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Marc schlug die Hand auf den Fahrstuhlknopf, als könne er die Ankunft des Fahrstuhls dadurch beschleunigen. Es zerriss ihn förmlich zu warten, bis der Fahrstuhl oben war. Er warf einen Blick auf den Flur, wo der Wachposten bewusstlos lag und sah die Blutspuren, die sich weiter hinten über den Gang verteilt ausbreiteten. Er spürte, wie sein Herz gegen die Rippen hämmerte. Es gab keinen Zweifel. Hier wurde operiert. Sobald sich die Metalltüren aufschoben, stürzte Marc hinein und schlug die Hand auf den Knopf zum Tiefparterre. Er nahm das Handy und wählte die Nummer von Lars, der ohne große Erklärungen verstand und sofort mit einem Team anzurücken versprach. Marc klappte das Handy zu und fühlte, wie ihm Schweißtropfen die Schläfe hinab tropften. Er rannte Richtung OP, sobald der Fahrstuhl unten ankam.

Sein Blick wurde auf die Blutspur gezogen, die sich über den Flur zog, als wäre jemand über den Boden geschleift worden. Marc rannte der Spur nach und riss die Tür auf, hinter der sie verschwand. Entsetzt starrte er auf Dr. Dräger, der gekrümmt auf dem Boden lag, die Augen weit aufgerissen, die Kehle durchtrennt. Ihm konnte er nicht mehr helfen. Wieso war Dräger tot? Marc rannte weiter zum OP, den Gedanken verdrängend, der ihn überfahren hatte, als er Drägers Leiche entdeckt hatte. Er war erleichtert, dass es nicht Noel gewesen war. Scheinbar hatte er sich in Dräger getäuscht, aber darüber würde er später nachdenken.

Die Angst vor dem, was ihn als Nächstes erwartete, raubte ihm die Luft zum Atmen. Es durfte nicht Noel sein. Gott durfte es ihm auf keinen Fall noch einmal antun. Marc kniff die Augen zusammen, hielt die Tränen zurück, die ihm in den Augen standen. Reiß dich zusammen, Marc Bajona. Egal, was jetzt auf dich zukommt, du wirst gebraucht, dachte er. Und er wusste, was auf ihn zukommen würde. Jegliche Selbstberuhigung hatte nicht die Kraft, das auszublenden, was offensichtlich war. Es war Noel, die im OP liegen würde. Marc musste sofort die Gefühle ausblenden und sich beeilen. Falls es noch etwas zu retten gab, dann sicherlich nicht, wenn er zu langsam war.

Hinter sich hörte er eilige Schritte, die sich näherten, und sah erleichtert, dass Lars mit Katharina und einem Anästhesisten angerannt kam.

„Wo bleibt die Polizei?“

„Müssen jeden Moment hier sein“, antwortete Katharina, auf die Waffe in Marcs Hand starrend.

„Los, rein“, drängte Marc in den Waschraum. Ihm wurde übel bei der Vorstellung, welche Keime er in den OP schleppen würde, doch Zeit zum steril machen hatte er nicht. Niemals würde er es sich verzeihen, wenn dadurch die entscheidenden Sekunden verstreichen würden, die ihr Leben hätten retten können. Ohne zu zögern, rammte er die Tür zum Operationssaal mit gezogener Waffe auf. Er musste sie zumindest in Schacht halten, bis die Polizei eintraf.

„Finger weg von der Patientin!“, rief er und hielt die Waffe auf den Chirurgen, der seine Finger in der Wunde hatte. „Los! Alle weg vom OP-Tisch!“

Der Chirurg sah Marc über den Mundschutz hinweg in die Augen und breitete die Hände aus.

„Die Patientin wird verbluten, wenn Sie uns von der Arbeit abhalten.“

Hinter sich hörte Marc, wie die Tür aufgerissen wurde. Im Nu war der OP voller Polizisten, die sich um die Festnahme kümmerten. Das Team beteuerte, dass es sich um den Irrtum eines Wahnsinnigen handeln würde, der sie mit der Waffe bedrohte. Sie sollten ihn festnehmen, bevor die Frau auf dem OP-Tisch ihren Verletzungen erlegen würde, weil sie die Operation unterbrachen. Doch scheinbar hatte Katharina den Notruf mehr als präzise geführt. Sie eilte gemeinsam mit Lars in den OP, beide bereits steril. Katharina hielt Marcs Kittel bereit, sodass er nur hineinschlüpfen musste. Lars band ihm währenddessen den Mundschutz um und hielt ihm die Latexhandschuhe entgegen. Marc streckte seine Finger hinein und ließ sich eine Haube auf den Kopf setzen. Niemand sagte ein Wort. Sie agierten, wie ein Notfallteam handeln musste. Schnell und sauber. Sauber. Das Wort löste einen Anfall von Übelkeit in Marc aus. Wie viele Polizisten schwirrten in dem engen Raum. Mit Uniformen, Straßenschuhen und einem Schwarm von Bakterien hatten sie den Operationssaal betreten müssen und ihn regelrecht mit Keimen verseucht.

Marc biss die Zähne zusammen, als er erkannte, wer die Chirurgen waren. Er würdigte Ralf keines weiteren Blickes und ging auf das Kopfende des OP-Tisches zu. Keine Zeit sich mit Gefühlen aufzuhalten, redete er sich beschwichtigend zu. Er gab sein Bestes, sich von dem Anblick zu lösen, der sich ihm bot. Seine schlimmste Befürchtung war eingetreten.

Noel war die Patientin.

Den Kopf zur Seite gedreht, das Gesicht glänzend, als hätte sie geweint oder unter Schweißausbrüchen gelitten. In ihrem Hals steckte der Endotrachealtubus und ließ sie noch zerbrechlicher wirken.

Marc fühlte sich, als würde sein Herz zerquetscht werden. Alte Erinnerungen drängten sich an die Oberfläche. Erinnerungen, für die jetzt keine Zeit war. Er trat an Noels rechte Seite und versperrte sich jeglicher Gefühle. Er musste vergessen, wer unter seinem Messer lag. Jede Sekunde zählte.

„Katharina! Wir brauchen Verstärkung. Sofort!“ Für den Bruchteil einer Sekunde traf sein Blick auf den von Lars, der die Lage des Messers untersuchte, das aus Noels Rücken ragte. Wie lang mochte es sein?

„Das geht in die Niere, jede Wette“, murmelte Lars.

„Bauchaorta?“, fragte Marc.

Lars schüttelte den Kopf. „Sie hat eine Menge Blut verloren. Aber dann würde sie nicht mehr leben.“

„Vitalfunktionen?“, fragte Marc den Anästhesisten, wandte sich an Katharina und orderte: „Häng ihr noch eine HAES an!“

Sofort kümmerte sich Katharina um die weitere Infusionslösung.

Der Anästhesist meldete: „Ich kämpfe.“

Marc wusste, was das hieß. Er stand kurz davor, Noel zu verlieren. Als er wieder aufsah, bemerkte Marc, dass sie wieder allein im OP waren. Er warf einen Blick auf die zweite Wunde. Noels Flanke lag geöffnet und durch Wundhaken gespreizt vor seinen Augen. Lars tupfte die Wunde trocken und Marc atmete fast erleichtert auf, als er feststellte, dass die Fettkapsel noch nicht präpariert worden war. Weder Nierenvene noch Nierenarterie war abgeklemmt und auch die Harnröhre war noch nicht angetastet.

„Das muss warten. Erst das Messer, sonst verblutet sie uns unter der Hand.“

Ab dem Moment, wo er sich gemeinsam mit Lars um die Verwundung bemühte, ging alles blitzschnell. Die Verstärkung eilte in den OP und kümmerte sich um die Rettung der linken Niere, während Marc mit Lars Hilfe um die Rechte kämpfte.

 

„Dr. Bajona.“ Katharinas Stimme klang eindringlich. „Es reicht. Lassen Sie es gut sein.“

Marc sah für eine Sekunde von Noels zerschundenem Körper auf, traf Katharinas Blick und wich ihr wieder aus.

„Es ist nicht gut“, murmelte er. „Es ist überhaupt nicht gut.“

Auch Lars drängte, endlich Schluss zu machen.

„Marc!“

„Lass mich“, wehrte er ab, ohne ihn anzusehen.

„Mehr kannst du nicht für sie tun.“

„Sie haben Ihr Bestes gegeben, Dr. Bajona.“

Marc schüttelte den Kopf. „Dann wäre das hier niemals geschehen.“ Er konnte den Blick nicht von ihren Wunden abwenden. „Katharina, erledigen Sie die Telefonate, wie besprochen.“

„Das kann jemand anders machen. Ich weiche Ihnen nicht von der Seite.“

Marc sah auf und blickte erst ihr, dann Lars in die Augen.

„Ich möchte es allein beenden!“