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„Was hältst du von ihr?“

Lars Retzlaff zuckte die Schultern. „Ich kenne sie kaum. Ihren Mann habe ich mal auf der Visite bei einem seiner Belegpatienten kennengelernt.“

Marc langte in den Kühlschrank und holte zwei Flaschen Bier hervor. Eine warf er Lars zu, der am Tisch saß und sie auffing. Die Andere öffnete er, prostete seinem Freund mit der Flasche zu und trank einen Schluck, bevor er sich selbst an den Tisch setzte. „Und? Was ist er für ein Typ?“

Lars grinste und zwinkerte mit seinen blauen Augen. „Du denkst schon darüber nach, wer es der neuen Schwester besorgt?“

Marc verdrehte die Augen. „Nur weil dein Schwanz das Denken, häufiger als man zählen kann, für dein Gehirn übernimmt, muss es bei anderen nicht auch so sein.“ Zu dumm, dass Lars Recht hatte. Wieso es so war, wusste Marc selbst nicht, aber irgendetwas tief in seinem Inneren hatte genau diese Frage gestellt. Von was für einem Typen wurde Noel gevögelt? Die Frau mit den Augen, die ihn am liebsten aufgespießt hätten. Oh, wie hatte er es genossen, ihren innerlichen Widerstand zu spüren und ihre Grenzen auszureizen. Er fragte sich, wie weit er gehen musste, bis sie ihn heulend stehen ließ und zu ihrem Dr. Ralf Thalbach flüchtete. „Ich will wissen, was die Frau eines Arztes als OP-Schwester bei uns verloren hat.“

„Klar“, sagte Lars grinsend, während er sich eine seiner blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.

Marc trank die halbe Flasche Bier auf einmal aus und stellte die Flasche auf den Tisch.

„Sicher“, antwortete Marc und konzentrierte sich auf sein eigentliches Problem. Er wollte wissen, ob sie tatsächlich nur arbeiten wollte oder ob etwas ganz Anderes dahinter steckte. Wo sie dann einzuordnen wäre, stellte die nächste Frage dar. Könnte sie selbst involviert sein? Oder setzte ihr Mann sie als Kundschafterin für seine Zwecke ein?

„Er ist Allgemeinmediziner. Soweit ich weiß, hat er auch eine chirurgische Ausbildung gemacht.“

„Wie bitte?“, fragte Marc geistesabwesend.

„Ihr Kerl. Er hat eine Praxis und scheint ziemlich anerkannt zu sein.“

„Allgemeinmediziner“, wiederholte Marc. Sein Zeigefinger umkreiste die Flaschenöffnung. Er könnte eine weitaus größere Rolle spielen, als Marc zunächst für möglich gehalten hatte. Somit durfte sich Noel auf eine harte Einarbeitungsphase einstellen. Seine wachsamen Augen würden sie nicht eine Minute unbeaufsichtigt lassen.

Und das taten sie auch nicht. Er ließ keine Gelegenheit aus, sie anzustacheln und sie aus der Ruhe zu bringen. Leider erlaubte sie sich keine Fehler. Sie spionierte nichts aus, kam nie zu spät und machte Überstunden, ohne zu murren. Verdammt, sie erlaubte sich nicht einmal berufliche Patzer. Sie gab ihm nicht einen Grund, seine abwehrende Haltung aufrecht zu erhalten. Dabei spürte er mit jedem Tag, den sie in seiner Nähe war, dass es seiner Libido nicht gut tat, wenn sie sich so schrecklich vorbildlich verhielt.

Marc reckte sich am Fenster des Arztzimmers und sah auf den Parkplatz hinaus. Die untergehende Sonne ließ den Himmel in dämmrigen Rottönen erstrahlen. Marc ließ den Kopf kreisen und lockerte die Schultern. Der Tag hatte seine körperlichen Reserven erschöpft. Gerade als er sich wegdrehen wollte, sah er Noel in dicken Stiefeln, einem dunkelblauen Mantel und einem knallroten Schal um den Hals auf ihr Auto zugehen. Er fragte sich, welchen Wagen sie wohl fahren würde. War es der Audi, der Golf oder vielleicht sogar der kleine Nissan Micra mit der Beule in der Tür? Er tippte auf die Beule. Das wäre auch eine vernünftige Erklärung dafür, dass ihr Mann sie arbeiten schickte. Wer sagte denn, dass es der Praxis ihres Mannes gut ginge? Nachdem er sie als Mitarbeiterin kennengelernt hatte, würde er sich gerne einreden, dass er ein Idiot war, der ihr mit seinem Verdacht Unrecht tat.

Bis er sah, in welches Auto sie tatsächlich stieg. Sie schwang sich auf den Sportsitz, setzte sich eine dicke Mütze auf den Kopf und ließ das verdammte Dach im Kofferraum verschwinden. Trotz Temperaturen unter zehn Grad ließ sie sich die letzten Strahlen der untergehenden Wintersonne in ihrem silbernen Mercedes SLK auf den Kopf scheinen.

Marc fluchte. Wie oft hatte er schon in diesem Wagen Probe gesessen? Zum Teufel. Das wäre seiner. Wenn sein Konto es zugelassen hätte. Leider war er weit davon entfernt, wenn er nicht jahrelang finanzieren wollte. Marc zweifelte daran, dass Thalbachs Einnahmen diesen Wagen erlaubten. Zumal es nur der Wagen seiner Frau war. Was musste dann er selbst unterm Hintern haben? Die Schlinge um Noels Hals zog sich straffer zu. Ausgaben solcher Art untermauerten seinen Verdacht auf einen Extraverdienst.

Marc sah ihr nach, während sie davon fuhr, und wandte sich vom Fenster ab. Er zuckte erschrocken zusammen, denn er hatte nicht bemerkt, dass Schwester Ursel plötzlich hinter ihm stand. Wie lange mochte sie ihn bereits beobachtet haben?

„Kann denn hier niemand anklopfen?“

Sie zuckte die Schultern. „Es hat niemand geantwortet. Sie waren wohl weit weg“, sagte sie lächelnd. Sie und Katharina waren die Einzigen, denen er anstandslos vertraute. Nicht so weit, dass er ihnen sein Geheimnis anvertrauen würde, aber bei den beiden hatte er ein sicheres Gefühl.

„Wie macht Noel sich unter den Kolleginnen?“, fragte er die Oberschwester und bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. Er ließ sich müde auf das Sofa sinken, das er sich ins Büro gestellt hatte, um sich in den Doppelschichten ein paar Stunden aufs Ohr hauen zu können.

Ursel stemmte die Hände in die Hüften. „Das Mädel gebe ich nicht wieder her. Sie macht ihre Sache perfekt. Bei dem Namen muss das wohl auch so sein.“

„Kennen Sie ihren Mann?“

„Thalbach? Er ist als exzellenter Arzt bekannt. Seine Betten sind aber im anderen Trakt. Ich bin ihm nie begegnet.“

Eine üble Nachrede hätte Marc weitaus mehr befriedigt, aber bis jetzt war er auf nichts gestoßen, das seinen Verdacht auch nur annähernd bestätigt hätte.

Weitaus interessanter war das Gespräch am nächsten Tag mit Dr. Dräger. Marc kam aus einer dreistündigen OP ins Arztzimmer. Ihm tat der Nacken weh und er war müde vom langen Stehen. Noel hatte ihm vorbildlich assistiert. Zielstrebig ging er auf den Kaffeeautomaten zu und schenkte sich einen großen Becher extra starken Kaffees ohne Milch und Zucker ein. Er schloss die Augen und ließ den Kopf kreisen, um die Nackenverspannung zu lösen. Als er die Augen wieder öffnete, stand Dr. Dräger lässig gegen die Wand gelehnt im Raum und sah ihn an. Marc fragte sich, wie er sich so leise anschleichen konnte – und weshalb? Dräger musterte Marc, nahm sich ebenfalls eine Tasse Kaffee und setzte sich an den Tisch. Er deutete auf den Platz ihm gegenüber.

„Setzen Sie sich.“ Dr. Dräger war der einzige Arzt, der mit allen Kollegen per Sie war. Vielleicht wollte er sich als Chefarzt dadurch deutlicher von seinen Untergebenen hervorheben. Marc war keineswegs traurig darüber. Dräger trug das Kinn höher als ihm zustand und Arroganz war eine der Tugenden, die Marc abgrundtief hasste. Seufzend ließ er sich auf den Stuhl fallen und rieb sich das Kreuz.

„So im Eimer, Bajona? Oder war die letzte Nacht mal wieder zu kurz?“

Marc sah ihn durch den Dampf des Kaffees hindurch an. „Die Nacht war alles andere als kurz“, erwiderte Marc sarkastisch. Er trank einen Schluck und stellte die Tasse auf den Tisch. Im Raum lag eine Spannung, die regelrecht greifbar war. Marc fragte sich, mit welcher Angriffsstrategie seines Kollegen er zu rechnen hatte. Dass ihm etwas quer lag, war offensichtlich. Lange musste er nicht rätseln.

„Würden Sie einen Lebensstil führen, der ihrem Job angemessen wäre, würde Ihnen die Arbeit leichter fallen. Das würde auch das Leben Ihrer Mitmenschen erleichtern.“

„Meine Mitmenschen haben sich nie beklagt.“

Dräger runzelte die Stirn bis seine Augenbrauen eine durchgehende Linie bildeten. „Weil ihnen etwas an ihrem Job liegt.“

Marc leerte seine Tasse, stand auf und schenkte sich nach. Am liebsten hätte er das arrogante Arschloch stehen gelassen und wäre endlich nach Hause gefahren, was seit Langem überfällig war. Nun aber drängte es ihn zu erfahren, worauf Dräger hinaus wollte. Offensichtlich lag ihm Weiteres auf der Zunge.

„Hinterrücks gibt es also Beschwerden? Wer nicht das Zeug hat, mich selbst anzusprechen, dem kann ich nicht helfen.“

Dräger starrte Marc aus eisigen Augen fest an. „Niemand hat sich beschwert. Mir gefällt Ihre Tour nicht.“

Marc lachte. „Ich wusste gar nicht, dass ich eine bestimmte Tour verfolge.“

„Sie mischen sich in Dinge ein, die Sie einen Dreck angehen.“

„Zum Beispiel?“, fragte Marc ohne sich äußerlich anmerken zu lassen, wie berechtigt dieser Vorwurf war.

„Noel Thalbach. Ich habe mehrfach beobachtet, wie Sie ihr Privatleben hinterfragen.“

„Noel?“, fragte Marc lachend. „Wir arbeiten eng zusammen. Würde ich mich nicht für ihr Privatleben interessieren, wäre ich verdammt oberflächlich.“

Dräger stellte seine Tasse auf den Tisch, stand auf und ging zur Tür. „In Zukunft sind Sie eben oberflächlich! Stecken Sie Ihre Nase nicht in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen!“

Lässig zuckte Marc die Schultern. „Sind Sie ihr neuer Wachhund?“

Stur sah Dräger Marc in die Augen. „Noels? Nein. Ich bin Ihrer!“

Die Tür öffnete sich von außen. Dr. Retzlaff trat herein und ließ sich neben Marc auf den Stuhl fallen. „Was machst du immer noch hier? Nach drei Schichten müsstest du längst tot sein. Verschwinde endlich und schlaf dich aus!“

Aus den Augenwinkeln nahm Marc Drägers Blick wahr, als der den Raum verließ. Offensichtlich ging er davon aus, dass Marc die Nacht versoffen hatte. Versteckt unter dem Tisch, reckte Marc ihm den ausgestreckten Mittelfinger hinterher, als Retzlaff Drägers unausgesprochene Unterstellung widerlegte. Seine Ansprache ärgerte ihn allerdings maßlos. Was erlaubte sich der Kerl? Sein Wachhund? Woher nahm er sich das Recht, Marc zu drohen?

Marc reckte sich und stand auf. „Nochmal lasse ich mir von Ursel keine Schicht dazwischenklemmen. Bin schon so gut wie weg.“

 

Mit quietschenden Reifen brachte Noel ihren Wagen nur wenige Zentimeter hinter dem schwarzen Peugeot zum Stillstand. „Vollidiot“, fluchte sie. „Was fällt dir ein, ohne zu blinken, die Bremse voll durchzutreten? Führerschein im Lotto gewonnen oder was?“ Sie ließ das Fenster hinunter, um dem Menschen die Meinung zu sagen, erkannte dann aber Dr. Bajona hinter dem Lenkrad. Schweren Herzens schluckte sie den Ärger hinunter und überlegte es sich anders. Sie fuhr wieder an und parkte ihren Wagen drei Reihen weiter. Auf eine Meinungsverschiedenheit mit dem Kerl hatte sie keine Lust. Auch so war sie gespannt, was er heute zu beanstanden hatte. Nach einem Monat vorbildlicher Leistung und äußerster Disziplin hatte er sie noch immer im Auge, wie eine Lernschwester am ersten Tag. Manchmal hatte Noel den Eindruck, er würde auf einen Fehler von ihr warten. Aber da konnte er lange lauern.

Stattdessen ließ sie keine Gelegenheit aus, ihm nachzusetzen. Leider war seine Ungenießbarkeit das einzige Laster, das sie ihm bisher nachsagen konnte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als weiter zu beobachten. An manchen Tagen allerdings hatte sie das Gefühl, dass sie einem riesengroßen Irrtum unterlegen war. Keiner der Kollegen machte den Eindruck, als wäre er zu solchen Taten fähig.

Noel stieg aus, verschloss die Wagentür und ging über den Parkplatz zum Personaleingang der Klinik. Sie warf einen Blick hinüber zu dem Platz, wo Bajona geparkt hatte. Erleichtert atmete sie auf, als sie ihn nicht entdecken konnte, und zuckte erschrocken zusammen, als er hinter ihr, wie aus dem Nichts, erschien.

„Guten Morgen, Noel.“ Sein unverschämtes Grinsen verriet, dass er Sticheleien im Sinn hatte. Sein Haar stand mal wieder in sämtliche Himmelsrichtungen. Bestimmt hatte er verschlafen.

Vorsorglich stellte sich Noel auf Gegenwehr ein.

„Ich muss mich für das Manöver entschuldigen.“

Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Seine Entschuldigung und sein Lächeln beeindruckten sie positiver als ihr lieb sein konnte. Es war leichter sein nicht zu verachtendes Aussehen zu ignorieren, wenn er so ekelhaft wie üblich zu ihr war.

„Hätten Sie nicht so gut reagiert, hätten wir eben wohl kräftig miteinander gebumst.“

Noel hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte sie nur an seine Aufrichtigkeit glauben? Zu so etwas war dieser Widerling offensichtlich nicht im Stande. Sie blieb vor der Tür stehen und schenkte ihm ein erzwungenes Lächeln. Mit der Hand auf dem Türgriff antwortete sie: „Ich habe eine gute Bremse. Sie können sicher sein, dass wir nicht miteinander gebumst hätten und es auch niemals tun werden.“ Noch immer lächelnd zog sie die Tür auf, ging hinein und ließ sie vor seiner Nase wieder ins Schloss fallen. Ihr Herz pumpte jedoch mit doppelter Geschwindigkeit in ihrer Brust. Sie konnte selbst nicht fassen, was sie ihm geantwortet hatte. Andererseits hatte er es herausgefordert. Nur weil er Arzt und sie Schwester war, hatte sie nicht die Absicht, sich von ihm sexuell belästigen zu lassen.

Leider blieb dieses nicht der einzige Zusammenstoß des Tages. Acht Stunden lang hatte er sich zurückgehalten. Dann stand er im Sterilisationsraum mit einem Blick vor ihr, der ihr sofort klar machte, dass ein Gewitter drohte. Knallend schmiss er drei Schachteln Gerinnungsfaktoren so laut vor Noel auf den Arbeitstisch, dass sie zusammenzuckte.

„Wir haben morgen früh um sieben Uhr einen Hämophilen auf dem Tisch liegen.“

„Ich kenne den OP-Plan, Herr Doktor“, sagte Noel, während sie die desinfizierten Instrumente einschweißte und in den Autoklaven zum Sterilisieren steckte.

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drehte Noel in seine Richtung, sodass sie ihn ansehen musste. Der feste Griff seiner kräftigen Hand entsetzte sie nicht minder, wie er sie beeindruckte.

„Dann können Sie jetzt sehen, wie Sie ihn geändert bekommen. Ohne die Gerinnungsfaktoren kann ich keinen Bluter behandeln.“

Noel atmete tief durch, um ihm nicht hysterisch ihre Meinung an den Kopf zu werfen. „Wenn Sie dieses hier endlich zurück in den Kühlschrank legen würden, sollte es keine Probleme geben.“

„Dieses hier, meine liebe Noel, können Sie in den Müll befördern. Seit Sie es heute Morgen angenommen haben, liegt es im Stationszimmer ungekühlt auf dem Tisch.“

Ohne zu blinzeln, sah sie ihm in die dunklen Augen, die sie aufgebracht musterten. Es war an der Zeit, die Selbstbeherrschung an den Nagel zu hängen. Was bildete der aufgeblasene Idiot sich ein? In diesem Ton redete niemand mit ihr. Auch kein Dr. Bajona. Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte ihre Schulter unter seiner Hand heraus.

„Fassen Sie mich nicht noch einmal an!“, sagte sie in einem Ton, der so unmissverständlich war, dass er die Hand postwendend zurückzog.

„Diese Gerinnungsfaktoren habe ich in den Kühlschrank gepackt, bevor ich sie auch nur ein einziges Mal aus der Hand gelegt habe.“ Sie trat einen Schritt zurück und schob den Unterkiefer wütend vor. „Ihre Launen stehen mir bis hierher.“ Sie wies mit der Handkante an ihren Hals. „Sie wissen so gut wie ich, dass Sie ständig Fehler suchen, wo keine sind. Wenn Sie jetzt damit rechnen, dass ich heulend nach Hause laufe und nicht wiederkomme, haben Sie sich getäuscht.“ Noel sah ihm fest ins Gesicht und fühlte sich innerlich befriedigt, als seine Wange zuckte. Sie spürte förmlich, wie es in ihm brodelte. Sollte er doch ruhig die Fassung verlieren. „Machen Sie nur weiter wie bisher, aber denken Sie nicht, dass ich mir Ihre Worte zu Herzen nehme.“ Sie sah zur Uhr und stellte erfreut fest, dass sie Feierabend hatte.

Bajona schüttelte den Kopf. „Wie erklären Sie sich dann, dass es nicht im Kühlschrank war?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer, wie es herausgekommen ist. Ich weiß nur, dass ich es hineingelegt habe. So ein Fehler passiert mir nicht, auch wenn Sie es sich noch so sehr wünschen.“

Er lachte höhnisch. „Ja klar. Einer biederen Schachtel, wie Ihnen würde niemals ein Fehler unterlaufen.“

Jetzt reichts, dachte Noel. Diese Beleidigung traf sie deutlicher, als sie sich eingestehen wollte.

„Lieber lasse ich mich von Ihnen als bieder beschimpfen, als Ihre Eigenschaften am Hals zu haben.“

„Ach ja? Jetzt bin ich aber zu neugierig, welche Eigenschaften das wären.“ Seine Brust hob und senkte sich eindeutig schneller als sonst, was Noel freute. Wieso sollte nur sie sich über seine Manieren aufregen?

Noel ließ ihn stehen und ging zur Tür. „Ich habe nicht genug Zeit, Ihnen aufzuzählen, was ich alles über Sie denke. Außer vielleicht, dass ich mich schämen würde, wenn ich mit Ihrer Arroganz durch den Tag laufen würde.“ Noel sah, wie er die Zähne so fest zusammen presste, dass die Kiefergelenke hervortraten. Treffer, dachte sie und freute sich über das Gegentor.

„Vielleicht empfinden Sie das nur so, weil Ihnen jegliche Eitelkeit fehlt. Hat sich Ihr Dr. Thalbach noch nie über Ihre spießige Frisur und Kleidung beschwert?“

Das tat weh. Noel hatte nicht die Absicht, sich auf eine Schlammschlacht einzulassen und wollte ihn wortlos stehen lassen. Scheinbar hatte er jedoch noch nicht genug. „Ich vergaß übrigens, das altertümliche Modell Ihrer Brille zu erwähnen.“

Noel öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch in dem Moment ging die Tür auf und eine der Lernschwestern kam weinend herein. Um das arme Mädchen nicht noch mehr aus der Fassung zu bringen, schwieg Noel und wurde somit Zeugin eines peinlichen Geständnisses. Schluchzend ging die Lernschwester auf Bajona zu und entschuldigte sich, weil sie heute Morgen die Gerinnungsfaktoren aus dem Kühlschrank genommen hatte, um an etwas anderes heran zukommen. Danach hätte sie vergessen, sie zurück zulegen.

Da Noel sah, dass er das arme Mädchen aufmuntern und nicht zusammen falten wollte, überließ sie es ihrem Schicksal.

„Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Feierabend, Herr Doktor“, sagte sie und freute sich über seinen schuldbewussten Blick. Bevor er etwas erwidern konnte, schloss sie die Tür hinter sich.

Für diesen Moment hatte sie gesiegt. Das wusste sie. Eilig zog sie sich um, weil sie nicht das Bedürfnis einer weiteren Konfrontation riskieren wollte. Selbst dann nicht, wenn er sich nur entschuldigen wollte. Obwohl das für sie kaum vorstellbar war. Nach fünf Minuten verließ sie hoch erhobenen Hauptes die Klinik, setzte sich in ihren Wagen und fuhr los. Als sie außer Sichtweite des Klinikgeländes war, parkte sie am Straßenrand.

Sie verschränkte die Arme auf dem Lenkrad und ließ ihren Kopf darauf sinken. Sie hatte sich geschworen, seinetwegen niemals eine Träne zu verschwenden. Diesem Schwur blieb sie treu. Doch sie schluchzte den Schmerz trocken hinaus. Seine Worte über ihre Person hatten sie bis ins Herz getroffen. Mochte er noch so ein arrogantes Arschloch sein. Trotzdem war er ein Mann und ein ziemlich attraktiver noch dazu. Dass nun ein Mann über sie als Frau auf diese Weise urteilte, verletzte ihre weiblichen Gefühle wie ein Messerstich zwischen die Rippen.

 

Die Stimmung hatte sich auch nicht gegeben, als sie zu Hause ankam. Zu allem Übel war Ralf bereits vor ihr da. Was sie jetzt brauchte, war eine heiße Badewanne und Ruhe um die Ereignisse zu verdauen, bevor sie Ralf begegnen würde. Nun hieß es, den Ärger hinunter schlucken und sich nichts anmerken zu lassen. Sie parkte den Wagen in der geräumigen Doppelgarage, stieg aus und ließ das Tor zu fahren. Durch den Seiteneingang ging sie direkt ins Haus. Ralf stand in der Küche und rauchte eine Zigarette. Er legte die Zigarette im Aschenbecher ab und nahm Noel zur Begrüßung in den Arm. „Wie war dein Tag, Baby?“

Großartig, dachte Noel sarkastisch. Sie konnte ihm unmöglich von ihrem Ärger berichten. „Wie war deiner?“, versuchte sie sich einer Antwort zu entwinden. Sie befreite sich aus seinem Arm, ging zum Kühlschrank und holte Salat, Gurken und Tomaten heraus.

Ralf lachte. „Hat das Gemüse dir etwas getan? Du stehst ja total neben dir. Leg das Zeugs weg, wir essen sowieso bei meinen Eltern.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich, sodass sie ihn ansehen musste.

Noel fühlte sich, als hätte sie ein Déjà-vu. Nicht einmal eine Stunde war es her, dass dieser Vollidiot sie so angefasst hatte. Aber irgendwie war es anders. Ohne ihr wehzutun, hatte seine Berührung Ausdrucksstärke und Selbstbewusstsein ausgedrückt. Als Ralf sie jetzt ebenso anfasste, fehlte ihr genau diese Entschlossenheit. Sie befreite sich aus seinem Griff, ging ans Fenster und sah hinaus. Sie fragte sich, wie sie dazu kam, die Wesen von Bajona und Ralf zu vergleichen. Bajona hatte nicht einmal ansatzweise den Anstand, der für Ralf selbstverständlich war.

„Was ist los? Hattest du Ärger in der Klinik?“ Er unterstrich seine Überredungsversuche, indem er ihren Hals zärtlich küsste und sie auf einen Küchenstuhl drückte. Noel rang mit sich selbst und entschloss sich dann, ihm von dem ganzen Frust über Bajona zu berichten.

Als alles heraus war, fühlte sie sich, als wäre eine Last von ihren Schultern gefallen. Außerdem gefiel es ihr, dass Ralf sich für ihre Sorgen interessierte und ein guter Zuhörer war.

„Baby“, er sah ihr mit einem Blick in die Augen, der sein Unverständnis ausdrückte. „Ich weiß, du willst meine Meinung nicht hören, aber dort wirst du niemals glücklich werden.“

Diese Wendung hatte Noel befürchtet. Sie richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. „Ich denke nicht daran, seinetwegen das Handtuch zu schmeißen.“

„Du bist aber seit deinem ersten Tag dort unzufrieden.“ Er stand auf und wandte sich von ihr ab. „Ich kann das nicht länger mit ansehen. Du machst dich vor meinen Augen kaputt.“

„Dann sieh nicht hin“, schrie sie ihm lauter entgegen, als sie vorhatte. Hatten sich denn heute alle gegen sie verschworen? „Auf keinen Fall werde ich den Job aufgeben und mich von dem Kerl unterkriegen lassen.“

Ralf wandte sich ihr wieder zu und kniete vor ihrem Stuhl. „Wieso arbeitest du nicht bei mir? Wir hätten viel mehr Zeit füreinander.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf das straff zurückgebundene Haar. „Glaubst du, dass du in der Klinik deine Vergangenheit bewältigen kannst?“

Noel erschauderte unter seinen treffenden Worten.