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Dr. Dräger fuhr sich mit der Hand durch den schütteren Haarkranz und lehnte sich mit einem Befund in der Hand gegen Katharinas Schreibtisch.

„Kann es sein, dass ich Noel vorhin hier gesehen habe? Hat sie heute nicht frei?“

„Ja und noch mal ja. Sie hatte ihre Migränetabletten hier vergessen.“

Er verzog das Gesicht. „Autsch, Migräne und dann keine Tabletten zur Hand. Ist ihr Mann nicht Arzt? Da hätte er ihr doch welche besorgen können.“

Katharina lachte leise. „So ungefähr dasselbe habe ich sie auch gefragt.“

„Und was hat sie geantwortet?“, bohrte er unnachgiebig weiter. Katharina kannte ihn nicht so neugierig. Andererseits fand sie es aufmerksam von ihm, dass er wusste, wann eine Schwester frei hatte und er sich um ihr Befinden sorgte. Bevor sie ihm antworten konnte, klingelte das Telefon. Sie zog die Augenbrauen hoch und lächelte Dr. Dräger an.

„Pretzius Klinik, Chirurgie. Schwester Katharina am Apparat. Nein, der ist nicht hier. Ja, da haben Sie Glück, einen Moment bitte.“ Sie hielt die Sprechmuschel des Telefons mit der linken Hand zu und wandte sich Dr. Dräger zu. „Dr. Jäger aus der Pathologie wollte eigentlich Dr. Bajona sprechen und lässt fragen, ob Sie ihm sonst weiter helfen könnten?“

Er nahm ihr das Telefon ab. Während er redete, kontrollierte Katharina den OP-Plan des nächsten Tages und dachte an Noel, die sich ziemlich seltsam benommen hatte. Herrn Rickerts Tod hatte sie offensichtlich verstört und aus der Bahn geworfen. Vielleicht war es auch nur die Migräne, die ihr zu schaffen gemacht hatte.

Dr. Dräger beendete das Gespräch und legte das Telefon auf Katharinas Tisch. „Sollte ich gebraucht werden, rufen Sie bitte in der Pathologie an. Ich bin bei Dr. Jäger.“

„Wird gemacht, Chef“, rief Katharina ihm hinterher und wunderte sich, dass er es plötzlich so eilig hatte.

 

Ein eisiger Schauder lief ihr den Rücken hinab und ließ sie frösteln, als sie in den gekachelten Flur trat. Unwillkürlich zog sie den Mantel fester zusammen. Den Fliesen nach zu urteilen, musste der Keller mindestens aus den siebziger Jahren sein. Beige-gelblich pflasterten sie bis auf Brusthöhe die Wände auf beiden Seiten des Ganges. Darüber bröckelte der gelbliche Putz von den Wänden. Eine Art Notbeleuchtung erhellte den Flur, sodass er nicht vollkommen im Dunkeln lag. Noel fragte sich weshalb, denn laut Rettungsplänen existierte diese Etage nicht. Selbst die Archiv- und Wäschekeller waren gekennzeichnet. In allen Räumen, in denen sich eventuell Personal aufhalten könnte, waren Notfallleuchtstreifen auf dem Boden, die die Rettungswege kennzeichneten. Nur hier nicht. Was heißen müsste, dass hier auch nicht mehr gearbeitet wurde. Aus welchem Grund war der Keller dann beleuchtet?

Noel schlich von Tür zu Tür und versuchte sie zu öffnen. Beinahe erleichtert stellte sie fest, dass sie verschlossen waren. Als sie an der dritten Tür den Knauf hinabdrückte und die Tür quietschend aufsprang, glaubte sie ihr Herz in der Brust springen zu fühlen. Sie hielt den Atem an und trat in den halbdunklen Raum. Durch den Lichtschacht des Fensters fiel etwas Tageslicht in das Zimmer. Noel ließ den Blick durch den Raum schweifen und erschauerte, als sie erkannte, um was für einen Raum es sich handelte. Es war ein alter Waschraum. Eine verchromte Schwingtür führte zu einem dahinter liegenden Raum. Obwohl Noel sich vor dem fürchtete, was hinter dieser Tür lag, ging sie auf sie zu. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und stieß sie auf.

In diesem Moment hörte sie Schritte im Flur, die sich dem Waschraum näherten.

Vorsichtig brachte Noel die Schwingtür zur Ruhe und presste sich gegen die Wand. Die Waschraumtür wurde aufgestoßen, Schritte kamen näher. Noel vergaß zu atmen, spürte ihren Herzschlag zwischen den an die Wand gepressten Schulterblättern hämmern. Sie hielt sich die schweißnasse Hand vor den Mund und wartete darauf jede Sekunde erwischt zu werden. Die Schritte wurden lauter, wieder leiser und nochmals lauter. Die Tür bewegte sich und ließ jeden Muskel in Noels Brust verkrampfen. Als sie einen Piepser hörte, hätte sie beinahe gestöhnt. Als sich die Person zurückzog und auch den Waschraum verließ, sank Noel an der Wand entlang in die Hocke und rang nach Atem. Sie spürte, wie Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten den Bauch entlang in einem Rinnsal hinabtropften. Sie musste hier so schnell wie möglich verschwinden.

Erst als sie die Fassung zurück erlangt hatte, registrierte sie, wo genau sie sich befand. Ein leiser Schrei entfuhr ihrer Kehle. Sie war am Ziel ihrer Suche. Der Schauplatz des Verbrechens. Nein, zahlloser Morde. So professionell, wie es aussah, handelte es sich um einen Raum, der regelmäßig genutzt wurde. Und zwar ganz bestimmt nicht zu Obduktionszwecken. Sterile Einmal-OP-Tücher lagen vorbereitet auf den Arbeitsflächen und warteten darauf im Notfall ausgepackt zu werden. Es gab Beatmungsgeräte, EKGs und alles, was der Überwachung einer Narkose diente. Bei Toten eine eher unnötige Maßnahme. Zweifelsohne hatte sie den Ort gefunden, wo es damals geschehen war. Alles, was sie jetzt noch zu machen brauchte, war regelmäßig die Augen offen zu halten und herauszufinden, wer in diesem OP arbeitete.

Ihr Zustand zwischen Aufregung, Angst, Entsetzen und Euphorie ließ sie kaum denken und trieb ihr zusammen mit der Migräne Tränen in die Augen. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren und übereilt handeln, dachte sie, lauschte und verließ den Raum, als sie sicher war, dass sich niemand in der Nähe befand. Eilig schlich sie zurück zum Fahrstuhl, der zum Glück noch unten stand, stieg ein und fuhr nach oben.

Sie wischte sich die feuchten Hände an ihrem Mantel trocken. Der Fahrstuhl hielt, öffnete die Türen und entblößte das erschrockene Gesicht von Marc Bajona. Noel hielt perplex und nicht zum Reden fähig die Luft an. Nein, doch nicht er, dachte sie und fühlte sich, als hätte er ihr direkt ins Kreuz geschlagen.

Er packte sie fest am Arm und zog sie unsanft aus dem Lift. „Hier treibst du dich also herum, wenn du frei hast. Interessant, Frau Dr. Thalbach.“

Noel schüttelte verächtlich den Kopf. „Eine bessere Verteidigungsstrategie fällt dir wohl nicht ein? Darf ich fragen, wo du hin wolltest, Herr Doktor?“

Er packte sie an der Taille und zog sie durch den Notausgang heraus aus dem Gebäude. Noel drehte die Schulter abwehrend weg. „Fass mich nicht an!“

Er ließ ihre Schulter los. „Also, Noel, was hast du da unten getrieben?“ Sein Blick war todernst, sein Gesicht lähmend nah dem ihren. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht und wich einen Schritt zurück, bevor diese Nähe sie erdrückte. Um die Angst zu überspielen, lachte sie ihm verächtlich ins Gesicht. „Ich habe zuerst gefragt. Billige Methode, mir den Schwarzen Peter zuschieben zu wollen. Hast du gestern Nacht vielleicht ein paar Instrumente vergessen?“

„Du machst dich lächerlich. Ich erwische dich, wie du aus dem Keller kommst, und du …“ Er wandte sich von ihr ab und schlug die flachen Hände abwehrend durch die Luft. „… denk doch, was du willst.“

Noel kniff die Augen zusammen, schob den Unterkiefer trotzig vor und musterte ihn. Konnte er tatsächlich dazu gehören? Konnte er töten? „Worauf du dich verlassen kannst“, zischte sie ihn an und drängte sich an ihm vorbei Richtung Parkplatz.

Ihr Herz pochte, ihre Brust schmerzte, ihre Hände waren so feucht, dass sie kaum den Autoschlüssel in den Händen halten konnte. Weshalb er?, fragte sie sich und merkte, dass sie nicht wollte, dass er dazu gehörte. Auch wenn sie ihn wegen seiner Arroganz beinahe täglich auf den Mond schießen könnte, war er ihr ein Freund geworden. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber sie mochte ihn. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb sie ihren Schutzwall gegen ihn aufgebaut hatte. Sie wollte ihn nicht mögen. Sie war verheiratet. Bei diesem Gedanken überflutete ein Anfall von Melancholie ihre Seele.

Fluchend bearbeitete sie den Sensorknopf der Fernbedienung, öffnete den Wagen und setzte sich hinein. Anstatt loszufahren, ließ sie den Kopf gegen die Kopfstütze sinken und schloss die Augen.

Was war aus ihrer Ehe nur geworden? Sie wollte es nicht wahrhaben, aber sie entfernten sich täglich weiter voneinander und Ralf schien es nicht einmal zu bemerken. War es da ein Wunder, dass sie häufiger an Marc dachte, als gut für sie war? Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schlug aufs Lenkrad und erschrak, als sie die Hupe traf. Und jetzt schien es so, als würden die Fäden ihres grausamen Schicksals in seinen Händen zusammenlaufen. Es sprach soviel dagegen. Er war nicht lang genug in der Pretzius Klinik, er operierte wie ein Gott und mit der Hingabe, als wäre jedes Leben, das er rettete, sein Eigenes. Das passte einfach nicht. Noel wollte nicht, dass es passte. Und doch gab es keine Erklärung, weshalb er aus dem Tiefparterre gekommen war und wieder hinunter wollte. Ebenso wie er sie schon einmal vom Keller fernhalten wollte und stattdessen sogar für sie ins Archiv gegangen war. Angeblich wurde er im Keller eingesperrt. Wer weiß, ob er in der Zwischenzeit nicht jemanden ausgeschlachtet hatte, um sich ein paar Scheine zusätzlich zu verdienen? Außerdem war Herr Rickerts sein Patient. Niemand würde glauben, dass er ihm in einer stundenlangen OP erst das Leben rettete, um es ihm dann zu nehmen. Das wäre das perfekte Gegenargument, womit er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen könnte.

Noels Gedanken drehten sich im Kreis. Sie atmete tief durch und startete den Motor des Wagens. Es war Zeit für einen Besuch. Ihr Herz krampfte. „Ich gebe nicht auf, mein Engel, bevor jeder Einzelne von ihnen für das, was sie dir angetan haben, gebüßt hat.“