25

 

Auf der Station wurde gearbeitet wie jeden anderen Tag auch. Außer Lars und Katharina schien sich kein Mensch darum zu scheren, was vor sich ging. In Katharina hatte Marc eine weitere Verbündete gefunden. Nachdem Noel in der Klinik gewesen war und Katharina sich die Wahrheit über Marcs Beziehung zu Noel zusammengereimt hatte, war es zu einer unerwarteten Aussprache gekommen. Katharina schien erleichtert gewesen zu sein, denn auch ihr waren seltsame Geschehnisse aufgefallen. Leider waren ihre Erkenntnisse weit geringer, als Marcs und Noels. Je länger Marc darüber nachdachte, dass man die Geschehnisse offensichtlich ignorierte, drängte sich ihm eine Frage auf. Wer, zum Teufel, war alles in die Machenschaften verstrickt? Ignorierte man es, das Thema anzusprechen, weil Druck ausgeübt worden war, oder steckten mehr Kollegen dahinter, als er vermutete? Es konnten doch nicht alle übersehen, dass Patienten häufiger als anderswo mit einem Organ weniger nach Hause gingen. Wie viele Patienten waren plötzlich postoperativ verstorben?

Marc sah von seinem Schreibtisch auf, als es klopfte und Katharina den Kopf in die Tür steckte.

„Sie möchten sich bitte umgehend bei Herrn Witten melden.“

„Dem Personalleiter?“

Sie nickte. „Mehr weiß ich auch nicht.“

In dem Moment als er das Büro des Personalleiters, Herrn Witten, betrat wusste Marc, dass er es ohne Job verlassen würde. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht, als er sah, dass Herr Witten ein Glas Bourbon mit Dr. Dräger trank.

Marc reichte Herrn Witten die Hand und nickte Dräger zu. An Witten gerichtet fragte er: „Sie haben mich rufen lassen?“

„Setzen Sie sich“, Witten deutete auf den Stuhl vor seinem ausladenden Schreibtisch. Dr. Dräger nahm auf dem Stuhl daneben Platz. Marc kniff irritiert die Augen zusammen, ließ sich aber langsam auf den Stuhl sinken.

Witten schob Marc einen großen braunen Umschlag zu.

„Was soll das werden?“, fragte Marc und zwang sich, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Er nahm die Unterlagen und sah in den Umschlag. Überrascht reagierte er nicht, als er seine fertig vorbereiteten Entlassungspapiere darin vorfand.

Dr. Dräger atmete tief durch. „Ich gebe Ihnen zwei Stunden, mir mein Notizbuch zurückzubringen. Nach Ablauf der Zeit sehe ich mich gezwungen, Ihren Einbruch in mein Büro anzuzeigen.“

Marc lachte. Ach, von da wehte der Wind. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten.

„Ich glaube kaum, dass Sie mich wegen dieses Buches anzeigen werden. Brisante Aufzeichnungen, Herr Kollege.“

Marc legte ein Bein über das andere und beugte sich vor.

„Schieben Sie sich Ihre zwei Stunden in den Arsch.“ Er sah Dräger stur in die Augen. Mit Nachdruck zog er die Hand aus der Hosentasche und ballte sie zur Faust, den Mittelfinger aufwärtsgerichtet.

„Ruhe jetzt!“, meldete sich Herr Witten zu Wort. „Mir ist scheißegal, was Sie zu regeln haben. „Dr. Dräger hat zwei Zeugen, die den Einbruch auch vor Gericht bestätigen würden. Ich dulde solche Dinge in dieser Klinik nicht.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Augen wirkten, als würden sie ihm vor Zorn aus dem Gesicht springen. „Akzeptieren Sie die fristlose Kündigung! Andernfalls werden wir Sie verklagen.“

„Na fein“, sagte Marc, stand auf, verließ das Büro und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.

 

Zu Hause ließ er sich mit einem Bier in der Hand auf die Schaukel im Garten sinken und machte sich lang. Die Kissen dufteten nach Noel.

Noel, ihr Name löste heiße und zugleich kalte Schauer auf seiner Haut aus. Jetzt hatte er Zeit. Kein Job wartete auf ihn. Er könnte ihr auf der Stelle nachreisen. In gut fünf Stunden könnte er bei ihr sein. Seltsamerweise traf ihn der Verlust des Jobs nicht im Geringsten.

Laras Tod würde gesühnt werden. Es war nur eine Frage der Zeit. Er würde sich nicht aufhalten lassen, von außen weiter zu ermitteln. Dann waren noch Lars und Katharina da, die ihm gegenüber immer loyal gewesen waren. Gemeinsam hatten sie ihm beim Abschied versprochen ihn zu informieren, sobald sie einen Verdacht hatten.

Noel verdankte er es, dass er sein Leben nicht für die Rache fortgeworfen hatte.

Fünf Stunden. Wenn er sich jetzt hinter das Steuer klemmen würde, könnte er bei ihr sein, noch bevor sie mit seinem Anruf rechnete.

Marc trank einen großen Schluck Bier, um diesen Gedanken zu verdrängen. Er hatte ihr versprochen, ihr so lange Zeit zu geben, wie sie brauchte. Dass er ihr wichtig war, bewies sie ihm jeden Tag. Morgens und abends telefonierten sie oftmals weit über eine Stunde. Jetzt musste er sich zusammenreißen und auch ihr zeigen, dass sie ihm wichtig war, indem er ihren Wunsch akzeptierte.

 

Eigentlich hätte sie deprimiert sein müssen. Noel drehte sich auf dem Hotelbett, legte die verschränkten Arme unter den Kopf und traf eine Entscheidung. Sie wusste, dass sie ihrem Ziel keinen Millimeter näher war, als am ersten Tag. Ihre Ehe war nicht nur den Bach runtergegangen, sondern in einem rauschenden Wasserfall ertrunken. Sie hatte kein Heim mehr. Sie lebte aus dem Koffer, in dem lediglich ein paar lieblos eingekaufte Kleidungsstücke steckten. Und sie fuhr einen Sportwagen, der nicht ihr gehörte.

Aber sie hatte jetzt etwas, das sie in ihrem Leben noch nie gehabt hatte. Weder bei Ralf, noch bei Amelies Vater.

Sie hatte einen Mann, der sie aufrichtig liebte. Bisher schien sie einen Hang zu Männern zu haben, die sie beherrschen wollten. Blind vor Liebe hatte sie eine gewisse Zeit lang sämtliche egoistischen Merkmale ignoriert und sich in ihre Hände gefügt, ohne an sich selbst zu denken.

Damit war jetzt ein für alle Mal Schluss.

Marc hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihre Wünsche über die Eigenen stellte. Marc gab ihr die Zärtlichkeit, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Marc hatte sie geliebt, wirklich geliebt.

Marc. Bei dem Gedanken an Marc entstand in ihrem Unterleib ein seltsames Ziehen. Sie lächelte. Obgleich sie wusste, dass es nicht möglich sein konnte, schwelgte sie in Euphorie. Noch musste sie sich gedulden. Sie würde es ihm sagen, sobald es sicher war. Und deswegen konnte sie nicht einen Tag länger warten.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf und nahm das Telefon in die Hand. Dreimal hörte sie es in der Leitung läuten. Dreimal, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen.

„Hallo Baby“, begrüßte er sie mit rauer Stimme.

Noel schluckte. „Nenne mich nie wieder Baby!“ Vielleicht klang ihre Stimme deutlicher, als sie es vorgehabt hatte. Marc schwieg jedenfalls einen Moment, bevor er etwas erwiderte.

„Ähm, er hat dich Baby genannt, stimmt’s?“

„Ich halte es keinen Tag länger ohne dich aus.“ Sie hörte Marc laut ausatmen und fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, jetzt wo es raus war.

„Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest.“

„Marc?“, sie suchte nach den richtigen Worten. „Wenn alles gut geht, bringe ich eine Überraschung mit.“

„Sieh zu, dass du schnell bei mir bist. Alles andere ist unwichtig.“

Fast stimmte sie ihm zu. Doch in dieser einen Angelegenheit musste sie sich vorher Klarheit verschaffen. Es konnte nicht möglich sein und trotzdem wusste sie tief in ihrem Inneren, dass es doch so war.

„Ich fahre gleich los. Mach dir keine Sorgen, wenn es etwas länger dauert. Ich muss in Lübeck eine Kleinigkeit erledigen, bevor ich zu dir komme.“

„Noel? Ich hoffe, es hat nicht mit der Klinik zu tun.“

Sie lachte leise. „Ich werde nichts unternehmen, worüber du dir Sorgen machen musst. Ehrenwort.“

„Okay. Ich glaube dir. Fahr vorsichtig.“

„Darauf kannst du dich verlassen.“

Als Noel das Telefon ausschaltete, wusste sie, dass sie jede Minute zählen würde, bis sie bei ihm war. Ihr Körper fühlte sich an, wie der eines Teenagers, der seine Hormone nicht unter Kontrolle hatte. Ihr Puls war eindeutig zu schnell, ihre Finger kribbelten, im Bauch flatterten ganze Herden von Schmetterlingen und ihr Kopf konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Sie raffte ihre paar Habseligkeiten in den Koffer, verließ das Hotelzimmer und zahlte die Rechnung. Wenige Minuten später saß sie hinter dem Steuer ihres Wagens mit dem Ziel Dr. Malsteins Praxis vor Augen.

 

Auf den Schlag fünf Stunden später parkte Noel am Straßenrand keine fünfzig Meter vor der Praxis. Sie fütterte den Parkscheinautomaten mit dem letzten Kleingeld, das sie in ihrer Börse fand, und eilte den Weg entlang zu dem Haus, in dem sich die Praxis befand. Gerade als sie das Gebäude betreten wollte, hörte sie Schritte, die sich ihr näherten. Als sie sich umdrehte, sah sie in das atemlose Gesicht Dr. Ullsteins. Er lächelte, wie immer, wenn sie ihn sah.

„Ich war mir nicht sicher, ob Sie es sind“, sagte er außer Atem. „Freut mich Sie wiederzusehen.“

Sie reichte ihm die Hand. „Geht mir genauso, Dr. Ullstein.“

„Mit Ihnen ist uns eine hervorragende Kraft verloren gegangen.“

Noel lächelte ihn an, blinzelte aber auch zur Uhr. In zwei Minuten sollte sie in der Praxis sein.

„Dankeschön, Dr. Ullstein. Ich muss …“

„Verzeihung. Ich halte Sie auf. Machen Sie es gut, Frau Thalbach.“

Sie reichten sich noch einmal die Hände, bevor Noel in den Eingang verschwand. Eilig stieg sie die Treppen in die zweite Etage des modernen Treppenhauses empor. Dunkelgrün gestrichen und weiß abgesetzt mit Stufen, die wie Marmor wirkten, strahlte das Treppenhaus etwas Beruhigendes aus. Noel atmete tief durch. Scheinbar war es nicht beruhigend genug. Ihr Herz klopfte wild, als sie die Praxis betrat und sich anmeldete. Eine halbe Stunde blätterte sie sich im Wartezimmer durch sämtliche Zeitschriften, ohne ein einziges gelesenes Wort wahrzunehmen. Dann wurde sie endlich zu Dr. Malstein ins Sprechzimmer gebeten.

Der Arzt wirkte selbst hinter seinem Schreibtisch sitzend riesig. Noel reichte ihm die Hand und bemühte sich, nicht auf seine Füße zu starren. Seine Beine waren so lang, dass die Füße fast gegen ihre stießen, obwohl er die Beine unter dem Tisch verkreuzt hatte. Trotz dieser einschüchternden Größe kannte sie keinen anderen Gynäkologen mit einer derart beruhigenden Ausstrahlung, wie er sie innehatte. Noel setzte sich und begann am Riemen ihrer Handtasche zu nesteln.

Dr. Malstein stützte die Arme auf den Schreibtisch und beugte sich ihr entgegen.

„Dann erzählen Sie mal, Frau Thalbach.“

 

Mehr als zufrieden über den Besuch bei Dr. Malstein konnte Noel es nicht erwarten, bei Marc anzukommen. Von Lübeck bis Großensee brauchte sie kaum mehr als zwanzig Minuten, die ihr unendlich lang erschienen. Noch zwei Straßenkreuzungen und sie würde in seine kleine verwunschene Straße …

Zu spät sah sie den Jeep von links heranrasen. Ein Knall, Reifen quietschten, Glas zersplitterte. Der Aufprall auf ihren linken Kotflügel warf den Wagen so weit aus der Bahn, dass sie sich einmal um die eigene Achse drehte, bevor sie zum Stillstand kam. Sie fand sich in einem Berg aus Airbags wieder, die sie vor Verletzungen bewahrt hatten. Als sie sich aus den erschlaffenden Kissen befreit hatte und die Orientierung wieder fand, konnte sie von dem Jeep weit und breit nichts mehr entdecken. Fahrerflucht, dachte sie.

Stattdessen stand ein Krankenwagen vor ihrem Auto. Zwei Rettungssanitäter sprangen auf sie zu und rissen ihre Tür auf. Wo kamen die so schnell her? Benommen überlegte sie, ob sie vielleicht doch kurzzeitig das Bewusstsein verloren haben mochte. Einer der Sanitäter hockte sich vor ihre Tür und sprach ihr beruhigende Worte zu. Dabei war sie doch ganz ruhig.

„Haben Sie sich verletzt?“, hörte sie ihn fragen. Sie schüttelte den Kopf, wollte aussteigen. Doch er hielt sie zurück. „Machen Sie ganz langsam. Ich werde Ihren Blutdruck überprüfen.“

Sie hielt ihm den linken Arm entgegen. „Mir geht es gut. Ich muss meinen Freund anrufen.“

Er lächelte, legte ihr die Blutdruckmanschette an und pumpte sie auf. Als sie prall gefüllt war, langte er nach hinten und ließ sich von dem anderen Sanitäter etwas in die Hand legen. Noel achtete nicht weiter darauf, was es war. Sie war nur darauf bedacht, endlich Marc anrufen zu können. Der Sanitäter lockerte die Manschette, schob sie etwas hoch und ehe sich Noel versah, steckte eine Injektionskanüle in ihrer Vene. Erschrocken zog sie den Arm zurück, was lediglich zur Folge hatte, dass ihr Arm schmerzte. Er hielt sie fest, bis sie spürte, dass ihre Kräfte nachließen.

„Ich bin in ord…“ Sie blinzelte, sah das Gesicht des Sanitäters aus ihrem Blickfeld verrutschen. „Kein Kranken…“, …haus, dachte sie zu Ende, was sie nicht mehr über die Lippen zu bringen vermochte. Ihre Zunge fühlte sich schwer wie Blei an. Arme und Beine gehorchten nicht mehr. Ihr Kopf fiel gegen die Rückenlehne. Ihr wurde heiß, ihr Herz raste. Was hatte er ihr gegeben? Ihr Atem wurde immer schneller, als ihr bewusst wurde, was ihr geschehen war. Es hatte sie erwischt. Mit aller Kraft versuchte sie, sich gegen das Medikament zu wehren. Hoffnungslos. Benommen sah sie die Wolken am Himmel vorüberziehen. Was war ihr Ziel gewesen? Jemand löste ihren Sicherheitsgurt. Arme schoben sich unter ihren Rücken. Ehe sie sich versah, war sie aus dem Auto heraus, lag auf einer rollbaren Trage. Spürte Luft an ihrer Haut, hörte Stimmengewirr. Sie wollte etwas sagen. Nur was? Ihr Versuch, sich aufzurichten, schlug fehl. War da ein Gurt um ihren Bauch? Es wurde dunkel, dann schlug eine Tür zu. Ihr wurde schlecht. Die Landschaft zog an ihr vorüber.

„Kein Krankenhaus“, hörte sie eine Stimme immer wieder murmeln. War das ihre Stimme?

Ihr wurde eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht gedrückt. Was immer sie einatmete, innerhalb weniger Sekunden verlor sie die Kraft die Augen offen zu halten. Ihr Gehirn fühlte sich an wie Watte. Sie war wach und doch konnte sie weder die Augen öffnen, noch denken. Doch da war irgendetwas. Irgendetwas, das nicht richtig war. Nur was?

Nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war, wurde es ungemütlich. Es rüttelte, lärmte, unangenehm helles Licht rauschte über ihr hinweg. Stimmen, die durcheinander redeten. Hände. Überall Hände, die an ihr herumtasteten. Dann verlor sie sich in ruhiger Dunkelheit.

 

Mit dem Aufwachen kam auch die Panik. Noel rüttelte an ihren Armen, versuchte sich zu bewegen und musste feststellen, dass sie in einem Krankenbett lag. Die Arme und der Bauch mit Ledergurten an den hochgestellten Bettgittern festgebunden. Als der Nebel der Benommenheit sich von ihren Augen lichtete, wurde ihr erneut übel.

Lächelnd stand Ralf neben ihrem Bett. Was sollte das? Wieso wusste er, dass sie hier war? Man musste ihn informiert haben. Er war ihr Mann. Aber sein Lächeln drückte kein Mitleid aus. Nein. Und sie hatte auch keine Verletzung gehabt, bevor der Krankenwagen kam. Nachdenken, Noel, drängte sie ihr Gehirn. Wo war der Fahrer des Unfallfahrzeugs geblieben?

Mit einem Mal wusste sie, dass sie nicht zufällig hier gelandet war. Wenn doch nur ihr Gehirn endlich wieder richtig funktionieren würde. Nachdenken! Wenn man sie absichtlich in diese Lage gebracht hatte, hätte man niemals ihren Mann benachrichtigt. Irgendetwas war nicht richtig, passte nicht zusammen. Es sei denn …

Sie sah in Ralfs Augen und erkannte die Antwort.

„Ist dir wirklich nie der Gedanke gekommen, weshalb ich gerade nach Amelies Tod in deinem Leben aufgetaucht bin?“

Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt. Aber ihre Reflexe waren so schwach, dass sie sich bestenfalls selbst getroffen hätte. In ihrem Magen zog sich eine dunkle Gewissheit zu einem stechenden Schmerz zusammen. Sie krümmte sich und stöhnte. Das konnte nicht sein. Nicht Ralf. Die letzten Jahre zogen an ihr vorbei. Sie hatte mit einem Geist zusammengelebt. Mit Amelies Mörder. Mit dem Teufel persönlich. Und jetzt war sie zu benommen, um ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen. Wehrlos musste sie sein theatralisches Finale ertragen.

Dann spürte sie Ralfs Hand auf ihrer Stirn, sah seine Augen, nur wenige Zentimeter über ihren.

„Baby, Baby, Baby. Wie konntest du es nur so weit kommen lassen?“ Er schüttelte den Kopf, als wäre sie ein Kind, das etwas Böses angestellt hatte. „Ich habe niemals gewollt, dass es so weit kommt. Ich liebe dich und wollte dich schon damals durch unsere Ehe retten. Alle Kollegen waren gegen mich.“ Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, bevor er seine Lippen auf ihre senkte. Würgend drehte Noel den Kopf zur Seite und bemerkte schadenfroh, wie sehr sie ihn damit verärgerte.

Offensichtlich riss er sich zusammen. Sein Blick klärte sich wieder, als er mit ruhiger Stimme weiter sprach. „Ständig wurde ich unter Druck gesetzt, ich solle dich endlich unter Kontrolle bringen. Dann war hier jemand so blind und hat dich eingestellt, ohne zu wissen, wer du bist.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte weiter, als würde er ihr etwas Gutes tun. „Du wolltest nicht auf mich hören. Ich verzeihe dir sogar, dass du auf mich geschossen hast.“ Er rollte die Schulter. „Ist gut verheilt.“

„Fick dich ins Knie!“, hörte sie sich sagen, obwohl es wie aus dem Mund einer Fremden klang. Noch immer war ihre Zunge schwer. Was spielte es für eine Rolle, was für Ausdrücke ihr über die Lippen kamen? Er würde sie töten. Bei dem Gedanken überschlug sich ihr Atem plötzlich. Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, rang nach Atem.

Eine Schwester tauchte neben Ralf auf, reichte ihm etwas, das er in die Braunüle spritzte. Nach wenigen Sekunden flachte die Panikattacke ab und sie bekam wieder richtig Luft.

„Versuch ruhig zu bleiben, Baby. Dann wird auch alles nicht schlimm werden. Niemand wird dir wehtun.“ Er zauberte ein gönnerhaftes Lächeln in sein Gesicht. „Du wirst nichts davon mitbekommen. Bald ist alles gut.“

Er wandte sich an die Schwester. „Holen Sie sich Verstärkung und bereiten Sie sie für die OP vor. 5mg Dormicum zur Narkoseeinleitung nicht vergessen. Ich möchte nicht, dass meine Frau leidet.“ Die Schwester nickte und verschwand aus dem Zimmer.

Tausende Gedanken tobten durch Noels Gehirn. Marc. Sie sah sein Gesicht vor sich. Wie viel Zeit war vergangen? Wartete er schon auf sie? War er bereits in Sorge? Sie hatte ihm gesagt, dass es länger dauern würde. Unmöglich, dass er darauf kommen könnte, sie hier zu vermuten. Selbst wenn, in kürzester Zeit würde es zu spät sein.

Ralf legte seine Hand auf ihren Kopf. „Entspann dich, Baby.“ Er kam mit seinem Mund an ihr Ohr und flüsterte: „In spätestens zwei Stunden wirst du bei deiner Tochter sein.“

Noel sah ihn, ohne etwas erwidern zu können, in die Augen, konnte durch den Tränenvorhang jedoch kaum etwas von seinem Gesicht erkennen.

Noch einmal beugte sich Ralf über sie und küsste ihr die Stirn. „Jetzt musst du mich entschuldigen, Baby. Ich muss mich fertig machen. Ich werde mich aber noch einmal von dir verabschieden, bevor du das letzte Mal die Augen schließt.“

Ein unbändiges Stöhnen, das zu einem lauten Schrei anschwoll, drang durch Noels Kehle, ohne dass sie etwas dagegen hätte machen können.

 

Zwei Pfleger, der eine mit schwarzen langen Haaren, der andere so kahl geschoren, wie Kojak und die Schwester sahen auf Noel herab. Sie ließen die Bettgitter hinab und öffneten die Gurte, mit denen sie ans Bett gefesselt gewesen war. Augenblicklich wand sich Noel unter ihren Händen, merkte jedoch sofort, dass sie zu benommen war, um etwas auszuwirken. Sie schrie um Hilfe, während die Pfleger sie auszogen.

„Hier können Sie schreien, soviel Sie mögen. Niemand wird Sie hören“, sagte die Schwester mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht. Sie klatschte ihr einen kalten Waschlappen auf den Körper und wusch sie damit sauber. Als sie meinte, fertig zu sein, drehten die Pfleger Noel auf den Bauch. Das ruppige Spiel wiederholte sich auf ihrem Rücken. Noels Körper bebte. Machtlos wie ein pflegebedürftiges Baby war sie in ihrer Gewalt. Zu müde, sich wehren zu können, zu wach, die Panik zu verdrängen. Sie wurde wieder auf den Rücken gedreht und in ein OP-Hemd gesteckt. Die Pfleger zogen ihr einen Einmalslip über.

„Wo die hingeht, braucht sie keine Reizwäsche“, sagte der glatt rasierte von den beiden Pflegern zu seinem Kollegen, der ebenso verschlagen grinste.

„Ihr wisst nicht, was ihr tut“, murmelte Noel, nicht fähig ihre Zunge zu kontrollieren.

Die Schwester beugte sich über Noel. „Machen Sie sich nicht so viele Sorgen. Sie verschwenden Ihre kostbare Zeit, Kleines.“ Sie nahm eine Spritze vom Beistelltisch und packte Noel unsanft am Arm. Nein! Noel entzog ihr den Arm und fegte die Spritze vom Tisch. Blitzschnell waren die Pfleger bei ihr und fixierten sie zu zweit, während die Schwester die Spritze vom Boden aufhob und sie in die Braunüle stieß. „Gleich wirst du dich gut fühlen“, sagte sie lächelnd.

Noel wusste nur zu gut, was jetzt auf sie zukam. Die Wirkung der von Ralf verordneten Menge Dormicum würde ihren Widerstand brechen. Sie kämpfte mit aller Kraft gegen das Medikament an, obwohl sie wusste, dass sie den Kampf verlieren würde.

„Ihr könnt den OP vorbereiten“, sagte die Schwester den Pflegern. Noel hörte, wie die Tür auf und wieder zu ging. Sie gab sich vor der Schwester benommener, als sie es war, und schloss flattrig die Augenlider. Jetzt nur nicht tatsächlich der Müdigkeit hingeben!, sagte sie sich im Stillen immer wieder.

Ein Schutzengel ließ auf dem Flur irgendetwas laut scheppern, sodass die Schwester aus dem Zimmer gerufen wurde. Noel riss die Augen auf, sah die Spritze auf dem Tisch liegen und wusste, was sie tun musste. Sie griff nach der Spritze und ließ sie fürs Erste in ihrem Einmalslip verschwinden. Wie sie ihre Waffe, eine Spritze ohne Kanüle einsetzen wollte, war ihr nicht klar. Aber es war der letzte Strohhalm, an den sie sich klammern konnte. Sie versuchte sich aufzusetzen, was hoffnungslos misslang. Die Gitter waren noch nicht wieder hochgeschoben. Ohne Rücksicht ließ sie sich über die Bettkante fallen und schlug schmerzhaft auf den Knien auf. Sie biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei. Der Kraftaufwand hatte sie erschöpft. Schweiß trat aus jeder Pore und machte es noch unmöglicher sich aufzurichten. Sie überprüfte, ob die Spritze noch dort war, wo sie das Instrument hingesteckt hatte und verschwendete keine Zeit mit hoffnungslosen Versuchen. Auf allen Vieren schleppte sie sich zur Tür. Dies war ihre einzige Chance. Sie wusste, dass es nur ein Funke von Hoffnung war. Wie sollte sie den ganzen Weg bis zum Ausgang auf allen Vieren ungesehen schaffen? Noch dazu wo das Dormicum mit jeder Sekunde mehr von ihrem Nervensystem Besitz ergriff. Sie atmete tief durch und hievte sich unter Aufwendung aller Kraft am Türgriff hoch, drückte ihn hinab und zog sich an der Wand entlang auf den Flur.