. Das würde vieles an Noels Verhalten erklären. Was allerdings nicht unbedingt bedeuten musste, dass sie nichts wusste.

Er schüttelte den Kopf und beschloss das Internet zu durchforsten. Vielleicht hatte er Glück und würde etwas über sie herausfinden. Der Tod eines so kleinen Mädchens könnte Schlagzeilen verursacht haben.

Diese Suche erwies sich als schwieriger, als er erwartet hatte. Seit Stunden gab er einen Suchbegriff nach dem Anderen ein. Über die Familie Thalbach fand er mehr Berichte, als ihn interessierten. Meist ging es um die Eltern des Schleimscheißers. Mal als großzügige Spender im hiesigen Golfclub, mal als Veranstalter verschiedener Fortbildungen, aber nichts von wirklichem Interesse.

Marc reckte sich und rieb sich über die Schläfen. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass sein Magen zu Recht knurrte. Eine kleine Pause könnte nicht schaden. Er aß zwei Scheiben Brot, trank ein Bier und schmeckte nichts davon. Mechanisch schob er sich das Essen in den Mund und schluckte es hinunter. Seine Gedanken kreisten noch immer um Noel und das Mädchen. Das Mädchen, verdammt, wieso hatte er daran nicht gedacht? Er war von vornherein davon ausgegangen, dass sie ihre Tochter gewesen war, und hatte den Namen vollkommen ausgeblendet. Aber nein. Auf dem Grabstein stand nicht Amelie Thalbach. Es stand Amelie Mendel.

Marc sprang so hastig vom Stuhl auf, dass derselbe gegen die Wand prallte und umkippte. Wieder stellte er eine Verbindung zum Internet her und gab dieses Mal den Namen Amelie Mendel ein. Auf Seite drei der Suchmaschine wurde er für die Hartnäckigkeit belohnt.

Seiten über Amelie Mendel wurden angezeigt, aber auch der Name Noel Mendel tauchte auf. Marc atmete tief durch. Amelie war also tatsächlich ihre Tochter gewesen und er würde nicht aufgeben, bevor er herausgefunden hatte, was geschehen war.

Der erste Bericht, den er öffnete, war sogleich ein Volltreffer, wenn auch ein sehr trauriger. Marc stützte sich gebannt mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich zum Monitor vor. Mit jedem Satz, den er las, fügte sich ein Teil des Puzzles ein. Amelie Mendel verstarb, nachdem sie im Kindergarten von einem Spielgerüst aus einem Meter Höhe gestürzt war.

Marc las weiter und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Das Mädchen wäre sofort bewusstlos gewesen. Noch bevor die Mutter in der Klinik eintraf, hatten Hirnblutungen eingesetzt. Tagelang lag das Mädchen im Koma. Nachdem die Überlebenschancen hoffnungslos waren und dringend zwei Spendernieren benötigt worden waren, hatte die Mutter der Organspende zugestimmt.

Marc seufzte und senkte den Kopf. „Mein Gott“, murmelte er. Er schloss die Seite und öffnete eilig die Nächste, denn ein fester Verdacht trieb ihn voran. Ein weiterer Bericht zeigte ein Bild von der Beerdigung. Marc stockte der Atem. Die Frau auf dem Bild glich nicht der Frau, die er als Noel kannte. Diese Frau hatte gute zehn Pfund mehr auf den Rippen als Noel und trug kurze blonde Haare. Marc vergrößerte das Foto und betrachtete sie genau. Er schluckte schwer. Diese Augen. Ja, es gab keine Zweifel. In diese Augen hatte er schon hunderte von Malen geblickt. Mindestens genauso häufig hatte er sie verflucht, weil er sie vor dem Einschlafen nicht aus dem Kopf kriegen konnte. Das war Noel, ganz eindeutig. Das war die Frau, die er geküsst und geschmeckt hatte. Wie ein saftiger Pfirsich, erinnerte er sich und wünschte, er dürfte mehr von dieser süßen Frucht kosten.

Er schüttelte den Kopf, wie um diesen absurden Gedanken loszuwerden. Eine Beziehung kam nicht in Frage. Nicht bei dem, was er vorhatte. Ganz unmöglich eine Frau da mit hineinzuziehen. Schon gar nicht diese Frau, die schon unendlich gelitten hatte und noch immer litt. „Ich muss vollkommen bescheuert sein“, sagte er sich selbst laut. Was spann er sich da eigentlich zurecht? Sie war verheiratet! Noch dazu mit diesem Schleimscheißer. Zumindest schien er nicht der Vater ihrer Tochter zu sein. Jedenfalls wurde sein Name nirgendwo in ihrem Zusammenhang erwähnt. Wann war er wohl in ihrem Leben aufgetaucht? War sie da noch die etwas griffigere Blondine oder schon das unnahbare Etwas mit den schwarzen Haaren, wie er sie kannte? Plötzlich sah er sie mit anderen Augen, als zuvor. Natürlich, das schwarze Haar war viel zu ungewöhnlich für ihre blauen Augen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass sie blond sein könnte, aber genau danach sah es aus. Als hätte ihm jemand die Antwort ins Gesicht geschlagen, stöhnte er auf. Noel hätte niemals der Organentnahme ihrer Tochter zugestimmt, wenn der Hirntod nicht bereits festgestellt worden war und davon stand nichts im Bericht. Marc zählte eins und eins zusammen und schon war ihm klar, was die tatsächliche Todesursache gewesen sein musste.

Und jetzt tauchte Noel als Krankenschwester in genau dieser Klinik auf, nach Jahren, mit geändertem Äußeren und einem neuen Namen.

 

Zitternd vor Wut, Enttäuschung und der verdammten Migräne saß Noel auf der Bettkante und begriff nicht, was um sie herum geschah. Wieso sah Ralf nicht, wie dreckig es ihr ging? Stattdessen fiel er ihr in den Rücken. Er zog das Hemd aus, ließ es achtlos fallen und öffnete die Hose, um sie dem Hemd folgen zu lassen.

„Guck mich nicht so vorwurfsvoll an, Noel. Du weißt, wie oft ich dich gebeten habe, in meiner Praxis zu arbeiten.“ Er setzte sich auf seine Bettkante und ließ sich ins Kissen sinken. Ohne Decke entblößte er seine Brust, die schon seit Jahren keinen Sonnenstrahl mehr gesehen hatte. Wie auch, wenn er mehr als vierzehn Stunden am Tag arbeitete? Er nahm das Buch, das er auf dem Nachtschränkchen liegen hatte, und schlug es auf.

Noel spürte, wie sich in ihrem Bauch Einsamkeit ausbreitete. Es war nicht nur, weil sie wütend war und sich unverstanden fühlte. Da war noch mehr. Beziehungsweise, da war etwas nicht mehr da. Etwas, das in einer Ehe aber da sein sollte. Wann hatte er sie zum letzten Mal liebkost, in den Arm genommen oder einfach nur ihre Liebe erwidert, die sie ihm immer wieder zeigte? Jetzt hielt er nicht einmal mehr zu ihr, wenn sie ihn brauchte.

„Wie kannst du ein Buch lesen? Merkst du nicht, dass ich dich zum Reden brauche?“

Er legte das Buch zur Seite und sah sie an. „Solange du nicht auf mich hörst und kündigst, kann ich dir nicht helfen.“

„Was hat meine Arbeit damit zu tun? Ich habe mich mit Bajona in den Haaren gehabt. Soll ich etwa wegen einer Person das Handtuch schmeißen?“

„Mit Bajona hat das in der Tat nichts zu tun. Du gehst an dem Job kaputt und du weißt genau, weshalb das so ist.“

„Nein, aber ich bin sicher, du wirst es mir verraten.“

„Weil du denkst, du könntest deine Seele heilen, wenn du im OP Menschenleben rettest.“ Er stand auf und wurde lauter. „Den Tod deiner Tochter kannst du damit nicht ungeschehen machen.“ Er schüttelte den Kopf, als würde er ihr Verhalten nicht nachvollziehen können. „Dass sie einen tödlichen Unfall hatte, ist tragisch, aber deine Arbeit wird daran nichts ändern.“

Noels Herz raste immer schneller. Ob er sie verstehen würde, wenn er wüsste, worum es ihr tatsächlich ging? Sie hatte darüber nachgedacht, ihm die Gründe zu gestehen. Aber dieses einfühlsame Plädoyer, das er gerade gehalten hatte, traf sie so schmerzhaft, dass sie schwieg. Sie stand auf, starrte aus dem Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Dass Ralf das Schlafzimmer verlassen hatte, bemerkte sie erst, als er es wieder betrat.

„Ich schließe aus deinem Verhalten, dass du nicht gewillt bist, dich länger mit mir zu unterhalten?“, sagte er und zog sich wieder an.

„Ich brauche dich“, sagte sie unter Tränen mit ihm zugekehrten Rücken. Sie hörte, dass er auf sie zukam, und erschrak trotzdem, als er ihr die Hände auf die Schultern legte und sie streichelte.

„Und ich brauche dich. Trotzdem halte ich es für besser, wenn du heute Nacht allein bleibst. Denke darüber nach, was dir wirklich wichtig ist. Ich werde in der Praxis schlafen.“ Er ließ ihre Schultern los und wandte sich ab, ohne auf ihr Schluchzen zu reagieren. „Morgen bin ich zurück.“

Noel drehte sich nicht mehr um. Wütend schmiss sie sich aufs Bett, nachdem sie ihn mit dem Wagen das Grundstück verlassen sah. Am stärksten ärgerte es sie, dass er versucht hatte, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden. War sie tatsächlich die schlechte Ehefrau, ohne es zu bemerken?

Sie drehte sich auf die Seite und kam zu dem Entschluss, dass dem nicht so war. Wann immer es ihr möglich gewesen war, hatte sie um Zuneigung und Zärtlichkeiten gefleht und sie ihm im Gegenzug nicht nur angeboten sondern auch gegeben. Nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen.

 

Auch das noch, dachte Noel, als sie am nächsten Morgen in der Klinik ankam und Marc in die Arme lief. Sie senkte den Blick, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen und drängte sich an ihm vorbei ins Stationszimmer.

„Noel?“

Sie drehte sich um und stellte fest, dass er ihr gefolgt war. „Was gibt es?“

„Ähm.“ Er kratzte sich das glatt rasierte Kinn. „Hast du die Akte von dem Blindarmpatienten?“

Sie beugte sich hinunter zur Schreibtischschublade und ging das Alphabet durch. Ohne ihn anzusehen, reichte sie ihm die geforderten Unterlagen und widmete sich weiter den Akten. Er füllte die Kartei aus und legte dann die Akte zurück an den vorgesehenen Platz in der Schublade. Wollte er sich einschmeicheln? Noel registrierte das, obwohl sie sich nichts anmerken ließ. Er war doch sonst nicht so rücksichtsvoll. Anstatt zu gehen, lehnte er sich gegen den Schreibtisch, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Noel spürte seinen Blick in ihrem Rücken.

„Hat das einen Moment Zeit?“

„Die Arbeit erlaubt keine Verzögerung.“ Wann würde er sie endlich in Ruhe lassen? Das Letzte, was sie brauchte, war mit ihm allein zu sein. Sie spürte, dass er sie taxierte und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Katharina kann das übernehmen. Wir müssen reden, Noel. Bitte.“

„Müssen wir nicht“, antwortete sie, ohne ihn anzusehen. „Ich will nicht mit dir reden.“ Sie hörte ihn ausatmen und war erleichtert, dass sie es fertig gebracht hatte, ihm die Grenzen zu zeigen.

„Es ist nicht so, wie du denkst.“

„Ach, was denke ich denn?“ Tolle Grenzen hatte sie ihm gezeigt.

„Darüber will ich ja mit dir sprechen.“ Er fasste an ihr Kinn und zwang sie ihn anzusehen. Fest und bestimmend war sein Griff, warm und zärtlich fühlten sich seine Hände an. Die Gefühle, die sich in ihrer Körpermitte ausbreiteten, waren gefährlich und mussten unbedingt und sofort verhindert werden. „Du hast geweint, nicht wahr?“

Konnte er in sie hineinsehen? Meine Güte nochmal, wieso sah er Dinge, die Ralf nicht einmal bemerkte, wenn sie um seine Aufmerksamkeit schrie? Sie drehte den Kopf zur Seite und befreite sich aus seinem Griff. „Was nicht heißt, dass ich deshalb aufgeben werde.“ Sie stieß mit dem Zeigefinger gegen seine Brust, seine überraschend feste Brust. „Nimm dich vor mir in Acht. Es ist mir egal, was du von mir denkst, ich werde mich nicht von dir unterkriegen lassen.“

 

Welch Segen, dass Dr. Dräger sie gebeten hatte ihm zu assistieren. Sie mochte den älteren Doc mit dem weißen Haarkranz und dem fröhlichen Blick, der alles zu sehen schien. Vergessen war sein verwirrter Zustand, in dem er sich befand, als sie ihm vor der Pathologie begegnet war. Immer war er für einen lockeren Spruch zu haben, nie ließ er durchblicken, dass er sich für etwas Besseres hielt. Nur in einer Sache war er verbissen. Sein dienstliches Verhältnis zur Oberschwester ging so tief, dass er sich von niemandem außer ihr assistieren ließ. Umso stolzer war Noel, dass er sie ausgewählt hatte, ihre Krankenvertretung zu übernehmen. Davon abgesehen hätte Noel auch mit dem Teufel vorlieb genommen, wenn sie dadurch dem Arbeitstag mit Marc entkommen konnte. Zum Glück hatte sie ihn kein weiteres Mal an diesem Tag sehen müssen, was die Gedanken an ihn leider nicht mit einschloss.

Noel versorgte gerade die letzten chirurgischen Instrumente und schob sie zum Sterilisieren in den Autoklaven als Dr. Dräger sich für die Zusammenarbeit bedankte. Sie stellte die Sterilisierzeit ein und wandte sich ihm zu. In seinen Händen hielt er mehrere Fachzeitschriften.

„Nicht zu danken. Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihnen zu arbeiten. Nach all Ihren Erklärungen sollte ich die nächste Appendektomie allein hinkriegen.“

„Würden Sie sich das zutrauen?“, fragte er und sah dabei ernst aus.

Noel lachte. „Vielleicht besser, dass das nicht zur Debatte steht.“

Er legte den Kopf schief. „Ich würde es Ihnen zutrauen. Wie sieht es aus, trinken Sie zum Abschluss des Tages einen Kaffee mit mir?“

„Wie sollte ich so einem verlockenden Angebot widerstehen können?“

Der Kaffee im Aufenthaltsraum sah frisch aus und duftete genau so. Also sparten sie sich den Gang in die Cafeteria. Noel schenkte zwei Tassen ein und reichte eine Dr. Dräger, bevor sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. Sie schwang ein Bein über den anderen Oberschenkel und stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab. Dr. Dräger musterte sie und lächelte.

„Nun sind Sie schon fast ein halbes Jahr hier und trinken das erste Mal eine Tasse Kaffee mit mir. Endlich habe ich einen Grund, Sie hemmungslos auszufragen, wie es Ihnen hier gefällt.“

Noel lachte, obwohl sie nicht recht wusste, wie sie ihm antworten sollte. Sie trank einen Schluck Kaffee. „Ich habe mich sehr gut eingelebt.“

„Tatsächlich?“, fragte er, während er sich über den Tisch beugte und ihre Augen mit seinem Blick fixierte. Dann lehnte er sich zurück und lächelte. „Ich würde es gerne wissen, wenn Sie Probleme haben.“

Sie nickte. „Gut zu wissen, aber bis jetzt gibt es keine Probleme“, log sie und fragte sich, wann diese sich häufende Lügerei begonnen hatte. Inzwischen tat sie es, ohne dass ihr Herzschlag sich dabei beschleunigte. Hoffentlich war an dem Märchen um Pinocchio nichts dran, dachte sie und fasste sich unwillkürlich an die Nase.

„Auch nicht mit Dr. Bajona? Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie nicht immer einer Meinung sind.“

Woher wusste er das? Waren sie etwa Gesprächsthema in der Klinik?

Sie machte eine wegwischende Handbewegung. „Ach das. Nein, kein Grund zur Sorge. Wir sagen beide offen unsere Meinungen, manchmal sind es nicht dieselben.“

„Erzählen Sie mir davon.“

Noel wurde merklich wärmer. Sie mochte Dräger und könnte sich vorstellen, dass er eine Hilfe sein würde, wenn er Bescheid wüsste. Aber nein. Das konnte sie Marc nicht antun. Ihr Verdacht lag seit gestern wieder auf ihm, aber was wenn sie damit falsch lag? Was wenn sie seine berufliche Laufbahn zerstören würde und hinterher erfuhr, dass sie sich getäuscht hatte?

„Da gibt es nichts zu erzählen“, log sie ohne mit der Wimper zu zucken weiter. Bisher war es eine Sache zwischen ihr und Marc und so musste es bleiben, bis sie sicher war. Nicht umsonst hatte sie gestern darauf verzichtet, die Polizei einzuschalten. Sie war drauf und dran gewesen es zu machen, aber dann waren da wieder diese Zweifel. Sie wollte nicht, dass Marc einer der Täter war und solange sie es nicht sicher wusste, würde sie sich bestenfalls lächerlich machen. Also schwieg sie jetzt genauso wie gestern, als sie die Nummer der Polizei gewählt und dann doch wieder aufgelegt hatte.

Dr. Dräger begleitete sie zurück zum Stationszimmer, wo er einen Anruf erledigte, während Noel den Schreibtisch aufräumte, um ihm der Nachtschicht vorbildlich zu übergeben. Als Dr. Dräger das Telefon auflegte, wirkte er wie ausgetauscht. Aus dem eben noch sanften Doktor mit Welterfahrung war ein unruhiges Etwas geworden, das dem Mann zuvor kaum noch glich.

„Ist alles in Ordnung, Dr. Dräger?“

Er nickte und lächelte sie geistesabwesend an, während er bereits eilig das Stationszimmer verließ. „Schönen

Feierabend, Dr. Dräger.“ Sie war sich nicht sicher, ob er das noch gehört hatte. Beim Verlassen des Zimmers fiel ihr auf, dass Dr. Dräger seine Zeitschriften auf dem Tisch vergessen hatte. Sie überlegte, sie liegen zu lassen. Er würde schon zurückkommen. Andererseits könnte sich der Nächste, der vorbei kam, an den Zeitschriften bedienen. Sie fasste sich ein Herz, nahm den Stapel und brachte ihn in sein Büro. Auf dem Schreibtisch herrschte ein heilloses Durcheinander. Sein Arbeitsplatz wirkte völlig anders, als die Ausstrahlung die den Arzt umgab. Sie lächelte über das Chaos. Es hatte etwas Menschliches und entsprach dem Bild des zerstreuten Professors, wie man sich ihn vorstellte. Noel suchte sich ein einigermaßen freies Plätzchen auf der Tischplatte, legte die Zeitschriften darauf und drehte sich, um den Raum zu verlassen.

„Verdammt und zugenäht“, fluchte sie, als sie feststellte, dass sie mit dem Kittel an der Tischkante hängen geblieben war. Der Stapel Zeitschriften rutschte bei der ruckartigen Bewegung des Tisches von der Platte und breitete sich fächerartig auf dem Fußboden aus. Sie bückte sich, um das von ihr verursachte Chaos zu beseitigen. Dabei fiel ihr zwischen den Seiten einer Zeitschrift ein schwarzes Notizbuch auf. Aufgeklappt lag es vor ihr und präsentierte ihr seine dunkelsten Geheimnisse. Noel wollte es zuklappen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Doch dann las sie die Liste mit den Namen ganz langsam, als würde sich ihr Geist dagegen wehren, was sie verbotenerweise in Erfahrung bringen wollte. Noel kniete sich neben das Buch. Sie hielt den Atem an als sie die Namen las. Als ihr bewusst wurde, was sie in den Händen hielt, wurde ihr warm. Die Luft brannte ihr im Hals, breitete sich heiß in ihr aus und ließ die Welt um sie herum verschwinden. In diesem Notizbuch des sanftmütigen Chefarztes lagen all die Geheimnisse dieser Klinik. Gründlich wie ein Schulmeister hatte er Buch geführt. Jeder Name der Patienten, bei denen sie ein Verbrechen hinter dem Ableben vermutete, war ausführlich darin notiert. Jeder!

Noel musste sich am Schreibtisch festhalten, um dem Schwindel nicht nachzugeben, der sie plötzlich überfiel. Sie blätterte mit zittrigen Händen weiter und presste sich die Hand auf den Mund. Übelkeit kroch in ihren Magen und die Kehle herauf. Selbst Amelies Todestag war gekennzeichnet, wie auch die Daten der anderen Opfer. Dazu Notizen über die entnommenen Organe, die sie nicht entziffern konnte, weil sie die Abkürzungen dafür nicht kannte. Das diensthabende Ärzte- und Schwesternteam des jeweiligen Tages war haargenau aufgelistet. Waren das alles seine Verbündeten? Nein, sagte Noel dem Spiegelbild ihres Gesichts in der Fensterscheibe. Das konnte unmöglich sein. Dann wäre die gesamte Klinik involviert und das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Was sollte sie jetzt tun? Überleg, Noel. Denk nach!

Aber sie konnte gar nicht länger überlegen. Die herannahenden Schritte nahm sie erst viel zu spät wahr, um flüchten zu können. Sie konnte gerade noch das Buch zuklappen und auf den Schreibtisch legen, als Dr. Dräger das Büro betrat und sie mindestens ebenso erschrocken ansah wie sie ihn.

„Ich … habe Ihre Zeitschriften zurückgebracht“, verteidigte sie sich mit wackliger Stimme, ehe er sie fragen konnte, was sie in seinem Büro verloren hatte.

„Ich habe sie schon vermisst“, antwortete er, ohne sich hinter die Stirn blicken zu lassen. Ahnte er, dass sie einen Blick in das Buch geworfen hatte? Tobte hinter der ruhigen Fassade seines selbstsicheren Gesichts vielleicht ein heftigeres Beben, als in ihrer Brust? Er ließ sich nichts anmerken. Im Gegenteil. Er kam auf sie zu und fragte: „Geht es Ihnen nicht gut, Noel? Sie sind plötzlich ganz blass.“

Noel mühte sich ein zaghaftes Lächeln ab. „Mir war in der Tat gerade ziemlich schwindlig“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Es geht aber schon wieder.“

„Sie sollten das überprüfen lassen.“

Sie nickte und ließ ihn in seinem Büro mitsamt des Notizbuches zurück.

„Vielen Dank, dass Sie sich um meine Sachen gekümmert haben“, rief er ihr nach. Noel wusste nicht, ob sie Erleichterung oder Sarkasmus in seiner Stimme erkennen sollte.

Übereilig zog sie sich um, verließ die Klinik und versperrte in ihrem Wagen die Türen hinter sich, als würde sie sich so vor der Welt verstecken können. Sie musste überlegen. An das Buch würde sie kaum ein zweites Mal herankommen. Dr. Dräger muss klar gewesen sein, wie unvorsichtig er gewesen war. Entmutigt ließ sie den Kopf sinken und schloss die Augen. Sie konnte nichts tun. Solange sie das Buch nicht an sich bringen konnte, war sie ebenso machtlos wie vor dem Fund. Das Einzige, was sie erreicht hatte, war, dass sie jetzt einen der Mörder kannte. Was sie dabei am heftigsten erschütterte, war die Tatsache, dass es gerade der Arzt war, der ihr am sympathischsten gewesen war. Es ging nicht in ihren Kopf hinein, dass er zu solch grausamen Taten fähig sein sollte.

Noel richtete sich auf und holte tief Luft. Sie musste mit den neuen Erkenntnissen leben und würde ab jetzt wissen, auf wen sie ihr Hauptaugenmerk richten würde. Ich werde dich kriegen und zur Strecke bringen, Mörder!

 

Lustlos strich sich Noel die Bürste durch das schwarze Haar, bevor sie es am Hinterkopf zusammensteckte. Sie rückte näher an den Spiegel heran, sah hinein und zupfte sich an den Seiten einige Strähnen aus der Frisur. Verspielte Locken rahmten ihr Gesicht und verliehen ihr mehr Charme, als ihre Stimmung es zuließ. Eigentlich ein hübsches Gesicht, dachte Noel, trat einen Schritt zurück und betrachtete sich mit etwas mehr Abstand vom Spiegel. Schade, dass es einer anderen Frau gehört. Dieses war nicht die Noel, als die sie sich einst gefühlt hatte, die sie früher einmal gewesen war. Ralf war damals entsetzt gewesen, als sie plötzlich mit schwarzen Haaren vor ihm gestanden hatte. Mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt und nichts mehr gesagt. Die leicht eingefallenen Wangen hatten ihr Gesicht nach und nach zusätzlich verändert. Zum Nachteil, wie sie fand. Schließlich hatte sie sich die zehn Pfund nicht absichtlich heruntergehungert. Die Tragödie, die ihr Leben aus den Fugen gerissen hatte, hatte auch ihre körperlichen Tribute gefordert.

Wie gern hätte sie Ralf die Wahrheit über ihr Ziel gestanden. Sie schämte sich vor sich selbst. Die ganze Lügerei hatte begonnen, als sie sich kennengelernt hatten. Bis heute war ihr nicht klar, weshalb sie ihn damals nicht eingeweiht hatte. Nein, sie hatte sich entschieden, mit allem allein klarzukommen, ihn nicht damit zu belasten. Vor allem hatte sie sich ihm aber nicht mitgeteilt, weil sie sich fürchtete, er könnte sie von ihrem Ziel abbringen.

Sie zog gerade den Kajalstift über ihr Augenlid, als Ralf ins Bad kam. Das weiße, gestärkte Hemd hing ihm lässig über der schwarzen Anzughose. Er knöpfte sich die goldenen Manschettenknöpfe zu, stellte sich hinter Noel und griff ihr an die Taille.

„Jeder Mann auf der Party wird dich vernaschen wollen.“ Im Spiegel sah Noel, wie er sich hinter ihr zu ihrem Nacken beugte. Sie spürte, wie sein warmer Atem ihre Haut streifte, bevor er sie küsste.

„Wir gehen also zu einer Blinden-Party? Sieh dir diese Augenränder an.“

Er ließ die Hände über den schwarzen Seidenstoff ihres Cocktailkleides fahren und verharrte auf dem flachen Bauch.

„Dann greif etwas tiefer in deinen Farbkasten, Baby. Ich will, dass alle mich um meine Frau beneiden.“

Noel lachte sarkastisch. Ralf schob seine Hände höher, umkreiste ihre Brüste und strich mit den Fingern über das tief angesetzte Dekoltee. Noel drehte sich ihm zu.

„Schatz, ich würde wirklich gern zu Hause bleiben. Ich bin hundemüde und bestimmt eine schlechte Gesellschaft für dich.“

Ruckartig ließ Ralf sie los und schritt auf die Tür zu. „Du weißt, wie wichtig mir die Präsenz in der Öffentlichkeit ist. Wichtige Leute werden anwesend sein.“

„Dann geh du.“

Er sah auf die Rolex und dann in ihre Augen. „Wir müssen in zehn Minuten los. Sieh zu, dass du bis dahin fertig bist. Ich will meine Frau an meiner Seite und du weißt, wie wichtig mir das ist.“ Mit den Worten drehte er sich um und ließ sie stehen. Ja, sie wusste, wie wichtig die Öffentlichkeit ihm war. Was sie langsam nicht mehr wusste, war, wie wichtig sie ihm war. Mit jedem Tag wurde ihr deutlicher bewusst, dass sie nur noch aneinander vorbei lebten. Wenn sie ihn nach seinem Tag fragte, antwortete er kurz gebunden und machte sich nicht die Mühe die Zeitung aus der Hand zu legen. Wie ihr Tag war, interessierte ihn überhaupt nicht. Nicht einmal ihre Unzufriedenheit schien er zu bemerken. Selbst dann nicht, wenn sie ihn sprichwörtlich mit der Nase darauf stieß. Manchmal hatte sie das Gefühl, er würde sie nur bemerken, wenn seine Libido nach ihr verlangte.

Noel schminkte sich die Augen dezent und pinselte einen pfirsichfarbenen Lippenstift auf die Lippen.

Was ihr fehlte, war die Leichtigkeit, die sie umgeben hatte, als sie sich kennenlernten. Er hatte so charmant geflirtet, selbst dann noch, als sie frisch verheiratet gewesen waren.

Nach und nach hatte das nachgelassen. Besonders fiel ihr das in der Gegenwart von Marc auf, denn er flirtete auf sehr subtile Weise mit ihr. Überhaupt verhielt er sich seit dem letzten Streit vorbildlich. So sehr sie sich einen Fehler von ihm wünschte, er blieb aus. Er und auch sonst niemand ließ sich etwas zuschulden kommen. Stattdessen kämpfte er um ihre Freundschaft. Dabei war er keineswegs aufdringlich. Er hatte gelernt, wo die Grenzen lagen. Trotzdem war Noel in seiner Nähe stets wachsam. Sie schob es auf das Misstrauen, das er sich verdient hatte. Insgeheim wusste sie jedoch längst, dass es nichts weiter als ein Schutzwall war, den sie sich gegen seine Ausstrahlung aufgebaut hatte.

Je weniger sie an ihn denken wollte, desto häufiger drängte er sich ihr in den Kopf. Sie schüttelte denselben, zog ihren schwarzen Trench Coat über und lächelte ihr Spiegelbild gespielt an.

„Bist du soweit, Baby?“, rief Ralf ihr vom Flur aus zu.

„Ich komme.“