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Was die Erstellung eines effizienten Netzwerks an
Informanten anging, kannte Tristan sich bestens aus.
Lady Warsinghams Kutscher hatte keinerlei
Bedenken, dem örtlichen Straßenfeger zu erzählen, wohin seine
Pflichten ihn am jeweiligen Abend führten; woraufhin einer von
Tristans Dienern des Mittags die Straße hinunterschlenderte, um
betreffende Information bei selbigem Straßenfeger einzuholen und
sie Tristan zu überbringen.
Sein eigenes Dienstpersonal erwies sich als
herausragende Informationsquelle,
wenn es darum ging, engagierte und detailreiche Auskünfte darüber
zu erhalten, wie die Häuser, in denen Leonora sich aufzuhalten
gedachte, räumlich eingeteilt waren. Gasthorpe war zudem selbst
aktiv geworden und hatte Kontakt zu einem weiteren überaus
wertvollen Informanten hergestellt.
Toby, der Laufbursche der Carlings, hielt sich
für gewöhnlich in der Küche der Carlings auf und war
dementsprechend über die Aktivitäten seiner beiden Herren sowie
seiner Herrin bestens informiert. Der Junge war stets begierig,
weitere Erzählungen des ehemaligen Hauptfeldwebels Gasthorpe zu
hören, und erteilte im Gegenzug ganz unschuldig Auskunft über
Leonoras tagtägliche Aktivitäten.
Heute hatte sie sich entschlossen, den Galaabend
der Marchioness of Huntly zu besuchen. Tristan traf frühzeitig
genug ein, um vor dem geschätzten Eintreffen der Gruppe um Lady
Warsingham dort zu sein.
Lady Huntly begrüßte ihn mit einem Funkeln in
den Augen. »Wie ich höre«, sagte sie, »zeigen Sie ein besonderes
Interesse an Miss Carling?«
Er begegnete ihrem Blick offen und sagte: »In
der Tat ein ganz besonderes.«
»In diesem Fall sollte ich Sie wohl warnen, dass
heute Abend einige meiner Neffen zugegen sein werden.« Lady Huntly
tätschelte seinen Arm. »Nur ein wohlgemeinter Hinweis.«
Er nickte ihr zu und verschwand in der Menge,
während er im Stillen nach dem relevanten Zusammenhang suchte. Ihre
Neffen? Er war gerade im Begriff, nach Ethelreda oder Millicent
Ausschau zu halten, die sich irgendwo im Raum aufhielten, um sie um
eine Erklärung zu bitten, als ihm mit einem Mal einfiel, dass Lady
Huntly eine geborene Cynster war.
Er fluchte leise, machte eine abrupte
Kehrtwendung und brachte sich in der Nähe des Haupteingangs in
Position.
Leonora traf einige Minuten später ein; kaum
dass sie die obligatorischen Begrüßungen hinter sich gebracht
hatte, ergriff er ihre Hand.
Sie zog fragend eine Augenbraue hoch; es war
überdeutlich, dass ein spitzer Kommentar hinsichtlich seines allzu
offenkundigen Besitzanspruches unmittelbar bevorstand. Er schloss
seine Hand fester um ihre und drückte ihre Finger. »Lass uns einen
angemessenen Platz für deine Tanten suchen, dann können wir
tanzen.«
Sie sah ihn an. »Nur
tanzen.«
Eine Warnung, die er nicht zu berücksichtigen
gedachte. Gemeinsam geleiteten sie Leonoras Tanten zu einer Gruppe
von Sitzmöbeln, wo sich bereits mehrere Damen im gesetzteren Alter
versammelt hatten.
»Guten Abend, Mildred.« Eine herausgeputzte
ältere Dame nahm sie mit einem hoheitsvollen Nicken in
Empfang.
Lady Warsingham erwiderte die Geste. »Lady
Osbaldstone. Sie erinnern sich gewiss noch an meine Nichte, Miss
Carling?«
Die alte Dame - durchaus freundlich wirkend,
doch mit einem entsetzlich durchdringenden Blick - musterte Leonora
eingehend, während diese höflich vor ihr knickste. Der alte Drachen
schnaubte höhnisch. »Und ob ich mich an Sie erinnere, Miss - nur
dass Sie eigentlich längst keine Miss mehr sein sollten.« Ihr Blick
wanderte hinüber zu Tristan. »Und das hier ist …?«
Lady Warsingham stellte sie einander vor;
Tristan verneigte sich.
Lady Osbaldstone kommentierte spitz: »Bleibt nur
zu hoffen, dass Sie Miss Carling endlich zur Vernunft bringen
können. Zum Tanz geht es dort entlang.«
Mit ihrem Stock deutete sie in Richtung eines
Durchgangs, hinter dem man bereits einige umherwirbelnde Paare
erkennen konnte. Tristan griff die deutliche Aufforderung nur allzu
gern auf. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden?«
Ohne auf weiteren Zuspruch zu warten, zog er
Leonora mit sich.
Im Durchgang blieb er kurz stehen und fragte:
»Diese Lady Osbaldstone - wer ist das?«
»Das meistgefürchtete Ungeheuer der oberen
Gesellschaft. Beachte
sie einfach gar nicht.« Leonora beobachtete die tanzenden Paare.
»Und ich warne dich, heute Abend wird ausschließlich getanzt.«
Er gab keine Antwort; stattdessen nahm er ihre
Hand und führte sie auf die Tanzfläche, um sie unvermittelt in
einen schnellen Walzer hineinzuwirbeln. Einen Walzer, den er zu
seinem größtmöglichen Nutzen einsetzte; angesichts der nur halb
gefüllten Tanzfläche blieb dieser Nutzen allerdings weitaus
geringer, als er es sich erhofft hatte.
Der nächste Tanz war ein Kotillon - eine
gesellschaftliche Übung, für die er ausgesprochen wenig Verwendung
hatte; sie bot nämlich kaum Gelegenheit, die Sinne seiner
Tanzpartnerin zu kitzeln. Es war allerdings noch zu früh, um sie in
den winzigen Salon zu entführen, welcher die Gärten überblickte.
Als sie ihm gegenüber ihren ungeheuren Durst erwähnte, ließ er sie
am Rande der Tanzfläche zurück und machte sich auf den Weg, zwei
Gläser Champagner aufzutreiben.
Der Erfrischungsraum grenzte direkt an den
Tanzsaal; er war nur einen kurzen Moment abwesend, und dennoch fand
er Leonora bei seiner Rückkehr in der Gegenwart eines großen,
dunkelhaarigen Mannes, den er als Devil Cynster
wiedererkannte.
Innerlich verfiel Tristan in bissige Tiraden,
doch als er zu den beiden trat, erkannte weder Leonora noch
Cynster, der von der Unterbrechung alles andere als begeistert
schien, irgendetwas anderes in seinem Ausdruck als vollendete
Höflichkeit.
»Guten Abend.« Tristan reichte Leonora ihr Glas
und bedachte Cynster mit einem Nicken; dieser erwiderte die Geste,
während der Blick seiner leuchtenden Augen immer durchdringender
wurde.
Eines war auf Anhieb ersichtlich, nämlich dass
sein Gegenüber ihm überaus ähnelte - nicht nur, was die Größe, die
Statur und die Eleganz anging, sondern auch hinsichtlich seines
Charakters, seines Naturells - und seines Temperaments.
Ein Augenblick verstrich, während beide Männer
diese Gegebenheit zur Kenntnis nahmen, dann streckte Cynster ihm
die Hand
entgegen. »St. Ives. Meine Tante erzählte mir, Sie seien in
Waterloo gewesen?«
Tristan nickte, schüttelte seine Hand. »Trentham
- obgleich ich das zum damaligen Zeitpunkt noch nicht war.«
Er legte sich rasch die besten Antworten auf
jene unausweichlichen Fragen zurecht; er hatte genug über die
Beteiligung der Cynsters an den jüngsten Militäroperationen gehört,
um anzunehmen, dass St. Ives seine gewohnten Ausflüchte nur allzu
leicht durchschauen würde.
St. Ives musterte ihn aufmerksam, einschätzend.
»In welchem Regiment haben Sie gedient?«
»Garde.« Tristan sah ihm geradewegs in die
hellgrünen Augen und verzichtete bewusst auf eine weitere
Präzisierung. St. Ives’ Blick wurde schmaler; Tristan hielt ihm
stand und murmelte: »Soweit ich mich erinnere, haben Sie selbst in
der schweren Kavallerie gedient. Mit einigen Ihrer Cousins zusammen
unterstützten Sie Cullens Truppen an der rechten Flanke.«
St. Ives stutzte, blinzelte kurz, dann breitete
sich ein trockenes, überaus aufrichtiges Lächeln über seine Lippen.
Sein Blick kehrte zu Tristan zurück; er neigte den Kopf. »Ganz
richtig.«
Nur jemand von hohem militärischem Rang hatte
Zugang zu derart sensiblen Informationen; Tristan konnte in St.
Ives’ hellgrünen Augen beinahe mitlesen, wie dieser die
entsprechenden Schlüsse zog.
Er bemerkte, wie St. Ives ihm erneut einen
einschätzenden Blick zuwarf, um sich im nächsten Moment mit einer
fast unmerklichen Bewegung, die ihnen beiden bewusst war und in
gleicher Weise gedeutet wurde, zurückzog.
Leonoras Blick war derweil von einem zum anderen
gewandert; sie bemerkte die stumme Kommunikation, die zwischen den
beiden Männern stattfand, doch sie konnte ihr nicht folgen, und das
ärgerte sie. Sie öffnete den Mund …
St. Ives wandte sich ihr zu und lächelte mit der
ungezähmten Macht eines Raubtiers. »Ich war eigentlich fest
entschlossen, Ihnen
hoffnungslos den Kopf zu verdrehen, aber ich glaube, ich werde Sie
lieber Trenthams gnädigeren Zuwendungen überlassen. Man fällt einem
anderen Offizier nicht den Rücken - er hat sich seine Chance auf
einen ungehinderten Angriff gewiss verdient.«
Leonora hob ihr Kinn; ihre Augen verengten sich.
»Ich bin kein Feindesland, das es zu erobern und zu besiegen
gilt.«
»Das ist reine Ansichtssache.« Tristans
trockener Kommentar bewirkte, dass ihr Blick spontan zu ihm
zurückkehrte.
St. Ives’ breites Lächeln war frei von Reue; er
trat im Bogen um sie herum und wandte sich zum Gehen, während er
Tristan hinter Leonoras Rücken einen letzten, vielsagenden Gruß
zuwarf.
Tristan nahm diese letzte Geste erleichtert zur
Kenntnis; mit etwas Glück würde Cynster seine Cousins und andere
Männer seines Schlages von weiteren Annäherungsversuchen
abbringen.
Leonora blickte St. Ives stirnrunzelnd
hinterher. »Was sollte das heißen, du hättest dir ›die Chance auf
einen ungehinderten Angriff verdient‹?«
»Vermutlich, dass ich dich zuerst entdeckt
habe.«
Als ihr Blick zu ihm zurückkehrte, wirkte sie
einigermaßen verstimmt. »Ich bin nicht irgend so eine«, sie
gestikulierte, »Beute.«
»Wie ich schon sagte, das ist reine
Ansichtssache.«
»Unsinn.« Sie schwieg einen Moment, ihren Blick
fest auf ihn gerichtet; dann fuhr sie fort. »Ich will doch sehr
hoffen, dass deine Auffassung keineswegs in diese Richtung geht,
denn ich werde mich nicht erobern und besiegen, geschweige denn in
Fesseln legen lassen.« Ihre Worte waren zunehmend schärfer
geworden; bei ihrem letzten Satz drehten sich einige Herren nach
ihr um.
»Dies hier«, er griff ihre Hand und verschränkte
ihren Arm mit seinem, »ist gewiss nicht der richtige Ort, um meine
Absichten zu diskutieren.«
»Absichten?« Sie zwang
sich, leiser zu sprechen. »Was mich anbelangt, solltest du mir
gegenüber überhaupt keine Absichten haben. Jedenfalls keine, von
denen du in irgendeiner Weise hoffen könntest, sie in die Tat
umzusetzen.«
»Es tut mir herzlich leid, dass ich dir da
widersprechen muss, nichtsdestotrotz …« Er sprach weiter und ging
auf ihr lebhaftes Wortgefecht ein, bis sie ganz beiläufig eine
Nebentür erreichten. Als er jedoch nach der Klinke fasste, begriff
Leonora seinen Plan. Sie stemmte entschlossen ihre Absätze in den
Boden.
»O nein.« Sie sah ihn aus schmalen Augen an.
»Heute Abend wird nur getanzt. Es gibt
keinen Grund, weshalb wir allein sein müssten.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Wird das ein
ungeordneter Rückzug?«
Ihre Lippen wurden zu schmalen Linien; ihre
Augen waren nur noch Schlitze. »Ganz und gar nicht, aber so plump
wirst du mich nicht in die Falle locken.«
Er seufzte theatralisch. In Wirklichkeit war es
ohnehin noch viel zu früh - die Räume waren noch nicht genug
gefüllt, als dass sie sich ohne Risiko hätten hinausschleichen
können. »Na schön.« Er wandte sich mit ihr am Arm wieder dem Raum
zu. »Das scheint mir ein Walzer zu sein.«
Er nahm ihr das Glas aus den Händen und übergab
beide Gläser einem Diener; dann zog er sie auf die
Tanzfläche.
Leonora entspannte sich und ließ sich ganz von
dem Tanz treiben; wenigstens hier, in der Gegenwart anderer, konnte
sie ihren Sinnen freien Lauf lassen. Wenn sie allein waren, traute
sie weder sich noch ihm. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass auf
ihre Vernunft kein Verlass mehr war, wenn sie erst einmal in seinen
Armen lag. Offenbar waren alle logischen, rationalen Argumente
gegen jenes warme, drängende Verlangen absolut machtlos.
Begierde. Sie konnte dieses leidenschaftliche
Verlangen, das sie beide antrieb, inzwischen ganz gut benennen. So
viel hatte sie sich inzwischen eingestanden; sie war dennoch klug
genug, sich ihr Verständnis nach außen hin nicht anmerken zu
lassen.
Während sie in Trenthams Armen über die
Tanzfläche wirbelte - entspannt und zugleich lebhaft berauscht -,
bereitete ihr ein ganz anderer Aspekt ihrer Beziehung weitaus
ernstere Sorgen.
Und zwar der Aspekt, den Devil Cynsters Worte
und ihre daraus erwachsene Diskussion mit Tristan ihr verschärft
vor Augen geführt hatten.
Sie wartete ab, bis der Tanz sich dem Ende
neigte, doch dann traten unvermittelt zwei Paare an sie heran, und
sie wurden in eine Unterhaltung verstrickt. Als die Musiker erneut
einen Kotillon anstimmten, bedachte sie Trentham mit einem
warnenden Blick und ergriff die ihr von Lord Hardcastle dargebotene
Hand.
Trentham - Tristan - zeigte außer einem etwas
finsteren Blick keine weitere Reaktion und ließ sie ziehen. Mit
neuer Selbstsicherheit kehrte sie nach dem Tanz an Tristans Seite
zurück, doch nachdem sich das folgende Stück als Volkstanz erwies,
nahm sie die Aufforderung des jungen Lords Belvoir an, der sich
vielleicht irgendwann zum gleichen Schlag Mann wie Trentham und St.
Ives entwickeln würde, der aber nicht älter war als sie selbst und
ihr insofern nur harmlos Gesellschaft leistete.
Tristan - inzwischen nannte sie ihn selbst
insgeheim bei seinem Vornamen; er hatte ihn ihr häufig genug unter
den außergewöhnlichsten und denkwürdigsten Umständen abgerungen,
sodass sie ihn kaum mehr verdrängen konnte. Nun, Tristan ertrug
ihre Abtrünnigkeit weiterhin mit stoischer Gelassenheit. Sie allein
kam nahe genug an ihn heran, um den harten, besitzergreifenden
Ausdruck und - stärker noch - die Wachsamkeit in seinen Augen zu
bemerken.
Vor allem Letzteres bestätigte sie in ihrer
Einschätzung dessen, wie er sie betrachtete; letzten Endes schlug
sie alle Vorsicht in den Wind, um einige klärende Worte mit ihrem
Wolf zu wechseln. Ihrem wilden Wolf - diesen Zusatz hatte sie
keineswegs vergessen, doch bisweilen musste man eben gewisse
Risiken eingehen.
Sie wartete geduldig ab, bis sich die kleine
Gruppe um sie herum auflöste. Bevor sich jemand anderes zu ihnen
gesellen konnte, legte sie ihre Hand auf Tristans Arm und lenkte
ihn zu der Tür, die er zuvor angesteuert hatte.
Er sah sie erstaunt an. »Hast du es dir anders
überlegt?«
»Nein. Ich habe mir etwas anderes überlegt.« Sie begegnete flüchtig
seinem Blick und ging dann weiter auf die Tür zu. »Ich will mit dir
reden - nur reden -, und ich glaube, das
sollten wir besser unter vier Augen tun.«
Als sie die Tür erreichten, blieb sie stehen und
sah ihn an. »Ich nehme an, du kennst irgendeinen Ort in diesem
Haus, an dem wir völlig ungestört sind?«
Sein Mund verzog sich zu einem ganz und gar
männlichen Grinsen; er öffnete die Tür und ließ sie hindurchtreten.
»Nichts liegt mir ferner, als dich zu enttäuschen.«
Das tat er keineswegs; der Raum, in den er sie
führte, war ein kleiner, privater Salon, in dem die Dame des Hauses
ungestört sitzen und ihre tadellos gepflegten Gärten überblicken
konnte. Er war nur über ein ausgedehntes Labyrinth von verwinkelten
Gängen zu erreichen und dementsprechend weit genug von den
Empfangssälen entfernt, um einen ungestörten Austausch von Worten -
oder auch Sonstigem - zu gewährleisten.
Sie schüttelte innerlich den Kopf - wie machte
er das nur? - und begab sich geradewegs zum Fenster, um den
nebelverhangenen Garten zu betrachten. Kein Mond, keinerlei
sonstige Ablenkung. Sie hörte die Tür zuschnappen; dann spürte sie,
wie Tristan sich näherte. Mit einem tiefen Atemzug drehte sie sich
zu ihm um und legte eine Hand gegen seine Brust, um ihn auf Abstand
zu halten. »Wir müssen darüber sprechen, als was du mich
betrachtest.«
Er zeigte keine äußerliche Reaktion, doch mit
diesem Schachzug hatte er keineswegs gerechnet. »Was …«
Sie unterbrach ihn mit ihrer erhobenen Hand. »Es
wird immer offensichtlicher, dass du in mir so etwas wie eine
Herausforderung siehst. Und Männer wie du sind von Natur aus
unfähig, eine Herausforderung ruhen zu lassen.« Sie sah ihn streng
an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du meine Einwilligung in
eine Heirat in einem derartigen Licht betrachtest?«
Tristan erwiderte ihren Blick. Mit zunehmender
Vorsicht. Er
konnte sich nicht vorstellen, wie er die Situation sonst
betrachten sollte. »Ja.«
»Aha! Und genau da steckt unser Problem.«
»Und welches Problem wäre das?«
»Das Problem, dass du mein Nein nicht als
Antwort akzeptierst.« Er lehnte sich gegen den Fensterrahmen und
betrachtete ihr Gesicht - ihre Augen, die vor lauter Stolz über
ihre vermeintliche Erkenntnis funkelten. »Ich kann dir leider nicht
ganz folgen.«
Sie machte ein abwehrendes Geräusch. »Und ob du
das kannst. Du willst nur nicht darüber nachdenken, weil es sich
mit deinen sogenannten Absichten nicht
verträgt.«
»Bitte habe Nachsicht mit meinem armen
verwirrten Männerverstand und erklär mir, worauf du
hinauswillst.«
Sie sah ihn mit einem leidgeprüften Blick an.
»Du wirst doch wohl kaum leugnen, dass es bereits jetzt - und erst
recht, wenn die Saison erst einmal begonnen hat - unzählige junge
Damen gibt, die sich begierig an deinen Hals werfen würden.«
»Durchaus.« Dies war einer der Gründe, weshalb
er nie von ihrer Seite wich, weshalb er sie so schnell wie möglich
zu einer Heirat bewegen wollte. »Und was hat das Ganze mit uns zu
tun?«
»Weniger mit mir als vielmehr mit dir. Wie die meisten anderen Männer auch, gibst du
dich ungern mit dem zufrieden, was du kampflos haben kannst. Du
setzt den Wert einer Sache mit den dazu nötigen Kampfanstrengungen
gleich - je größer die Anstrengung, desto wertvoller die Sache. Und
mit den Frauen ist es nicht anders als im Krieg. Je mehr eine Dame
sich widersetzt, desto begehrenswerter wird sie.«
Sie fixierte ihn mit ihren klaren veilchenblauen
Augen. »Habe ich recht?«
Er dachte kurz nach, bevor er nickte. »Klingt
nach einer logischen Hypothese.«
»Durchaus. Begreifst du nun endlich, was das für
uns bedeutet?«
»Nein.«
Sie gab ein entnervtes Zischen von sich. »Du
willst mich nur heiraten, weil ich dich nicht heiraten will - aus keinem anderen Grund.
Dieser primitive Instinkt«, sie gestikulierte wild mit den Händen,
»der dich treibt, ist schuld daran, dass die Anziehungskraft nicht
nachlässt. Das würde sie nämlich, wenn du nicht …«
Er schnappte sich eine ihrer herumfuchtelnden
Hände und zog sie mit einem Ruck zu sich heran. Sie landete an
seiner Brust und schnappte nach Luft, während seine Arme sich um
sie schlossen. Er spürte, wie ihr Körper ganz unwillkürlich auf ihn
reagierte - wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte, wie
er es immer tat. »Unsere gegenseitige
Anziehungskraft hat kein bisschen nachgelassen.«
Sie atmete gezwungen ein. »Das liegt daran, dass
du sie verwirrst …« Ihre Worte erstarben, als er seinen Kopf zu ihr
herabneigte. »Ich habe gesagt, wir werden nur reden!«
»Das wäre aber unlogisch.« Er setzte seine
Lippen sanft auf ihre - und stellte zufrieden fest, dass sie seinen
Kuss erwiderte. Er veränderte seine Position und hielt sie bequemer
im Arm. Ihre Hüften berührten sich, sodass seine Erregung gegen
ihren weichen Bauch drückte. Er sah ihr in die Augen, die dunkel
und weit geöffnet waren. Seine Lippen verzogen sich, jedoch nicht
zu einem Lächeln. »Du hast vollkommen recht, ich werde von einem
primitiven Instinkt geleitet. Aber du hast auf den falschen
Instinkt gesetzt.«
»Was …«
Ihr Mund war geöffnet - er füllte ihn aus. Und
ergriff in einem langen, langsamen Kuss von ihr Besitz. Sie
versuchte, sich zur Wehr zu setzen, sich zurückzuhalten, doch
schließlich ergab sie sich ihm.
Als er den Kopf wieder hob, murmelte sie
seufzend: »Was wäre unlogisch daran, nur reden zu wollen?«
»Es würde deiner Schlussfolgerung
widersprechen.«
»Meiner Schlussfolgerung?« Sie blinzelte ihn an.
»So weit bin ich ja noch nicht einmal gekommen.«
Er berührte ihre Lippen erneut, damit sie sein
wölfisches Grinsen nicht sah. »Ich werde sie für dich formulieren.
Wenn - wie du behauptest - der einzige Grund, weshalb ich dich
heiraten will, der einzige Grund für unsere gegenseitige Anziehung
der ist, dass du dich mir widersetzt, warum versuchst du dann nicht
einfach, dich mir nicht zu widersetzen, und
wartest ab, was passiert?«
Sie starrte ihn benommen an. »Mich nicht
widersetzen?«
Er zuckte die Schultern und ließ seinen Blick zu
ihren Lippen wandern. »Wenn du tatsächlich richtigliegst, würdest
du deine These damit beweisen.« Er stürzte sich wieder auf ihre
Lippen, auf ihren Mund, noch bevor sie Gelegenheit hatte, sich zu
überlegen, was geschehen würde, wenn sie falschlag.
Seine Zunge umspielte die ihre; ein sanftes
Zittern durchfuhr ihren Körper, dann erwiderte sie seinen Kuss. Und
gab jeglichen Widerstand auf - was sie allerdings immer tat, wenn
sie an diesem Punkt anlangten; er war keineswegs so leichtgläubig,
dahinter mehr zu vermuten als ein innerliches Schulterzucken
ihrerseits und den festen Entschluss, die Situation weitestgehend
auszukosten, obwohl sie zugleich davon überzeugt war, dass diese
Leidenschaft ganz unweigerlich nachlassen würde.
Er wusste, dass sie sich irrte, zumindest was
ihn betraf. Was er ihr gegenüber empfand,
hatte er noch nie zuvor empfunden - weder für eine andere Frau noch
für irgendjemanden sonst. Beschützend, besitzergreifend und von der
Richtigkeit seiner Handlung absolut überzeugt. Es war diese
Überzeugung, die ihn dazu trieb, immer wieder mit ihr
zusammenzukommen, obgleich sie sich so entschieden dagegen wehrte,
nur um ihr in aller Deutlichkeit zu beweisen, welch machtvolle
Gefühle da zwischen ihnen erwuchsen.
Diese Enthüllung war überwältigend genug, ganz
gleich unter welchen Umständen, aber er hatte sich vorgenommen,
Leonora die sinnliche Wirklichkeit dieser Erkenntnis in den
schillerndsten Farben vor Augen zu führen, um sie mit ihrer Macht,
ihrer Intensität, ihrer unverhüllten Wahrheit zu
konfrontieren.
Sie spürte es und unterbrach den Kuss; hinter
schweren Augenlidern sah sie zu ihm auf. Seufzte. »Ich hatte
wirklich vor, heute Abend nur zu tanzen.«
Kein Widerstand, kein Widerwille, nur
bedingungslose Akzeptanz.
Er legte seine Hände fest auf ihr Hinterteil und
zog sie aufreizend hart zu sich heran. Er beugte sich zu ihr herab,
um ihre Lippen zu berühren. »Wir werden tanzen, aber es wird zur
Abwechslung mal kein Walzer sein.«
Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. »Zu unserer
eigenen Musik, meinst du?«
Die Chaiselongue beim Fenster war der
offensichtliche Ort, um sie zu nehmen; sich neben sie zu legen,
ihre Brüste zu verzehren. Bis ihre sanften Seufzer drängender und
fordernder wurden, bis sie sich neben ihm wand und ihre Hände in
sein Haar klammerte.
Er unterdrückte ein triumphierendes Grinsen und
rutschte auf dem Ruhebett tiefer nach unten, während er ihren Rock
bis zur Taille nach oben schob, sodass ihre Hüfte und ihre langen,
schlanken Beine entblößt waren. Er umspielte ihre Kurven, erst mit
zarten Fingern, dann mit festerem Griff, um ihre Beine zu spreizen
und sie zu öffnen.
Dann neigte er den Kopf und berührte ihre
weiche, feuchte Haut mit seinen Lippen.
Sie schrie auf, versuchte seine Schultern zu
packen, doch sie waren außerhalb ihrer Reichweite. Ihre Hände
verfingen sich in seinem Haar, verkrampften sich, während er sie
liebkoste, leckte, dann sanft saugte.
»Tristan! Nicht …«
»Doch.« Er hielt sie fest und drang tiefer vor,
sie gekonnt reizend, während seine Zunge ihren Geschmack kostete
…
Sie stand zitternd kurz vor dem Höhepunkt, als
er von ihr abließ, um sein Geschlecht aus der beengenden Hose zu
befreien und sich über sie zu beugen. Sie umklammerte seine
Oberarme, ihre Fingernägel bohrten sich tief in ihn hinein, ihre
angewinkelten Beine
pressten hart gegen seine Schenkel. Ein sinnliches Flehen
durchdrang all ihre Züge; ihr Körper drängte, bewegte sich rastlos
unter ihm, schrie danach, genommen zu werden.
Ihr Rücken bog sich, als er in sie eindrang;
noch während er vorstieß, kam sie in kraftvollen, erlösenden Wellen
zum Höhepunkt. Er nahm es mit ihr auf und trieb sie noch weiter
voran. Sie klammerte sich an ihn, schluchzte, wetteiferte mit
seiner Lust - gemeinsam strebten sie zum Gipfel, mit jedem
kraftvollen Vorstoß erklommen sie größere Höhen, dann barst alle
Anspannung, zersplittert in tausend Stücke, fiel in sich zusammen,
und sie traten ein in das warme vollendete Nichts ihrer
Vereinigung.
Der Moment, in dem alle Grenzen fielen, in dem
nur noch er und sie existierten, in nackter Aufrichtigkeit
miteinander verbunden und von dieser machtvollen Wahrheit schützend
umgeben.
Heftig atmend, mit pochenden Herzen und hitzig
pulsierender Haut, kamen sie beide zur Ruhe, warteten, intim
verbunden, bis die Magie verebbte. Ihre Blicke berührten sich,
blieben aneinander haften - keiner machte Anstalten, sich zu
rühren, sich dem anderen zu entziehen.
Sie hob ihre Hand, fuhr über seine Wange. Sie
sah ihm forschend in die Augen.
Er neigte den Kopf zur Seite und setzte einen
feuchten Kuss in ihre Handfläche.
Ihr tiefer Atemzug verriet ihm, dass, obwohl sie
mit ihrem Körper und ihren Sinnen noch tiefe Glückseligkeit genoss,
ihr Verstand sich bereits losgelöst hatte; sie war schon wieder in
Gedanken versunken.
Resigniert erwiderte er ihren Blick. »Du hast
gesagt, ich hätte auf den falschen primitiven Instinkt gesetzt -
dass es nicht der Kampfgeist ist, der dich antreibt.« Sie hielt
seinem Blick stand. »Wenn es nicht das ist, was dann? Warum«, sie
deutete vage in den Raum, »sind wir denn sonst hier?«
Er kannte die Antwort; kein Lächeln wollte über
seine Lippen kommen. »Wir sind hier, weil ich dich will.«
Sie machte ein verächtliches Geräusch. »Also ist
es schlicht und einfach die Lust …«
»Nein.« Er drang vollständig in sie ein und
hatte sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Nicht Lust, nichts
dergleichen. Du hörst mir nicht richtig zu. Ich will dich. Nicht irgendeine Frau - keine andere. Nur
dich.«
Sie runzelte die Stirn.
Seine Lippen bewegten sich, doch sie formten
kein Lächeln. »Deshalb sind wir hier. Und deshalb werde ich dich
auch weiterhin verfolgen - komme, was da wolle -, bis du endlich
einwilligen wirst, mir zu gehören.«
Nur dich.
Als Leonora am nächsten Morgen am
Frühstückstisch saß und ihren Tee trank, dachte sie über diese
Worte nach.
Sie war sich nicht sicher, ob ihre
Interpretation die richtige war, ob sie wirklich verstand, was
Tristan ihr damit sagen wollte. Männer - zumindest Männer wie er -
waren für sie ein Buch mit sieben Siegeln; ihr war nicht wohl
dabei, seinen Worten zu viel Bedeutung - vielmehr die Bedeutung, die sie selbst darin sah -
beizumessen.
Das war aber längst nicht ihr einziges
Problem.
Die Leichtigkeit, mit der er ihre
Entschlossenheit in Huntly House - genau wie an den Abenden zuvor -
zunichtegemacht hatte, gab ihr eindeutig zu verstehen, dass ihre
Hoffnung, sich gegen seine geübten Verführungskünste zur Wehr
setzen zu können, schlichtweg lachhaft war.
In dieser Hinsicht brauchte sie sich nicht
länger etwas vorzumachen; wenn sie sich ihm ernsthaft verweigern
wollte, musste sie sich einen Keuschheitsgürtel zulegen. Und selbst
dann … Er konnte mit ziemlicher Sicherheit Schlösser knacken.
Und es gab da noch etwas anderes zu
bedenken.
Auch wenn sie mit dem Versuch, ihre These zu
untermauern, seinen Absichten geradezu entgegenkäme, mochte sie
doch trotzdem
recht behalten, sprich, wenn sie ihre Abwehrhaltung bezüglich
einer Heirat mit ihm gezielt aufgäbe, mochte dies zur Folge haben,
dass er allmählich das Interesse verlor.
Doch was, wenn es nicht so wäre?
Sie hatte die halbe Nacht über diese Frage
nachgegrübelt, sich Details ausgemalt …
Castors leises Räuspern holte sie zurück in die
Wirklichkeit; sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ihren Gedanken
so nachgehangen hatte - vertieft in ein völlig neues Panorama,
verzückt von einer Vorstellung, der sie, ihrer eigenen Überzeugung
nach, vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte. Nachdenklich schob
sie ihren ungegessenen Toast beiseite und stand auf. »Sagen Sie dem
Diener, er soll mir Bescheid geben, wenn er Henrietta ausführt. Ich
werde sie heute begleiten.«
»Sehr wohl, Miss.« Castor verneigte sich und
verließ den Raum.
An diesem Abend betrat Leonora, zusammen mit
Mildred und Gertie, den Ballsaal von Lady Catterthwaite. Sie waren
weder besonders früh noch spät. Nachdem sie ihre Gastgeberin
begrüßt hatten, stürzten sie sich ins Getümmel. Mit jedem Tag
kehrten weitere Vertreter der erlesenen Gesellschaft in die Stadt
zurück, und die Bälle wurden dementsprechend immer
überlaufener.
Lady Catterthwaites Ballsaal war klein und
überfüllt. Leonora begleitete ihre Tanten zu einer Gruppe von
Stühlen und Chaiselonguen, welche den älteren Damen dazu diente,
ihre Schützlinge zu beobachten und zugleich die neuesten
Geschichten auszutauschen; sie war überrascht, dass Trentham nicht
bereits darauf lauerte, sich aus der Menge zu lösen und sie
abzufangen. Sie auf der Stelle für sich zu beanspruchen.
Sie half Gertie dabei, sich auf einem Fauteuil
niederzulassen, während sie sich insgeheim darüber ärgerte, mit
welcher Selbstverständlichkeit sie seine Zuwendungen bereits
erwartete. Sie richtete sich auf und nickte ihren Tanten zu. »Ich
werde mich ein wenig unters Volk mischen.«
Mildred war bereits in eine Unterhaltung
vertieft; Gertie nickte ihr zu und wandte sich dann ebenfalls der
Gruppe zu.
Leonora drängte sich durch die bereits
beachtliche Menge. Sie hätte mühelos die Aufmerksamkeit eines
Gentleman auf sich ziehen oder sich zu irgendwelchen Bekannten
hinzugesellen können, doch ihr war weder nach dem einen noch nach
dem anderen. Sie war zwar nicht gerade besorgt, aber doch zumindest
verwundert über Tristans Abwesenheit. Nachdem er am gestrigen Abend
im Brustton der Überzeugung die Worte »nur dich« gesprochen hatte,
war ihr ein plötzlicher Wandel an ihm aufgefallen - ein Anflug von
Vorsicht und Wachsamkeit -, den sie nicht recht zu deuten
wusste.
Er hatte sich nicht direkt vor ihr verschlossen
oder sich von ihr zurückgezogen, aber sie hatte bei ihm so etwas
wie einen instinktiven Selbstschutz gespürt - als wäre er zu weit
gegangen, als hätte er mehr gesagt, als gut war … oder als
richtig war.
Diese Möglichkeit zehrte an ihr; es war schon
schwierig genug, seine Motive durchschauen zu wollen - sich auch
noch mit der Tatsache auseinandersetzen zu müssen, dass, entgegen
ihrem Willen und ihre Überzeugung, seine Motive ihr keineswegs
gleichgültig waren, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er
womöglich nicht aufrichtig, nicht ehrlich zu ihr war. In diese
Richtung erstreckte sich ein unüberschaubarer Morast von
Unwägbarkeiten, in dem sie keinesfalls versinken wollte.
Genau diese Art von Situation war es nämlich,
die ihre entschiedene Haltung gegen die Ehe maßgeblich
prägte.
Sie schlenderte weiter ziellos durch den Saal,
hielt hier und dort kurz inne, um einige Bekannte zu begrüßen, und
entdeckte plötzlich direkt vor ihr in der Menge ein Paar überaus
vertrauter Schultern.
Scharlachrot gekleidet - ganz so wie damals. Als
hätte er ihren Blick gespürt, drehte sich der Gentleman um und
erblickte Leonora. Er lächelte.
Hocherfreut kam er auf sie zu und streckte ihr
beide Hände entgegen. »Leonora! Wie schön, Sie zu sehen.«
Sie erwiderte sein Lächeln und reichte ihm ihre
Hände. »Mark. Wie ich sehe, sind Sie noch nicht aus der Armee
ausgetreten.«
»Nein, nein. Keineswegs. Ich bin der
militärischen Laufbahn treu ergeben.« Braune Haare, helle Haut und
an seiner Seite eine Frau, die er in die Unterhaltung mit einbezog.
»Darf ich vorstellen, das ist meine Frau Heather.«
Leonoras Lächeln wäre um ein Haar brüchig
geworden, aber Heather Whorton lächelte freundlich zurück und
reichte ihr die Hand. Falls sie sich daran erinnerte, dass Leonora
die Frau war, mit der ihr Mann verlobt gewesen war, bevor er um
ihre Hand angehalten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken.
Leonora entspannte sich allmählich, und ihr wurde - zu ihrer
Überraschung - eine ausschweifende Erzählung über das Whorton’sche
Familienleben der vergangenen sechs Jahre beschert, von der Geburt
ihres ersten Kindes bis hin zur Niederkunft mit dem vierten, von
den strengen Anforderungen des Militäralltags bis hin zu den langen
Trennungen, unter denen Militärfamilien zu leiden hatten.
Sowohl Mark als auch Heather trugen zu der
Unterhaltung bei; man konnte unmöglich übersehen, wie sehr Heather
von ihrem Ehemann Mark abhängig war. Sie hielt seinen Arm fest
umklammert, doch vor allem schien sie völlig auf ihren Mann und
ihre Kinder fixiert zu sein - ja, sie schien ihre eigene Identität
geradezu aufgegeben zu haben.
In Leonoras Bekanntenkreis war dies keineswegs
die Regel.
Während sie zuhörte, höflich lächelte und ab und
zu einen angemessenen Kommentar einfließen ließ, wurde ihr nach und
nach bewusst, wie schlecht sie und Mark tatsächlich
zueinandergepasst hätten. Seine Reaktion auf Heathers Verhalten
machte unmissverständlich klar, wie sehr er ihre Abhängigkeit
genoss - ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich zwischen ihm und
Leonora niemals ergeben hätte, das sie selbst niemals zugelassen
hätte.
Ihr war schon vor langer Zeit klar geworden,
dass sie Mark nie wirklich geliebt hatte; zum Zeitpunkt ihrer
Verlobung war sie zarte und überaus naive siebzehn Jahre alt
gewesen - sie hatte geglaubt,
dasselbe zu wollen, was alle jungen Ladys wollten, sogar
leidenschaftlich begehrten, nämlich einen gut aussehenden Ehemann
zu ergattern. Wenn sie ihm jetzt so zuhörte und sich
zurückerinnerte, konnte sie sich mühelos eingestehen, dass sie
nicht ihn selbst geliebt hatte, sondern vielmehr die Vorstellung
des Verliebtseins, die Vorstellung zu heiraten und einen eigenen
Haushalt zu führen. Auf der Suche nach dem Heiligen Gral aller
jungen Mädchen.
Sie lauschte, beobachtete und sendete ein
stummes Dankgebet zum Himmel - sie war ihrem Schicksal glücklich
entronnen.
Entspannt schritt Tristan die Stufen zu Lady
Catterthwaites Ballsaal hinunter. Er traf etwas später ein als
sonst; eine Nachricht von einem seiner Kontaktmänner hatte einen
neuerlichen Besuch im Hafenviertel unabdingbar gemacht - es war
bereits dunkel gewesen, als er nach Trentham House zurückgekehrt
war.
Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen und
hielt nach Leonora Ausschau, konnte sie jedoch nirgends entdecken.
Stattdessen erspähte er ihre beiden Tanten. Mit einem unguten
Gefühl betrat er den Ballsaal und wandte sich umgehend den älteren
Herrschaften zu.
Umgetrieben von dem Zwang, Leonora schnellstens
zu finden - ein drängender Impuls, der ihn in seiner Intensität
erschreckte.
Das Intermezzo des vergangenen Abends, die
Erklärung, die er ihr geliefert hatte, nämlich dass sie - und zwar
nur sie - dazu in der Lage wäre, seine
Bedürfnisse zu befriedigen, hatte lediglich dazu geführt, sein
wachsendes Gefühl von Verwundbarkeit noch zu betonen und zu
verstärken. Er hatte das Gefühl, leichtfertig in einen Kampf zu
ziehen, obgleich ihm ein Teil seiner Rüstung fehlte - in dem vollen
Bewusstsein, sich und seine Emotionen schutzlos auszuliefern, und
zwar auf eine überaus leichtsinnige, törichte und tollkühne Art und
Weise.
Sein Instinkt drängte ihn dazu, sich gegen eine
solche Schwäche unmittelbar und umfassend zu wappnen, sie zu
vertuschen und schnellstens Deckung zu beziehen.
An seiner Natur konnte er nichts ändern, er
hatte sie längst so akzeptiert, wie sie war. Ebenso wie seine
erschütternde Machtlosigkeit gegenüber diesem drängenden Bedürfnis,
Leonora endlich für sich zu gewinnen, sie für immer sein Eigen zu
nennen.
Und sie so schnell wie möglich zu
heiraten.
Er erreichte die Schar älterer Damen, verneigte
sich vor Mildred und gab ihr und Gertie die Hand. Ihm blieb nichts
anderes übrig, als sich der Runde neugieriger Matronen geduldig
vorstellen zu lassen.
Mildred erlöste ihn beizeiten, indem sie in den
Saal hineindeutete und dabei bemerkte: »Leonora hat sich bereits
unter die Menge gemischt.«
»Es wurde aber auch langsam Zeit, dass Sie
auftauchen!«, murmelte Gertie, die am Rande der Gruppe saß und
unvermittelt seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Sie ist dort
drüben.« Sie wies mit ihrem Stock in eine bestimmte Richtung;
Tristan wandte sich um und sah, dass Leonora mit einem Offizier des
Infanterieregiments sprach.
Gertie schnaubte verächtlich. »Dieser Tunichtgut
von Whorton umgarnt sie schon die ganze Zeit. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass sie das genießt. Sie gehen besser zu ihr hin und
erlösen sie.«
Er hatte sich noch nie in ein Spiel gestürzt,
ohne die Regeln genauestens zu kennen. Die Gruppe um Leonora stand
ein wenig entfernt, doch Tristan hatte das Trio gut im Blick.
Obgleich er Leonora nur im Profil sah, deuteten weder ihre Haltung
noch ihre gelegentlichen Gesten darauf hin, dass sie sich in
irgendeiner Weise unwohl oder beunruhigt fühlte. Sie vermittelte
auch nicht den Eindruck, ihren Gesprächspartnern dringend
entfliehen zu wollen.
Er wandte sich wieder Gertie zu. »Whorton. Ich
nehme an, das ist der Hauptmann, mit dem sie gerade spricht?«
Gertie nickte bestätigend. »Warum schimpfen Sie ihn einen
Tunichtgut?«
Gertie kniff ihre alten Augen zusammen. Ihre
Lippen bildeten eine harte Linie, während ihr Blick ihn forschend
musterte. Vom ersten Moment an hatte sie sich ihm gegenüber weit
weniger ermunternd
verhalten als Leonoras andere Tante; und dennoch hatte sie ihm
keine Knüppel zwischen die Beine geworfen. Tatsächlich hatte er
eher das Gefühl, dass sie ihm von Tag zu Tag wohlwollender gesinnt
war.
Anscheinend bestand er ihre Prüfung, denn
Gerties Blick wanderte plötzlich mit einem Nicken in Whortons
Richtung. Ihre Abneigung war unverkennbar.
»Er hat sie sitzen lassen - darum. Mit siebzehn
hat sie sich mit ihm verlobt, kurz bevor er nach Spanien aufbrach.
Als er im nächsten Jahr zurückkehrte, hat er sich umgehend bei ihr
gemeldet, und wir hörten alle schon die Hochzeitsglocken läuten.
Doch dann hat Leonora ihm die Tür gewiesen und uns erklärt, er habe
sie darum gebeten, die Verlobung zu lösen. Die Tochter seines
Obristen hatte wohl mehr seinen Vorstellungen entsprochen.«
Gerties Schnauben sagte mehr als alle Worte.
»Darum nenne ich ihn einen Tunichtgut. Er hat ihr das Herz
gebrochen, dieser Unhold.«
Ein Wirbelsturm komplizierter Gefühle wühlte
Tristan innerlich auf. Er hörte sich selbst fragen: »Sie hat die
Verlobung also gelöst?«
»Selbstverständlich hat sie das! Welche Lady
würde unter diesen Umständen etwas anderes tun? Sie war ihm nicht
gut genug, diesem Nichtsnutz. Er hat sich lieber in ein wärmeres
Nest gesetzt.«
Gerties Zuneigung für Leonora klang deutlich aus
ihrer Stimme heraus, sie verlieh ihrer Empörung noch mehr
Intensität. Aus einem Impuls heraus klopfte er ihr auf die
Schulter. »Keine Sorge, ich werde sie auf der Stelle retten.«
Aber er würde Whorton mit seiner Rettungsaktion
nicht zum Märtyrer machen. Ungeachtet der unschönen Details dieser
ganzen Geschichte war Tristan alles in allem heilfroh, dass dieser
Nichtsnutz Leonora nicht geheiratet hatte.
Die Augen fest auf das Trio geheftet, steuerte
er zielsicher durch die Menge. Er hatte gerade ein zentrales
Puzzlestück hinsichtlich Leonoras Einstellung zur Ehe erhalten,
aber er konnte sich jetzt
nicht die Zeit nehmen, darüber nachzudenken und Teile hin und her
zu schieben, um herauszufinden, wie sich das Gesamtbild
zusammensetzte. Oder was das alles für ihn
bedeuten würde.
Er trat an Leonoras Seite; sie blickte zu ihm
auf und lächelte.
»Ach, da sind Sie ja.«
Er nahm ihre Hand und führte sie flüchtig an die
Lippen, dann legte er sie auf seinen Arm, wie er es gewohnt war.
Leonora zog halbherzig die Augenbrauen hoch - quasi resigniert -
und wandte sich wieder den anderen zu. »Darf ich Sie einander
vorstellen?«
Das tat sie; sein Herz machte einen Satz, als er
hörte, dass die andere Dame Whortons Ehefrau war. Äußerlich völlig
ungerührt erwiderte er die Begrüßung.
Mrs Whorton lächelte ihn freundlich an. »Wie ich
gerade sagte - es hat sich als überaus anstrengend erwiesen, die
schulische Laufbahn unseres Sohnes angemessen zu planen …«
Zu seiner grenzenlosen Überraschung sah Tristan
sich unvermittelt in die Diskussion verwickelt, auf welche Schule
man die Whorton-Bälger am besten schicken solle. Leonora steuerte
ihre Erfahrungen hinsichtlich Jeremys Schulbildung bei; und Whorton
schien ihre Meinung in seine Erwägungen ernsthaft einbeziehen zu
wollen.
Entgegen Gerties Mutmaßungen machte Whorton
keinerlei Anstalten, Leonora zu umgarnen oder ihre ehemalige
Zuneigung wieder anzufachen.
Tristan beobachtete Leonora aufmerksam, aber
außer ihrer gewohnten Selbstsicherheit und ihrem ruhigen, anmutigen
Auftreten konnte er ihr nichts anmerken. Was immer sie einst für
Whorton empfunden haben mochte, war bei Weitem nicht mehr stark
genug, um ihren Puls schneller werden zu lassen. Er pochte
gleichmäßig unter seinen Fingern - sie war vollkommen
entspannt.
Und das, obwohl sie gerade über Kinder
plauderte, die unter anderen Umständen ihre eigenen hätten sein
können.
Er fragte sich, wie sie überhaupt zu Kindern
stand, während ihm zugleich bewusst wurde, dass er ihre positive
Haltung gegenüber
seinen Nachkommen immer als selbstverständlich vorausgesetzt
hatte.
Er überlegte, ob sie womöglich sein Kind bereits
in sich trug.
Sein Magen verkrampfte sich; eine heftige Welle
von Besitzanspruch überrollte seinen Körper. Äußerlich zeigte er
kaum mehr als ein Wimpernzucken, aber Leonoras Blick war plötzlich
auf ihn gerichtet; mit einem besorgten Stirnrunzeln sah sie ihn
dezent fragend an.
Der Anblick beruhigte ihn. Er lächelte
entspannt; sie blinzelte ihn an, studierte seine Augen und wandte
sich wieder Mrs Whortons Plauderei zu.
Schließlich begannen die Musiker, ihre
Instrumente zu stimmen. Tristan nutzte den Anlass, um von den
Whortons Abschied zu nehmen und Leonora auf direktem Wege auf die
Tanzfläche zu führen.
Er zog sie in seine Arme und stürzte sich mit
ihr in einen wirbelnden Walzer.
Erst jetzt konzentrierte er sich auf ihr Gesicht
und bemerkte den leidgeprüften Ausdruck darin.
Er blinzelte, zog fragend die Brauen hoch.
»Mir ist bewusst, dass ihr Männer vom Militär es
gewohnt seid, stets prompt zu reagieren, aber in den Tanzsälen der
besseren Gesellschaft ist es durchaus geziemend, eine Frau vorher
zu fragen, ob sie überhaupt tanzen
will.«
Er erwiderte ihren Blick für einen Moment, dann
entgegnete er: »Ich bitte um Verzeihung.«
Sie wartete ab, dann riss sie ihre Augen fragend
auf. »Und - wirst du mich nun fragen?«
»Nein. Wir tanzen nämlich schon; die Frage wäre
also überflüssig. Und außerdem könntest du Nein sagen.«
Sie blinzelte, dann lächelte sie ihn belustigt
an. »Das werde ich demnächst auch mal versuchen.«
»Besser nicht.«
»Und wieso nicht?«
»Weil dir das Ergebnis nicht gefallen
würde.«
Sie sah ihn eindringlich an; schließlich seufzte
sie übertrieben.
»Sie sollten dringend an Ihren Umgangsformen
arbeiten, Lord Trentham. Ihre besitzergreifende Art ist alles
andere als akzeptabel.«
»Ich weiß. Glaube mir, ich arbeite fieberhaft an
einer Lösung. Deine Mithilfe wäre mir überaus willkommen.«
Sie kniff die Augen zusammen, dann reckte sie
ihre Nase hoch in die Luft und blickte gezielt an ihm vorbei. Sie
gab sich empört darüber, dass er das letzte Wort behalten
hatte.
Er wirbelte sie in eine schwungvolle Drehung
hinein und widmete sich gedanklich einer weiteren winzigen, wenn
auch wichtigen Angelegenheit, die dringend einer sachdienlichen
Klärung bedurfte und die er daher umgehend ansprechen sollte.
Männer vom Militär. Ihre
Erinnerungen an Whorton, wie blass und unscharf sie auch immer sein
mochten, waren gewiss keine glücklichen - und höchstwahrscheinlich
steckte Leonora ihn und Whorton in dieselbe Schublade.