8

 

Auch das dritte Glas Bourbon hatte nicht die Macht, Noels kristallblaue Augen aus seinem Kopf zu vertreiben. Fluchend hievte sich Marc vom Sofa auf und schlurfte durch den Flur in die Küche. Er öffnete die Küchenschranktür, nahm die Flasche in die Hand und drehte den Verschluss auf, um sich ein viertes Glas einzuschenken. In letzter Sekunde besann er sich eines Besseren und stellte die Flasche zurück. Stattdessen schlug er sich drei Eier in die Pfanne, toastete sich drei Scheiben Brot dazu und starrte aus dem Fenster, bis das Essen fertig war.

Die Schneeglöckchen streckten gerade ihre Köpfe aus der Erde und begannen zu blühen. Marc stellte fest, dass er unbedingt einen Gärtner brauchte, wenn sein alter Obstgarten nicht verwildern sollte. In der Küche duftete es inzwischen angenehm nach den fertigen Spiegeleiern. Er legte die Toastscheiben auf einen Teller, schwenkte die Pfanne und ließ die Eier auf das Brot gleiten. Dazu gab es ein eiskaltes Wasser anstelle des Bourbons. Marc setzte sich an den alten Kieferntisch und stocherte lustlos im Essen herum. Er wusste, wenn er jetzt nicht die Kurve kratzte, würde seinem Weg zum Alkoholiker nicht mehr viel entgegenstehen. Soweit durfte er es nicht kommen lassen. Wie sollte er dann jemals seinen Frieden finden?

Wie leicht sie war. Da waren ihre Augen wieder in seinem Kopf, drängten sich ihm auf, obwohl er nicht an sie denken wollte. Sie wirkte so zerbrechlich. Marc schlug mit der Faust auf den Tisch, wie um Noel aus dem Schädel heraus zuhämmern.

Manchmal glaubte er, er war nicht mehr er selbst. Was er für sie empfand, war nicht nur Mitleid, auch wenn er den gesamten Nachmittag versucht hatte, sich genau das einzureden.

Aber das durfte nicht sein. Es kam nicht in Frage, sich an eine Frau zu binden. Sein Ziel sah keine Zukunft für eine Beziehung. Er sah nicht einmal eine Perspektive für sich selbst, denn am Ende seines Pfades wartete entweder eine Gefängniszelle oder der Leichenbestatter auf ihn. Dennoch würde er sich nicht aufhalten lassen. „Was für eine Beziehung überhaupt?“, murmelte er laut. „Das verdammte Weibsbild ist verheiratet.“ Mit einem Schleimscheißer, der ihre Zeit nur vergeudet, dachte er. Andererseits könnte seine langweilige Erscheinung auch Fassade sein.

Marc kratzte die Reste vom Teller auf die Gabel, schob sie in den Mund und räumte den Tisch ab. Er spülte das Geschirr, wischte den Tisch sauber und hinterließ die perfekte Junggesellenküche, als er ins Bad ging. Eine halbe Stunde später lag er frisch geduscht und noch immer unausgeglichen im Bett und dachte weiterhin an Noel. Es ging ihm nicht in den Kopf, dass die Nierenentnahme sie so sehr aus der Fassung gebracht hatte.

Marc verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah auf die große Kastanie, deren Äste sich vor dem Fenster im Wind wiegten. Der Mond schien durch die Zweige und warf verspielte Schattenmuster an die Schlafzimmerwand. Marc richtete sich auf, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und ließ den Kopf in die Hände fallen. Wenn er mit seinem Verdacht richtig lag, dann könnte Noel der Schlüssel zu seinem Ziel sein. Er beschloss, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Bis jetzt hatte er sie beobachtet und versucht, sie in die Enge zu treiben, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Diese Strategie wollte er ändern. Er beschloss, Noel ein sicheres Gefühl zu geben, ein Freund für sie zu sein. Ein Freund, dem sie sich anvertraute, wenn der Schmerz zu groß war.

Er ließ sich zurück ins Kissen sinken und schloss die Augen. Verdammt, wieso fühlte er sich so elendig? Doch im Stillen wusste er die Antwort längst. Er wollte Noel nicht als Werkzeug benutzen. Vielmehr schrie er körperlich danach, ihr tatsächlich ein Freund zu sein.

 

„Morgen, Noel.“ Marc kam in dem Augenblick um die Ecke, als Noel den Knauf zur Umkleide hinunter drücken und die Tür öffnen wollte. Er stand so nah vor ihr, dass sie sein Aftershave riechen konnte. „Geht’s dir besser?“ Der Blick, mit dem er sie ansah, ging ihr unter die Haut.

„Ich habe mich gestern Mittag hingelegt. Danach war alles okay.“

Er nickte. „Hat dein Mann den Blutdruck noch einmal gemessen?“

Noel senkte den Blick. Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet und für eine Lüge hatte sie bereits zu lange gezögert.

„Ich habe mich wirklich gut gefühlt.“ Sie hatte nicht die Absicht ihm zu sagen, dass sie Ralf nur die halbe Wahrheit erzählt hatte.

Marc schüttelte den Kopf, nahm sie an die Hand und zog sie sanft Richtung Arztzimmer. Er öffnete die Tür, streckte die Hand aus und deutete ihr an, hineinzugehen.

„Also nein. Setz dich.“ Er zeigte auf den Stuhl, neben dem sie stand. „Na los!“

Bevor sie Widerstand leisten konnte, holte er ein Blutdruckmessgerät und legte Noel die Manschette um den Arm.

„Bist du immer so misstrauisch?“

Er sah sie an und hob die Augenbrauen, während er die Manschette aufpumpte.

„Ich nehme meinen Job sehr genau. Alles, was ich tue.“ Er zwinkerte ihr zu, ließ den Druck ab und überprüfte die Werte. „Hundertfünfzehn zu achtzig. Es gibt nichts zu bemängeln, Frau Thalbach. Außer, dass ich es deinem Mann zum Vorwurf mache, dass er deine Werte nicht gestern noch kontrolliert hat.“ Er befreite ihren Arm und sah ihr in die Augen.

Noel wollte seinem Blick ausweichen, doch es war zu spät. Er hielt ihre Augen wie gefesselt. Sie schaffte es nicht, sich von ihm abzuwenden.

„Wieso hast du ihm nichts erzählt?“

„Wie kommst du darauf, dass ich es ihm verschwiegen haben könnte?“, frage sie empört.

„Was ich gestern gesagt habe, habe ich ernst gemeint. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, dann zögere nicht.“

Noel zwang sich, ihn anzulächeln. „Danke, aber es gibt nichts zu reden.“

Er richtete sich auf, legte das Messgerät ins Regal und begleitete Noel zur Tür. „Lass dir ruhig Zeit beim Umziehen. Die erste OP wurde abgesagt.“

Noel nickte. „Okay. Danke für deine Hilfe.“ Sie reichte ihm die Hand und erschrak, als sie merkte, wie gut seine sich anfühlte, als er sie fest um ihre legte. Eilig wandte sie sich von ihm ab und überquerte den Flur zur Schwesternumkleide.

Bestimmt war ihr Blutdruck inzwischen rasant angestiegen. Wieso hatte er sie durchschaut? Sie fühlte sich vor ihm entblößt und fragte sich, was er von ihrer Ehe halten würde. Normalerweise erzählte man seinem Mann, wenn man auf der Arbeit zusammengebrochen war. Besonders dann, wenn der Gatte Arzt war. Ihr Verhalten musste ein seltsam trostloses Bild auf ihre Ehe geworfen haben.

Doch Ralf ließ keinen Tag vergehen, ohne ihr klar zu machen, dass sie kündigen sollte, beinahe, als wäre sie nicht fähig selbst zu entscheiden. Auf keinen Fall hatte sie seine Argumente untermauern wollen. Nein, sie hatte gewusst, wenn er informiert gewesen wäre, hätte es wieder einmal endlose Diskussionen um den Job gegeben. Das wäre das Letzte gewesen, was sie gestern gebraucht hätte. Besonders deshalb nicht, weil es ihr am Nachmittag keineswegs besser gegangen war. Als sie zur Ruhe gekommen war, spielte sich alles noch einmal vor ihrem inneren Auge ab. Zuerst die OP, dann die seltsamen Gefühle, die sie empfunden hatte, als sich Marc um sie gekümmert hatte. Zu guter Letzt war es die Vergangenheit gewesen, die sie wie eine Lawine aus Geröll und heißer Lava erschlagen hatte. Allein der Gedanke an die Nierenentnahme hatte ihr die Luft zum Atmen geraubt. In einem Anfall aus Trauer, Verzweiflung und Wut hatte sie noch in der Badewanne angefangen zu weinen. Erst am Abend, als Ralf nach Hause gekommen war, hatte sie sich erholt. Den gesamten Nachmittag über hatte sie geschluchzt. Sie hatte es nicht geschafft, die schmerzende Vergangenheit auszublenden. Zum Glück hatte Ralf nicht bemerkt, dass sie geweint hatte. Obwohl sie sich im Nachhinein fragte, wie ihm das entgehen konnte, so rot und geschwollen ihre Augen gewesen waren.

Kaum hatte Noel die Arbeitskleidung angezogen und den Aufenthaltsraum betreten, sprang die Tür hinter ihr auf. Dr. Retzlaff kam mit hochrotem Gesicht hinein und zündete sich eine Zigarette an, obwohl Rauchen im Aufenthaltsraum nicht gestattet war. Am liebsten hätte Noel ihn darauf angesprochen, doch er wirkte wie eine Zeitbombe, die kurz vor der Detonation stand.

„Morgen, Dr. Retzlaff“, begrüßte sie ihn stattdessen, weil sie sich schlecht hätte davonstehlen können, ohne etwas zu sagen.

Er drehte sich ihr zu und starrte sie aus eiskalten Augen an. „Gut, dass ich Sie hier treffe, Noel. Mit Ihnen muss ich reden.“ Er deutete auf den Stuhl, vor dem sie stand. Auf das Schlimmste gefasst, setzte sich Noel und schlug das rechte Bein über das linke Knie. „Was gibt es, Dr. Retzlaff?“, frage sie herausfordernd.

Er nahm sich einen Stuhl, stellte ihn mit ihr zugewandter Lehne gegenüber und setzte sich rittlings darauf, die Arme auf die Lehne gestützt.

„Ich habe keine Ahnung, was in Ihnen vorgeht, aber wenn Sie Probleme haben, dann sagen Sie es beim nächsten Mal gefälligst vorher.“ Er kniff die Augen zusammen und setzte seine Rede etwas lauter fort. „Sie haben sich vorher schon nicht wohl gefühlt. Warum, verdammt nochmal, haben Sie nichts gesagt?“ Er ballte die Hand zur Faust und schlug sie auf die Stuhllehne. „Solche Inkompetenz kann ich nicht gebrauchen.“

„War das alles, Dr. Retzlaff?“, fragte Noel so ruhig sie konnte.

„Nein! War es nicht“, antwortete er noch lauter als zuvor. „Ich will von Ihnen wissen, weshalb Sie die Klappe nicht aufkriegen konnten, bevor es zu spät war?“

Noel stand auf und ging Richtung Tür. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, welche Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist. Aber ich denke nicht daran, Ihr Ablassventil zu sein. Sie wissen genau weshalb ich versucht habe es durchzuziehen und wenn nicht, dann tun Sie mir leid.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und verließ den Raum. Sie hatte immer gelernt, Respekt vor den Ärzten zu zeigen, aber sein unverschämtes Verhalten hatte weder Logik noch Verstand. Schließlich hatte sie keinen Hehl daraus gemacht, dass sie diese OP nicht übernehmen wollte. Doch Herr Dr. Retzlaff hatte darauf bestanden, dass sie sich nicht anstellen und das durchziehen solle. Alles klar, aber dann hatte er gefälligst mit den Folgen zu leben. Außerdem schien es ihr, als hätte er selbst gerade erst einstecken müssen. Schließlich war er schon auf hundertachtzig, bevor er sie bemerkt hatte. So ließ sie sich von einem Jüngling wie ihm nicht behandeln. Wenn er ihre Reaktion zu beanstanden hatte, dann sollte er sich über sie beschweren.

Trotzdem war ihr der Tag verdorben. Nichts ging ihr richtig von der Hand. Brauchte sie etwas, war es grundsätzlich nicht vorrätig. Die Patienten erschienen nicht rechtzeitig und ihre Regel kam auch noch drei Tage zu früh. Am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verkrümelt und wäre unsichtbar geworden. Sie machte drei Kreuze, als sie den Tag hinter sich gebracht hatte.

Auf dem Weg zum Auto rief Katharina ihr hinterher. Noel blieb stehen und freute sich, noch ein paar Worte mit ihrer Freundin reden zu können.

„Lass uns einen Kaffee zusammen trinken gehen“, schlug Katharina vor. Noel überlegte einen Moment. Bis Ralf nach Hause käme, würde es noch dauern. Also willigte sie ein.

Sie fuhren mit Noels Wagen ins Zentrum. Auf dem Parkplatz des Radisson Hotels fanden sie einen Platz. Noel parkte, besorgte einen Parkschein und verschloss den Wagen. Zu Fuß gingen sie am Holsten Tor vorbei. Nach fast zweijähriger Restaurierung zeigte sich das Wahrzeichen Lübecks endlich wieder unverhüllt und in neuem Glanz. Sie überquerten die Trave und kehrten in dem neuen Coffee Store in der Holsten Straße ein.

Katharina entdeckte einen Tisch in einer ruhigen Ecke und nahm ihn in Beschlag. Sie setzte sich und öffnete erst dann ihre Jacke. Noel schmunzelte. Irgendwie wirkte Katharina immer, als würde sie gehetzt werden. Noel zog die Wildlederjacke aus, legte sie über die Stuhllehne und setzte sich.

Katharina beugte sich über den Tisch. „Ich habe gehört, du hattest einen Scheißtag?“

Noel stieß die Luft aus den Lungen und lachte. „Der Ausdruck trifft den Nagel auf den Kopf.“ Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände zusammen. „Aber woher weißt du davon?“

Katharina zwinkerte ihr zu. „Ich hab Bajona zufällig beim Mittag getroffen. Er hat mich gefragt, ob ich weiß, was mit dir los ist.“

Noel versteifte sich. „Spioniert er mir jetzt nach? Was denkt er sich nur?“

„Hey, seit wann lässt du dich davon aus der Ruhe bringen? Außerdem war er nur besorgt um dich. Erst dein Zusammenbruch und dann fängst du dir am nächsten Tag noch so eine saublöde Abfuhr von Retzlaff ein.“

„Ach, davon wusste er also auch schon.“ Noel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Die Kellnerin, eine hübsche Brünette mit überdimensionalen Ohrringen, kam an den Tisch und nahm ihre Bestellung auf. Als sie wieder allein waren, antwortete Katharina auf Noels Vorwurf.

„Ich habe zufällig gehört, wie Retzlaff sich bei ihm ausgekotzt hat.“ Sie steckte sich eine von ihren rot-blonden Locken hinter das Ohr und kicherte. „Das ging ganz schön nach hinten los. Bajona hat ihn nämlich gewaltig zurechtgewiesen und dich verteidigt.“ Sie hob die Brauen und verdrehte die Augen. „Ich möchte auch mal, dass er so über mich redet.“

Noel wurde hellhörig und beugte sich über den Tisch. „Los! Erzähl. Was hat er gesagt?“

Die Kellnerin kam mit zwei Cappuccinos mit herrlich viel Milchschaum an den Tisch, servierte und kassierte den Betrag.

Seelenruhig warf Katharina zwei Stück Zucker in ihre Tasse und rührte noch gelassener in ihrem Kaffee herum, bis selbst der Milchschaum sich aufgelöst hatte. Sie schmunzelte.

„Höre ich da etwa Interesse, Frau Thalbach?“

Noel gab sich Mühe empört zu wirken und antwortete äußerlich gelassen. „Natürlich habe ich Interesse. Rein berufliches Interesse.“

„Ja klar“, antwortete Katharina zwinkernd. „Wer von uns kommt bei dem Kerl nicht ins Schwärmen? Ein bisschen Träumen und Flirten ist doch nicht gleich Fremdgehen. Also tu nicht so.“

Noel schlürfte den Milchschaum vom Cappuccino und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. „Was hat er denn nun gesagt?“

„Er hat ihn zurechtgewiesen und daran erinnert, wer darauf bestanden hat, dass du assistieren solltest. Außerdem hat er gesagt, dass er Nichts auf dich kommen lässt. Du wärst die beste Schwester, mit der er je gearbeitet hätte.“ Sie lehnte sich schmollend zurück. „Eigentlich müsste ich beleidigt sein.“

Noel lächelte verschmitzt und legte ihre Hand auf die von Katharina. „Ach was, bestimmt hat er dich nur nicht erwähnt, weil es gerade um mich ging und er höflich sein wollte.“

„Er hat todernst ausgesehen.“

Auch wenn Noel Eitelkeit verurteilte und gerne abgestritten hätte, was sie fühlte, war sie stolz, dass er so über sie geredet hatte. Aber da war noch etwas mehr. Etwas, das sie sich nicht erklären konnte, das sie mit Wärme ausfüllte und sich gut anfühlte. Sie fasste all ihren Mut zusammen und stellte die Frage, die sie seit gestern nicht mehr losgelassen hatte.

„Hast du mal die Narbe auf seiner Brust und der Schulter gesehen?“

Katharina grinste. „Und an seinem Kehlkopf. Immer noch berufliches Interesse?“

„Du bist doof. Weißt du irgendetwas darüber?“

„Ich habe keine Ahnung, was sie gemacht haben, als sie ihn aufgeschnitten haben. Alles was ich weiß, ist, dass er einen ziemlich bösen Unfall hatte und beinahe drauf gegangen wäre.“ Noel schluckte schwer. „Das muss knapp fünf Jahre her sein. Er hat einer verunglückten Fahrerin geholfen und wurde bei dem Rettungsversuch von einem vorbeifahrenden Auto erfasst.“

Noel hielt sich erschrocken und wirklich betroffen, die Hand vor den Mund. „Mein Gott. Das hört sich schrecklich an. Der Arme.“

„Das war noch vor meiner Zeit, aber ich weiß, dass er in unserer Klinik versorgt wurde. Er soll über Monate durchgehangen haben, körperlich wie seelisch.“

„Kein Wunder“, sagte Noel so leise, dass es fast gehaucht klang.

Katharina kippte den Rest ihres Cappuccinos hinunter und lächelte. „Wahrscheinlich hat es ihm bei uns so gut gefallen, dass er zwei Jahre später hier angefangen hat.“

 

Erschöpft ließ sich Noel auf den klapprigen Stuhl im Aufenthaltsraum sinken. Acht Stunden hatte sie Marc assistiert, während er wie ein Besessener um das Leben des schwerverletzten Unfallopfers gekämpft hatte. Als der Mann eingeliefert wurde, hatte niemand geglaubt, dass er es schaffen würde. Marc war binnen kürzester Zeit im Schockraum erschienen und hatte beschlossen, diesen Patienten nicht zu verlieren. Er diagnostizierte die lebensbedrohlichen Verletzungen, gab die nötigen Anweisungen für die vorzubereitende OP und kämpfte dann im Operationssaal um das Leben des Mannes. Mit Handgriffen, die er wie im Schlaf beherrschte, spürte er die Verletzungen auf und versorgte sie. Nach acht Stunden schweißtreibender Arbeit hatte er dem Patienten das Leben gerettet. Noel hatte gesehen, wie ihm die Last von den Schultern gefallen war.

Inzwischen war der Patient, ein Herr Rickerts, wie sie erfahren hatte, auf der sicheren Seite. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass er den Kampf ums Überleben verlieren würde. Marc hatte ihn mit Bravour zusammengeflickt und Noel war beeindruckt und stolz auf ihn, wie sie im Stillen zugeben musste.

Sie rieb sich die müden Augen, stand auf und trank ein Glas Wasser. Nach allem, was sie inzwischen über Marc wusste, musste sie sich eingestehen, dass sie ihm mit ihrem Verdacht Unrecht getan hatte. Davon abgesehen, dass er zu dem Zeitpunkt nicht einmal hier gearbeitet hatte, war sie überzeugt, dass jemand, der so verzweifelt um das Leben eines Menschen kämpfte, nicht bereit zum Töten sein konnte.

Sie reckte sich und versuchte die schmerzenden Schultern zu lockern. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie Marcs Stimme plötzlich hinter sich hörte, denn sie hatte nicht gehört, dass er den Raum betreten hatte.

„Hast du dich etwa überanstrengt?“, fragte Marc und lächelte sie an. Das Grübchen in seinem Kinn straffte sich und spannte um die sprießenden Bartstoppeln auf seinem verschwitzten Gesicht.

Sie schüttelte den Kopf. „Du bist großartig gewesen.“

Er lachte. „So etwas aus deinem Mund? Das sollten wir feiern. Wie wäre es mit einem Kaffee, Frau Thalbach?“

Komisch, dachte Noel, ihr gefiel es nicht mehr, wenn er sie Frau Thalbach nannte. Sie überlegte, ob sie sich auf die Vertrautheit eines Kaffees einlassen konnte und nickte, bevor ihr ein Nein über die Lippen hätte huschen können. Er nahm ihre Hand und drängte Noel zur Tür.

„Dann lass uns in die Cafeteria gehen.“

Was soll's, dachte Noel. Was bedeutet ein Kaffee schon? Außerdem arbeitete sie schon so lange in der Klinik und war keinen Schritt vorangekommen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, Marc näher kennenzulernen. Vielleicht würde er ihr sogar Türen öffnen, durch die sie allein nicht hätte finden können.

Er reichte ihr eine Tasse Kaffee, setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und lehnte sich lässig zurück. Zwei Tische weiter saß eine Gruppe von vier Schwestern, die müde über den Dienstplan diskutierten. In der hinteren Ecke des Raumes saß ein Paar schweigend, jeder in seine Zeitung vertieft. An einem dritten Tisch saß Dr. Ullstein, der nie ohne ein Lächeln im Gesicht herumlief. Im Moment lächelte er eine blonde Krankenschwester an, die Noel noch nie gesehen hatte. Ansonsten war die Cafeteria leer, was für die Uhrzeit nicht ungewöhnlich war.

„Wie fühlt es sich an, einem Menschen das Leben gerettet zu haben?“, fragte Marc Noel.

Sie lehnte sich ebenfalls zurück und lachte. „Das wirst du mir verraten müssen.“

Er schüttelte den Kopf. „Dir ist nicht klar, wie sehr er auf der Kippe gestanden hat. Jede Sekunde hat gezählt. Ohne eine vorausschauende Schwester, ohne dich, hätten wir es nicht geschafft.“

„Du willst mir wohl Honig um den Bart schmieren?“

Er lachte und sah sich um. „Reizvoller Gedanke. Soll ich fragen, ob sie welchen haben?“

Noel spürte, wie sie errötete und sah in ihre Kaffeetasse, um seinem durchtriebenen Blick auszuweichen.

„Nein, im Ernst, Noel. Du kannst stolz auf dich sein.“

„Danke.“

Er griff zur Zuckerdose und schüttete zwei Löffel in seinen Kaffee, den er umrührte, ohne hinzusehen. „Du hast deine Ausbildung erst spät gemacht. Was hat dich dazu getrieben, Krankenschwester zu werden?“

Er hat also in meinen Bewerbungsunterlagen nachgesehen, dachte Noel.

Sie senkte den Blick und zögerte einen Moment zu lang.

„War die Frage so schwierig?“, fragte er leise mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Kurz vor meiner Hochzeit hat sich mein Leben gravierend verändert. Ich wollte mich auch beruflich weiter entwickeln.“

Er sah sie ernst an. „Du hättest in die Politik gehen sollen. Oder ist dir nicht bewusst, dass du meine Frage nicht beantwortet hast?“

Sie lächelte ihn an. „Vielleicht sollte ich kandidieren? Ich habe gehofft, du würdest es nicht bemerken.“ Sie nahm ihre Tasse und trank einen großen Schluck. Um das Gespräch von ihrem Privatleben wegzusteuern, lenkte sie das Thema auf seine Person. „Wie bist du dazu gekommen, hier zu arbeiten?“

Er sah in seine Tasse, schwenkte sie und hob den Blick. In seinen Augen lag plötzlich etwas Düsteres, das fast schon Beklemmungen auslöste. Sein lässiges Achselzucken widersprach dem, was seine Augen ausdrückten. „Hat sich so ergeben. Außerdem hat mein verstorbener Vater hier gearbeitet. Vielleicht wollte ich ihm nacheifern.“

„Dass mit deinem Vater tut mir leid. Er wäre bestimmt stolz auf dich gewesen.“

Marc ging sich fahrig mit den Händen durch die Haare. „Ist schon einige Jahre her. Alles Weitere werde ich wohl nie erfahren.“

Noel war versucht, ihre Hand auf die Seine zu legen. Sein Gesichtsausdruck schrie nach Trost. Doch sie hielt sich zurück. Ja, sie wollte mit ihm befreundet sein, doch das stand ihr nicht zu. Auch durfte sich die Distanz zwischen ihnen auf keinen Fall verringern. In ihre Gedanken drang er schon viel zu häufig ein.

Die Schwestern am Nebentisch standen auf, warfen Marc einen Gruß zu und verließen kichernd die Cafeteria. Dass das Paar bereits gegangen war, bemerkte Noel erst jetzt. Ebenso wie Dr. Ullstein und die Krankenschwester unbemerkt verschwunden waren. Marc beugte sich lächelnd vor. „Jetzt bist du mit mir allein.“

Noel rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Damit hatte er genau das ausgesprochen, was ihr im selben Moment bewusst wurde und seltsam bedrohlich auf sie wirkte. Sie sah betont auffällig zur Uhr und seufzte. „Wir sollten auch gehen.“

„Sollten wir das?“ Eine Strähne seines dunklen Haares fiel ihm in die Stirn, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh.

„Mein Mann kommt gleich nach Hause“, sagte Noel und bemerkte, dass ihre Stimme zittrig und wenig überzeugend klang.

Marc beugte sich weiter vor, sodass Noel die kleinen schwarzen Punkte in seiner Iris entdeckte, die seine Augen so interessant machten. Er sah sie an und legte die Hand auf ihre. Verbotene Hitze breitete sich unter ihrer Haut aus und ließ Noel die Hand zurückziehen, als ihr bewusst wurde, auf was sie sich beinahe einließ.

Marc schüttelte den Kopf. „Selbst ein Blinder sieht, dass deine Ehe dich nicht glücklich macht.“

Noel stand auf, um die Tassen wegzubringen – und um dem Gespräch zu entrinnen. Lächelnd sagte sie: „Du kennst Ralf nicht.“

„Kennst du ihn denn?“, fragte er und traf damit einen wunden Punkt, denn genau diese Frage stellte sie sich in letzter Zeit täglich. Das gab Marc jedoch trotzdem nicht das Recht, diese Frage zu stellen.

„Du wagst dich zu weit vor, Herr Doktor.“ Sie wandte sich ab und brachte die Tassen an den Tresen. Als sie sich umdrehte, stand er direkt vor ihr. So nah, dass ihr Blick von seinen Augen auf seine geschwungenen Lippen wanderte, obwohl sie genau das vermeiden wollte. Was stellte er nur mit ihr an? Diese unausgesprochene Frage beantwortete er, indem er ihren Kopf umfasste und seine Lippen auf ihren Mund presste. Überrumpelt von dieser unverschämten Attacke, wich Noel einen Schritt zurück. Ihre rechte Hand wirbelte durch die Luft und prallte mit der Handinnenfläche auf seine Wange. „Mach das niemals wieder, Marc!“

Bevor er reagieren konnte, wandte sie sich ab und ließ ihn stehen.

„Warte, Noel. Bitte“, hörte sie ihn hinter sich herrufen, während die Schwingtüren der Cafeteria hinter ihr auf und zu pendelten.

 

Ralfs Herz pochte wilder, als vor dem ersten Rendevouz vor einer halben Ewigkeit. Sie hatte ihm nicht erst einmal zu verstehen gegeben, dass es für sie keine Grenzen gab. Solange der Preis stimmte, stünden ihm Tor und Türchen, und wenn er noch etwas drauf packte, auch das Hintertürchen zur Verfügung. Als sie ihm zum ersten Mal diese Avancen gemacht hatte, während ihm nichts anderes übrig geblieben war als ihre angeblichen Wehwehchen zu untersuchen, fühlte er sich von der rothaarigen Wildkatze angewidert. Zumindest wusste er, dass sie keine ansteckenden Krankheiten hatte und keinen Freier ohne Gummi an sich heranließ. Janine Ferangelli stand auf ihrer Karteikarte, auch wenn er nicht glaubte, dass es ihr richtiger Name war. Er klang einfach zu sehr nach Edelnutte, um wahr zu sein.

Jetzt stand er vor der Zimmertür des Hotels, in das sie ihn bestellt hatte, und fragte sich, was in ihn gefahren war. Seine Hand hatte ihre Nummer gewählt, sein Mund hatte gefragt, ob ihr Angebot noch gelten würde, seine Beine hatten ihn hier hergetragen. Obwohl er sich nicht sicher war, ob nicht letztendlich alles von seinem Schwanz gesteuert worden war.

In dem Moment, als ihm bewusst geworden war, dass er Noel im Bett wehtat, wurde ihm klar, was für ein Scheusaal er war. Er liebte Noel. Sie war seine Frau, sein Baby, sein … sie war alles für ihn.

Und jetzt verachtete er sich, weil er sie gleich betrügen würde. Nein, betrügen war nicht das richtige Wort. Wenn er sie betrügen würde, hätte er sich in eine Affäre verstrickt. Aber das war es nicht. Alles, was er wollte, war seinen verdammten Schwanz, der nie genug bekam, dem es nie hart genug sein konnte, in ein enges Loch zu rammen. Er wollte einer Frau die Seele aus dem Leib vögeln, alle Grenzen hinter sich lassen – ohne seiner Noel wehzutun. Wenn er sich woanders, bei einer Frau die quasi namenlos für ihn war, abreagierte, könnte er sich bei Noel vielleicht endlich zurückhalten, sodass er ihr den Sex bieten konnte, der sie glücklich machte.

Er holte dreimal tief Luft, fasste seinen Mut zusammen und klopfte an Janine Ferangellis Tür.