7

 

„Kommst du endlich?“

Noel spülte das Zahnputzwasser von links nach rechts durch ihre Mundhöhle, spuckte es ins Waschbecken und wischte sich das Gesicht sauber. Nicht im Geringsten war sie darauf bedacht, sich für ihn zu beeilen. Nicht nachdem, was er aus dem Abend gemacht hatte. Sie bürstete ihr Haar seelenruhig, zog sich ein langes T-Shirt zum Schlafen über und kam erst dann zu Ralf ins Schlafzimmer. Er lehnte mit nackter Brust am Kopfende und sah von seinem Börsenblatt auf.

„Wozu das Shirt?“, fragte er und hob dabei die rechte Augenbraue. „Ich freue mich schon den gesamten Abend darauf, dich endlich zu verwöhnen.“

„Wohl kaum“, antwortete Noel schnippisch, setzte sich auf die Bettkante und stellte den Wecker auf sechs Uhr dreißig. „Du hattest doch nur im Kopf, vor Bajona gut da zu stehen.“

„Hast du PMS oder wie soll ich diesen Spruch verstehen?“

Wütend drehte sie sich ihm zu, lehnte sich zurück und schlug die Decke über die Beine. „Nein, ich bekomme meine Tage nicht. Du solltest wissen, was los ist, oder hörst du mir nie zu?“

Er zog sie in den Arm und lachte. „Du meinst, weil ich Bajona an unseren Tisch eingeladen habe?“

„Ich hatte mich auf unseren Abend gefreut“, antwortete sie schmollend.

„Hey, komm, Baby. Ist dir gar nicht der Gedanke gekommen, dass ich wissen wollte, was er für ein Typ ist? Schließlich hat er das Privileg, meine Frau den ganzen Tag um sich herum zu haben.“ Er küsste sie auf das Haar und wickelte es um seine Finger. „Natürlich weiß ich, dass du lieber mit mir allein gewesen wärst und ihn nicht leiden kannst. Aber versteh doch, dass ich ihn mir näher ansehen wollte.“

Noels Atem beruhigte sich etwas. Das klang einleuchtend. Zugleich bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht so weit gedacht hatte und nur ihre eigenen Interessen im Kopf hatte.

„Und? Was hältst du von ihm?“

„Er scheint kompetent zu sein und unsympathisch finde ich ihn keineswegs.“

„Vielleicht liegt es ja an mir? Wenn du ihn sympathisch findest, sollte ich mich mehr um ein besseres Auskommen bemühen.“ Noel schaltete das Licht aus und rutschte aus Ralfs Arm. Er folgte ihr und schob seine Hände unter ihr T-Shirt.

„Vielleicht liegt es tatsächlich an dir. Trotzdem kann ich es nicht mehr mit ansehen, wie du leidest.“ Seine Hände glitten an ihre Brust und kneteten erst die rechte dann die linke fest durch. Noel schloss die Augen. Sie sehnte sich nach Zuneigung und ihr war klar, dass er gekränkt wäre, wenn er wüsste, dass seine Techniken ihr wehtaten. Sie atmete tief durch, was er scheinbar als Wohlwollen wertete und noch fester zugriff. „Außerdem“, murmelte er. „War nicht zu übersehen, mit was für einem Blick er dich angeschmachtet hat. Du solltest dich vor ihm in Acht nehmen.“ Er riss ihr das Höschen mit einer heftigen Bewegung von den Hüften und schob seine Zunge in ihren Mund. Noel erwiderte den Kuss, bemühte sich aber seine Bierfahne auszublenden. Als er ihren Mund frei gab, lachte sie.

„Wenn du meinst, dass er scharf auf mich ist, kann ich dich beruhigen. Mir gegenüber ist er kälter als ein Eisschrank.“ Noel wurde nachdenklich, als ihr plötzlich seine verletzenden Worte in den Sinn kamen. „Sag mal, Ralf?“

„Hmm?“, fragte er, während er zwei Finger in sie hinein stieß. Überrascht von dieser direkten Attacke hielt sie den Atem an, bevor sie sich wieder entspannte.

„Findest du mich attraktiv? Oder sehe ich bieder aus?“

Er legte sich auf sie und brummte: „Was hast du nur wieder? Ich finde es okay, wie du aussiehst. Das weißt du doch.“

Er fand es okay. Bei diesen Worten kamen Noel die Tränen. Was sie von ihm hören wollte, wusste sie selbst nicht. Aber dieses nichtssagende Wort aus dem Mund ihres Mannes schmerzte stärker als Bajonas Beleidigung.

Um ihren Pflichten als Ehefrau nachzukommen, ertrug sie stillschweigend, dass er sich in sie hineinrammte, als führte er einen Kampf auf Leben und Tod. Sie fragte sich, wer von ihnen beiden sich verändert hatte. War er am Anfang ihrer Beziehung zärtlicher gewesen? Oder hatte ihr dieser raue Sex damals tatsächlich gefallen? Vielleicht war es von beidem ein wenig. Dass sie schon seit einer Ewigkeit keinen Orgasmus mehr erlebt hatte, traf sie nicht sonderlich schmerzhaft. Was ihr wirklich weh tat, war die Tatsache, dass er es nie bemerkt hatte. Sie schloss die Augen und hoffte, er würde schnell fertig werden.

 

Verkrampft hielt sie sich am Waschbecken fest und versuchte sich zu beruhigen. Irgendwie muss ich das jetzt durchstehen, redete sie sich immer wieder ein. Anstatt ruhiger zu werden, wurden ihre Hände immer zittriger, schlug ihr Puls immer schneller, blendeten sich immer mehr grausame Bilder in ihren Kopf. Sie atmete tief durch, drehte den Wasserhahn auf und befeuchtete das Gesicht mit eiskaltem Wasser.

„Alles in Ordnung, Noel?“, hörte sie Bajonas Stimme hinter sich und erschrak, weil sie ihn nicht kommen gehört hatte. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und drehte sich um. Mit einem erzwungenen Lächeln auf den Lippen antwortete sie: „Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.“ Hoffentlich bemerkte er nicht, dass ihre Mundwinkel zitterten.

„Du siehst nicht gut aus.“ Er räusperte sich, als Dr. Retzlaff und Dr. Dräger, denen sie heute assistieren sollte, den Raum betraten. „Ich würde Sie gerne von Katharina ablösen lassen. Im Gegensatz zu Ihnen hat sie aber keine Erfahrung bei der Entnahme von Spendernieren.“

Ich doch auch nicht, wimmerte sie lautlos in sich hinein und verdammte sich für die Lüge, mit der sie ihr Zeugnis verschönert hatte. Sie hatte sich fest vorgenommen, stark zu sein, wenn es so weit kommen sollte. Aber nun hatte sie keine Vorstellung davon, wie sie den Tag überstehen sollte.

„Kein Problem, Dr. Bajona. Wenn ich erst zwei Gelonida geschluckt habe, wird es schon gehen.“

Wieso sah sie nur, dass er ihr nicht glaubte? Unsinn, dachte sie. Es gibt keinen Grund, mir nicht zu glauben.

„Wenn ihr euch endlich klar machen würdet, müsste der Patient nicht ewig auf uns warten. Wo bleibt Katharina?“, fauchte Retzlaff sichtlich nervös. Noel bekam sofort den nötigen Antrieb, die OP durchzuziehen. Wieso wurde er nervös? Sie beschloss, Retzlaff genauer in Augenschein zu nehmen und bereitete sich gedanklich auf den bevorstehenden Eingriff vor.

Katharina kam hinzu, um Noel bei den OP-Vorbereitungen behilflich zu sein. Kichernd beugte sie sich zu Noel und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie und Bajona dazu verdonnert worden wären, ihnen beim Einsatz des neuen Transplantationsinstrumentariums auf die Finger zu sehen. Gemeinsam betraten die beiden Schwestern den OP-Trakt. Noel setzte sich die OP-Haube auf den Kopf und steckte sorgsam sämtliche Haarsträhnen unter den Gummizug, bevor sie sich die Gesichtsmaske um den Hinterkopf band und an das Waschbecken trat. Sie bürstete die Hände, trocknete sie mit einem sterilisierten Baumwolltuch und betätigte den Dosierspender des Desinfektionsmittels mit dem Ellenbogen. Sie verrieb die alkoholisch riechende Lösung auf der Haut und fächerte die Hände durch die Luft, um die Lösung trocknen zu lassen. Katharina hielt Noel den geöffneten OP-Kittel entgegen, in den sie hineinschlüpfte, ohne etwas zu berühren. Sie hielt die Arme hoch und ließ Katharina den Gürtel zubinden. Zum Schluss schlüpfte sie in die sterilen Handschuhe.

Sobald die OP-Tür ins Schloss gefallen war, begannen Noels Knie zu zittern. Als sie den Patienten hilflos und narkotisiert auf dem mit grünen Tüchern abgedeckten Stahltisch liegen sah, wurde ihr für einen Moment so schwindelig, dass sie sich am OP-Tisch mit beiden Händen abstützen musste, bis sie das Gleichgewicht zurück erlangte. Wusste der Patient tatsächlich, dass ihm eine intakte Niere entnommen werden sollte? Oder befand sich Noel bereits selbst als Werkzeug in ihrem eigenen Alptraum? Sie atmete tief durch und rang um die Fassung, die sie brauchte. Sie musste ihren Job durchziehen. Der Patient lag auf der rechten Seite. Der OP-Tisch war so geknickt, dass sich die linke Flanke des Patienten dem Operateur gestreckt darbot.

Dr. Retzlaff tastete den OP-Bereich ab, bevor er das Skalpell ansetzte, um den zehn bis fünfzehn Zentimeter langen Flankenschnitt durchzuführen. Schicht für Schicht arbeitete er sich durch Haut, Unterhautfettgewebe und Muskelschichten hindurch. Dr. Dräger sorgte für ein sauberes Sichtfeld und saugte die Wunde frei. Das schmatzende Geräusch des Saugers ließ Noels Magensäfte rebellieren. Sie sah die Instrumente, die sie den Chirurgen mit zitternden Händen zureichte nur noch durch einen verschwommenen Vorhang. Ihr wurde so übel, dass sie befürchtete, sich übergeben zu müssen. Hilfesuchend sah sie zu Katharina hinüber und traf stattdessen auf den Blick von Bajona, der sie eingehend musterte. Übereilig sah sie wieder auf die Wunde und spürte weiterhin seinen Blick auf sich ruhen.

Sie reichte Dr. Dräger die Instrumente und stützte den Ellenbogen an ihrer Hüfte ab, um das Zittern zu verbergen. In ihren Latexhandschuhen zeichnete sich Schweiß ab.

Als die Fettkapsel der Niere offen vor ihnen lag, verschwamm Noels Sicht hinter einer Tränenflut, die unaufhaltsam aus ihr heraussprudelte.

 

Ihr Verhalten ging ihm nicht aus dem Kopf. Nach dem Abend letzte Woche im Restaurant wünschte sich Marc, dass sie mit all dem tatsächlich nichts zu tun hatte. Er verdammte sich selbst für sein Misstrauen ihr gegenüber. Doch es war ihm ein innerlicher Trieb, sie bei dieser Nierenentnahme zu beobachten. Seine routinierte Assistentin, auf die er sich zu verlassen gelernt hatte. Egal, in welche Tiefen des menschlichen Körpers sie vordringen mussten. Sie hatte nie mit der Wimper gezuckt. Glücklicherweise leitete sein Freund Lars diese OP. Bei seinem einzigen Vertrauten hatte Marc leichtes Spiel, dieser OP als Zuschauer beiwohnen zu dürfen. Wen interessierte, dass er nicht den Eingriff sondern Noel beobachtete. Was genau er erwartete wusste er nicht, aber ihr seltsames Verhalten vor und während des Eingriffes, befreite sie keineswegs von dem Verdacht.

Marc sah ihre zittrigen Hände und erinnerte sich daran, wie sie wirkte, als er vor der Operation mit ihr geredet hatte. Entweder hatte sie tatsächlich extreme Kopfschmerzen oder sie hatte Gewaltiges zu verbergen. Als sie ihn eben angesehen hatte, war ihm als würde sie um Hilfe schreien.

Marc trat vom linken auf den rechten Fuß und ließ den Blick unauffällig über ihre zierliche Gestalt wandern. Ihm war noch nie aufgefallen, wie gut sie gebaut war. Trotz des Kittels, der jeden Modelkörper wie eine unförmige Tonne wirken ließ, formten sich ihre kleinen Brüste reizvoll hervor. Um nicht länger gebannt auf ihren Busen zu starren, sah er in ihre kristallblauen Augen.

Sogleich wurde ihm klar, dass Noel die Arbeit nicht fortsetzen konnte. Vergessen waren all die Beobachtungen, als er die Tränen in ihren Augen sah. Hier stimmte etwas nicht. Was auch immer es war, Noels Gesichtsfarbe war aschfahl. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange ihre Beine sie noch tragen konnten.

Marc wandte sich an Katharina. „Lösen Sie Noel sofort ab.“ Er ging um den OP-Tisch herum und stellte sich hinter Noel, um sie aufzufordern, den Platz für Katharina frei zu machen. Doch es war zu spät etwas zu sagen. Der Haken fiel laut klirrend auf die Fliesen, gefolgt von Noel, die, wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Wäre Marc nicht genau in diesem Moment hinter sie getreten, hätte sie sich auf dem Boden wieder gefunden. Er breitete die Arme aus und fing ihren Fall auf.

Dr. Retzlaff und Katharina sahen auf und nickten Marc stumm zu. Er griff Noel unter die Beine und nahm sie auf den Arm. Er trug sie aus dem OP und wunderte sich, wie leicht sie war.

Auf dem Flur ließ er sie behutsam auf einem leeren OP-Tisch nieder. Rasch besorgte er ein feuchtes Tuch, mit dem er ihr die Stirn kühlte. Er stellte sich an ihre Seite und legte ihr eine Blutdruckmanschette um den rechten Arm. Ihr Oberarm war dünn, fühlte sich aber trotzdem durchtrainiert und fest an. Sie rührte sich nicht, als er die Manschette aufpumpte und den Blutdruck maß. Neunzig zu sechzig. Kein Wunder, dass sie zusammengebrochen war. Was muss nur in ihr vorgegangen sein, dass sie derartig aus den Schuhen gerissen wurde? An die Kopfschmerzen glaubte er nicht. Gewaltige Sorgen mussten auf ihren Schultern lasten. Während er sie ansah und ihre Zerbrechlichkeit ihm deutlich entgegen sprang, zeichnete sich der Wunsch ab, sie in den Arm zu nehmen. Vielleicht brauchte sie jemanden, der ihr zuhörte? Dass ihr Mann dieser Zuhörer sein könnte, stand für Marc nicht zur Debatte.

Er öffnete ihren OP-Kittel und horchte ihr Herz über dem Hemd ab, das sie unter dem Kittel trug. Obwohl er sich eingestehen musste, dass er versucht war, es anzuheben. Natürlich nur, um sie besser untersuchen zu können. Ihr Herzschlag klang beruhigend normal, wenn auch etwas schnell.

Marc sah auf die Uhr und stellte besorgt fest, dass sie bereits über eine Minute ohnmächtig war. In diesem Moment öffnete sie die Augen und sofort wusste Marc, dass ihn das klare Blau, wie durch unsichtbare Fesseln gefangen genommen hatte. Er schluckte und lächelte sie an.

„Wird auch Zeit, dass du wieder auftauchst.“ Mit dem feuchten Tuch als Vorwand streichelte er ihr Gesicht. „Ich zieh dir die verschlafene Zeit von der Mittagspause ab“, sagte er und wunderte sich, wie leise und rau seine Stimme aus seiner Kehle drang.

 

Verschwommen sah Noel Bajonas dunkle Augen über ihrem Gesicht. Ungewohnt liebevoll tätschelte er ihre Stirn mit einem feuchten Tuch. Sie sah auf seine sinnlichen Lippen. Sie bewegten sich und formten Worte, die sie nicht verstand. Wie kam sie in diesen Flur und er an ihre Seite? Binnen kürzester Zeit erinnerte sie sich, dass ihr schwindelig geworden war. Das Letzte, was sie wahrgenommen hatte, war das Klirren des Hakens auf dem Boden, nachdem er ihr aus der Hand gefallen war.

Sie fasste sich an die Stirn und wollte sich aufrichten, doch Bajona drückte sie unerwartet sanft zurück.

„Bleib liegen. Du siehst noch ziemlich blass aus.“ Er pumpte eine Blutdruckmanschette an ihrem rechten Arm auf, die er ihr vorher angelegt haben musste, und überprüfte die Werte. „Hundert zu fünfundsechzig.“ Er ließ den Druck ab und befreite sie von der Manschette. „Das ist immer noch ziemlich niedrig, aber schon besser als eben.“

Er hat also schon einmal gemessen, dachte Noel. „Wie lange war ich weg?“

„Knapp zwei Minuten. Mich interessiert viel mehr, weshalb das passiert ist?“ Beschämt drehte Noel den Kopf zur Seite und sah vor ihrem inneren Auge die offen liegende Niere des Patienten. Sekunden später sollte sie ihm entnommen werden. Alte Schreckensbilder drohten sich an die Oberfläche zu bohren. Tränen drangen ihr erneut in die Augen. Am liebsten wäre es ihr, Bajona würde zu einem Notfall gerufen werden und müsste sie allein lassen. Stattdessen fasste er behutsam mit seinen kräftigen Fingern an ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.

„Was ist mit dir los, Noel?“

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht. So etwas ist mir noch nie passiert.“

„Das wäre aber kein Grund zu weinen.“

„Es ist vollkommen unprofessionell. Ich schäme mich dafür“, log sie und wunderte sich über seine ruhige und durchaus charmante Art. Fast hatte sie das Gefühl einem anderen Menschen gegenüber zu stehen, oder in diesem Fall, zu liegen. Weder ungehobelt noch arrogant wirkte er ehrlich um sie besorgt, was sie zunehmend beeindruckte.

„Das glaube ich nicht. Gibt es Hintergründe, über die du gerne reden würdest?“ Er beugte sich über sie und sah ihr fest in die Augen. „Egal welcher Art. Du kannst mit mir reden. Ich schwöre, dass es unter uns bleibt.“

Noel sah seinen Blick über ihre Lippen wandern, bevor er ihr wieder in die Augen blickte. Innerlich wand sie sich. Im Stillen glaubte sie schon lange nicht mehr an seine Schuld, aber hieße das zugleich, dass er tatsächlich unschuldig war? Sie kannte ihn nicht gut genug. Genauso gut könnte er mit den Verantwortlichen befreundet sein. Wieso sollte er ihr glauben und nicht ihnen? Nein. Das Risiko mit ihm zu reden war zu groß.

„Ich habe wegen meiner Migräne nicht gefrühstückt. Wahrscheinlich sind mir die Kopfschmerztabletten auf leeren Magen nicht bekommen.“ Sie richtete sich auf. „Es geht mir wieder besser.“

Er schüttelte den Kopf. „Du überzeugst mich nicht.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr, als würde er darüber nachdenken, ob er die Frage, die ihm auf der Zunge brannte, stellen sollte oder nicht. „Ist es möglich, dass du schwanger bist?“

Noel lachte sarkastisch. Fast hätte sie wieder geweint. „Das kann nicht sein.“ Auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin reagierte sie nicht. Vielleicht hatte sie ihm zu barsch geantwortet. Das hatte er nicht verdient. Wie hätte er wissen können, welch wunden Punkt er getroffen hatte. Außerdem schmeichelte ihr, dass er besorgt um sie war.

„Entschuldige“, sagte er und wirkte, als würde er es ehrlich meinen. „Es ist nur, weil es mir nicht in den Kopf geht, dass du gerade bei dieser OP zusammengebrochen bist. Du hast mir bei viel dramatischeren Eingriffen standhaft und kompetent zur Seite gestanden.“

Noel stand eilig auf, weil sie auf keinen Fall zulassen wollte, dass die Falle zuschnappte. Genauso eilig musste sie sich wieder setzen. „Mir geht es wohl doch noch nicht so gut, wie ich dachte.“

„Ich habe doch gesagt, dass du liegen bleiben sollst.“ Bajona drehte sich um, holte ein Glas Wasser und reichte es ihr.“ Er beugte sich zu ihr hinab und sah ihr eindringlich in die Augen.

„Danke.“ Sie trank einen Schluck und ließ den Kopf gegen die Wand hinter der Liege sinken.

„Rede mit mir“, drängte er.

„Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.“ Sie war unsicher, ob es gut war, ihn zu duzen. Bisher war sie nie darauf angesprungen, wenn er es tat. Andererseits, wieso nicht? Vielleicht würde sie durch ihn an Antworten herankommen, an die sie allein nicht gelangen konnte. Komischerweise behagte es ihr plötzlich nicht mehr, ihn zu benutzen, aber diesen Gedanken verdrängte sie sofort wieder.

„Nur die Wahrheit, Noel.“ Er nahm Noels linke Hand in seine und drückte sie.

„Ich … kann nicht darüber reden.“ Damit hatte sie mehr gesagt, als sie vorhatte, aber auch mehr erreicht als zuvor. Er stand auf, presste die Lippen zusammen und nickte verständnisvoll.

„Okay. Ich hoffe, du denkst an mein Angebot, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Meinst du, du kannst jetzt aufstehen, ohne dass dir schwindelig wird?“

„Es wird schon gehen. Ich habe noch jede Menge zu tun.“ Sie drückte sich von dem OP-Tisch ab, auf den er sie gelegt haben musste, als sie bewusstlos gewesen war, und ließ sich von ihm aufhelfen.

Er schüttelte den Kopf und lachte. „Glaubst du, beim nächsten Mal stehe ich wieder hinter dir, um dich aufzufangen?“ Er machte noch einen Schritt auf sie zu, legte ihr die rechte Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. „Ich fahre dich nach Hause.“

Noel hatte Mühe sich von seinem Blick zu lösen. Dass seine Augen nicht zu verachten waren, wurde ihr nicht erst jetzt bewusst, aber diesen wahnsinnig intensiven Blick hatte sie nie wahrgenommen. Mein Gott, was tue ich hier?, fragte sie sich. Ich bin eine verheiratete Frau und sollte Ralf und nicht ihn so ansehen.

„Alles klar?“, fragte Marc und riss sie damit aus den Gedanken.

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Ich kann jetzt nicht einfach nach Hause gehen.“

„Zieh dich um! Du bist heute nicht mehr arbeitsfähig.“ Er zwinkerte ihr zu. „Und auch nicht fahrtüchtig. Komm also gar nicht erst auf die Idee, allein fahren zu wollen.“

„Aber mein Wagen …“

„Ich warte schon die ganze Zeit darauf, endlich mal mit deinem SLK fahren zu können.“ Auf seinen Lippen breitete sich ein entwaffnendes Grinsen aus. „Zurück nehme ich mir ein Taxi.“

Da Widersprüche offensichtlich zwecklos waren, ließ sich Noel von ihm Richtung Umkleide drängen. Sie holte ihre Jeans und einen figurbetonenden schwarzen Pulli aus ihrem Spint. Dabei beobachtete sie Bajona und sah, wie sich seine Rückenmuskeln durch sein Shirt zeichneten, während er sich bückte, um ihr die Schuhe aus dem Schrank zu holen.

„Du hast hier eigentlich nichts zu suchen. Wenn Schwester Ursel dich in der Schwesternumkleide erwischt, wird sie kein Erbarmen zeigen.“

Bajona lachte leise, während er sich auf einen Stuhl setzte und das linke Bein über den rechten Oberschenkel schlug.

„Sieh lieber zu, dass du fertig wirst. Dann erwischt sie mich hier auch nicht.“

Noel verschwand in eine der Umkleidekabinen und zog den Vorhang hinter sich zu. Sie beeilte sich, weil sie ihn nicht warten lassen wollte. Außerdem brachte es sie seltsam durcheinander, dass er quasi neben ihr saß, während sie sich auszog. Schnell war sie aus ihrer Klinikkleidung in die Privatsachen geschlüpft. Sie zog sich den Wildlederblazer über, den sie am letzten Wochenende in Hamburg gekauft hatte, und ließ ihr schwarzes Haar offen über den Kragen fallen. „Bin bereit.“

Sein Blick wanderte ohne Scham von oben bis unten über ihren Körper und fing sich in ihren Augen. „Kommst du gut mit den Kontaktlinsen klar?“

„Wie bitte?“ Er hatte es bemerkt. Noel spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten. „Doch, ja. Die ersten Tage war es ziemlich ungewohnt, aber jetzt fühle ich mich viel wohler, als mit Brille.“

Er grinste bestechend. „Das freut mich. Ein anderes Brillenmodel hätte es aber auch getan.“ Er räusperte sich. „Andererseits hast du zu hübsche Augen, um sie hinter einer Brille zu verstecken. Und überhaupt steht dir dein neues Outfit perfekt.“

„Dankeschön“, antwortete sie benommen und wusste nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Schnell kam sie zu dem Entschluss, dass sie sich über sich selbst ärgerte. Schließlich hatte sie sich nicht freiwillig verändert, sondern den Antrieb durch seine verletzenden Worte gefunden. Dumm war nur, dass ihr im Nachhinein bewusst wurde, dass er Recht gehabt hatte. Noch dümmer war, dass sie sich tatsächlich mit ihrem neuen Outfit viel wohler in ihrer Haut fühlte als zuvor.

Marc legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie Richtung Tür. „Du kannst es dir im Arztzimmer auf dem Sofa bequem machen, während ich mich umziehe.“

Noel spürte, wie sie rot wurde. „Ich kann auch im Stationszimmer auf dich warten.“

„Um da jedem zu erzählen, dass ich dich nach Hause fahren werde?“ Er schüttelte grinsend den Kopf. „Kommt nicht in Frage. Außerdem bist du mir noch zu wacklig auf den Beinen. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen.“

Er öffnete die Tür und führte sie über den Flur zum Arztzimmer.

Verlegen ließ sich Noel auf dem Sofa nieder und verschränkte die Arme. Marc holte seine Wäsche aus dem Schrank und verschwand in einem kleinen Nebenraum, um sich umzuziehen.

Leise hörte sie ihn fluchen. „Ich hab es doch eben noch in der Hand gehabt.“

Noel schmunzelte einen Moment und blieb dann wie erstarrt sitzen, den Blick auf seine Brust gerichtet.

„Ich habe mein Hemd vergessen“, sagte er, ging an seinen Schrank und fand es. „Alles in Ordnung?“

Noel versuchte, zu lächeln. „Ja, klar.“ Doch es war nicht in Ordnung. Sie konnte den Blick nicht von seiner braun gebrannten Brust lösen. Kräftig, leicht behaart und sonnengebräunt wirkte sie wie das Bild, das sie sich als junges Mädchen von einem Mann erträumt hatte. Bis auf die Makel, die ihn zwar nicht entstellten, Noel jedoch zum Nachdenken anregten. Über seine gesamte Brust, vom Brustbein bis hin zum Becken, zog sich eine lange senkrechte Narbe. Eine Weitere erstreckte sich vom Schlüsselbein über die Schulter bis zum Rücken.

Noel zwang sich, den Blick abzuwenden, um nicht unhöflich zu erscheinen, stand auf und sah aus dem Fenster. Als sie sich wieder umdrehte, stand er fertig angezogen vor ihr.

„Können wir los? Du siehst aus, als müsstest du dich dringend ins Bett legen. Du bist immer noch ziemlich blass um die Nase herum.“

Im Wagen waren sämtliche beklemmenden Gedanken vergessen. Noel amüsierte sich, während sich Bajona hinter das Lenkrad operierte. Es war eine Herausforderung seine langen Beine in das Auto zu bekommen.

„Hör auf mich auszulachen.“ Er sah sie böse an, lachte dann aber herzhaft. Um die Augen herum zeichneten sich liebenswerte Lachfältchen ab.

„Ich lache dich so lange aus, bis du endlich auf die Idee kommst, den Sitz zurückzuschieben. Ich dachte, Männer erreichen immer, was sie wollen.“

Er beugte sich vor, stellte den Sitz ganz nach hinten und hob befriedigt die Augenbrauen. „Ich wollte dich nur zum Lachen bringen. Natürlich habe ich daran gedacht, den Sitz zurückzustellen.“

„Ja klar“, sagte Noel lachend und fragte sich, wie dieser Mann ihr jemals unsympathisch gewesen sein konnte. Er war so jugendlich und erfrischend, dass sie sich fast wünschte, länger mit ihm unterwegs zu sein.

„Und außerdem …“, er zwinkerte ihr zu, „erreiche ich immer, was ich will.“ Er startete den Wagen und fuhr Noel zu der Adresse, die sie ihm nannte.

 

Zu Hause ließ sie sich sofort ein Melissenbad ein. Seufzend sank sie in den warmen Schaum und versuchte sich zu entspannen. Beinahe hätte sie Marc mit ins Haus gebeten. Seine Nähe hatte ihr unglaublich gut getan. Diese Augen, dachte sie verträumt. Zum Glück hatte er nicht mehr Zeit. Schließlich hatte er ihr bereits seine Mittagspause geopfert und musste zurück in die Klinik. Sie dankte ihm, dass er sich um alles gekümmert hatte und sie niemandem extra Bescheid geben musste. Er hatte sich von seiner besten Seite gezeigt. Durch die Blume hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er immer zufrieden mit ihrer Assistenz war, auch wenn er es sich vorher nie hatte anmerken lassen.

Außerdem hatte er sie aufgefangen, als sie zusammengebrochen war. Diese Tatsache ließ ein undefinierbares Kribbeln in ihren Fingerspitzen entstehen.

Sie schloss die Augen und tauchte den Kopf unter Wasser. Ich muss verrückt sein, dachte sie, bevor sie wieder auftauchte und sich den Schaum aus dem Gesicht wischte.

Er hatte ihre Veränderungen bemerkt und ihr ein richtiges Kompliment über ihre Augen gemacht. Dieser Gedanke berührte sie und wärmte sie innerlich auf. Im selben Gedankenzug ärgerte sie sich über Ralf. Wieso fiel Marc auf, wenn sie sich hübsch machte, Ralf aber nicht? Sollte nicht gerade der eigene Ehemann bemerken, wenn seine Frau sich veränderte?

Noel schüttelte, wütend auf sich selbst, den Kopf und beschloss mit den Vergleichen zwischen Ralf und Marc aufzuhören – wenn sie nur endlich seine dunklen Augen aus dem Kopf bekommen würde.

Nachdem sie Ralf am Abend erzählt hatte, dass es ihr bei der Arbeit nicht gut gegangen war, fühlte sie sich noch schlechter als zuvor. Die ganze Wahrheit ihres Zusammenbruchs ersparte sie ihm. Oder vielleicht auch sich selbst.

Wie konnte sie ihm am Nachmittag nur Unaufmerksamkeit vorwerfen? Er kümmerte sich rührselig um sie, verwöhnte sie, war für sie da. Manchmal fragte sich Noel, ob sie ihn überhaupt verdient hatte. Nachdem er ihr auf dem Sofa die Füße massiert hatte, trug er sie ins Bett. Noel lachte, fühlte sich wie eine Göttin in seinem Arm. Nachdem sie sich ausgezogen hatten und im Bett lagen, zog Ralf Noel an sich.

Er küsste ihren Nacken und murmelte ihr heiße Liebesschwüre ins Ohr. Lächelnd genoss Noel seine Liebkosungen. Dann, als würde ein anderer Mensch sein Handeln steuern, fasste er zwischen ihre Schenkel und stieß, ohne Vorankündigung, in sie hinein.

Noel zuckte vor Überraschung und auch vor Schmerz zusammen.

„Nein!“, blockte sie ihn entschieden ab.

Benommen sah er sie an und fluchte leise.

„Bitte Ralf. Ich hatte einen harten Tag und bin wirklich nicht in Stimmung.“ Sie sah, wie Ralf schluckte, sah, wie er mit ihrer Antwort kämpfte und es tat ihr leid, aber heute würde sie keinen Sex mit ihm ertragen.

Ralf drehte sich auf den Rücken und starrte eine Weile schweigend die stuckverzierte Zimmerdecke an, als würde er darin die Antwort auf Noels Verhalten suchen. Dann drehte er sich ihr zu und strich mit der Hand ihren Arm hinab und langsam wieder hinauf.

„Es tut mir leid, Baby.“

„Du kannst ja nichts dafür.“

Er wickelte ihr Haar um seine Finger und strich zärtlich hindurch. „Ich weiß nicht, was manchmal in mich fährt. Wenn ich dich sehe und berühre, habe ich das Gefühl, ich müsste dich verschlingen. Ich will am liebsten überall gleichzeitig in dir sein.“

Noel legte ihre Hand auf seine Wange. „Ich liebe dich, Ralf.“

„Und ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, dass es mir Angst macht. Ich habe das Gefühl, krank zu werden, wenn ich dir nicht meine ganze Liebe zeigen kann.“

„Ich weiß, dass du mich liebst.“ Sie hauchte einen Kuss auf seine Lippen. „Mir würde es aber etwas ruhiger besser gefallen.“

„Ich tue dir weh, nicht wahr?“, fragte er und Noel konnte die Schuldgefühle, die ihn plagten, in seinen Augen lesen.

Sie nickte. „Manchmal schon. Aber ich liebe dich trotzdem“, fügte sie hinzu und kuschelte sich in seine Arme.