20
»Es tut mir schrecklich leid!« Leonora half Humphrey aus der Besenkammer heraus. »Es hat sich … einfach so entwickelt.«
Jeremy folgte Humphrey und stieß dabei einen Mopp aus dem Weg. Er sah sie finster an. »Das war die erbärmlichste schauspielerische Leistung, die ich je gesehen habe, und dieser Dolch war verdammt noch mal scharf
Leonora sah ihm in die Augen, dann schloss sie ihn hastig in ihre Arme. »Aber es hat funktioniert. Und das ist doch schließlich das Wichtigste.«
Jeremy schnaubte und warf einen Blick auf die geschlossene Bibliothekstür. »Ist auch gut so. Wir wollten lieber nicht klopfen, um auf uns aufmerksam zu machen. Womöglich hätten wir jemanden in einem unglücklichen Moment abgelenkt.« Er sah Tristan an. »Ich nehme an, Sie haben ihn gefasst?«
»Und ob.« Tristan wies auf die Tür. »Wir sollten hineingehen; ich bin mir sicher, St. Austell und Deverell müssten ihm seine Position inzwischen klargemacht haben.«
Die Szene, die sich ihnen darbot, als sie die Bibliothek betraten, untermauerte diese Vermutung; Duke Martinbury kauerte mit hängenden Schultern und hängendem Kopf auf einem einfachen Stuhl in der Mitte des Raumes. Seine Hände, die schlaff zwischen seinen Knien herunterhingen, waren mit einer Vorhangkordel gefesselt. Einer seiner Stiefel war auf Höhe des Fußgelenkes an das Stuhlbein gebunden.
Charles und Deverell standen mit verschränkten Armen Seite an Seite gegen den Schreibtisch gelehnt und beäugten ihren Gefangenen aufmerksam, so als würden sie sich insgeheim überlegen, was sie als Nächstes mit ihm anstellen könnten.
Leonora musterte ihn eingehend, konnte aber außer einem Kratzer an der Wange nichts feststellen. Obgleich dem Gefangenen äußerlich nichts fehlte, schien es ihm jedoch nicht gut zu gehen.
Deverell schaute auf, während sich die Eintretenden an ihre vertrauten Plätze begaben. Leonora half Humphrey in seinen Sessel. Deverell begegnete Tristans Blick. »Vielleicht sollten wir Martinbury herholen, damit er sich das hier anhören kann.« Er ließ seinen Blick über die mangelnden Sitzgelegenheiten schweifen. »Wir könnten ihn mitsamt seiner Liege hereintragen.«
Tristan nickte. »Jeremy?«
Zu dritt verließen sie den Raum und überließen Charles die Aufgabe des Wächters.
Eine Minute später war aus der Eingangshalle ein nachdrückliches Wuff! zu hören, gefolgt von dem Geräusch von Henriettas Pfoten, die in diesem Moment den Gang hinuntergelaufen kamen.
Leonora warf Charles einen überraschten Blick zu.
Er wandte seinen Blick keine Sekunde lang von Duke ab. »Wir dachten, sie würde vielleicht dazu beitragen, dass Duke seine Fehler schneller einsieht.«
Henrietta knurrte bereits, als sie in der Tür erschien. Sie hatte die Nackenhaare gesträubt; ihr glühender bernsteinfarbener Blick war drohend auf Duke gerichtet. Steif, starr und hilflos an den Stuhl gefesselt blickte er sie voll Entsetzen an.
Henriettas Knurren fiel um eine Oktave. Ihr Kopf sank nach unten. Drohend ging sie zwei Schritte auf ihn zu.
Duke sah aus, als wolle er jeden Moment ohnmächtig werden.
Leonora schnippte mit dem Finger. »Hierher. Bei Fuß.« »Na, komm her, altes Mädchen.« Humphrey klopfte sich auf den Oberschenkel.
Henrietta blickte Duke ein letztes Mal an, dann trottete sie mit einem Schnauben hinüber zu Leonora und Humphrey. Sie begrüßte die beiden, drehte sich einmal im Kreis und ließ sich in einem zottigen Fellhaufen zwischen ihnen zu Boden sinken. Während ihr schwerer Kopf auf ihren Pfoten ruhte, lastete ihr durch und durch feindseliger Blick auf Duke.
Leonora warf einen Blick zu Charles hinüber. Er wirkte überaus zufrieden.
Jeremy erschien in der Tür und hielt diese weit auf; Tristan und Deverell trugen das Ruhebett mitsamt Jonathon Martinbury ins Zimmer.
Duke schnappte nach Luft. Er starrte Jonathon an; die letzte Spur von Farbe wich aus seinem Gesicht. »Großer Gott! Was ist denn mit dir geschehen?«
Kein noch so guter Schauspieler hätte eine derart überzeugende Leistung vollbracht; Duke war über den Zustand seines Cousins aufrichtig schockiert.
Tristan und Deverell setzten das Ruhebett ab; Jonathon hielt Dukes Blicken ruhig stand. »Wie es aussieht, habe ich mit deinen Freunden Bekanntschaft gemacht.«
Duke sah elend aus. Sein Gesicht war wächsern; er starrte stumm geradeaus, dann schüttelte er den Kopf. »Aber wie konnten sie das wissen. Ich wusste ja selbst nicht einmal, dass du in der Stadt bist.«
»Ihre Freunde sind überaus entschlossen; ihr Arm reicht weit.« Tristan ließ sich neben Leonora auf die Chaiselongue sinken.
Jeremy schloss die Tür. Deverell hatte sich wieder an Charles’ Seite begeben. Jeremy durchquerte den Raum, zog seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich.
»Also gut.« Tristan wechselte einen flüchtigen Blick mit Charles und Deverell, dann sah er Duke an. »Sie befinden sich in einer ernsten, um nicht zu sagen verheerenden Lage. Wenn Sie nur ein Fünkchen Verstand haben, werden Sie unsere Fragen schnell, klar und ehrlich beantworten. Und vor allem präzise.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »An Ihren Entschuldigungen sind wir nicht interessiert, also sparen Sie sich Ihre Ausflüchte. Nur um die Sache grundsätzlich nachvollziehen zu können: Was hat Sie überhaupt zu dieser Tat getrieben?«
Dukes finsterer Blick ruhte auf Tristans Gesicht; da Leonora direkt an seiner Seite saß, konnte sie Dukes Züge mühelos deuten. Sein brutaler Wagemut hatte ihn schmählich verlassen; die einzige Regung, die nunmehr sein Gesicht zeichnete, war Angst.
Er schluckte. »Newmarket. Der große Jahrmarkt im vergangenen Herbst. Ich hatte mit den Londoner Wucherern noch nie etwas zu tun gehabt, aber dann war da dieser eine Gaul … Ich war mir so sicher …« Er verzog das Gesicht. »Wie auch immer, ich bin da jedenfalls zu tief hineingerutscht, tiefer denn je. Und diese verdammten Blutsauger haben mir solche Schlägertypen auf den Hals gehetzt, als Eintreiber. Ich habe mich in den Norden abgesetzt, aber sie sind mir gefolgt. Und dann erreichte mich diese Benachrichtigung über A.J.s Entdeckung.«
»Und deshalb bist du zu mir gekommen«, warf Jonathon ein.
Duke blickte zu ihm hinüber und nickte. »Als die Eintreiber ein paar Tage später wieder aufkreuzten, habe ich ihnen davon erzählt. Sie haben mich gezwungen, alles aufzuschreiben, und die Nachricht dem Wucherer übermittelt. Ich dachte, mit dieser Versprechung könnte ich ihn mir eine Weile vom Hals halten …« Er blickte wieder zu Tristan. »Doch stattdessen wendete sich das Blatt von schlimm zu grauenvoll.«
Er holte Luft; sein Blick wanderte zu Henrietta. »Der Wucherer verkaufte meine Schuldscheine weiter, die Entdeckung diente dabei als Sicherheit.«
»An einen ausländischen Gentleman?«, fragte Tristan.
Duke nickte. »Zunächst schien alles in Ordnung. Er - der Ausländer - ermunterte mich dazu, die Entdeckung an mich zu bringen. Er betonte, es bestehe keinerlei Grund, die anderen daran teilhaben zu lassen«, Duke wurde rot, »Jonathon und die Carlings - schließlich hätten sie sich bislang auch nicht dafür interessiert …«
»Also versuchten Sie mehrmals auf verschiedenem Wege in Cedric Carlings Werkstatt einzudringen, von der Sie ganz genau wussten, dass sie seit seinem Tod verschlossen war, weil Sie zuvor die Angestellten ausgefragt hatten.«
Wieder nickte Duke.
»Und Sie kamen nicht auf den Gedanken, die Aufzeichnungen Ihrer Tante zu überprüfen?«
Duke blinzelte erstaunt. »Nein. Ich meine … Na ja, sie war schließlich eine Frau. Sie hatte Carling doch bestenfalls geholfen. Die endgültige Formel musste sich in Carlings Büchern befinden.«
Tristan warf Jeremy einen vielsagenden Blick zu, der diesen mit ironischer Miene erwiderte. »Na schön«, griff Tristan den Faden wieder auf. »Ihr ausländischer Gläubiger forderte Sie also auf, die Formel zu finden.«
»Ja.« Duke setzte sich anders hin. »Anfangs kam es mir vor wie ein Kinderspiel. Die Formel in die Finger zu kriegen, erschien mir eine reizvolle Herausforderung. Dieser Mann zeigte sich sogar bereit, einen eventuellen Kaufvertrag des Hauses zu unterzeichnen.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Aber es ging einfach alles schief.«
»Sparen Sie sich Ihre Aufzählung, wir kennen die meisten Details. Ich nehme an, Ihr ausländischer Freund legte immer mehr Nachdruck an den Tag?«
Duke schauderte. Als er Tristans Blick begegnete, wirkte er wie vom Teufel gehetzt. »Ich schlug vor, stattdessen das Geld aufzutreiben und meine Schuldscheine zurückzukaufen, doch er wollte nichts davon wissen. Er wollte unbedingt diese Formel; er war bereit, mir so viel Geld zur Verfügung zu stellen, wie ich zu diesem Zweck benötigte, doch letzten Endes wollte er nur das eine: die verdammte Formel - oder mein Leben. Und es war ihm bitterernst
Tristans Lächeln war eisig. »Ausländer von seinem Schlag meinen es meistens ernst.« Er hielt kurz inne, dann fragte er: »Wie ist sein Name?«
Der Hauch von Farbe, der in Dukes Gesicht zurückgekehrt war, wich schlagartig. Einen Moment lang herrschte absolute Stille, dann benetzte er seine Lippen. »Er sagte, wenn ich irgendwem auch nur das Geringste über ihn verrate, dann werde er mich töten.«
Tristan neigte den Kopf und fragte sanft: »Und wenn Sie uns nicht von ihm erzählen, was glauben Sie wird wohl dann mit Ihnen passieren?«
Duke starrte ihn an, dann zuckte sein Blick zu Charles hinüber.
Der diesen erwiderte: »Sie wissen wohl nicht, welche Strafe auf Verrat steht?«
Ein Augenblick verstrich, dann ergänzte Deverell mit leiser Stimme: »Vorausgesetzt, Sie schaffen es überhaupt bis zum Schafott.« Er zuckte die Schulter. »Bei all den ehemaligen Soldaten, die heutzutage in den Gefängnissen sitzen …«
Duke rang nach Luft und sah Tristan mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich hatte keine Ahnung, dass es Verrat war!«
»Dann muss ich Sie leider darauf hinweisen, dass Ihre Handlung in genau diese Kategorie fällt.«
Duke schnappte erneut nach Luft und platzte hervor: »Aber ich kenne seinen Namen ja nicht einmal.«
Tristan nickte bereitwillig. »Wie kontaktieren Sie ihn?«
»Gar nicht! Er hat alles von vornherein genau geregelt; ich muss ihn jeden dritten Tag im St. James’s Park treffen und ihm Bericht erstatten.«
 
Das nächste Treffen sollte am folgenden Tag stattfinden.
Tristan, Charles und Deverell versuchten, Duke noch eine weitere halbe Stunde lang auszuquetschen, doch es kam nicht viel dabei heraus. Duke war offenkundig gewillt, mit ihnen zusammenzuarbeiten; wenn Leonora daran dachte, wie angespannt, wie regelrecht panisch - so ihre nachträgliche Einschätzung - er zu Beginn gewesen war, kam es ihr so vor, als hätte er inzwischen begriffen, dass sie seine letzte Hoffnung waren. Indem er ihnen half, konnte er sich womöglich einer Situation entziehen, die sich in einen grenzenlosen Albtraum verwandelt hatte.
Jonathons Urteil hatte sich bestätigt; Duke war zwar ein schwarzes Schaf mit geringer Moral, ein feiger und gewalttätiger Tyrann, unzuverlässig und Schlimmeres, aber er war kein Mörder und hatte auch nie vorgehabt, zum Verräter zu werden.
Seine Reaktion auf Tristans Frage bezüglich Miss Timmins war vielsagend. Sein Gesicht wurde leichenblass; mit stockender Stimme erklärte Duke, dass er die Wände des Erdgeschosses hatte überprüfen wollen und plötzlich im Dunkel ein ersticktes Geräusch vernahm; als er die Treppe hinaufsah, kam ihm die alte Dame entgegengestürzt und blieb tot zu seinen Füßen liegen. Das Entsetzen in seiner Stimme war echt; er selbst hatte die Augen der alten Dame geschlossen.
Wie sie ihn so betrachtete, hatte Leonora das Gefühl, dass er in gewisser Weise bereits Gerechtigkeit erfahren hatte; Duke würde diesen Anblick, dieses unabsichtlich verursachte Unglück niemals vergessen.
Schließlich schleiften Charles und Deverell ihn hinüber in den Klub, wo er im Untergeschoss mitsamt seinen Kumpanen - seinem persönlichen Diener Cummings und vier weiteren Verbrechertypen, die er zum Graben angeheuert hatte - unter den wachsamen Augen von Biggs und Gasthorpe gefangen gesetzt wurde.
Tristan blickte zu Jeremy hinüber. »Haben Sie die endgültige Formel ausfindig machen können?«
Jeremy grinste. Er griff nach einem Blatt Papier. »Ich habe sie gerade abgeschrieben. Sie stand fein säuberlich notiert in A.J. Curruthers Tagebüchern. Ein jeder hätte sie finden können.« Er reichte Tristan den Zettel. »Das Ergebnis war zweifellos zur Hälfte Cedrics Verdienst, doch ohne Miss Carruther und ihre Aufzeichnungen wäre es uns verdammt schwergefallen, das Ganze sinnvoll zusammenzusetzen.«
»Zweifellos. Aber wirkt das Ganze auch?«, fragte Jonathon. Er hatte während des Verhörs kein Wort gesagt, nur alles still in sich aufgenommen. Tristan reichte ihm das Blatt; er warf einen Blick darauf.
»Ich bin kein Pflanzenkundler«, erwiderte Jeremy. »Aber wenn das, was Ihre Tante als Ergebnis festgehalten hat, wirklich zutrifft, dann hilft diese Salbe tatsächlich, das austretende Blut einer Wunde zum Gerinnen zu bringen.«
»Und zwei Jahre lang lag diese Formel in York achtlos herum. « Tristan musste unwillkürlich an das Schlachtfeld von Waterloo denken, doch rasch verbannte er die Erinnerung aus seinem Kopf. Stattdessen wandte er sich Leonora zu.
Sie begegnete seinem Blick, drückte seine Hand. »Wenigstens haben wir sie jetzt.«
»Nur eines verstehe ich nicht«, warf Humphrey ein. »Wenn dieser Ausländer so versessen darauf war, diese Formel in die Finger zu bekommen, und sogar Leute beauftragt hat, Jonathon umzubringen, warum hat er sich die Formel dann nicht selbst besorgt?« Humphrey zog seine buschigen Brauen hoch. »Soll nicht heißen, dass ich nicht verdammt froh darüber bin, dass er es nicht versucht hat. Duke Martinbury war schon schlimm genug, aber wenigstens leben wir noch.«
»Die Antwort beruht zweifellos auf einer jener diplomatischen Feinheiten.« Tristan stand auf und rückte sein Jackett zurecht. »Wenn ein ausländischer Botschaftsangehöriger in einen Überfall oder gar in einen Mord an einem jungen Mann aus dem Norden verwickelt ist, wäre die Regierung darüber gewiss nicht erfreut, würde aber großmütig ein Auge zudrücken. Hätte dieser besagte Ausländer hingegen mit einem Einbruch und tätlichen Übergriffen in einem reichen Londoner Stadtteil zu tun, noch dazu in einem Haus, in dem zwei renommierte Wissenschaftler leben, wäre die Regierung sicherlich weitaus empörter und alles andere als bereit, den Zwischenfall großzügig zu ignorieren.«
Tristan sah sie alle der Reihe nach an; sein Lächeln war kalt und zynisch. »Ein Überfall auf persönliches Eigentum nahe dem Regierungsviertel würde unweigerlich einen diplomatischen Zwischenfall auslösen; daher war Duke eine notwendige Figur in diesem ganzen Spiel.«
»Und was geschieht nun weiter?«, fragte Leonora.
Er zögerte und blickte ihr in die Augen, dann lächelte er fast unmerklich, allein für sie. »Nun müssen wir - Charles, Deverell und ich - diese Information an die entsprechende Stelle weiterleiten und sehen, was man diesbezüglich zu tun gedenkt.«
Sie starrte ihn an. »Du meinst deinen ehemaligen Vorgesetzten?«
Er nickte und richtete sich auf. »Wenn es Ihnen allen recht ist, treffen wir uns morgen früh hier zum Frühstück, und dann werden wir sehen, wie wir weiter vorgehen werden.«
»Ja, natürlich.« Leonora berührte zum Abschied seine Hand.
Humphrey nickte überschwänglich. »Bis morgen.«
»Unglücklicherweise wird Ihr Treffen mit der Kontaktperson bei der Regierung wohl bis morgen früh warten müssen.« Jeremy wies mit dem Kopf zur Uhr auf dem Kaminsims. »Es ist schon nach zehn.«
Tristan, der bereits auf dem Weg zur Tür war, drehte sich um und lächelte, während er nach dem Knauf griff. »Keineswegs. Der Staat schläft nicht.«
 
Der Staat hieß in diesem Fall Dalziel.
Sie kündigten ihr Erscheinen vorher an; nichtsdestotrotz mussten die drei Männer geschlagene zwanzig Minuten im Vorzimmer des Agentenführers warten, ehe sich die Tür öffnete und Dalziel sie zu sich hereinwinkte.
Während die Männer vor dem Schreibtisch Platz nahmen, ließen sie flüchtig ihre Blicke schweifen, dann sahen sie einander an. Es hatte sich nicht das Geringste verändert.
Auch Dalziel nicht. Er trat um den Schreibtisch herum. Er hatte dunkle Haare, dunkle Augen und kleidete sich stets mit einer schlichten Strenge. Sein Alter war außergewöhnlich schwer zu schätzen; als Tristan angefangen hatte, für seine Abteilung zu arbeiten, war er davon ausgegangen, dass Dalziel deutlich älter war als er selbst. Inzwischen fragte er sich, ob tatsächlich so viele Jahre zwischen ihnen lagen. Er selbst war sichtbar gealtert - Dalziel hingegen nicht.
In seiner gewohnt distanzierten Art nahm Dalziel hinter dem Schreibtisch Platz und sah sie an. »Nun. Wenn Sie mir diese Sache bitte erklären wollen. Und zwar von Anfang an.«
Tristan ergriff das Wort und trug eine stark bearbeitete Version der Ereignisse vor, bei der Leonoras Beitrag weitestgehend eliminiert wurde; Dalziel hielt bekanntermaßen wenig davon, wenn Frauen sich in derlei Dinge einmischten.
Wie viel diesem ruhigen, durchdringenden Blick aber tatsächlich verborgen blieb, darüber ließ sich nur spekulieren.
Als Tristan seinen Bericht beendete, nickte Dalziel und wandte seinen Blick zu Charles und Deverell. »Und wie kommt es, dass Sie beide in diese Sache verwickelt sind?«
Charles grinste wölfisch. »Uns verbindet ein gemeinsames Interesse.«
Dalziel erwiderte seinen Blick einen Moment lang. »Ach ja, richtig. Ihr Klub am Montrose Place. Natürlich.«
Er ließ seinen Blick sinken. Tristan war überzeugt davon, dass er dies nur tat, um ihnen die Möglichkeit zu geben, unbeobachtet zu blinzeln. Dieser Mann war eine echte Gefahr. Schließlich gehörten sie nicht einmal mehr zu seinem Netzwerk.
»Also«, er blickte von seinen Notizen auf, die er sich während des Berichts gemacht hatte. Er lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander; sein eindringlicher Blick galt ihnen allen dreien. »Wir haben es demnach mit einem Europäer zu tun, der es mit einiger Hartnäckigkeit darauf abgesehen hat, eine potenziell wertvolle Formel für eine Salbe zu stehlen, welche die Wundheilung beschleunigt. Wir wissen nicht, um wen es sich dabei handelt, aber wir haben die Formel, und wir haben seinen Handlanger. So weit korrekt?«
Alle drei nickten.
»Gut. Ich will wissen, wer dieser Europäer ist, aber er soll nicht erfahren, dass ich es weiß. Ich bin mir sicher, wir verstehen uns. Ich erwarte Folgendes von Ihnen: Erstens, verfälschen Sie die Formel. Aber finden Sie dafür jemanden, der so etwas glaubwürdig hinbekommt; wir wissen nicht, wie viel Ahnung dieser Ausländer hat. Zweitens, überzeugen Sie den Handlanger, sein nächstes Treffen einzuhalten und die Formel zu übergeben. Machen Sie ihm seine Lage deutlich; er soll begreifen, dass seine Zukunft einzig und allein von seiner Leistung abhängt. Drittens, ich will, dass Sie dem Mann in sein Versteck folgen und ihn identifizieren.«
Alle nickten. Dann verzog Charles das Gesicht. »Warum tun wir das hier überhaupt? Uns immer noch Anweisungen erteilen lassen.«
Dalziel sah ihn an und entgegnete leise. »Aus demselben Grund, aus dem ich überzeugt bin, dass Sie ihnen auch Folge leisten werden. Weil wir nun einmal das sind, was wir sind.« Er zog eine seiner dunklen Brauen hoch. »Nicht wahr?«
Darauf gab es nichts weiter zu entgegnen; sie kannten einander zu gut.
Alle standen auf.
»Eines noch.« Tristan begegnete Dalziels fragendem Blick. »Duke Martinbury. Wenn dieser Ausländer die Formel endlich hat, wird er kurzen Prozess mit ihm machen wollen.«
Dalziel nickte. »Das wäre zu erwarten. Wie ist Ihr Vorschlag?«
»Wir können sicherstellen, dass Martinbury das Treffen unbeschadet verlässt, aber was ist danach? Außerdem sollte er auch nicht völlig ungeschoren davonkommen, schließlich hat er seinen Teil zu allem beigetragen. Alles in allem wäre eine dreijährige Verpflichtung beim Militär in beiderlei Hinsicht dienlich. Da er aus Yorkshire stammt, würde ich das Regiment bei Harrogate vorschlagen. Dort sind die Reihen wohl derzeit einigermaßen ausgedünnt.«
»In der Tat.« Dalziel machte sich eine Notiz. »Oberst Muffleton ist dort zuständig. Ich werde ihm mitteilen, dass er einen Mr Martinbury - Marmaduke, richtig? - in seinen Reihen erwarten kann, sobald dieser sein Soll hier erfüllt hat.«
Tristan wandte sich mit einem Nicken ab; zu dritt verließen sie den Raum.
 
»Die Formel verfälschen?« Den Blick fest auf Cedrics Formel geheftet, verzog Jeremy das Gesicht. »Ich wüsste nicht, wo ich da anfangen sollte.«
»Lass mich mal sehen!« Leonora, die am Ende der Frühstückstafel saß, streckte fordernd die Hand aus.
Tristan, der gerade einen riesigen Berg Schinken und Ei verzehrte, unterbrach sich kurz, um Leonora das Blatt weiterzureichen.
Sie nippte an ihrem Tee und studierte die Formel, während sich die anderen ihrem Frühstück widmeten. »Welches sind die wichtigsten Bestandteile? Wisst ihr das?«
Humphrey blickte sie über die Länge des Tisches hinweg an. »Soweit ich es aus den Experimenten ersehen konnte, sind Hirtentäschel, Pfennigkraut und Wallwurz die drei Hauptbestandteile. Die anderen Substanzen scheinen die Wirkung lediglich zu verbessern.«
Leonora nickte und stellte ihre Tasse ab. »Gebt mir ein paar Minuten Zeit; ich werde mich mit der Köchin und Mrs Wantage besprechen. Ich bin mir sicher, dass wir etwas Glaubwürdiges zusammenbrauen können.«
Fünfzehn Minuten später kam sie zurück; alle hatten sich satt und zufrieden zurückgelehnt und genossen nun ihren Kaffee. Sie legte eine fein säuberlich notierte Formel vor Tristan auf den Tisch und nahm wieder Platz.
Er nahm den Zettel, las ihn und nickte. »Sieht in meinen Augen glaubwürdig aus.« Er reichte ihn an Jeremy weiter. Blickte dann Humphrey an. »Würden Sie sie für uns abschreiben?«
Leonora starrte ihn an. »Stimmt etwas nicht mit meiner Handschrift?«
Tristan erwiderte ihren Blick. »Es ist eine Frauenhandschrift.«
»Oh.« Von der Antwort besänftigt, schenkte sie sich eine weitere Tasse Tee ein. »Wie sieht nun der weitere Plan aus? Was müssen wir tun?«
 
Wie befürchtet, blieben all seine Überredungsversuche, Leonora von einer Beteiligung an der Verbrecherjagd abzubringen, ohne Erfolg.
Charles und Deverell hatten die Sache zunächst urkomisch gefunden, bis jedoch Humphrey und Jeremy ebenfalls darauf bestanden, an der Aktion beteiligt zu werden.
Außer der Variante, alle drei zu fesseln und sie nebenan im Klub unter Gasthorpes wachsamem Blick zurückzulassen - eine Möglichkeit, die Tristan ernsthaft erwog -, gab es nichts, was sie davon abhalten konnte, ihrerseits im St. James’s Park aufzutauchen; die drei Männer entschlossen sich daher, das Beste daraus zu machen.
Leonora ließ sich erstaunlicherweise am einfachsten verkleiden. Sie hatte die gleiche Größe wie ihr Dienstmädchen Harriet und konnte sich somit ihre Kleidung borgen; mit einer abschließenden Lage Ruß und Dreck gab sie eine ganz passable Blumenverkäuferin ab.
Humphrey wurde in Cedrics älteste Kleidung gesteckt; unter Missachtung sämtlicher Regeln der Eleganz angekleidet, das dünne weiße Haar kunstvoll zerzaust, als würde er es nie kämmen, machte er einen wunderbar schäbigen Eindruck. Deverell, der sich zwischenzeitlich seiner eigenen Verkleidung wegen in sein Haus in Mayfair begeben hatte, kehrte zurück, lobte das Ergebnis und nahm Humphrey unter seine Fittiche. In einer Droschke fuhren sie zu ihrem Einsatzort.
Jeremy ließ sich weitaus schlechter tarnen; sein schlanker Körperbau und seine feinen, wohlgeformten Züge schrien seine gute Abstammung geradezu in die Welt hinaus. Schließlich fuhr Tristan mit ihm zusammen in die Green Street. Etwa eine halbe Stunde später kehrten die beiden in der Montur zweier ungehobelter Hafenarbeiter zurück; Leonora musste zweimal hinsehen, ehe sie ihren Bruder erkannte.
Er grinste sie an. »Man könnte sagen, es hat sich geradezu gelohnt, mich in die Besenkammer sperren zu lassen.««
Tristan sah ihn streng an. »Das hier ist kein Spaß.«
»Nein. Natürlich nicht.« Jeremy bemühte sich, ernsthaft zu wirken, und scheiterte kläglich.
Sie nahmen von Jonathon Abschied, der sich betrübt damit abgefunden hatte, sich das Abenteuer entgehen lassen zu müssen, und versicherten ihm, hinterher ausführlich Bericht zu erstatten; dann gingen sie hinüber in den Klub, um nach Charles und Duke zu sehen.
Duke war extrem nervös, doch Charles hatte ihn sicher in der Hand. Jeder von ihnen hatte eine klar definierte Rolle zu spielen; Duke kannte seine sehr genau, denn jedes kleinste Detail war ihm eingetrichtert worden, doch er kannte auch Charles’ Rolle, was ebenso wichtig war. Sie waren alle davon überzeugt, dass Duke bereitwillig mitarbeiten würde, komme, was da wolle; denn er wusste sehr genau, was Charles mit ihm anstellen würde, sollte er von seinen Anweisungen abweichen.
Charles und Duke würden als Letzte in Richtung St. James’s Park aufbrechen. Das Treffen sollte um drei Uhr beim Queen Anne’s Gate stattfinden. Als Tristan Leonora in die Droschke half und Jeremy bedeutete, ihr zu folgen, war es erst kurz nach zwei.
Sie stiegen an einer vom eigentlichen Treffpunkt etwas entfernten Ecke des Parks aus. Sobald sie die Rasenfläche betreten hatten, trennten sie sich voneinander; Tristan schritt gemütlich geradeaus und blieb ab und zu stehen, so als wolle er nach einem Freund Ausschau halten. Leonora ging einige Meter hinter ihm, einen leeren Korb über dem Arm wie eine Blumenverkäuferin, die am Ende eines erfolgreichen Tages langsam nach Hause schlenderte. Noch etwas dahinter kam Jeremy, missmutig vor sich hin trottend, so als würde er von der Welt um sich herum nichts mitbekommen.
Schließlich erreichte Tristan den Parkeingang, der als Queen Anne’s Gate bekannt war. Er lehnte sich gegen den Stamm eines nahen Baumes und gab mit mürrischer Miene vor zu warten. Leonora blieb, ihren Anweisungen entsprechend, etwas weiter zurück. Am Weg, der vom Queen Anne’s Gate aus in den Park hineinführte, stand eine schmiedeeiserne Bank; Leonora nahm Platz und streckte bequem ihre Beine aus, während sie den leeren Korb locker auf den Knien ruhen ließ. Ihr Blick wanderte über die baumbestandenen Rasenflächen, die zum Kanal hinüberführten.
Auf der nächsten Bank saß ein alter, weißhaariger Mann, der von einer Vielzahl schlecht zusammenpassender Jacken und Schals regelrecht erdrückt wurde. Humphrey. Etwas näher beim Kanal, aber in direkter Linie zum Tor, entdeckte Leonora eine wohlbekannte karierte Schirmmütze, die sich Deverell tief ins Gesicht gezogen hatte; er saß gegen einen Baum gelehnt, vermeintlich schlafend.
Scheinbar ohne irgendwem die geringste Beachtung zu schenken, schlurfte Jeremy an ihr vorüber; er verließ den Park durch das besagte Tor, überquerte die Straße und spähte in das Schaufenster eines Herrenschneiders.
Leonora wiegte ihren Korb ein wenig auf den Knien hin und her und fragte sich, wie lange sie wohl warten müssten.
Es war ein schöner Tag. Nicht sonnig, aber angenehm genug, um zahlreiche Menschen in den Park zu locken, die sich an der Natur erfreuen wollten. Genug, dass ihre kleine Bande nicht weiter auffiel.
Duke hatte den Ausländer nur in groben Zügen beschreiben können; wie Tristan einigermaßen bissig bemerkt hatte, passte seine Beschreibung auf so ziemlich jeden Ausländer nordländischer Herkunft, der sich zurzeit in London aufhielt. Nichtsdestotrotz hielt Leonora die Augen auf und studierte ungeniert die vorübergehenden Passanten, so wie es eine Blumenverkäuferin, die ihr Tagewerk vollbracht hatte, wohl tun mochte. Sie bemerkte einen Gentleman, der vom Kanal her den Weg entlang auf sie zukam. Er war sehr sorgfältig gekleidet, trug einen grauen Anzug und Hut sowie einen Stock, den er steif in der Hand hielt. Irgendetwas an ihm erregte ihre Aufmerksamkeit, eine vage Erinnerung, seine Art, sich zu bewegen. Dann fiel ihr wieder ein, wie Dukes Vermieterin den ausländischen Herrn beschrieben hatte. Als hätte man ihn an einen Stock gebunden.
Es musste der Mann sein.
Er kam an ihr vorüber, wandte sich dann seitlich vom Weg ab und ging etwa in die Richtung, wo Tristan, den Blick zum Tor gewandt, wartete und sich ungeduldig auf den Oberschenkel schlug. Der Gentleman zog eine Uhr aus der Tasche und warf einen prüfenden Blick darauf.
Leonora starrte Tristan an; sie war sich sicher, dass er den Mann nicht bemerkt hatte. Sie legte ihren Kopf schräg, so als wäre ihr Tristan gerade zum ersten Mal ins Auge gefallen, zögerte kurz, als würde sie mit sich selbst verhandeln, und stand dann auf, um mit schwingendem Korb und schwingenden Röcken auf ihn zuzuschlendern.
Er warf ihr einen Blick zu und richtete sich auf, während sie an seine Seite trat.
Tristans Blick wanderte flüchtig an ihr vorbei, entdeckte den Mann und kehrte dann unverzüglich zu ihr zurück.
Sie lächelte und stieß ihn spielerisch mit der Schulter an, während sie sich beharrlich näher an ihn heranschob in der Hoffnung, eine Begegnung dieser Art, wie sie sie häufig beobachtet hatte, glaubhaft nachzuspielen. »Tu einfach so, als würde ich dir eine kleine Tändelei versprechen, um deinen Tag ein wenig zu versüßen.«
Er lächelte sie immer breiter an, bis das Grinsen schließlich seine Zähne preisgab, doch seine Augen blieben kalt. »Was soll das hier werden?«
»Das da drüben ist unser Mann, und Duke und Charles werden auch jeden Moment hier auftauchen. Ich beschaffe uns gerade einen äußerst glaubhaften Vorwand, damit wir den Park gemeinsam verlassen können.«
Seine Mundwinkel blieben hochgezogen; er schlang einen Arm um ihre Hüfte und zog sie näher zu sich heran, während er seinen Kopf herabneigte, um ihr zuzuflüstern: »Du wirst aber nicht mitkommen.«
Sie strahlte ihn an, tätschelte seine Brust. »Solange dieser Gentleman sich nicht in ein Bordell begibt - und das ist schließlich nicht zu erwarten -, werde ich das durchaus.«
Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an; sie lächelte noch breiter und hielt seinem Blick stand. »Ich habe dieses ganze Drama von Anfang an miterlebt. Ich finde, es steht mir zu, auch an seinem Ende teilhaben zu dürfen.«
Diese Worte gaben Tristan zu denken. Doch in diesem Moment schaltete sich das Schicksal ein und nahm ihm die Entscheidung ab.
Die Glockentürme der Stadt schlugen die volle Stunde; drei Schläge, deren Echo in verschiedenen Tonlagen die Luft erfüllte. Im nächsten Moment kam Duke eilends den Gehweg entlang und bog am Queen Anne’s Gate in den Park ein.
Charles, der als Kneipenschläger verkleidet war, schlurfte in wohlbemessenem Abstand hinter Duke her.
Duke blieb stehen, entdeckte seinen Mann und ging auf ihn zu. Er schaute weder links noch rechts; Tristan vermutete, Charles hatte ihn so lange gedrillt, dass er sich nun so sehr auf die Sache konzentrierte - verzweifelt bestrebt, alles richtig zu machen - und um sich herum nichts und niemanden mehr wahrnahm.
Der Wind wehte aus der richtigen Richtung; er trug Dukes Worte zu ihnen herüber.
»Haben Sie meine Schuldpapiere dabei?«
Die Frage schien den Ausländer zu überraschen, aber er sammelte sich umgehend wieder. »Kann sein. Haben Sie die Formel?«
»Ich weiß, wo sie ist, und kann sie in einer Minute herschaffen, wenn ich sicher sein kann, dass Sie mir im Gegenzug die Schuldscheine aushändigen.«
Aus immer enger werdenden Augen musterte der Ausländer Dukes blasses Gesicht eingehend, dann zuckte er die Schultern und griff in seine Manteltasche.
Tristan beobachtete angespannt, wie Charles’ Schritte länger wurden; beide Männer entspannten sich ein wenig, als der Fremde einen dünnen Stoß Papiere hervorzog.
Er hielt ihn so, dass Duke ihn deutlich erkennen konnte. »Und nun«, sagte der Mann in kalten Tonfall, »die Formel, bitte.«
Charles, der bisher den Eindruck gemacht hatte, als wolle er vorübergehen, wechselte die Richtung und trat mit einem Schritt an die beiden Männer heran. »Ich hab sie hier.«
Der Ausländer fuhr zusammen. Charles grinste ihn teuflisch an. »Beachten Sie mich einfach nich. Ich bin nur da, um sicherzugehen, dass meinem Freund Martinbury nichts passiert. Also«, er wies mit einem Kopfnicken auf die Papiere und wandte seinen Blick zu Duke, »is alles da?«
Duke griff nach den Unterlagen.
Der Ausländer zog sie zurück. »Die Formel?«
Seufzend holte Charles den Zettel mit der veränderten Formel hervor, den Humphrey und Jeremy sorgfältig beschrieben und so nachbearbeitet hatten, dass das Papier angemessen alt aussah. Er faltete das Blatt auseinander und hielt es hoch, sodass der Fremde es sehen, aber nicht lesen konnte. »Ich werd das so lange festhalten, bis Martinbury seine Schuldpapiere angeguckt hat; dann können Sie’s kriegen.«
Der Ausländer schien über diese Regelung keineswegs erfreut, doch er hatte keine andere Wahl; Charles wirkte bereits in zivilisierter Kleidung äußerst respekteinflößend - in seinem derzeitigen Aufzug strahlte er nackte Brutalität aus.
Duke nahm die Papiere entgegen, überprüfte sie rasch, nickte dann. »Ja.« Seine Stimme klang dünn. »Sie sind vollständig.«
»Na dann.« Mit einem abscheulichen Grinsen reichte Charles dem Ausländer die Formel.
Er griff danach und musterte sie skeptisch. »Ist das auch die richtige Formel?«
»Sie wollten sie haben, und hier is sie. Also, mein Guter«, setzte Charles hinzu, »wenn das nun alles is? Ich hab nämlich noch andere Geschäfte zu erledigen.«
Er vollführte eine Abschiedsgeste - oder vielmehr die Parodie einer solchen -, packte Duke am Arm und drehte sich um. Gemeinsam gingen sie durchs Tor. Charles winkte eine Droschke heran, verfrachtete den nunmehr zitternden Duke ins Innere und kletterte hinter ihm her.
Tristan beobachtete, wie die Kutsche losfuhr. Der Fremde blickte auf und wartete, bis sich der Wagen entfernt hatte, dann faltete er den Zettel vorsichtig, beinahe ehrfürchtig zusammen und steckte ihn in die Innentasche seines Mantels. Sobald dies erledigt war, packte er entschlossen seinen Stock, straffte seinen Rücken, machte auf dem Absatz kehrt und bewegte sich steifen Schrittes zurück in Richtung Kanal.
»Komm.« Seinen Arm fest um Leonora gelegt, stieß Tristan sich vom Baum ab, um die Verfolgung aufzunehmen.
Sie gingen an Humphrey vorbei; er blickte nicht auf, aber Tristan bemerkte, dass er einen Block und einen Bleistift gezückt hatte und eifrig zeichnete - eine Tätigkeit, die nicht so recht zu seinem Äußeren passen wollte.
Der Ausländer wandte sich nicht um; anscheinend hatte er ihnen ihre kleine Farce abgekauft. Sie hofften darauf, dass er sich umgehend in sein Büro begeben würde, anstatt in jene zweifelhaften Gegenden, die sich ebenfalls in der Nähe des Parks befanden. Die Richtung, die er einschlug, war vielversprechend. Viele der ausländischen Botschaften lagen nördlich des Parks, in der Nähe von St. James’s Palace.
Tristan ließ Leonoras Taille los und ergriff stattdessen ihre Hand; er blickte sie an. »Wir tun so, als wollten wir uns ein wenig amüsieren, als wollten wir eines der Varietés in der Nähe der Piccadilly aufsuchen.«
Sie riss die Augen auf. »Ich habe noch nie eines betreten. Sollte mich diese Aussicht vergnügt stimmen?«
»Durchaus.« Angesichts ihrer Begeisterung musste er unwillkürlich grinsen. Allerdings hatte ihre Erregung nicht das Geringste mit besagten Tanzlokalen zu tun, sondern vielmehr mit dem puren Nervenkitzel.
Sie kamen an Deverell vorbei, der sich gerade das Gras von seiner Kleidung klopfte, um sich unauffällig ihrer Verfolgungsjagd anzuschließen.
Tristan hatte reichlich Erfahrung, wenn es darum ging, einzelne Personen durch große Städte und dichte Menschenmengen hindurch zu verfolgen; Deverell ebenfalls. Sie hatten beide überwiegend in größeren französischen Städten gearbeitet; die ausgefeiltesten Methoden der Verfolgung waren für sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Jeremy würde Humphrey einsammeln und mit ihm zum Montrose Place zurückkehren, um von dort aus die weiteren Entwicklungen abzuwarten; Charles und Duke würden sie bereits erwarten. Man hatte Charles dazu auserkoren, die Stellung zu halten, bis die anderen mit dem letzten wichtigen Puzzlestück zurückkehrten.
Die Zielperson überquerte die Brücke, die auf die andere Seite des Kanals hinüberführte, und ging weiter in Richtung St. James’s Palace.
»Richte dich einfach danach, was ich tue«, murmelte Tristan, während sein Blick fest auf den Rücken des Mannes geheftet blieb.
Tristans Erwartungen entsprechend blieb der Mann kurz vor dem Parktor stehen und beugte sich nach unten, wie um einen Stein aus seinem Schuh zu entfernen.
Tristan schob einen Arm um Leonora und kitzelte sie spielerisch; sie kicherte und wand sich. Er zog sie lachend an sich heran und ging geradewegs an dem Mann vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Leicht außer Atem lehnte sich Leonora näher an Tristan heran, während sie unbeirrt weitergingen. »War das ein Test?«
»Ja. Wir werden nach ein paar Schritten stehen bleiben und darüber diskutieren, in welche Richtung wir gehen wollen, damit er uns wieder überholen kann.«
Sie taten genau das; Leonora fand, dass sie eine ganz passable Vorstellung eines Pärchens der Unterschicht abgaben, das angeregt über die Vorzüge diverser Varietés debattierte.
Als sich der Mann wieder vor ihnen befand und zügig weiterschritt, ergriff Tristan Leonoras Hand, und mit etwas forscherem Schritt, so als hätten sie sich nun auf ein Ziel geeinigt, folgten sie dem Mann.
Die Gegend um St. James’s Palace war durchzogen von schmalen Gässchen, Durchgängen und Innenhöfen, die miteinander verbunden waren. Der Mann bog zielstrebig in dieses Labyrinth ein.
»Das wird nicht funktionieren. Wir überlassen ihn Deverell und gehen direkt zur Pall Mall. Dort werden wir die Verfolgung wieder aufnehmen.«
Leonora hatte ein unwohles Gefühl im Magen, als sie die Fährte des Mannes verließen und geradeaus weitergingen, wo dieser links eingebogen war. Als sie einige Häuser hinter sich gelassen hatten, wandte sie sich um und sah, wie Deverell in selbige Gasse einbog, um dem Mann zu folgen.
Sie erreichten die Pall Mall und schlenderten gemütlich den Gehweg entlang, während sie die Einmündungen der verschiedenen Gässchen genau im Auge behielten. Sie mussten nicht lange warten, ehe ihr Opfer wieder in Erscheinung trat und noch schnelleren Schrittes weitereilte.
»Er hat es eilig.«
»Er ist erregt«, entgegnete sie, überzeugt von der Richtigkeit ihrer Aussage.
»Kann sein.«
Tristan führte sie weiter. Südlich der Pall Mall kreuzten sich ihre Wege erneut mit denen Deverells, kurz darauf tauchten sie auf der Piccadilly in das Meer nachmittäglicher Spaziergänger ein, die über die beliebte Hauptstraße flanierten.
»Hier besteht am ehesten die Gefahr, dass wir ihn verlieren. Halt die Augen offen.«
Sie tat, wie ihr befohlen, und ließ ihren Blick über die Menge schweifen, die sich geschäftig durch die milde Märzluft schob.
»Da ist Deverell.« Tristan blieb stehen und stieß sie leicht an, damit sie in die richtige Richtung sah. Deverell war gerade erst in die Piccadilly eingebogen; er sah sich suchend um. »Verdammt!« Tristan reckte sich. »Wir haben ihn verloren.« Er suchte die Menge um sich herum ab. »Wo zum Teufel ist er hin?«
Leonora trat näher an die Häuserfront heran; sie spähte den schmalen Spalt entlang, den die Menschenmassen frei ließen. Sie bemerkte einen grauen Schatten, der im nächsten Moment verschwunden war.
»Da!« Sie packte Tristan am Arm und wies ihm mit der Hand die Richtung. »Zwei Straßen weiter.«
Sie bahnten sich einen Weg, schlängelten sich durch die Massen, rannten - sie erreichten die Straßenecke, bogen ein und verlangsamten ihr Tempo.
Die Zielperson - Leonora hatte sich nicht getäuscht - war fast am Ende des kurzen Sträßchens angelangt.
Sie eilten weiter; der Mann wandte sich nach rechts und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Tristan gab Deverell ein Zeichen, der im Laufschritt die Verfolgung aufnahm. »Wir nehmen die Verbindungsgasse.« Tristan steuerte mit Leonora auf einen schmalen Durchgang zu. Er führte sie auf direktem Wege in die Parallelstraße. Während sie durch die Gasse eilten, hielt Tristan Leonoras Hand fest gepackt und stützte sie, als sie beinahe ausrutschte.
Sie bogen in die Parallelstraße ein und verfielen wieder in ein gemütliches Schlendern, während sich ihr Atem langsam normalisierte. Die Einmündung der Gasse, die der Mann von der anderen Seite her betreten hatte, lag nun linker Hand vor ihnen; sie beobachteten sie aufmerksam, während sie langsam weiterschritten in der festen Erwartung, ihn jeden Moment dort auftauchen zu sehen.
Doch vergeblich.
Sie erreichten die Straßenecke und spähten die kurze Gasse hinunter. Deverell stand am gegenüberliegenden Ende gegen ein Geländer gelehnt.
Der Mann, den sie gerade noch verfolgt hatten, war wie vom Erdboden verschluckt.
Deverell stieß sich vom Geländer ab und kam auf sie zu; innerhalb kürzester Zeit war er bei ihnen angekommen.
Sein Gesichtsausdruck war finster. »Er war bereits verschwunden, als ich die Straßenecke erreichte.«
Leonora ließ die Schultern hängen. »Demnach stecken wir in einer Sackgasse - wir haben ihn verloren.«
»Nein«, entgegnete Tristan. »Noch nicht ganz. Warte hier.«
Er ließ sie an Deverells Seite zurück, überquerte die Straße und steuerte auf einen Straßenkehrer zu, der sich auf seinen Besen gestützt hatte. Tristan griff in die Tasche seines verlotterten Mantels und zog einen Sovereign heraus; während er sich neben den Mann ans Geländer lehnte, hielt er die Münze so zwischen den Fingern, dass der Straßenkehrer sie deutlich erkennen konnte.
»Der Herr in Grau, der da eben im Haus verschwunden ist. Weißt du zufällig, wie er heißt?«
Der Straßenkehrer beäugte ihn misstrauisch, aber das goldene Funkeln zwischen Tristans Fingern entlockte ihm eine Antwort. »Kann ich nich so genau sagen. Ist so’n stocksteifer Pinsel. Hab gehört, wie der Portier ihn Graf Sowieso genannt hat, irgendwas Unaussprechliches mit F.«
Tristan nickte. »Reicht mir schon.« Er ließ dem Mann die Münze in die Hand fallen.
Dann kehrte er gemächlichen Schrittes zu Leonora und Deverell zurück, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sein selbstzufriedenes Lächeln zu unterdrücken.
»Und?« Wie erwartet, war es die Liebe seines Lebens, die ihn zu einer Antwort drängte.
Er grinste zufrieden. »Der Herr in Grau ist dem Portier des Hauses in der Mitte der Straße bekannt. Es handelt sich um einen gewissen ›Grafen Sowieso, irgendwas Unaussprechliches mit F‹.«
Leonora furchte die Stirn, dann wanderte ihr Blick an ihm vorbei zu besagtem Haus hinüber. Schließlich sah sie ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Und?«
Sein Lächeln wurde immer breiter, es fühlte sich großartig an. »Es handelt sich um das Habsburg House.«
 
Um sieben Uhr am selben Abend schob Tristan Leonora vor sich her ins Vorzimmer von Dalziels Büro im Herzen von Whitehall.
»Wollen doch mal sehen, wie lange er uns heute warten lässt.« Leonora setzte sich auf die Holzbank, zu der Tristan sie hingeführt hatte, und strich ihre Röcke glatt. »Ich hatte angenommen, er würde pünktlich sein.«
Tristan setzte sich neben sie und lächelte trocken. »Mit Pünktlichkeit hat das nicht das Geringste zu tun.«
Sie musterte seine Züge. »Aha. Also eines dieser seltsamen Spielchen, die ihr Männer so gerne spielt.«
Er erwiderte nichts, sondern lehnte sich nur zurück und lächelte.
Dalziel ließ sie gerade mal fünf Minuten warten.
Die Tür öffnete sich; ein Mann von dunkler Eleganz erschien im Türrahmen. Er erblickte sie. Es entstand eine kurze Pause, dann hieß er sie mit einer anmutigen Geste eintreten.
Tristan stand auf und zog Leonora mit sich hoch, dann legte er ihre Hand auf seinen Arm. Er führte sie hinein und blieb beim Schreibtisch und den davor befindlichen Stühlen stehen.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, trat Dalziel zu ihnen herüber. »Miss Carling, nehme ich an.«
»Ganz recht.« Leonora reichte ihm die Hand und begegnete ruhig seinem Blick, obgleich dieser ebenso durchdringend war wie Tristans. »Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Dalziels Blick wanderte zu Tristan hinüber; seine schmalen Lippen waren leicht gewölbt, als er den Kopf neigte und dann auf die Stühle wies.
Er ging um seinen Schreibtisch herum und nahm ebenfalls Platz. »Also, wer steckt hinter diesen Vorfällen am Montrose Place?«
»Ein gewisser Graf Sowieso, irgendwas Unaussprechliches mit F.«
Dalziel zog unbeeindruckt die Brauen hoch.
Tristan lächelte sein kühlstes Lächeln. »Der Graf ist im Habsburg House namentlich bekannt.«
»Ach.«
»Und«, Tristan zog die Zeichnung hervor, die Humphrey zu ihrer aller Verblüffung von dem Grafen angefertigt hatte, »dies hier sollte dazu beitragen, ihn eindeutig zu identifizieren; die Ähnlichkeit ist beeindruckend.«
Dalziel nahm die Zeichnung entgegen, betrachtete sie eingehend und nickte. »Ausgezeichnet. Und er hat die gefälschte Formel akzeptiert?«
»Soweit wir das beurteilen können, ja. Er hat Martinbury im Gegenzug die Schuldpapiere ausgehändigt.«
»Gut. Und Martinbury ist in Richtung Norden unterwegs?«
»Noch nicht, aber bald. Er ist aufrichtig erschüttert über die Verletzungen, die man seinem Cousin zugefügt hat, und will ihn nach York begleiten, sobald Jonathon Martinbury genügend zu Kräften gekommen ist, um die Reise antreten zu können. Bis dahin werden beide in unserem Klub verweilen.«
»Und was ist mit St. Austell und Deverell?«
»Beide haben ihre eigenen Angelegenheiten stark vernachlässigt. Dringliche Pflichten haben sie nach Hause gerufen.«
»Tatsächlich?« Dalziels Mundwinkel zuckte lakonisch; dann richtete sich sein durchdringender Blick auf Leonora. »Ich habe mich in Regierungskreisen umgehört, Miss Carling, und bin auf reges Interesse gestoßen, was die Formel Ihres verstorbenen Cousins anbelangt. Man hat mich gebeten, Ihrem Onkel mitzuteilen, dass gewisse Gentlemen sich gerne so bald wie möglich mit ihm treffen würden. Es wäre zweifellos dienlich, wenn dieses Treffen stattfinden könnte, bevor die Martinburys London verlassen.«
Leonora nickte. »Ich werde es meinem Onkel ausrichten. Vielleicht könnten gewisse Gentlemen morgen einen Boten vorbeischicken, damit wir einen Termin festlegen können?«
Dalziel nickte bestätigend. »Ich werde den Herren raten, genau das zu tun.«
Sein unergründlicher Blick blieb einen Moment lang auf ihr ruhen, dann schwenkte er über zu Tristan. »Ich gehe davon aus«, die Worte klangen beiläufig und doch irgendwie sanft, »dass dieser Abschied endgültig ist?«
Tristan erwiderte seinen Blick, seine Lippen zuckten. Er stand auf und streckte Dalziel die Hand entgegen. »Ganz recht. So endgültig, wie ein Abschied zwischen Menschen wie uns eben sein kann.«
Ein flüchtiges Lächeln erwärmte Dalziels Züge, als dieser sich ebenfalls erhob und Tristans Hand ergriff. Dann ließ er sie wieder los, um sich vor Leonora zu verneigen. »Zu Ihren Diensten, Miss Carling. Ich kann nicht leugnen, dass es mir weitaus lieber wäre, wenn Sie gar nicht existierten, aber das Schicksal hat meine Wünsche offenbar durchkreuzt.« Sein ruhiges Lächeln nahm den Worten sämtliche Schärfe. »Ich wünsche Ihnen beiden von Herzen alles Gute.«
»Vielen Dank.« Leonora fühlte sich ihm weitaus mehr zugeneigt, als sie es erwartet hätte; sie nickte höflich.
Dann drehte sie sich um. Tristan nahm ihre Hand, öffnete die Tür, und gemeinsam ließen sie das kleine Büro in Whitehall hinter sich.
 
»Warum wolltest du unbedingt, dass ich ihn kennenlerne?«
»Dalziel?«
»Ja, Dalziel. Er hat ganz offensichtlich nicht mit meinem Besuch gerechnet; er hat meine Gegenwart vielmehr als Botschaft verstanden. Aber welche?«
Tristan betrachtete ihr Gesicht, während die Kutsche an einer Kreuzung zum Stehen kam, rechts abbog und weiterrollte. »Ich habe dich mitgenommen, weil die Tatsache, dich zu sehen und dich kennenzulernen, die einzige Botschaft war, die er weder übersehen noch missverstehen konnte. Er ist nun Teil meiner Vergangenheit; du hingegen«, er hob ihre Handfläche an seine Lippen und setzte einen Kuss hinein; dann schloss er seine Finger um ihre Hand, »bist meine Zukunft.«
Sie versuchte, seinen Gesichtsausdruck im schattigen Halbdunkel der Kutsche so gut es ging zu deuten. »Dann ist all das«, mit ihrer freien Hand wies sie auf das hinter ihnen befindliche Whitehall, »also vorbei - Vergangenheit?«
Er nickte. Und führte ihre gefangenen Finger an seine Lippen. »Ein Leben endet, ein neues beginnt.«
Sie blickte in sein Gesicht, in seine dunklen Augen; dann breitete sich langsam ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie ließ ihre Hand in seiner ruhen und lehnte sich näher an ihn heran. »Gut.«
 
Sein neues Leben. Er konnte es gar nicht erwarten, endlich damit zu beginnen.
Er war ein Meister der Strategie und Taktik und nicht zuletzt darin, Situationen zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen; schon am nächsten Morgen war sein neuester Plan vollständig ausgereift.
Um zehn Uhr begab er sich zu Leonora, um eine vermeintliche Spazierfahrt zu einer Entführung werden zu lassen. Und zwar nach Mallingham Manor, das momentan völlig frei war von älteren Damen. Diese befanden sich nämlich noch immer in der Stadt, eifrig damit beschäftigt, seinem Plan Beihilfe zu leisten.
Nach einem intimen Mittagsmahl zu zweit widmete er sich selbigem Plan höchstpersönlich mit dem allergrößten Eifer.
Als die Uhr auf dem Kaminsims im herrschaftlichen Schlafgemach des Earls drei schlug, rekelte sich dieser ausgiebig und genoss das Gefühl der Seide, die sanft über seinen Körper glitt, und mehr noch die wohlige Wärme, die Leonoras geschmeidiger Körper ausstrahlte.
Er blickte nach unten. Die wirre Masse mahagonifarbenen Haars verhüllte ihr Gesicht. Unter dem Laken ließ er seine Hand in einer besitzergreifenden Liebkosung über ihre Hüfte gleiten.
»Hm-m.« So klang eine zufriedene Frau, die soeben innig geliebt worden war. Einen Augenblick darauf murmelte sie: »Du hast das alles geplant, oder?«
Er grinste; der Wolf in ihm war nicht gänzlich verschwunden. »Ich arbeite schon seit geraumer Zeit daran, dich in dieses Bett zu bekommen.« Sein Bett, das Bett des Earls. Wo sie hingehörte.
»Als Kontrast zu den vielen geheimen Winkeln, die du so erfolgreich in den Häusern unserer Gastgeberinnen aufgetan hast?« Sie hob den Kopf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und stützte sich dann mit beiden Armen auf seine Brust, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte.
»Ganz genau. Jene waren nur ein notwendiges Übel, aufdiktiert von den Wechselfällen der Schlacht.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Ich bin kein Beutestück. Das habe ich dir doch bereits erklärt.«
»Und dennoch musste ich um dich kämpfen.« Er hielt einen Herzschlag lang inne, dann fügte er hinzu: »Und ich habe gesiegt.«
Mit sanft gewölbten Lippen musterte sie unverhohlen sein Gesicht. »Und, ist der Sieg wenigstens süß?«
Er umfasste ihre Hüfte und hielt sie fest an sich gepresst. »Noch viel süßer als erwartet.«
»Wirklich?« Sie ignorierte die Hitze, die plötzlich über ihre Haut schoss, und zog eine Braue hoch. »Und was geschieht als Nächstes, nun da du deine Pläne zur Vollendung gebracht und mich in dein Bett bekommen hast?«
»Da ich fest beabsichtige, dich in diesem Bett zu behalten, würde ich sagen, es wäre das Beste, wenn wir heiraten würden.« Er hob die Hand, fasste nach einzelnen Strähnen ihres Haars und spielte damit. »Was ich dich noch fragen wollte: Wünschst du dir eigentlich eine große Hochzeit?«
Sie hatte noch nie wirklich darüber nachgedacht. Er drängte sie, ergriff beherzt die Initiative - aber andererseits … Sie hatte keineswegs vor, noch mehr ihrer kostbaren Lebenszeit zu vergeuden.
Hier - nackt an seiner Seite liegend - spürte sie überdeutlich, dass die wahre Anziehungskraft, alles was sie letztendlich in seine Arme geführt hatte, von den körperlichen Reizen lediglich unterstrichen wurde. Es war nicht nur die sinnliche Leidenschaft, die sie beide miteinander verband, sondern vor allem die Sicherheit, die Geborgenheit und das Versprechen all dessen, was ihr gemeinsames Leben ihnen bringen mochte.
Sie konzentrierte sich wieder auf seine Augen. »Nein. Eine kleine Feier im Kreise unserer Familien fände ich vollkommen ausreichend.«
»Gut.« Seine Augenlider senkten sich.
Sie spürte die plötzliche Erleichterung, die er vor ihr zu verbergen suchte. »Was?« Sie lernte beständig hinzu; nur allzu selten kam es vor, dass er nicht irgendeinen geheimen Plan ausheckte.
Sein Blick kehrte zu ihr zurück. Er zuckte leicht mit den Schultern. »Ich hatte gehofft, dass dir eine kleine Hochzeitsfeier recht wäre. Die lässt sich nämlich sehr viel leichter und schneller organisieren.«
»Nun, wir können die Einzelheiten ja mit deinen Großtanten und mit meinen Tanten besprechen, sobald wir wieder in die Stadt zurückkehren.« Sie dachte angestrengt nach. »Heute Abend ist doch der De-Veres-Ball. Da müssen wir unbedingt erscheinen.«
»Nein. Müssen wir nicht.«
Seine Stimme klang fest und entschlossen; sie sah ihn verwirrt an. »Müssen wir nicht?«
»Ich hatte in letzter Zeit so viel gesellschaftliche Zerstreuung, dass es mir für das ganze nächste Jahr reicht. Außerdem bin ich mir sicher, wenn die Gastgeberin unsere Neuigkeiten erst einmal erfahren hat, wird sie unsere Abwesenheit gewiss entschuldigen. Immerhin ist es genau die Art von Klatsch, die alle so sehr lieben, und sie sind denjenigen dankbar, die den entsprechenden Stoff dazu liefern.«
Sie starrte ihn an. »Was für Neuigkeiten? Was für Klatsch
»Nun, dass wir derart über beide Ohren ineinander verliebt sind, dass wir es keinen Tag mehr aushalten können und uns schon morgen hier in der Kapelle trauen lassen werden, und zwar im engsten Kreise unserer beider Familien und einiger ausgewählter Freunde.«
Es herrschte Stille; sie hatte Mühe, die Informationen zu verarbeiten … Doch allmählich fing sie an zu begreifen. »Ich will Details hören!« Mit einem Finger stieß sie gegen seine nackte Brust. »Und zwar alle. Wie soll das Ganze ablaufen?«
Er schnappte sich ihren Finger und zählte auf: »Jeremy und Humphrey werden schon heute Abend anreisen, dann …«
Sie hörte aufmerksam zu und konnte seine Planung nur gutheißen. Sie alle - Tristan, seine älteren Damen, ihre Tanten - hatten alles bis ins kleinste Detail geregelt; sie hatten ihr sogar ein Kleid besorgt. Er hatte eine Sondererlaubnis erwirkt; der Pfarrer der hiesigen Gemeindekirche, der auf dem Trentham’schen Anwesen als Kaplan tätig war, würde sie mit Vergnügen trauen …
Über beide Ohren verliebt.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er dies nicht einfach nur so gesagt hatte, sondern diese Tatsache voll und ganz lebte. Und sie zugleich allen Mitgliedern der feinen Gesellschaft offen zur Schau stellte.
Sie konzentrierte sich wieder auf sein Gesicht, auf seine harten Linien und Züge, die sich kein bisschen verändert hatten, kein bisschen weicher geworden waren, die ihr hier und jetzt Gesellschaft leisteten, bar jeder charmanten Maske. Er redete noch immer, berichtete ihr von den Plänen für das Hochzeitsfrühstück. Ihr Blick verschwamm; sie befreite ihren Finger und legte ihn an seine Lippen.
Er hielt inne, begegnete ihrem Blick.
Sie lächelte auf ihn herab; ihr Herz quoll über. »Ich liebe dich. Und ja, ich werde dich morgen heiraten.«
Er sah sie forschend an, dann schloss er sie fest in seine Arme. »Dem Himmel sei Dank.«
Sie lachte leise, ließ ihren Oberkörper sinken und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sie spürte, wie seine Arme sich enger um sie schlossen und sie festhielten. »Im Grunde ist das alles hier doch nur ein Trick, um weiteren Bällen und Soireen aus dem Wege zu gehen, richtig?«
»Und Musikveranstaltungen. Die darfst du nicht vergessen.« Tristan neigte den Kopf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann begegnete er ihrem Blick und fügte ergänzend hinzu: »Ich verbringe meine Abende nämlich viel lieber hier mit dir. Und widme mich unserer Zukunftsplanung.«
Ihre Augen - von intensivem und strahlendem Veilchenblau - hielten seinen Blick eine ganze Weile gebannt, dann lächelte sie, verlagerte ihre Position und suchte seine Lippen.
Er nahm das Angebot dankbar an und gab ihr im Gegenzug alles zurück, was er zu geben hatte.
Lust und eine tugendhafte Frau.
Das Schicksal hatte ihm seine Zukünftige auserwählt - und es hatte wirklich verdammt gute Arbeit geleistet.