12
Was die Erstellung eines effizienten Netzwerks an Informanten anging, kannte Tristan sich bestens aus.
Lady Warsinghams Kutscher hatte keinerlei Bedenken, dem örtlichen Straßenfeger zu erzählen, wohin seine Pflichten ihn am jeweiligen Abend führten; woraufhin einer von Tristans Dienern des Mittags die Straße hinunterschlenderte, um betreffende Information bei selbigem Straßenfeger einzuholen und sie Tristan zu überbringen.
Sein eigenes Dienstpersonal erwies sich als herausragende Informationsquelle, wenn es darum ging, engagierte und detailreiche Auskünfte darüber zu erhalten, wie die Häuser, in denen Leonora sich aufzuhalten gedachte, räumlich eingeteilt waren. Gasthorpe war zudem selbst aktiv geworden und hatte Kontakt zu einem weiteren überaus wertvollen Informanten hergestellt.
Toby, der Laufbursche der Carlings, hielt sich für gewöhnlich in der Küche der Carlings auf und war dementsprechend über die Aktivitäten seiner beiden Herren sowie seiner Herrin bestens informiert. Der Junge war stets begierig, weitere Erzählungen des ehemaligen Hauptfeldwebels Gasthorpe zu hören, und erteilte im Gegenzug ganz unschuldig Auskunft über Leonoras tagtägliche Aktivitäten.
Heute hatte sie sich entschlossen, den Galaabend der Marchioness of Huntly zu besuchen. Tristan traf frühzeitig genug ein, um vor dem geschätzten Eintreffen der Gruppe um Lady Warsingham dort zu sein.
Lady Huntly begrüßte ihn mit einem Funkeln in den Augen. »Wie ich höre«, sagte sie, »zeigen Sie ein besonderes Interesse an Miss Carling?«
Er begegnete ihrem Blick offen und sagte: »In der Tat ein ganz besonderes.«
»In diesem Fall sollte ich Sie wohl warnen, dass heute Abend einige meiner Neffen zugegen sein werden.« Lady Huntly tätschelte seinen Arm. »Nur ein wohlgemeinter Hinweis.«
Er nickte ihr zu und verschwand in der Menge, während er im Stillen nach dem relevanten Zusammenhang suchte. Ihre Neffen? Er war gerade im Begriff, nach Ethelreda oder Millicent Ausschau zu halten, die sich irgendwo im Raum aufhielten, um sie um eine Erklärung zu bitten, als ihm mit einem Mal einfiel, dass Lady Huntly eine geborene Cynster war.
Er fluchte leise, machte eine abrupte Kehrtwendung und brachte sich in der Nähe des Haupteingangs in Position.
Leonora traf einige Minuten später ein; kaum dass sie die obligatorischen Begrüßungen hinter sich gebracht hatte, ergriff er ihre Hand.
Sie zog fragend eine Augenbraue hoch; es war überdeutlich, dass ein spitzer Kommentar hinsichtlich seines allzu offenkundigen Besitzanspruches unmittelbar bevorstand. Er schloss seine Hand fester um ihre und drückte ihre Finger. »Lass uns einen angemessenen Platz für deine Tanten suchen, dann können wir tanzen.«
Sie sah ihn an. »Nur tanzen.«
Eine Warnung, die er nicht zu berücksichtigen gedachte. Gemeinsam geleiteten sie Leonoras Tanten zu einer Gruppe von Sitzmöbeln, wo sich bereits mehrere Damen im gesetzteren Alter versammelt hatten.
»Guten Abend, Mildred.« Eine herausgeputzte ältere Dame nahm sie mit einem hoheitsvollen Nicken in Empfang.
Lady Warsingham erwiderte die Geste. »Lady Osbaldstone. Sie erinnern sich gewiss noch an meine Nichte, Miss Carling?«
Die alte Dame - durchaus freundlich wirkend, doch mit einem entsetzlich durchdringenden Blick - musterte Leonora eingehend, während diese höflich vor ihr knickste. Der alte Drachen schnaubte höhnisch. »Und ob ich mich an Sie erinnere, Miss - nur dass Sie eigentlich längst keine Miss mehr sein sollten.« Ihr Blick wanderte hinüber zu Tristan. »Und das hier ist …?«
Lady Warsingham stellte sie einander vor; Tristan verneigte sich.
Lady Osbaldstone kommentierte spitz: »Bleibt nur zu hoffen, dass Sie Miss Carling endlich zur Vernunft bringen können. Zum Tanz geht es dort entlang.«
Mit ihrem Stock deutete sie in Richtung eines Durchgangs, hinter dem man bereits einige umherwirbelnde Paare erkennen konnte. Tristan griff die deutliche Aufforderung nur allzu gern auf. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden?«
Ohne auf weiteren Zuspruch zu warten, zog er Leonora mit sich.
Im Durchgang blieb er kurz stehen und fragte: »Diese Lady Osbaldstone - wer ist das?«
»Das meistgefürchtete Ungeheuer der oberen Gesellschaft. Beachte sie einfach gar nicht.« Leonora beobachtete die tanzenden Paare. »Und ich warne dich, heute Abend wird ausschließlich getanzt.«
Er gab keine Antwort; stattdessen nahm er ihre Hand und führte sie auf die Tanzfläche, um sie unvermittelt in einen schnellen Walzer hineinzuwirbeln. Einen Walzer, den er zu seinem größtmöglichen Nutzen einsetzte; angesichts der nur halb gefüllten Tanzfläche blieb dieser Nutzen allerdings weitaus geringer, als er es sich erhofft hatte.
Der nächste Tanz war ein Kotillon - eine gesellschaftliche Übung, für die er ausgesprochen wenig Verwendung hatte; sie bot nämlich kaum Gelegenheit, die Sinne seiner Tanzpartnerin zu kitzeln. Es war allerdings noch zu früh, um sie in den winzigen Salon zu entführen, welcher die Gärten überblickte. Als sie ihm gegenüber ihren ungeheuren Durst erwähnte, ließ er sie am Rande der Tanzfläche zurück und machte sich auf den Weg, zwei Gläser Champagner aufzutreiben.
Der Erfrischungsraum grenzte direkt an den Tanzsaal; er war nur einen kurzen Moment abwesend, und dennoch fand er Leonora bei seiner Rückkehr in der Gegenwart eines großen, dunkelhaarigen Mannes, den er als Devil Cynster wiedererkannte.
Innerlich verfiel Tristan in bissige Tiraden, doch als er zu den beiden trat, erkannte weder Leonora noch Cynster, der von der Unterbrechung alles andere als begeistert schien, irgendetwas anderes in seinem Ausdruck als vollendete Höflichkeit.
»Guten Abend.« Tristan reichte Leonora ihr Glas und bedachte Cynster mit einem Nicken; dieser erwiderte die Geste, während der Blick seiner leuchtenden Augen immer durchdringender wurde.
Eines war auf Anhieb ersichtlich, nämlich dass sein Gegenüber ihm überaus ähnelte - nicht nur, was die Größe, die Statur und die Eleganz anging, sondern auch hinsichtlich seines Charakters, seines Naturells - und seines Temperaments.
Ein Augenblick verstrich, während beide Männer diese Gegebenheit zur Kenntnis nahmen, dann streckte Cynster ihm die Hand entgegen. »St. Ives. Meine Tante erzählte mir, Sie seien in Waterloo gewesen?«
Tristan nickte, schüttelte seine Hand. »Trentham - obgleich ich das zum damaligen Zeitpunkt noch nicht war.«
Er legte sich rasch die besten Antworten auf jene unausweichlichen Fragen zurecht; er hatte genug über die Beteiligung der Cynsters an den jüngsten Militäroperationen gehört, um anzunehmen, dass St. Ives seine gewohnten Ausflüchte nur allzu leicht durchschauen würde.
St. Ives musterte ihn aufmerksam, einschätzend. »In welchem Regiment haben Sie gedient?«
»Garde.« Tristan sah ihm geradewegs in die hellgrünen Augen und verzichtete bewusst auf eine weitere Präzisierung. St. Ives’ Blick wurde schmaler; Tristan hielt ihm stand und murmelte: »Soweit ich mich erinnere, haben Sie selbst in der schweren Kavallerie gedient. Mit einigen Ihrer Cousins zusammen unterstützten Sie Cullens Truppen an der rechten Flanke.«
St. Ives stutzte, blinzelte kurz, dann breitete sich ein trockenes, überaus aufrichtiges Lächeln über seine Lippen. Sein Blick kehrte zu Tristan zurück; er neigte den Kopf. »Ganz richtig.«
Nur jemand von hohem militärischem Rang hatte Zugang zu derart sensiblen Informationen; Tristan konnte in St. Ives’ hellgrünen Augen beinahe mitlesen, wie dieser die entsprechenden Schlüsse zog.
Er bemerkte, wie St. Ives ihm erneut einen einschätzenden Blick zuwarf, um sich im nächsten Moment mit einer fast unmerklichen Bewegung, die ihnen beiden bewusst war und in gleicher Weise gedeutet wurde, zurückzog.
Leonoras Blick war derweil von einem zum anderen gewandert; sie bemerkte die stumme Kommunikation, die zwischen den beiden Männern stattfand, doch sie konnte ihr nicht folgen, und das ärgerte sie. Sie öffnete den Mund …
St. Ives wandte sich ihr zu und lächelte mit der ungezähmten Macht eines Raubtiers. »Ich war eigentlich fest entschlossen, Ihnen hoffnungslos den Kopf zu verdrehen, aber ich glaube, ich werde Sie lieber Trenthams gnädigeren Zuwendungen überlassen. Man fällt einem anderen Offizier nicht den Rücken - er hat sich seine Chance auf einen ungehinderten Angriff gewiss verdient.«
Leonora hob ihr Kinn; ihre Augen verengten sich. »Ich bin kein Feindesland, das es zu erobern und zu besiegen gilt.«
»Das ist reine Ansichtssache.« Tristans trockener Kommentar bewirkte, dass ihr Blick spontan zu ihm zurückkehrte.
St. Ives’ breites Lächeln war frei von Reue; er trat im Bogen um sie herum und wandte sich zum Gehen, während er Tristan hinter Leonoras Rücken einen letzten, vielsagenden Gruß zuwarf.
Tristan nahm diese letzte Geste erleichtert zur Kenntnis; mit etwas Glück würde Cynster seine Cousins und andere Männer seines Schlages von weiteren Annäherungsversuchen abbringen.
Leonora blickte St. Ives stirnrunzelnd hinterher. »Was sollte das heißen, du hättest dir ›die Chance auf einen ungehinderten Angriff verdient‹?«
»Vermutlich, dass ich dich zuerst entdeckt habe.«
Als ihr Blick zu ihm zurückkehrte, wirkte sie einigermaßen verstimmt. »Ich bin nicht irgend so eine«, sie gestikulierte, »Beute
»Wie ich schon sagte, das ist reine Ansichtssache.«
»Unsinn.« Sie schwieg einen Moment, ihren Blick fest auf ihn gerichtet; dann fuhr sie fort. »Ich will doch sehr hoffen, dass deine Auffassung keineswegs in diese Richtung geht, denn ich werde mich nicht erobern und besiegen, geschweige denn in Fesseln legen lassen.« Ihre Worte waren zunehmend schärfer geworden; bei ihrem letzten Satz drehten sich einige Herren nach ihr um.
»Dies hier«, er griff ihre Hand und verschränkte ihren Arm mit seinem, »ist gewiss nicht der richtige Ort, um meine Absichten zu diskutieren.«
»Absichten?« Sie zwang sich, leiser zu sprechen. »Was mich anbelangt, solltest du mir gegenüber überhaupt keine Absichten haben. Jedenfalls keine, von denen du in irgendeiner Weise hoffen könntest, sie in die Tat umzusetzen.«
»Es tut mir herzlich leid, dass ich dir da widersprechen muss, nichtsdestotrotz …« Er sprach weiter und ging auf ihr lebhaftes Wortgefecht ein, bis sie ganz beiläufig eine Nebentür erreichten. Als er jedoch nach der Klinke fasste, begriff Leonora seinen Plan. Sie stemmte entschlossen ihre Absätze in den Boden.
»O nein.« Sie sah ihn aus schmalen Augen an. »Heute Abend wird nur getanzt. Es gibt keinen Grund, weshalb wir allein sein müssten.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Wird das ein ungeordneter Rückzug?«
Ihre Lippen wurden zu schmalen Linien; ihre Augen waren nur noch Schlitze. »Ganz und gar nicht, aber so plump wirst du mich nicht in die Falle locken.«
Er seufzte theatralisch. In Wirklichkeit war es ohnehin noch viel zu früh - die Räume waren noch nicht genug gefüllt, als dass sie sich ohne Risiko hätten hinausschleichen können. »Na schön.« Er wandte sich mit ihr am Arm wieder dem Raum zu. »Das scheint mir ein Walzer zu sein.«
Er nahm ihr das Glas aus den Händen und übergab beide Gläser einem Diener; dann zog er sie auf die Tanzfläche.
Leonora entspannte sich und ließ sich ganz von dem Tanz treiben; wenigstens hier, in der Gegenwart anderer, konnte sie ihren Sinnen freien Lauf lassen. Wenn sie allein waren, traute sie weder sich noch ihm. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass auf ihre Vernunft kein Verlass mehr war, wenn sie erst einmal in seinen Armen lag. Offenbar waren alle logischen, rationalen Argumente gegen jenes warme, drängende Verlangen absolut machtlos.
Begierde. Sie konnte dieses leidenschaftliche Verlangen, das sie beide antrieb, inzwischen ganz gut benennen. So viel hatte sie sich inzwischen eingestanden; sie war dennoch klug genug, sich ihr Verständnis nach außen hin nicht anmerken zu lassen.
Während sie in Trenthams Armen über die Tanzfläche wirbelte - entspannt und zugleich lebhaft berauscht -, bereitete ihr ein ganz anderer Aspekt ihrer Beziehung weitaus ernstere Sorgen.
Und zwar der Aspekt, den Devil Cynsters Worte und ihre daraus erwachsene Diskussion mit Tristan ihr verschärft vor Augen geführt hatten.
Sie wartete ab, bis der Tanz sich dem Ende neigte, doch dann traten unvermittelt zwei Paare an sie heran, und sie wurden in eine Unterhaltung verstrickt. Als die Musiker erneut einen Kotillon anstimmten, bedachte sie Trentham mit einem warnenden Blick und ergriff die ihr von Lord Hardcastle dargebotene Hand.
Trentham - Tristan - zeigte außer einem etwas finsteren Blick keine weitere Reaktion und ließ sie ziehen. Mit neuer Selbstsicherheit kehrte sie nach dem Tanz an Tristans Seite zurück, doch nachdem sich das folgende Stück als Volkstanz erwies, nahm sie die Aufforderung des jungen Lords Belvoir an, der sich vielleicht irgendwann zum gleichen Schlag Mann wie Trentham und St. Ives entwickeln würde, der aber nicht älter war als sie selbst und ihr insofern nur harmlos Gesellschaft leistete.
Tristan - inzwischen nannte sie ihn selbst insgeheim bei seinem Vornamen; er hatte ihn ihr häufig genug unter den außergewöhnlichsten und denkwürdigsten Umständen abgerungen, sodass sie ihn kaum mehr verdrängen konnte. Nun, Tristan ertrug ihre Abtrünnigkeit weiterhin mit stoischer Gelassenheit. Sie allein kam nahe genug an ihn heran, um den harten, besitzergreifenden Ausdruck und - stärker noch - die Wachsamkeit in seinen Augen zu bemerken.
Vor allem Letzteres bestätigte sie in ihrer Einschätzung dessen, wie er sie betrachtete; letzten Endes schlug sie alle Vorsicht in den Wind, um einige klärende Worte mit ihrem Wolf zu wechseln. Ihrem wilden Wolf - diesen Zusatz hatte sie keineswegs vergessen, doch bisweilen musste man eben gewisse Risiken eingehen.
Sie wartete geduldig ab, bis sich die kleine Gruppe um sie herum auflöste. Bevor sich jemand anderes zu ihnen gesellen konnte, legte sie ihre Hand auf Tristans Arm und lenkte ihn zu der Tür, die er zuvor angesteuert hatte.
Er sah sie erstaunt an. »Hast du es dir anders überlegt?«
»Nein. Ich habe mir etwas anderes überlegt.« Sie begegnete flüchtig seinem Blick und ging dann weiter auf die Tür zu. »Ich will mit dir reden - nur reden -, und ich glaube, das sollten wir besser unter vier Augen tun.«
Als sie die Tür erreichten, blieb sie stehen und sah ihn an. »Ich nehme an, du kennst irgendeinen Ort in diesem Haus, an dem wir völlig ungestört sind?«
Sein Mund verzog sich zu einem ganz und gar männlichen Grinsen; er öffnete die Tür und ließ sie hindurchtreten. »Nichts liegt mir ferner, als dich zu enttäuschen.«
Das tat er keineswegs; der Raum, in den er sie führte, war ein kleiner, privater Salon, in dem die Dame des Hauses ungestört sitzen und ihre tadellos gepflegten Gärten überblicken konnte. Er war nur über ein ausgedehntes Labyrinth von verwinkelten Gängen zu erreichen und dementsprechend weit genug von den Empfangssälen entfernt, um einen ungestörten Austausch von Worten - oder auch Sonstigem - zu gewährleisten.
Sie schüttelte innerlich den Kopf - wie machte er das nur? - und begab sich geradewegs zum Fenster, um den nebelverhangenen Garten zu betrachten. Kein Mond, keinerlei sonstige Ablenkung. Sie hörte die Tür zuschnappen; dann spürte sie, wie Tristan sich näherte. Mit einem tiefen Atemzug drehte sie sich zu ihm um und legte eine Hand gegen seine Brust, um ihn auf Abstand zu halten. »Wir müssen darüber sprechen, als was du mich betrachtest.«
Er zeigte keine äußerliche Reaktion, doch mit diesem Schachzug hatte er keineswegs gerechnet. »Was …«
Sie unterbrach ihn mit ihrer erhobenen Hand. »Es wird immer offensichtlicher, dass du in mir so etwas wie eine Herausforderung siehst. Und Männer wie du sind von Natur aus unfähig, eine Herausforderung ruhen zu lassen.« Sie sah ihn streng an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du meine Einwilligung in eine Heirat in einem derartigen Licht betrachtest?«
Tristan erwiderte ihren Blick. Mit zunehmender Vorsicht. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er die Situation sonst betrachten sollte. »Ja.«
»Aha! Und genau da steckt unser Problem.«
»Und welches Problem wäre das?«
»Das Problem, dass du mein Nein nicht als Antwort akzeptierst.« Er lehnte sich gegen den Fensterrahmen und betrachtete ihr Gesicht - ihre Augen, die vor lauter Stolz über ihre vermeintliche Erkenntnis funkelten. »Ich kann dir leider nicht ganz folgen.«
Sie machte ein abwehrendes Geräusch. »Und ob du das kannst. Du willst nur nicht darüber nachdenken, weil es sich mit deinen sogenannten Absichten nicht verträgt.«
»Bitte habe Nachsicht mit meinem armen verwirrten Männerverstand und erklär mir, worauf du hinauswillst.«
Sie sah ihn mit einem leidgeprüften Blick an. »Du wirst doch wohl kaum leugnen, dass es bereits jetzt - und erst recht, wenn die Saison erst einmal begonnen hat - unzählige junge Damen gibt, die sich begierig an deinen Hals werfen würden.«
»Durchaus.« Dies war einer der Gründe, weshalb er nie von ihrer Seite wich, weshalb er sie so schnell wie möglich zu einer Heirat bewegen wollte. »Und was hat das Ganze mit uns zu tun?«
»Weniger mit mir als vielmehr mit dir. Wie die meisten anderen Männer auch, gibst du dich ungern mit dem zufrieden, was du kampflos haben kannst. Du setzt den Wert einer Sache mit den dazu nötigen Kampfanstrengungen gleich - je größer die Anstrengung, desto wertvoller die Sache. Und mit den Frauen ist es nicht anders als im Krieg. Je mehr eine Dame sich widersetzt, desto begehrenswerter wird sie.«
Sie fixierte ihn mit ihren klaren veilchenblauen Augen. »Habe ich recht?«
Er dachte kurz nach, bevor er nickte. »Klingt nach einer logischen Hypothese.«
»Durchaus. Begreifst du nun endlich, was das für uns bedeutet?«
»Nein.«
Sie gab ein entnervtes Zischen von sich. »Du willst mich nur heiraten, weil ich dich nicht heiraten will - aus keinem anderen Grund. Dieser primitive Instinkt«, sie gestikulierte wild mit den Händen, »der dich treibt, ist schuld daran, dass die Anziehungskraft nicht nachlässt. Das würde sie nämlich, wenn du nicht …«
Er schnappte sich eine ihrer herumfuchtelnden Hände und zog sie mit einem Ruck zu sich heran. Sie landete an seiner Brust und schnappte nach Luft, während seine Arme sich um sie schlossen. Er spürte, wie ihr Körper ganz unwillkürlich auf ihn reagierte - wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte, wie er es immer tat. »Unsere gegenseitige Anziehungskraft hat kein bisschen nachgelassen.«
Sie atmete gezwungen ein. »Das liegt daran, dass du sie verwirrst …« Ihre Worte erstarben, als er seinen Kopf zu ihr herabneigte. »Ich habe gesagt, wir werden nur reden!«
»Das wäre aber unlogisch.« Er setzte seine Lippen sanft auf ihre - und stellte zufrieden fest, dass sie seinen Kuss erwiderte. Er veränderte seine Position und hielt sie bequemer im Arm. Ihre Hüften berührten sich, sodass seine Erregung gegen ihren weichen Bauch drückte. Er sah ihr in die Augen, die dunkel und weit geöffnet waren. Seine Lippen verzogen sich, jedoch nicht zu einem Lächeln. »Du hast vollkommen recht, ich werde von einem primitiven Instinkt geleitet. Aber du hast auf den falschen Instinkt gesetzt.«
»Was …«
Ihr Mund war geöffnet - er füllte ihn aus. Und ergriff in einem langen, langsamen Kuss von ihr Besitz. Sie versuchte, sich zur Wehr zu setzen, sich zurückzuhalten, doch schließlich ergab sie sich ihm.
Als er den Kopf wieder hob, murmelte sie seufzend: »Was wäre unlogisch daran, nur reden zu wollen?«
»Es würde deiner Schlussfolgerung widersprechen.«
»Meiner Schlussfolgerung?« Sie blinzelte ihn an. »So weit bin ich ja noch nicht einmal gekommen.«
Er berührte ihre Lippen erneut, damit sie sein wölfisches Grinsen nicht sah. »Ich werde sie für dich formulieren. Wenn - wie du behauptest - der einzige Grund, weshalb ich dich heiraten will, der einzige Grund für unsere gegenseitige Anziehung der ist, dass du dich mir widersetzt, warum versuchst du dann nicht einfach, dich mir nicht zu widersetzen, und wartest ab, was passiert?«
Sie starrte ihn benommen an. »Mich nicht widersetzen?«
Er zuckte die Schultern und ließ seinen Blick zu ihren Lippen wandern. »Wenn du tatsächlich richtigliegst, würdest du deine These damit beweisen.« Er stürzte sich wieder auf ihre Lippen, auf ihren Mund, noch bevor sie Gelegenheit hatte, sich zu überlegen, was geschehen würde, wenn sie falschlag.
Seine Zunge umspielte die ihre; ein sanftes Zittern durchfuhr ihren Körper, dann erwiderte sie seinen Kuss. Und gab jeglichen Widerstand auf - was sie allerdings immer tat, wenn sie an diesem Punkt anlangten; er war keineswegs so leichtgläubig, dahinter mehr zu vermuten als ein innerliches Schulterzucken ihrerseits und den festen Entschluss, die Situation weitestgehend auszukosten, obwohl sie zugleich davon überzeugt war, dass diese Leidenschaft ganz unweigerlich nachlassen würde.
Er wusste, dass sie sich irrte, zumindest was ihn betraf. Was er ihr gegenüber empfand, hatte er noch nie zuvor empfunden - weder für eine andere Frau noch für irgendjemanden sonst. Beschützend, besitzergreifend und von der Richtigkeit seiner Handlung absolut überzeugt. Es war diese Überzeugung, die ihn dazu trieb, immer wieder mit ihr zusammenzukommen, obgleich sie sich so entschieden dagegen wehrte, nur um ihr in aller Deutlichkeit zu beweisen, welch machtvolle Gefühle da zwischen ihnen erwuchsen.
Diese Enthüllung war überwältigend genug, ganz gleich unter welchen Umständen, aber er hatte sich vorgenommen, Leonora die sinnliche Wirklichkeit dieser Erkenntnis in den schillerndsten Farben vor Augen zu führen, um sie mit ihrer Macht, ihrer Intensität, ihrer unverhüllten Wahrheit zu konfrontieren.
Sie spürte es und unterbrach den Kuss; hinter schweren Augenlidern sah sie zu ihm auf. Seufzte. »Ich hatte wirklich vor, heute Abend nur zu tanzen.«
Kein Widerstand, kein Widerwille, nur bedingungslose Akzeptanz.
Er legte seine Hände fest auf ihr Hinterteil und zog sie aufreizend hart zu sich heran. Er beugte sich zu ihr herab, um ihre Lippen zu berühren. »Wir werden tanzen, aber es wird zur Abwechslung mal kein Walzer sein.«
Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. »Zu unserer eigenen Musik, meinst du?«
Die Chaiselongue beim Fenster war der offensichtliche Ort, um sie zu nehmen; sich neben sie zu legen, ihre Brüste zu verzehren. Bis ihre sanften Seufzer drängender und fordernder wurden, bis sie sich neben ihm wand und ihre Hände in sein Haar klammerte.
Er unterdrückte ein triumphierendes Grinsen und rutschte auf dem Ruhebett tiefer nach unten, während er ihren Rock bis zur Taille nach oben schob, sodass ihre Hüfte und ihre langen, schlanken Beine entblößt waren. Er umspielte ihre Kurven, erst mit zarten Fingern, dann mit festerem Griff, um ihre Beine zu spreizen und sie zu öffnen.
Dann neigte er den Kopf und berührte ihre weiche, feuchte Haut mit seinen Lippen.
Sie schrie auf, versuchte seine Schultern zu packen, doch sie waren außerhalb ihrer Reichweite. Ihre Hände verfingen sich in seinem Haar, verkrampften sich, während er sie liebkoste, leckte, dann sanft saugte.
»Tristan! Nicht …«
»Doch.« Er hielt sie fest und drang tiefer vor, sie gekonnt reizend, während seine Zunge ihren Geschmack kostete …
Sie stand zitternd kurz vor dem Höhepunkt, als er von ihr abließ, um sein Geschlecht aus der beengenden Hose zu befreien und sich über sie zu beugen. Sie umklammerte seine Oberarme, ihre Fingernägel bohrten sich tief in ihn hinein, ihre angewinkelten Beine pressten hart gegen seine Schenkel. Ein sinnliches Flehen durchdrang all ihre Züge; ihr Körper drängte, bewegte sich rastlos unter ihm, schrie danach, genommen zu werden.
Ihr Rücken bog sich, als er in sie eindrang; noch während er vorstieß, kam sie in kraftvollen, erlösenden Wellen zum Höhepunkt. Er nahm es mit ihr auf und trieb sie noch weiter voran. Sie klammerte sich an ihn, schluchzte, wetteiferte mit seiner Lust - gemeinsam strebten sie zum Gipfel, mit jedem kraftvollen Vorstoß erklommen sie größere Höhen, dann barst alle Anspannung, zersplittert in tausend Stücke, fiel in sich zusammen, und sie traten ein in das warme vollendete Nichts ihrer Vereinigung.
Der Moment, in dem alle Grenzen fielen, in dem nur noch er und sie existierten, in nackter Aufrichtigkeit miteinander verbunden und von dieser machtvollen Wahrheit schützend umgeben.
Heftig atmend, mit pochenden Herzen und hitzig pulsierender Haut, kamen sie beide zur Ruhe, warteten, intim verbunden, bis die Magie verebbte. Ihre Blicke berührten sich, blieben aneinander haften - keiner machte Anstalten, sich zu rühren, sich dem anderen zu entziehen.
Sie hob ihre Hand, fuhr über seine Wange. Sie sah ihm forschend in die Augen.
Er neigte den Kopf zur Seite und setzte einen feuchten Kuss in ihre Handfläche.
Ihr tiefer Atemzug verriet ihm, dass, obwohl sie mit ihrem Körper und ihren Sinnen noch tiefe Glückseligkeit genoss, ihr Verstand sich bereits losgelöst hatte; sie war schon wieder in Gedanken versunken.
Resigniert erwiderte er ihren Blick. »Du hast gesagt, ich hätte auf den falschen primitiven Instinkt gesetzt - dass es nicht der Kampfgeist ist, der dich antreibt.« Sie hielt seinem Blick stand. »Wenn es nicht das ist, was dann? Warum«, sie deutete vage in den Raum, »sind wir denn sonst hier?«
Er kannte die Antwort; kein Lächeln wollte über seine Lippen kommen. »Wir sind hier, weil ich dich will.«
Sie machte ein verächtliches Geräusch. »Also ist es schlicht und einfach die Lust …«
»Nein.« Er drang vollständig in sie ein und hatte sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Nicht Lust, nichts dergleichen. Du hörst mir nicht richtig zu. Ich will dich. Nicht irgendeine Frau - keine andere. Nur dich.«
Sie runzelte die Stirn.
Seine Lippen bewegten sich, doch sie formten kein Lächeln. »Deshalb sind wir hier. Und deshalb werde ich dich auch weiterhin verfolgen - komme, was da wolle -, bis du endlich einwilligen wirst, mir zu gehören.«
 
Nur dich.
Als Leonora am nächsten Morgen am Frühstückstisch saß und ihren Tee trank, dachte sie über diese Worte nach.
Sie war sich nicht sicher, ob ihre Interpretation die richtige war, ob sie wirklich verstand, was Tristan ihr damit sagen wollte. Männer - zumindest Männer wie er - waren für sie ein Buch mit sieben Siegeln; ihr war nicht wohl dabei, seinen Worten zu viel Bedeutung - vielmehr die Bedeutung, die sie selbst darin sah - beizumessen.
Das war aber längst nicht ihr einziges Problem.
Die Leichtigkeit, mit der er ihre Entschlossenheit in Huntly House - genau wie an den Abenden zuvor - zunichtegemacht hatte, gab ihr eindeutig zu verstehen, dass ihre Hoffnung, sich gegen seine geübten Verführungskünste zur Wehr setzen zu können, schlichtweg lachhaft war.
In dieser Hinsicht brauchte sie sich nicht länger etwas vorzumachen; wenn sie sich ihm ernsthaft verweigern wollte, musste sie sich einen Keuschheitsgürtel zulegen. Und selbst dann … Er konnte mit ziemlicher Sicherheit Schlösser knacken.
Und es gab da noch etwas anderes zu bedenken.
Auch wenn sie mit dem Versuch, ihre These zu untermauern, seinen Absichten geradezu entgegenkäme, mochte sie doch trotzdem recht behalten, sprich, wenn sie ihre Abwehrhaltung bezüglich einer Heirat mit ihm gezielt aufgäbe, mochte dies zur Folge haben, dass er allmählich das Interesse verlor.
Doch was, wenn es nicht so wäre?
Sie hatte die halbe Nacht über diese Frage nachgegrübelt, sich Details ausgemalt …
Castors leises Räuspern holte sie zurück in die Wirklichkeit; sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ihren Gedanken so nachgehangen hatte - vertieft in ein völlig neues Panorama, verzückt von einer Vorstellung, der sie, ihrer eigenen Überzeugung nach, vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte. Nachdenklich schob sie ihren ungegessenen Toast beiseite und stand auf. »Sagen Sie dem Diener, er soll mir Bescheid geben, wenn er Henrietta ausführt. Ich werde sie heute begleiten.«
»Sehr wohl, Miss.« Castor verneigte sich und verließ den Raum.
 
An diesem Abend betrat Leonora, zusammen mit Mildred und Gertie, den Ballsaal von Lady Catterthwaite. Sie waren weder besonders früh noch spät. Nachdem sie ihre Gastgeberin begrüßt hatten, stürzten sie sich ins Getümmel. Mit jedem Tag kehrten weitere Vertreter der erlesenen Gesellschaft in die Stadt zurück, und die Bälle wurden dementsprechend immer überlaufener.
Lady Catterthwaites Ballsaal war klein und überfüllt. Leonora begleitete ihre Tanten zu einer Gruppe von Stühlen und Chaiselonguen, welche den älteren Damen dazu diente, ihre Schützlinge zu beobachten und zugleich die neuesten Geschichten auszutauschen; sie war überrascht, dass Trentham nicht bereits darauf lauerte, sich aus der Menge zu lösen und sie abzufangen. Sie auf der Stelle für sich zu beanspruchen.
Sie half Gertie dabei, sich auf einem Fauteuil niederzulassen, während sie sich insgeheim darüber ärgerte, mit welcher Selbstverständlichkeit sie seine Zuwendungen bereits erwartete. Sie richtete sich auf und nickte ihren Tanten zu. »Ich werde mich ein wenig unters Volk mischen.«
Mildred war bereits in eine Unterhaltung vertieft; Gertie nickte ihr zu und wandte sich dann ebenfalls der Gruppe zu.
Leonora drängte sich durch die bereits beachtliche Menge. Sie hätte mühelos die Aufmerksamkeit eines Gentleman auf sich ziehen oder sich zu irgendwelchen Bekannten hinzugesellen können, doch ihr war weder nach dem einen noch nach dem anderen. Sie war zwar nicht gerade besorgt, aber doch zumindest verwundert über Tristans Abwesenheit. Nachdem er am gestrigen Abend im Brustton der Überzeugung die Worte »nur dich« gesprochen hatte, war ihr ein plötzlicher Wandel an ihm aufgefallen - ein Anflug von Vorsicht und Wachsamkeit -, den sie nicht recht zu deuten wusste.
Er hatte sich nicht direkt vor ihr verschlossen oder sich von ihr zurückgezogen, aber sie hatte bei ihm so etwas wie einen instinktiven Selbstschutz gespürt - als wäre er zu weit gegangen, als hätte er mehr gesagt, als gut war … oder als richtig war.
Diese Möglichkeit zehrte an ihr; es war schon schwierig genug, seine Motive durchschauen zu wollen - sich auch noch mit der Tatsache auseinandersetzen zu müssen, dass, entgegen ihrem Willen und ihre Überzeugung, seine Motive ihr keineswegs gleichgültig waren, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er womöglich nicht aufrichtig, nicht ehrlich zu ihr war. In diese Richtung erstreckte sich ein unüberschaubarer Morast von Unwägbarkeiten, in dem sie keinesfalls versinken wollte.
Genau diese Art von Situation war es nämlich, die ihre entschiedene Haltung gegen die Ehe maßgeblich prägte.
Sie schlenderte weiter ziellos durch den Saal, hielt hier und dort kurz inne, um einige Bekannte zu begrüßen, und entdeckte plötzlich direkt vor ihr in der Menge ein Paar überaus vertrauter Schultern.
Scharlachrot gekleidet - ganz so wie damals. Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte sich der Gentleman um und erblickte Leonora. Er lächelte.
Hocherfreut kam er auf sie zu und streckte ihr beide Hände entgegen. »Leonora! Wie schön, Sie zu sehen.«
Sie erwiderte sein Lächeln und reichte ihm ihre Hände. »Mark. Wie ich sehe, sind Sie noch nicht aus der Armee ausgetreten.«
»Nein, nein. Keineswegs. Ich bin der militärischen Laufbahn treu ergeben.« Braune Haare, helle Haut und an seiner Seite eine Frau, die er in die Unterhaltung mit einbezog. »Darf ich vorstellen, das ist meine Frau Heather.«
Leonoras Lächeln wäre um ein Haar brüchig geworden, aber Heather Whorton lächelte freundlich zurück und reichte ihr die Hand. Falls sie sich daran erinnerte, dass Leonora die Frau war, mit der ihr Mann verlobt gewesen war, bevor er um ihre Hand angehalten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Leonora entspannte sich allmählich, und ihr wurde - zu ihrer Überraschung - eine ausschweifende Erzählung über das Whorton’sche Familienleben der vergangenen sechs Jahre beschert, von der Geburt ihres ersten Kindes bis hin zur Niederkunft mit dem vierten, von den strengen Anforderungen des Militäralltags bis hin zu den langen Trennungen, unter denen Militärfamilien zu leiden hatten.
Sowohl Mark als auch Heather trugen zu der Unterhaltung bei; man konnte unmöglich übersehen, wie sehr Heather von ihrem Ehemann Mark abhängig war. Sie hielt seinen Arm fest umklammert, doch vor allem schien sie völlig auf ihren Mann und ihre Kinder fixiert zu sein - ja, sie schien ihre eigene Identität geradezu aufgegeben zu haben.
In Leonoras Bekanntenkreis war dies keineswegs die Regel.
Während sie zuhörte, höflich lächelte und ab und zu einen angemessenen Kommentar einfließen ließ, wurde ihr nach und nach bewusst, wie schlecht sie und Mark tatsächlich zueinandergepasst hätten. Seine Reaktion auf Heathers Verhalten machte unmissverständlich klar, wie sehr er ihre Abhängigkeit genoss - ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich zwischen ihm und Leonora niemals ergeben hätte, das sie selbst niemals zugelassen hätte.
Ihr war schon vor langer Zeit klar geworden, dass sie Mark nie wirklich geliebt hatte; zum Zeitpunkt ihrer Verlobung war sie zarte und überaus naive siebzehn Jahre alt gewesen - sie hatte geglaubt, dasselbe zu wollen, was alle jungen Ladys wollten, sogar leidenschaftlich begehrten, nämlich einen gut aussehenden Ehemann zu ergattern. Wenn sie ihm jetzt so zuhörte und sich zurückerinnerte, konnte sie sich mühelos eingestehen, dass sie nicht ihn selbst geliebt hatte, sondern vielmehr die Vorstellung des Verliebtseins, die Vorstellung zu heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen. Auf der Suche nach dem Heiligen Gral aller jungen Mädchen.
Sie lauschte, beobachtete und sendete ein stummes Dankgebet zum Himmel - sie war ihrem Schicksal glücklich entronnen.
 
Entspannt schritt Tristan die Stufen zu Lady Catterthwaites Ballsaal hinunter. Er traf etwas später ein als sonst; eine Nachricht von einem seiner Kontaktmänner hatte einen neuerlichen Besuch im Hafenviertel unabdingbar gemacht - es war bereits dunkel gewesen, als er nach Trentham House zurückgekehrt war.
Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen und hielt nach Leonora Ausschau, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Stattdessen erspähte er ihre beiden Tanten. Mit einem unguten Gefühl betrat er den Ballsaal und wandte sich umgehend den älteren Herrschaften zu.
Umgetrieben von dem Zwang, Leonora schnellstens zu finden - ein drängender Impuls, der ihn in seiner Intensität erschreckte.
Das Intermezzo des vergangenen Abends, die Erklärung, die er ihr geliefert hatte, nämlich dass sie - und zwar nur sie - dazu in der Lage wäre, seine Bedürfnisse zu befriedigen, hatte lediglich dazu geführt, sein wachsendes Gefühl von Verwundbarkeit noch zu betonen und zu verstärken. Er hatte das Gefühl, leichtfertig in einen Kampf zu ziehen, obgleich ihm ein Teil seiner Rüstung fehlte - in dem vollen Bewusstsein, sich und seine Emotionen schutzlos auszuliefern, und zwar auf eine überaus leichtsinnige, törichte und tollkühne Art und Weise.
Sein Instinkt drängte ihn dazu, sich gegen eine solche Schwäche unmittelbar und umfassend zu wappnen, sie zu vertuschen und schnellstens Deckung zu beziehen.
An seiner Natur konnte er nichts ändern, er hatte sie längst so akzeptiert, wie sie war. Ebenso wie seine erschütternde Machtlosigkeit gegenüber diesem drängenden Bedürfnis, Leonora endlich für sich zu gewinnen, sie für immer sein Eigen zu nennen.
Und sie so schnell wie möglich zu heiraten.
Er erreichte die Schar älterer Damen, verneigte sich vor Mildred und gab ihr und Gertie die Hand. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich der Runde neugieriger Matronen geduldig vorstellen zu lassen.
Mildred erlöste ihn beizeiten, indem sie in den Saal hineindeutete und dabei bemerkte: »Leonora hat sich bereits unter die Menge gemischt.«
»Es wurde aber auch langsam Zeit, dass Sie auftauchen!«, murmelte Gertie, die am Rande der Gruppe saß und unvermittelt seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Sie ist dort drüben.« Sie wies mit ihrem Stock in eine bestimmte Richtung; Tristan wandte sich um und sah, dass Leonora mit einem Offizier des Infanterieregiments sprach.
Gertie schnaubte verächtlich. »Dieser Tunichtgut von Whorton umgarnt sie schon die ganze Zeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das genießt. Sie gehen besser zu ihr hin und erlösen sie.«
Er hatte sich noch nie in ein Spiel gestürzt, ohne die Regeln genauestens zu kennen. Die Gruppe um Leonora stand ein wenig entfernt, doch Tristan hatte das Trio gut im Blick. Obgleich er Leonora nur im Profil sah, deuteten weder ihre Haltung noch ihre gelegentlichen Gesten darauf hin, dass sie sich in irgendeiner Weise unwohl oder beunruhigt fühlte. Sie vermittelte auch nicht den Eindruck, ihren Gesprächspartnern dringend entfliehen zu wollen.
Er wandte sich wieder Gertie zu. »Whorton. Ich nehme an, das ist der Hauptmann, mit dem sie gerade spricht?« Gertie nickte bestätigend. »Warum schimpfen Sie ihn einen Tunichtgut?«
Gertie kniff ihre alten Augen zusammen. Ihre Lippen bildeten eine harte Linie, während ihr Blick ihn forschend musterte. Vom ersten Moment an hatte sie sich ihm gegenüber weit weniger ermunternd verhalten als Leonoras andere Tante; und dennoch hatte sie ihm keine Knüppel zwischen die Beine geworfen. Tatsächlich hatte er eher das Gefühl, dass sie ihm von Tag zu Tag wohlwollender gesinnt war.
Anscheinend bestand er ihre Prüfung, denn Gerties Blick wanderte plötzlich mit einem Nicken in Whortons Richtung. Ihre Abneigung war unverkennbar.
»Er hat sie sitzen lassen - darum. Mit siebzehn hat sie sich mit ihm verlobt, kurz bevor er nach Spanien aufbrach. Als er im nächsten Jahr zurückkehrte, hat er sich umgehend bei ihr gemeldet, und wir hörten alle schon die Hochzeitsglocken läuten. Doch dann hat Leonora ihm die Tür gewiesen und uns erklärt, er habe sie darum gebeten, die Verlobung zu lösen. Die Tochter seines Obristen hatte wohl mehr seinen Vorstellungen entsprochen.«
Gerties Schnauben sagte mehr als alle Worte. »Darum nenne ich ihn einen Tunichtgut. Er hat ihr das Herz gebrochen, dieser Unhold.«
Ein Wirbelsturm komplizierter Gefühle wühlte Tristan innerlich auf. Er hörte sich selbst fragen: »Sie hat die Verlobung also gelöst?«
»Selbstverständlich hat sie das! Welche Lady würde unter diesen Umständen etwas anderes tun? Sie war ihm nicht gut genug, diesem Nichtsnutz. Er hat sich lieber in ein wärmeres Nest gesetzt.«
Gerties Zuneigung für Leonora klang deutlich aus ihrer Stimme heraus, sie verlieh ihrer Empörung noch mehr Intensität. Aus einem Impuls heraus klopfte er ihr auf die Schulter. »Keine Sorge, ich werde sie auf der Stelle retten.«
Aber er würde Whorton mit seiner Rettungsaktion nicht zum Märtyrer machen. Ungeachtet der unschönen Details dieser ganzen Geschichte war Tristan alles in allem heilfroh, dass dieser Nichtsnutz Leonora nicht geheiratet hatte.
Die Augen fest auf das Trio geheftet, steuerte er zielsicher durch die Menge. Er hatte gerade ein zentrales Puzzlestück hinsichtlich Leonoras Einstellung zur Ehe erhalten, aber er konnte sich jetzt nicht die Zeit nehmen, darüber nachzudenken und Teile hin und her zu schieben, um herauszufinden, wie sich das Gesamtbild zusammensetzte. Oder was das alles für ihn bedeuten würde.
Er trat an Leonoras Seite; sie blickte zu ihm auf und lächelte.
»Ach, da sind Sie ja.«
Er nahm ihre Hand und führte sie flüchtig an die Lippen, dann legte er sie auf seinen Arm, wie er es gewohnt war. Leonora zog halbherzig die Augenbrauen hoch - quasi resigniert - und wandte sich wieder den anderen zu. »Darf ich Sie einander vorstellen?«
Das tat sie; sein Herz machte einen Satz, als er hörte, dass die andere Dame Whortons Ehefrau war. Äußerlich völlig ungerührt erwiderte er die Begrüßung.
Mrs Whorton lächelte ihn freundlich an. »Wie ich gerade sagte - es hat sich als überaus anstrengend erwiesen, die schulische Laufbahn unseres Sohnes angemessen zu planen …«
Zu seiner grenzenlosen Überraschung sah Tristan sich unvermittelt in die Diskussion verwickelt, auf welche Schule man die Whorton-Bälger am besten schicken solle. Leonora steuerte ihre Erfahrungen hinsichtlich Jeremys Schulbildung bei; und Whorton schien ihre Meinung in seine Erwägungen ernsthaft einbeziehen zu wollen.
Entgegen Gerties Mutmaßungen machte Whorton keinerlei Anstalten, Leonora zu umgarnen oder ihre ehemalige Zuneigung wieder anzufachen.
Tristan beobachtete Leonora aufmerksam, aber außer ihrer gewohnten Selbstsicherheit und ihrem ruhigen, anmutigen Auftreten konnte er ihr nichts anmerken. Was immer sie einst für Whorton empfunden haben mochte, war bei Weitem nicht mehr stark genug, um ihren Puls schneller werden zu lassen. Er pochte gleichmäßig unter seinen Fingern - sie war vollkommen entspannt.
Und das, obwohl sie gerade über Kinder plauderte, die unter anderen Umständen ihre eigenen hätten sein können.
Er fragte sich, wie sie überhaupt zu Kindern stand, während ihm zugleich bewusst wurde, dass er ihre positive Haltung gegenüber seinen Nachkommen immer als selbstverständlich vorausgesetzt hatte.
Er überlegte, ob sie womöglich sein Kind bereits in sich trug.
Sein Magen verkrampfte sich; eine heftige Welle von Besitzanspruch überrollte seinen Körper. Äußerlich zeigte er kaum mehr als ein Wimpernzucken, aber Leonoras Blick war plötzlich auf ihn gerichtet; mit einem besorgten Stirnrunzeln sah sie ihn dezent fragend an.
Der Anblick beruhigte ihn. Er lächelte entspannt; sie blinzelte ihn an, studierte seine Augen und wandte sich wieder Mrs Whortons Plauderei zu.
Schließlich begannen die Musiker, ihre Instrumente zu stimmen. Tristan nutzte den Anlass, um von den Whortons Abschied zu nehmen und Leonora auf direktem Wege auf die Tanzfläche zu führen.
Er zog sie in seine Arme und stürzte sich mit ihr in einen wirbelnden Walzer.
Erst jetzt konzentrierte er sich auf ihr Gesicht und bemerkte den leidgeprüften Ausdruck darin.
Er blinzelte, zog fragend die Brauen hoch.
»Mir ist bewusst, dass ihr Männer vom Militär es gewohnt seid, stets prompt zu reagieren, aber in den Tanzsälen der besseren Gesellschaft ist es durchaus geziemend, eine Frau vorher zu fragen, ob sie überhaupt tanzen will.«
Er erwiderte ihren Blick für einen Moment, dann entgegnete er: »Ich bitte um Verzeihung.«
Sie wartete ab, dann riss sie ihre Augen fragend auf. »Und - wirst du mich nun fragen?«
»Nein. Wir tanzen nämlich schon; die Frage wäre also überflüssig. Und außerdem könntest du Nein sagen.«
Sie blinzelte, dann lächelte sie ihn belustigt an. »Das werde ich demnächst auch mal versuchen.«
»Besser nicht.«
»Und wieso nicht?«
»Weil dir das Ergebnis nicht gefallen würde.«
Sie sah ihn eindringlich an; schließlich seufzte sie übertrieben.
»Sie sollten dringend an Ihren Umgangsformen arbeiten, Lord Trentham. Ihre besitzergreifende Art ist alles andere als akzeptabel.«
»Ich weiß. Glaube mir, ich arbeite fieberhaft an einer Lösung. Deine Mithilfe wäre mir überaus willkommen.«
Sie kniff die Augen zusammen, dann reckte sie ihre Nase hoch in die Luft und blickte gezielt an ihm vorbei. Sie gab sich empört darüber, dass er das letzte Wort behalten hatte.
Er wirbelte sie in eine schwungvolle Drehung hinein und widmete sich gedanklich einer weiteren winzigen, wenn auch wichtigen Angelegenheit, die dringend einer sachdienlichen Klärung bedurfte und die er daher umgehend ansprechen sollte.
Männer vom Militär. Ihre Erinnerungen an Whorton, wie blass und unscharf sie auch immer sein mochten, waren gewiss keine glücklichen - und höchstwahrscheinlich steckte Leonora ihn und Whorton in dieselbe Schublade.