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„Warum?“

„Trink das.“ Marc reichte Noel ein Glas Bourbon. Argwöhnisch betrachtete sie den bernsteinfarbenen Inhalt des Glases, schwenkte ihn und kippte ihn sich in den Mund. Sie holte tief Luft, spürte das Brennen im Hals und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ich begreife einfach nicht, warum. Mit was für einem Menschen habe ich zusammengelebt?“

„Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, wenn du mit ihm allein gewesen wärst.“

„Er hätte es schonender erfahren.“

„Bevor er dir die Kehle durchgeschnitten hätte? Noel, er hat durchgedreht. Das hätte im Schongang genauso passieren können.“ Marc setzte sich auf die Bettkante, hielt den Arm gegen die Rippen gepresst und ließ sich langsam und stöhnend ins Kissen zurückgleiten. Noel, die im Schneidersitz vor dem Bett saß, sah zu Marc auf und konnte den Anblick kaum ertragen. Er hatte in seinem Leben schon so viel gelitten. Als wenn die Narben auf seinem Körper nicht reichen würden. Noel erhob sich und nahm ein zusätzliches Kissen in die Hand. Sie schüttelte es auf und stopfte es Marc hinter den Rücken.

„Wie er dich zugerichtet hat. Ich dachte, er bringt dich um.“

„Es sieht schlimmer aus, als es ist. Sind nur Prellungen.“

„Am gesamten Körper. Und eine Platzwunde. Du siehst schrecklich aus.“

„Nicht so schrecklich, wie du dich fühlen musst. Setz dich zu mir.“ Er deutete auf den Platz neben sich. Noel setzte sich auf die Bettkante und ergriff die Hand, die er ihr bot.

„Ich weiß nicht, wie ich mich fühle.“ Sie lachte sarkastisch.

„Du wolltest ihn tatsächlich erschießen?“, fragte Noel leise.

Marc wandte den Blick von ihr ab und sah aus dem Fenster. „Bevor er dir etwas angetan hätte, hätte ich ihn getötet.“

„Du sagst das so leichtfertig, dass es mir Angst macht.“

„Der Gedanke zu töten, steckt schon länger in mir.“

„Deine Zukunft war dir egal? Du wärst ins Gefängnis gekommen.“

Er senkte den Kopf. „Ich habe keine Zukunft für mich gesehen. Es hat keine Rolle gespielt, was aus mir wird.“

Seine Worte trafen Noel wie ein Messerstich ins Herz.

„Deswegen hattest du die Waffe dabei. Weshalb hast du mich dann heute Nachmittag angerufen?“

Sie spürte, wie sich der Druck seiner Hand verstärkte. Er sah sie wieder an und holte hörbar tief Luft.

„Ich hätte das nicht machen dürfen. Ich habe dich ins offene Messer laufen lassen und in Gefahr gebracht.“

„Es ist ja niemand gekommen. Mir ist nichts passiert.“

Er strich mit den Fingern erst über den Schnitt am Hals, dann über die blau gefärbte Schulter, die aus dem Ausschnitt ihrer Bluse hervorragte. „Du musstest schon zu viel einstecken.“

„Und dann wolltest du es mir antun, dich ans Gefängnis zu verlieren?“

Wieder senkte er den Blick. „Mein Leben war mir nichts mehr wert gewesen. Das hat sich geändert. Ich glaube, insgeheim wollte ich, dass du mich vor dieser Dummheit bewahrst.“

Noel fühlte sich ein wenig erleichtert.

„Du hast mein Leben in doppelter Hinsicht gerettet, Noel.“

Sie versuchte, zu lächeln.

„Viel bedeutsamer ist, dass du mir die Augen geöffnet hast“, fügte er hinzu. Er legte seinen Arm um Noels Schulter und zog sie an sich. Sie legte sich zu ihm und ließ den Kopf gegen seine Brust sinken.

„Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich mein Leben weggeworfen hätte.“ Er hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger an und sah ihr in die Augen. „Es ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, das zu sagen – aber ich liebe dich, Noel.“

Sie legte ihm die Hand auf die Wange. „Ich wusste, dass ich nicht mit Ralf zusammenbleiben würde, bevor ich in die Klinik gefahren bin.“

Er sah ihr noch lange in die Augen und sie wusste, welche Bedeutung ihre Worte für ihn hatten, auch wenn sie in diesem Moment nicht zu mehr in der Lage war. Sie legte ihren Kopf wieder auf seine bebende Brust und schloss die Augen. Er breitete die Decke über ihnen aus und hauchte einen Kuss auf ihr Haar.