16

 

Es fühlte sich seltsam leer an. Marc ließ den Blick aus dem Fenster über den Parkplatz schweifen. Ihr Auto fehlte. Sie fehlte. Das Namensschildchen an ihrem Spint war entfernt. Katharina saß auf ihrem Platz und erledigte Noels Aufgaben. Oberschwester Ursel schrieb seinen OP-Plan. Das war Noels Aufgabe gewesen.

Schwester Ursel sah auf, als er das Zimmer betrat.

„Da sind Sie ja.“ Sie schlug ihn mit fast schon männlicher Kraft auf die Schulter. „Heute werden Sie mit mir vorliebnehmen müssen.“

Marc schob die Hände in die Hosentaschen und krallte die Finger der rechten Hand um den Kugelschreiber, den er in der Tasche trug.

„Wie komme ich zu dieser außerordentlichen Ehre?“, fragte er, bemüht es begeistert klingen zu lassen.

„Keine Sorge. Morgen sind Sie mich wieder los. Dann kriegen Sie eine neue Assistenz, die Ihnen zur Hand geht.“

Marc grinste, aber seine Hand drohte den Kugelschreiber zu zerbrechen.

„Sie geben Ihren Dr. Dräger wohl niemals auf. Es wird schwer sein, Noels Handfertigkeit zu ersetzen. Wie können Sie es mir antun, mich morgen wieder allein zu lassen?“ Er hatte ihre resolute Art schon immer gemocht. Sie konnte nichts für die Geschehnisse. Doch ihm wurde klar, was er nicht wahrhaben wollte. Er vermisste Noel.

„Niemand ist unersetzbar. Eine fähige, hübsche Schwester wird ihren Platz einnehmen. Ich wette nächste Woche verschwenden Sie keinen Gedanken mehr an Noel.“

Er presste die Lippen zusammen, nickte und machte sich mit dem OP-Plan in der linken Hand auf den Weg zum OP-Trakt. In seiner Rechten, die er noch immer in der Hosentasche vergraben hatte, zerbrach der Kugelschreiber.

 

„Ich muss mit dir reden!“

Noel schloss die Augen. Die linke Hand hielt sie zur Faust geballt, als würde sie sich damit selbst zur Vernunft zwingen, die Rechte hielt das Telefon ans Ohr. Marcs Stimme brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie zu Hause anrufen würde.

„Wann?“, hörte sie sich fragen. Die Kraft ihrer Faust hatte also nicht gereicht.

„Ich habe gerade Feierabend.“

Sofort? Was soll ich anziehen? Sie sah an ihrem Tank-Top und den zerrissenen Jeans hinab. „Ich kann frühestens in einer halben Stunde hier los.“

„Kann ich dich abholen?“ Seine Stimme klang unsicher und leise. Noel überlegte und stellte sich vor, wie sie vor ihrer Haustür zu ihm ins Auto stieg. Überlegte weiter, wie Herr Hansen, der stets gut informierte Nachbar, beim nächsten Pläuschchen über den Gartenzaun mit Ralf tratschte.

„Besser nicht. Wo soll ich hinkommen?“

„Du hast Recht. Wir sollten nicht zusammen gesehen werden. Macht es dir etwas aus, zu mir nach Hause zu kommen?“

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Der Gedanke an ein Date nahm plötzlich Gestalt an und beunruhigte sie. Unsinn, schalt sie sich selbst. Er ist nur vorsichtig.

„Okay.“

„Du wirst aber etwas fahren müssen. Ich wohne in Großensee.“

„So weit fährst du täglich?“, fragte sie und rechnete die Zeit bis zu Ralfs Rückkehr im Stillen durch.

„Wenn es dir zu weit ist, können wir uns woanders treffen.“

„Nein, das ist schon in Ordnung.“

Sie ließ sich die Adresse geben, versprach in einer Stunde bei ihm zu sein und legte auf.

Sie ließ sich seufzend auf den kleinen Hocker vor dem Telefontischchen fallen. Jetzt verhielt sie sich selbst, als hätte sie eine Affäre. Dabei wollte sie Marc nur berichten, dass sie zur Polizei gegangen war und dass sie genau aus diesem Grund fristlos entlassen worden war.

Da war doch nichts bei. Sie wollte lediglich einen Kollegen warnen. Er musste besser aufpassen als sie selbst. Dieses Gespräch war wichtig. Sie musste es führen. Es hatte nichts mit einem Rendevouz oder Ähnlichem zu tun.

 

Ihr Herz pochte ungestüm gegen die Rippen, als sie in die Einfahrt des alten Landhauses einbog. Beidseitig der geschwungenen Auffahrt wucherten auf zwei Pfaden dunkelrote Strauchrosen. Das Haus selbst aus roten, alten Backsteinen verschwand hinter einem malerischen Vorhang aus Efeu und Kletterrosen. Weiß gestrichene Fensterläden unterbrachen den Wildwuchs, gaben dem Haus eine besondere Note. Ganz unmöglich, dass hier ein Mann allein wohnte, dass Marc hier lebte. Sie überlegte, ob sie die Adresse falsch verstanden hatte, doch dann sah sie Marc in der Tür stehen. In beigen Bermudas, einem rötlich gemusterten Polohemd und nassen Haaren kam er auf sie zu.

Sie stoppte den Wagen und stellte den Motor ab. Er öffnete ihre Tür und half ihr aus dem Wagen.

„Schön, dass du hier bist.“

„Ich musste also erstmal gefeuert werden, bevor du mir dein Märchenschloss zeigst.“ Sie reichte ihm die Hand. Eine komische Geste, dachte sie. Wir sind keine Kollegen mehr. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen ihm die Hand zu reichen, als sie noch zusammen gearbeitet hatten. Nur an dem Tag, als die Party gewesen war, hatte sie gespürt, wie fest und selbstsicher sein Händedruck war. Wie gut er sich anfühlte.

Er zog die Augenbrauen hoch. „Wärst du gekommen, wenn ich dich früher eingeladen hätte?“

„Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich jetzt kommen sollte.“

Er lächelte verschmitzt. „Ich dachte mich trifft der Schlag, als du heute nicht zur Arbeit gekommen bist.“ Er führte sie zum Eingang seines verwunschenen kleinen Schlosses, das genau wie die Auffahrt einen verführerischen Rosenduft verströmte.

Als Marc die grüne Holzeingangstür hinter ihr ins Schloss gedrückt hatte, musste Noel sich einen Moment an das Dunkel im Haus gewöhnen, bis sie klar sehen konnte. Sie bestaunte die hohen Decken, die mit dunkelbraunen Holzbalken gestützt wurden. Eichendielen erstreckten sich durch das Haus, soweit sie es bisher einsehen konnte. Der Kontrast zu den weißen Wänden und Decken gefiel Noel.

„Ich hatte ein vollkommen falsches Bild von dir.“ Noel warf einen Blick ins Wohnzimmer, das einfach, aber praktisch eingerichtet war. Ein schwarzes, durchgesessenes Ledersofa, davor ein runder Eichentisch und noch ein dunkelgrüner Ohrensessel aus Leder.

Marc lehnte lässig im Türrahmen zum Wohnzimmer und grinste. „Welches Bild hattest du denn von mir?“

„Darf ich?“, fragte Noel und setzte sich in den Ohrensessel als Marc nickte. Sie lehnte sich bequem zurück und schmunzelte. „Ich weiß nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe mir bei dir immer vorgestellt, dass dein Haus etwas Maskulines ausstrahlen würde.“

Er lachte laut und setzte sich ihr gegenüber auf die Tischkante. „Ich habe das Haus vor ein paar Jahren entdeckt und wusste sofort, dass ich es haben muss.“ Er breitete die Hände aus. „Hier findet mein eigentliches Leben statt und ich liebe mein Zuhause, auch wenn es nicht maskulin sondern nach Rosen duftet.“

Noel stieß ihn mit der Spitze ihrer weißen Mokassins gegen das Schienbein. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Im Gegenteil. Ich würde unser Haus jederzeit mit deinem tauschen.“ Sie schloss die Augen. „Ich konnte mir zwar nie vorstellen, außerhalb der Stadt zu leben.“ Sie atmete tief durch. „Aber ich muss zugeben, seit ich hier bin habe ich das Gefühl, dem Alltag entflohen zu sein. Du bist zu beneiden.“

„Ralf ist zu beneiden“, hörte sie ihn mit kehliger Stimme sagen.

„Marc, bitte.“

Er stand auf und öffnete ein Fenster, sodass der Rosenduft zusammen mit einer milden Brise ins Zimmer drang. Der weiße Vorhang bewegte sich im Luftzug und streifte sanft Noels Arm, als die Luft ihn aufblähte.

„Entschuldige. Möchtest du etwas trinken?“, fragte er und rieb sich die Hände an der Hose. Noel schmunzelte, als sie feststellte, dass er verlegen war.

„Gerne. Ein Wasser.“ Sie folgte ihm in die Küche, wo er aus dem Kühlschrank eine Flasche Evian holte und Wasser in zwei Gläser einschenkte. Noel beobachtete ihn dabei, wie er sich in seinem Haus bewegte. Ihr Blick fing sich an seinen dunklen Beinen mit den schwarzen Härchen. Noel entdeckte noch eine lange Narbe an seinem Knie. Er schien eine Menge erlebt zu haben, dachte sie.

Nachdem er in jedes Glas zwei Eiswürfel fallen gelassen hatte, reichte er ihr eines der Gläser und nahm sich selbst das Zweite.

„Wollen wir auf die Terrasse?“

Sie nickte und folgte ihm zurück ins Wohnzimmer. Durch einen Rundbogen gelangten sie in ein angrenzendes Zimmer. Rechts vom Eingang war ein Kamin in die Wand eingelassen. Davor lag ein flauschiger Teppich, auf dem Unmengen von Kissen lagen.

Noel stellte sich vor, wie Marc hier abends lag und …

Sie wagte nicht weiter nachzudenken, lächelte aber, als er sie über die Schulter hinweg ansah.

„Das lädt zu schmutzigen Fantasien ein, was?“

Noel spürte, wie sie errötete. Schon wieder hatte er ihre Gedanken erraten, als wäre ihr Kopf aus Glas. Andererseits fand sie diesen Spruch unangenehm und aufdringlich.

„Wollten wir nicht nach draußen gehen?“, fragte sie und ignorierte seine Frage.

Er deutete ihr den Weg, vorbei an einer gemütlichen Essgruppe, zur Terrasse. Noel stockte der Atem, als sie hinaustrat.

„Du wohnst wirklich traumhaft.“

„Ich weiß.“

Auf einer aus alten Backsteinen gepflasterten Fläche, die so windschief war, dass Noel aufpassen musste, nicht zu stolpern, standen vier Korbstühle um einen wettergegerbten Teaktisch herum. Eingefasst war die Terrasse zwischen verschieden hohen Rosensträuchern, Lavendel und Fliederbüschen in Weiß, Rosa und Lila.

„Gib‘s zu, du hast einen Gärtner.“

Marc sah in sein Wasserglas und schüttelte den Kopf.

„Ich gebe zu, dass ich im Winter daran gedacht habe, aber ich habe der Versuchung widerstanden.“

Jetzt war ihr klar, weshalb er so braun gebrannt war. Er musste jede freie Minute in seinem Garten verbringen. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf den offenen Ausschnitt seines Polohemdes. Sein dunkles Brusthaar lugte auf der wirklich unverschämt gebräunten Brust aus dem Hemd hervor. Verlegen wandte Noel den Blick ab und erinnerte sich, weshalb sie hier war und speziell daran, weshalb sie nicht hier war.

Als hätte er das Gleiche gedacht, sagte er: „Setz dich und erzähl, was passiert ist.“

Sie zog sich die beige Strickjacke aus, legte sie über die Stuhllehne und nahm Platz. Während Marc einen Sonnenschirm aufspannte, zupfte sie das bordeauxrote Sommerkleid zurecht, für das sie sich in aller Eile entschieden hatte. Sie schlug das linke Bein über das Rechte und entschied sich, das Knie, das durch den Beinschlitz lugte, nicht wieder hinter dem Seidenstoff zu verstecken.

„Ich bin bei der Polizei gewesen.“

Marc sah sie streng an, setzte sich und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, die Hände vor dem Gesicht verschränkt.

„Weshalb hast du nicht vorher mit mir geredet? Ich gehe mal davon aus, dass mein verstorbener Patient der Auslöser gewesen ist.“

„Es hatte nichts mit dir zu tun.“

Marc schüttelte den Kopf. „Das war ziemlich dumm von dir. Wie konntest du glauben, dass so etwas folgenlos bleiben würde?“

„Mir wurde Anonymität zugesichert.“

„Noel, du bist doch sonst nicht so naiv. Glaubst du wirklich, dass ein Organhandel, der über Jahre funktioniert, nur von einem kleinen Chirurgenteam überleben könnte?“ Er trank einen großen Schluck Wasser und stellte das Glas zurück auf den Tisch. Mit den Fingern rieb er Muster in das beschlagene Glas, sodass Tropfen in Rinnsalen seinen Handballen hinab perlten. Es kostete Noel einige Mühe, den Blick von diesem fast schon erotischen Schauspiel abzuwenden.

„Ich kann nicht glauben, dass so viele Leute in diesem dreckigen Geschäft stecken.“ Noel zuckte erschrocken zusammen, als Marc mit der Faust auf den Tisch schlug.

„Und darum, verdammt nochmal, hättest du vorher mit mir reden müssen.“ Er stand so abrupt auf, dass sein Stuhl hinter ihm umkippte. „Natürlich steckt da ein ganzer Ring hinter.“ Er ballte die Hände zu Fäusten, als würde er um seine Selbstbeherrschung kämpfen. „Wie erklärst du dir sonst, dass immer alles passt? Patientenbefunde, Pathologiebefunde, einfach nichts, was Rätsel aufgeben würde und trotzdem versterben immer wieder Patienten an seltsamen posttraumatischen Verletzungen.“

„Deswegen muss ich aber nicht gleich davon ausgehen, dass die Polizei involviert sein soll. Ich denke, jetzt siehst du Gespenster.“ Noels Geduld war am Ende. Sie war zu ihm gekommen, weil er ihre letzte Hoffnung war, doch noch zum Ziel zu kommen. Nicht um seine Launen zu ertragen.

„Der Punkt ist doch, dass du mir immer noch nicht über den Weg traust.“

„Vielen Dank für das Wasser.“ Sie stand auf, nahm ihre Jacke und drängte sich an ihm vorbei ins Haus. Im Flur, kurz vor der Haustür, holte er sie ein. Er packte sie an den Schultern und drängte sie gegen die Wand. Sein Kinn so nah, dass sie glaubte, jede einzelne seiner Bartstoppeln, die sich durch die Haut bohrten, zu sehen. Die Augen so nah, dass sie jedes einzelne Pigment in seiner dunklen Iris erkennen konnte. Die Lippen so nah, dass sie versucht war, sie zu berühren.

„Ich bin nicht gekommen, um mir von dir Vorwürfe machen zu lassen.“ Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. Er ließ los, kam ihr aber noch näher und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände.

„Siehst du denn nicht, in welche Gefahr du dich damit gebracht hast?“

Sie lachte ihn verhöhnend aus. „Meinst du, sie räumen mich jetzt aus dem Weg oder was? Sie haben mir gekündigt und es mir damit gezeigt.“

Er fixierte sie mit seinen dunklen Augen, als würde er sie damit an der Wand festnageln wollen.

„Lass mich los.“

Er ließ ihr Gesicht los, stemmte die Hände aber rechts und links von ihrem Kopf gegen die Wand. „Ich will nicht, dass du gehst.“

Sie drehte sich und hatte sich den Weg schon fast an ihm vorbei gebahnt, als er sie am Kinn packte. „Sag, dass du nicht genauso fühlst, wie ich und ich werde nie wieder versuchen, dir näher zu kommen.“

Noel wurde heiß, ihr Herzschlag verdoppelte sich. Marcs Kiefergelenke traten weiß hervor. Seine Augen schienen sie zu durchbohren.

Sie langte nach seinem Handgelenk und befreite sich aus dem Griff. Sie sah ihm mit derselben Sturheit in die Augen, mit der er sie anvisierte.

„Ich bin eine verheiratete Frau und werde jetzt nach Hause fahren.“

Enttäuscht von seinem Macho Verhalten verließ sie sein Haus und stieg in ihren Wagen, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.