6
Der Wintergarten war ihr ganz spezieller Bereich.
Außer dem Gärtner kam niemand hierher. Es war ihr Heiligtum, ihre
Zuflucht, der Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Während sie den
Mittelgang entlangschritt und das Türschloss hinter sich schnappen
hörte, verspürte sie zum ersten Mal hier in diesem Glasbau so etwas
wie den Hauch einer Bedrohung.
Ihre Sohlen klopften leise gegen die
Steinfliesen; ihre seidenen Röcke raschelten. Trenthams weiche
Schritte, die ihr den Gang hinunter folgten, waren noch leiser als
ihre.
Aufregung und ein noch durchdringenderes Gefühl
erfassten sie. »Im Winter wird dieser Raum von der Küche her über
ein Rohrsystem
mit Dampf beheizt.« Sie erreichte das Ende des Weges, blieb in der
hintersten Ecke des Erkerfensters stehen und atmete gezwungen ein.
Ihr Herz pochte so laut, dass sie es hören konnte; sie fühlte ihren
Puls bis in die Fingerspitzen. Sie hob die Hand und drückte einen
Finger gegen die Scheibe. »Die Fenster sind doppelt verglast, damit
die Wärme nicht so leicht entweicht.«
Vor ihr lag die schwarze Nacht; sie betrachtete
die spiegelnde Oberfläche der Scheibe, sah, wie sich Trentham
allmählich näherte. Zwei spärliche Lampen erhellten den Raum von
gegenüberliegenden Seiten; sie spendeten gerade so viel Licht, dass
man den Weg erkennen und einen ungefähren Eindruck von den Pflanzen
erhalten konnte.
Trentham kam ihr mit ruhigen Schritten näher -
der gemessene Gang eines Raubtiers; sie hatte keinerlei Zweifel,
dass er sie aufmerksam beobachtete. Sein Gesicht lag im Schatten,
bis er schließlich an ihre Seite trat, den Kopf hob und sie im
Spiegelbild der Scheibe ansah.
Ihre Blicke blieben aneinander hängen.
Seine Hände glitten um ihre Taille, begegneten
sich, hielten sie fest.
Ihr Mund war trocken. »Interessieren Sie sich
wirklich für unseren Wintergarten?«
Sein Blick sank nach unten. »Ich interessiere
mich für seinen Inhalt.«
»Für die Pflanzen?«
»Nein. Für Sie.«
Er drehte sie herum, hielt sie in seinen Armen.
Er neigte den Kopf und legte seine Lippen auf die ihren, so als
hätte er das Recht dazu. Als würde sie ihm in irgendeiner Weise
gehören.
Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter, drückte sie
unwillkürlich, als er ihre Lippen auseinanderdrängte und seine
Zunge hindurchschob. Er hielt sie in seinen starken Armen gefangen,
während er den Kuss so gemächlich auskostete, als hätte er alle
Zeit der Welt.
Und als wolle er diese ausgiebig nutzen.
Von der Berührung wurde ihr schwindelig.
Angenehm schwindelig. Wärme durchströmte sie. Sein männliches Aroma
- hart und dominant - durchdrang jede Faser ihres Körpers.
Für eine Weile versanken sie ganz im Nehmen und
Geben und Entdecken. Während sich in ihnen beiden eine plötzliche
Anspannung aufbaute.
Er unterbrach den Kuss, hob den Kopf ein wenig
an, doch nur um sie näher an sich heranzuziehen. Sie fühlte seine
Hand auf ihrem Rücken - heiß glühend durch die Seide ihres Kleides
hindurch. Er blickte sie unter schweren, nahezu schläfrigen
Augenlidern an.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
Sie blinzelte und bemühte sich tapfer, ihren
Verstand zurückzuerlangen. Sah, wie er sie dabei beobachtete. Ihn
an diesem Punkt nach seiner weiteren Vorgehensweise zu fragen,
erschien ihr übermäßig leichtsinnig. Er wartete geradezu auf die
Frage.
»Nicht so wichtig.« Sie griff kühn in seinen
Nacken und zog seine Lippen wieder zu sich heran.
Ein leichtes Lächeln umspielte diese, doch er
gab ihr bereitwillig nach; gemeinsam sanken sie tiefer in die
Umarmung und ließen sich von ihr treiben. Wieder war er es, der sie
unterbrach.
»Wie alt sind Sie?«
Die Frage huschte über ihre Sinne, erreichte
allmählich ihren Verstand. Ihre Lippen pulsierten hungrig; sie
drückte sie leicht gegen die seinen.
»Spielt das eine Rolle?«
Er hob die Lider; ihre Blicke begegneten sich.
Ein winziger Augenblick verstrich. »Im Grunde nicht.«
Sie benetzte ihre Lippen, betrachtete die
seinen. »Sechsundzwanzig.«
Seine heimtückischen Lippen formten ein Lächeln.
Wieder spürte sie das Prickeln der Gefahr.
»Alt genug.«
Er zog sie an sich - gegen sich; wieder neigte
er seinen Kopf.
Wieder empfing sie ihn.
Tristan spürte ihren Eifer, ihren Enthusiasmus.
Wenigstens das hatte er erreicht. Sie hatte ihm die Situation auf
einem silbernen Tablett serviert; warum hätte er sie ausschlagen
sollen, diese willkommene Gelegenheit, ihre Sinne weiter zu
schulen, ihren Horizont zu erweitern. Zumindest so weit, dass sein
nächster Versuch, sie auf sinnliche Art und Weise abzulenken, nicht
von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Sie war ihm heute Morgen viel zu leicht
entwischt, hatte seine Falle kurzerhand entschärft und die
Faszination ihrer Berührung viel zu mühelos abgeschüttelt.
Seine Natur war von jeher herrisch. Tyrannisch.
Räuberisch.
Seine Ahnenreihe war geprägt von hedonistischen
Männerfiguren, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets das
genommen hatten, was sie wollten.
Er wollte sie - ohne jede Frage -, aber in einer
Weise, mit einer Intensität, die ihm völlig fremd war. In seinem
Innern hatte sich etwas verändert oder, treffender gesagt, etwas
Neues gebildet. Etwas, mit dem er noch nie zuvor hatte kämpfen
müssen; etwas, das noch keine Frau in ihm wachgerufen hatte.
Doch sie tat es. Und zwar mühelos. Aber sie
hatte nicht die geringste Ahnung, was sie da tat, weniger noch, was
sie damit herausforderte.
Ihr Mund war eine Delikatesse, eine Höhle
honigsüßer Verführung, warm, betörend, verlockend. Ihre Hände
verfingen sich in seinem Haar; ihre Zunge duellierte sich gierig
mit seiner - wissbegierig, lernbegierig.
Er gab ihr, was sie verlangte, doch er hielt
sich zugleich im Zaum. Sie presste sich noch fester an ihn, drängte
ihn geradezu, den Kuss noch zu vertiefen. Er sah keinerlei Grund,
ihrem Drängen nicht nachzugeben.
Ihre schlanken, gelenkigen, geschwungenen
Formen, ihr weicher, weiblicher Körper und ihre zarte Haut waren
ein heftiger Ansporn für seine durch und durch männlichen
Bedürfnisse. Sie in seinen Armen
zu halten, nährte seine Lust, schürte das sinnliche Feuer, das
zwischen ihnen entbrannt war.
Dem Instinkt folgen.
Sich auf das eigene Gespür verlassen. Das war zweifellos der
einfachste Weg.
Sie war so anders als die Ehefrau, die er sich
ausgemalt hatte - jene namenlose Gattin, die ein besonders sturer
Teil seiner selbst immer noch für die richtige hielt. Er war noch
nicht dazu bereit, diese Überzeugung vollständig aufzugeben,
zumindest nicht nach außen hin.
Er ließ sich noch tiefer in den Kuss
hineinsinken, zog sie noch fester an sich heran, genoss ihre Wärme
und das uralte Versprechen, das sich dahinter verbarg.
Wohin auch immer sie steuerten, sie konnten sich
immer noch Gedanken machen, wenn sie erst einmal dort angekommen
wären. Den Dingen vorerst ihren Lauf zu lassen, während er sich
derweil um den geheimnisvollen Einbrecher kümmerte, erschien ihm
durchaus vernünftig. Ob sich zwischen ihnen nun etwas entwickelte
oder nicht, seine Prioritäten waren in jedem Fall klar gesetzt.
Sein oberstes Ziel war es, die Bedrohung, die über ihr schwebte, zu
entschärfen; nichts und niemand würde sich ihm in den Weg stellen -
er war viel zu beschlagen, um sich in irgendeiner Weise von diesem
Ziel abbringen zu lassen.
Wenn er seine Mission erst einmal erfüllt hatte
und Leonora außer Gefahr war, in Sicherheit, dann konnte er sich
immer noch überlegen, wie er mit dieser unerwarteten Leidenschaft
verfahren wollte, die ihm das Schicksal so leichtfertig
untergeschoben hatte.
Er spürte, wie etwas in ihm aufwallte und mit
jeder Minute, die Leonora in seinen Armen lag, stärker,
entschlossener, gieriger wurde. Es war an der Zeit, dem ein Ende zu
setzen; er hatte keinerlei Skrupel, seine Dämonen brutal in ihre
Schranken zu weisen und sich der Umarmung zu entziehen.
Er hob den Kopf. Sie blinzelte ihn benommen an,
dann atmete sie scharf ein und blickte sich um. Er ließ sie los,
ließ sie einen
Schritt zurücktreten, während ihr Blick zu seinem Gesicht
zurückkehrte.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die
Oberlippe.
Ein schmerzliches Verlangen durchzuckte ihn. Er
richtete sich gerade auf, atmete tief ein.
»Wie …« Sie räusperte sich. »Wie wollen Sie
hinsichtlich des Einbrechers nun weiter vorgehen?«
Er sah sie an. Fragte sich, wie viel wohl
dazugehörte, ihren Verstand gänzlich auszuschalten. »Ich will einen
Blick in das Zentralarchiv werfen, das in Somerset House angelegt
wird. Ich will herausfinden, wer dieser Montgomery Mountford
eigentlich ist.«
Sie dachte kaum einen Moment nach, bevor sie
nickte. »Ich werde mitkommen. Vier Augen sehen mehr als
zwei.«
Er zögerte, als müsse er darüber nachdenken,
dann neigte er zustimmend den Kopf. »Einverstanden. Ich werde Sie
um elf Uhr abholen.«
Sie starrte ihn an. Er konnte ihre Augen nicht
richtig erkennen, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie
überrascht war.
Er lächelte charmant.
Sie wirkte misstrauisch.
Sein Lächeln nahm einen ehrlicheren Zug an -
zynisch und amüsiert zugleich. Er nahm ihre Hand und hob sie an
seine Lippen. »Bis morgen.«
Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen
herablassend an. »Sollten Sie sich nicht ein paar Notizen über den
Wintergarten machen?«
Er erwiderte ihren Blick, drehte ihre Hand herum
und drückte seine Lippen in ihre Handfläche. »Ich habe gelogen. Ich
habe bereits einen.« Er ließ ihre Hand los und trat zurück.
»Erinnern Sie mich daran, dass ich ihn Ihnen einmal zeige.«
Mit einem Nicken und einem letzten
herausfordernden Blick drehte er sich um und ging.
Sie wirkte noch immer misstrauisch, als Tristan
sie am nächsten Morgen mit seinem offenen Zweispänner
abholte.
Er sah sie an und half ihr beim Einsteigen; mit
hocherhobener Nasenspitze gab sie vor, ihn nicht weiter zu
beachten. Er kletterte ebenfalls in die Kutsche, nahm die Zügel auf
und trieb seine beiden Schimmel an.
Sie sah bezaubernd aus in ihrer dunkelblauen
Pelisse, die sie über dem himmelblauen Tageskleid zugeknöpft hatte.
Ihre Haube umrahmte ihre feinen Gesichtszüge, auf denen ein zarter
Hauch von Farbe lag - so als hätte ein Künstler ihr Gesicht auf
feinstes Porzellan gemalt.
Während er die nervösen Pferde sicher durch die
überfüllten Straßen lenkte, fragte er sich insgeheim, warum sie nie
geheiratet hatte.
Es konnten doch nicht alle Männer der Londoner
Oberschicht blind sein. Hatte sie sich aus einem bestimmten Grund
rargemacht? Oder hatten ihre bestimmende Art, ihre ausgeprägte
Selbstständigkeit und ihr Hang, die Führung an sich zu reißen, die
Männerwelt vor eine zu große Herausforderung gestellt?
Er war sich ihrer weniger attraktiven
Eigenschaften durchaus bewusst, doch aus einem unerfindlichen Grund
war es gerade der Teil von ihm, den sie - und zwar nur sie - so unerwartet geweckt hatte, der diese
Eigenschaften nicht nur als lapidare Herausforderung betrachtete,
sondern vielmehr als regelrechte Kriegserklärung. Als wäre sie ein
kühner Gegner, der ihm selbstbewusst die Stirn bot. Natürlich war
das alles Unsinn - das wusste er selbst -, aber irgendwie hatte
sich diese Überzeugung tief in ihn hineingefressen.
Sie hatte ihm seinen jüngsten Schachzug geradezu
selbst vorgelegt. Er hatte ihrem Vorschlag, ihn nach Somerset House
zu begleiten, bereitwillig zugestimmt, hätte ihr sogar selbst den
Vorschlag gemacht, wäre sie ihm nicht zuvorgekommen - schließlich
war diese Unternehmung ungefährlich.
Solange sie in seiner Nähe war, konnte ihr
nichts passieren; wenn er sie aus den Augen ließe, sie ihren
eigenen Plänen überließe, würde sie zweifellos versuchen, dem
Problem - ihrem Problem, wie sie es nannte
- auf andere Weise beizukommen. Ihr zu befehlen, ja, sie
zu zwingen, ihre Nachforschungen aufzugeben, lag derzeit außerhalb
seiner Macht. Sie so oft es ging an seiner Seite zu haben, war
daher die sicherste Vorgehensweise.
Während er die Strand hinunterfuhr, überfiel ihn
eine schmerzhafte Erkenntnis. Seine Argumente klangen vollkommen
logisch und rational. Doch der innere Zwang, den er mit derlei
Argumenten lediglich zu rechtfertigen suchte, war nicht nur
gänzlich neu, sondern zudem überaus beunruhigend. Verunsichernd.
Die jähe Erkenntnis, dass das Wohlergehen einer Dame im
vorgerückten Alter und mit höchst eigenständiger Denkweise für ihn
urplötzlich oberste Priorität angenommen hatte, war geradezu
schockierend.
Sie hatten Somerset House erreicht. Tristan
überließ den Zweispänner seinem Stallburschen, und mit laut
hallenden Schritten betraten sie den kühlen Steinbau. Ein
Angestellter starrte sie von seinem Platz hinter der Empfangstheke
aus an; Tristan erläuterte ihr Anliegen, woraufhin sie einen Gang
hinunter in eine düstere Halle geschickt wurden. Streng angeordnete
Reihen von hölzernen Aktenschränken füllten den gesamten Raum; ein
jeder von ihnen besaß mehrere Schubladen.
Nachdem sie einem weiteren Angestellten erklärt
hatten, wonach sie suchten, deutete dieser auf einige ausgewählte
Schränke. Auf ihren polierten Holzfronten prangten in goldenen
Lettern die Buchstaben »MOU«. »Ich würde Ihnen raten, dort
anzufangen.«
Leonora ging zielstrebig auf die Schränke zu;
Tristan folgte ihr langsam, während er sich über den Inhalt der
Schubladen Gedanken machte, über die zahllosen Dokumente, die sich
in jeder einzelnen von ihnen befinden mussten …
Seine Befürchtungen bestätigten sich, als
Leonora die erste Schublade aufzog. »Großer Gott!« Sie starrte die
Unmengen von Papier an, die man in diese eine Schublade
hineingesteckt hatte. »Das kann ja Tage dauern!«
Er öffnete die Schublade neben ihr. »Wie gut,
dass Sie mich unbedingt begleiten wollten.«
Mit einem unterdrückten Geräusch, das verdächtig
nach einem
Schnauben klang, machte sie sich daran, die Namen zu überprüfen.
Es war weitaus weniger schlimm, als sie zuerst befürchtet hatten;
innerhalb kurzer Zeit hatten sie den ersten Mountford gefunden,
wenn auch die ungeheure Anzahl gebürtiger Engländer mit diesem
Namen überaus deprimierend war. Unbeirrt suchten sie weiter und
stießen schließlich auf einen Montgomery Mountford.
»Aber«, Leonora starrte die Geburtsurkunde an,
»demnach müsste der Mann dreiundsiebzig sein!«
Sie runzelte die Stirn, dann schob sie das
Dokument zurück in die Schublade und untersuchte das nächste und
das übernächste. Und das überübernächste.
»Es gibt insgesamt sechs«, murmelte sie; ihr
resignierter Tonfall bestätigte seine Vorahnung. »Aber keiner von
ihnen passt. Die ersten fünf sind zu alt, und der letzte hier ist
dreizehn.«
Er legte flüchtig die Hand auf ihre Schulter.
»Werfen Sie auch einen gründlichen Blick in die Nachbarschubladen,
für den Fall, dass etwas falsch abgelegt wurde. Ich werde derweil
noch einmal den Angestellten fragen.«
Während Leonora nachdenklichen Blicks weitere
Dokumente durchblätterte, ging er hinüber zum Schreibtisch des
leitenden Aufsehers. Nachdem einige leise Worte gewechselt waren,
schickte dieser einen seiner Assistenten eilenden Schrittes davon.
Drei Minuten später erschien ein gediegener Herr in der nüchternen
Kluft eines Regierungsbeamten.
Tristan erklärte ihm, wonach sie suchten.
Mr Crosby verneigte sich. »Verstehe, Mylord. Ich
bezweifle allerdings, dass er zu denjenigen Namen gehört, die
geschützt sind. Wenn Sie erlauben, werde ich dies kurz
überprüfen.«
Tristan machte eine bestätigende Handbewegung,
und Crosby entfernte sich.
Leonora schob entnervt die Schubladen zu. Sie
trat an Tristans Seite, und gemeinsam warteten sie darauf, dass
Crosby zurückkehrte.
Er verneigte sich vor Leonora, dann blickte er
Tristan an. »Es ist
wohl so, wie Sie bereits vermutet haben, Mylord. Entweder es fehlt
ein Dokument - was ich für höchst unwahrscheinlich halte - oder es
gibt gar keinen Montgomery Mountford im Alter des Mannes, den sie
suchen.«
Tristan bedankte sich und führte Leonora hinaus.
Auf der Eingangstreppe blieben sie stehen, und Leonora drehte sich
zu ihm um.
Ihre Blicke trafen sich. »Warum sollte er einen
falschen Namen annehmen?«
»Weil«, er zog sich seine Kutschhandschuhe über
und spürte wie sich seine Gesichtszüge unwillkürlich verhärteten,
»dieser Mann nichts Gutes im Schilde führt.« Er griff erneut ihren
Ellenbogen und schob sie vor sich die Treppe hinunter. »Kommen Sie,
wir werden einen kleinen Ausflug machen.«
Er fuhr mit ihr in Richtung Surrey, zu seinem
Landsitz Mallingham Manor, seinem neuen Zuhause. Er folgte einem
spontanen Impuls in der Hoffnung, sie dadurch abzulenken, was
seines Erachtens dringend nötig war. Ein Verbrecher mit falscher
Identität verhieß beileibe nichts Gutes.
Von der Strand aus lenkte er die Kutsche in
Richtung Süden und überquerte den Fluss, sodass Leonora den
Richtungswechsel sofort bemerkte. Als er ihr jedoch erklärte, er
müsse rasch einige Angelegenheiten auf seinem Anwesen erledigen,
damit er danach in die Stadt zurückkehren und sich vollständig dem
mysteriösen Montgomery Mountford widmen könne, nahm sie die
Erklärung bereitwillig hin.
Die Straße war in hervorragendem Zustand und
führte sie ohne Umwege ans Ziel; die Schimmel waren erholt und
drängten darauf, sich bewegen zu können. Noch vor dem Mittagessen
steuerte Tristan den Zweispänner durch die eleganten
schmiedeeisernen Tore hindurch auf sein Anwesen. Während er sein
Gespann die Zufahrt hinauflenkte, bemerkte er, wie Leonoras Blick
wie gebannt auf das große Herrenhaus gerichtet war, das von
gepflegten Rasenflächen
und geometrischen Parterreanlagen umrahmt wurde. Die kiesbedeckte
Auffahrt endete in einem kreisförmigen Platz unmittelbar vor dem
imposanten Eingangsportal.
Er folgte ihrem Blick; höchstwahrscheinlich sah
er das Haus mit ähnlichen Augen wie sie, denn er musste sich selbst
noch an den Gedanken gewöhnen, dass dies nun sein Haus - sein Zuhause - war. Das Anwesen
existierte bereits seit Jahrhunderten, doch sein Großonkel hatte es
mit großem Eifer verändern und renovieren lassen. Was sie nun vor
sich sahen, war ein Herrenhaus im palladianischen Stil aus hellem
Sandstein mit Dreiecksgiebeln über jedem der hohen Fenster und
Zierzinnen oberhalb der lang gestreckten Fassade.
Die Schimmel trabten locker in den Hof. Leonora
atmete hörbar aus. »Es ist wunderschön. So elegant.«
Er nickte und musste sich eingestehen, dass sie
vollkommen recht hatte, dass sein Onkel durchaus einmal etwas
richtig gemacht hatte.
Ein Stalljunge kam herbeigerannt, als Tristan
gerade einen Fuß auf den Boden setzte. Er übergab die Zügel seinem
mitgefahrenen Stallburschen und half Leonora aus der Kutsche, um
sie die Treppe zum Eingang hinaufzuführen.
Clitheroe, der ehemalige Butler seines
Großonkels und nun sein eigener, öffnete die Tür, noch bevor sie
sie erreicht hatten, und lächelte sie in seiner gewohnt herzlichen
Art an. »Willkommen, Mylord.« Sein Lächeln galt auch Leonora.
»Clitheroe, ich möchte Ihnen Miss Carling
vorstellen. Wir werden hier zu Mittag essen; danach werde ich mich
um einige geschäftliche Dinge kümmern, bevor wir in die Stadt
zurückfahren.«
»Sehr wohl, Mylord. Soll ich den Damen des
Hauses Bescheid geben?«
Während Tristan seinen Paletot ablegte,
unterdrückte er ein zynisches Grinsen. »Nicht nötig. Ich werde Miss
Carling selbst zu ihnen führen und sie einander bekannt machen. Ich
nehme an, sie befinden sich zurzeit im Frühstückssalon?«
»Jawohl, Mylord.«
Er nahm Leonora die Pelisse von den Schultern
und reichte sie Clitheroe. Er legte ihre Hand auf seinen Arm und
deutete mit der anderen auf das gegenüberliegende Ende der
Eingangshalle. »Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass einige
ältere Damen - enge und entferntere Verwandte - hier bei mir
leben?«
Sie sah ihn an. »Das haben Sie durchaus. Sind es
ebenfalls Cousinen von Ihnen?«
»Unter anderem, aber die herausragendsten
Persönlichkeiten unter ihnen sind eindeutig meine beiden Großtanten
Hermine und Hortensia. Zu dieser Tageszeit halten sie sich stets im
Frühstückssalon auf.« Er begegnete ihrem Blick. »Zum
Tratschen.«
Er schwieg und öffnete schwungvoll eine Tür. Wie
um seine Behauptung zu untermauern, erstarb das lebhafte weibliche
Geplapper, das kurzzeitig zu ihnen drang, auf der Stelle. Während
er Leonora in den lang gestreckten Raum hineinführte, der sein
großzügiges Licht von einer langen Fensterfront erhielt, die einen
malerischen Blick auf ausgedehnte Rasenflächen und einen entfernten
See freigab, war Leonora den unverhohlenen Blicken der acht Damen
ausgesetzt - sie alle platzten geradezu vor Neugier.
Doch ihre Blicke waren keineswegs
missbilligend.
Dies wurde spätestens deutlich, als Trentham -
wie immer mit tadelloser Höflichkeit - Leonora zunächst seiner
ältesten Großtante, Lady Hermine Wemyss, vorstellte. Lady Hermine
strahlte sie freundlich an und hieß sie aufrichtig willkommen;
Leonora knickste und erwiderte ihren Gruß.
In gleicher Weise wurde Leonora nach und nach
allen Damen bekanntgemacht, deren runzlige Gesichter allesamt in
verschiedener Ausprägung strahlten. Ebenso wie die sechs Damen in
Trenthams Londoner Stadthaus waren die Damen hier aufrichtig
entzückt, Leonoras Bekanntschaft zu machen. Ihr erster Verdacht,
dass die alten Damen sich selten in gesellschaftliche Kreise wagten
und daher jeden Besuch als willkommene Abwechslung sahen, wurde
rasch zerschlagen; während sie sich in einen Lehnstuhl sinken ließ,
den
Trentham ihr hingeschoben hatte, stürzte sich Lady Hortensia in
einen ausführlichen Bericht über die jüngsten gesellschaftlichen
Zusammenkünfte und den allgemeinen Trubel rund um das örtliche
Kirchenfest.
»Wissen Sie, hier ist immer etwas los«, gestand
Hortensia. »Es wird nie langweilig.«
Die anderen nickten zustimmend und ergänzten
ihre Ausführungen mit allerlei Informationen über die hiesigen
Sehenswürdigkeiten und die besonderen Vorzüge dieses Anwesens sowie
des nahe gelegenen Ortes; dann forderten sie Leonora freundlich
auf, etwas von sich zu erzählen.
Selbstsicher stand sie ihnen Rede und Antwort,
erzählte von Humphrey und Jeremy und deren Betätigungen sowie von
Cedrics Garten - eben die Dinge, die ältere Damen besonders
interessierten.
Trentham war neben ihrem Stuhl stehen geblieben
und hatte seine Hand auf dessen Rückenlehne gelegt; er trat nun
einen Schritt zurück. »Wenn die Damen mich für eine Weile
entschuldigen würden; wir sehen uns dann beim Mittagessen.«
Alle nickten und strahlten ihn an; Leonora sah
zu ihm auf und suchte seinen Blick. Er nickte ihr zu, dann
verlangte Lady Hermine seine Aufmerksamkeit; er beugte sich zu
seiner Großtante hinunter. Leonora konnte nicht verstehen, was sie
sagte. Trentham richtete sich mit einem Nicken auf, dann verließ er
den Salon.
»Meine liebe Miss Carling, erzählen Sie uns doch
…«
Leonora wandte sich wieder Hortensia zu.
Unter anderen Umständen hätte sie sich
vielleicht im Stich gelassen gefühlt, doch in ihrer gegenwärtigen
Gesellschaft war dies unmöglich. Die alten Damen gaben sich
unverkennbar alle Mühe, sie angemessen zu unterhalten; Leonora
konnte gar nicht anders, als hierauf einzugehen. Sie war sogar
regelrecht fasziniert von den unzähligen kleinen Seitenbemerkungen
über Trentham und dessen Vorgänger, Großonkel Mortimer. Sie konnte
sich einigermaßen zusammenreimen, wie Trentham zu seinem Erbe
gelangt war, und
Hermine erzählte ihr von der verbitterten Haltung ihres
verstorbenen Bruders und dessen Entfremdung von der Trentham’schen
Seite der Familie.
»Er hat immer behauptet, sie seien allesamt
Prasser.« Hermine schnaubte verächtlich. »Völliger Unsinn. Er war
schlichtweg neidisch, dass sie in der Weltgeschichte herumreisen
konnten, während er das Familienanwesen hüten musste.«
Hortensia nickte weise. »Und Tristans Verhalten
in den vergangenen Monaten hat deutlich bewiesen, wie sehr Mortimer
sich mit seinem Urteil geirrt hat.« Sie sah Leonora an. »Tristan
ist ein überaus verlässlicher Mann. Er würde seine Pflichten
niemals vernachlässigen, welcher Art sie auch immer sein
mögen.«
Diese Feststellung wurde durch allseitiges
Nicken bekräftigt. Leonora hatte den Eindruck, dass mehr
dahintersteckte, als die Worte oberflächlich verrieten. Doch bevor
ihr eine geeignete Bemerkung einfiel, mit der sie auf taktvolle
Weise hätte nachhaken können, wurde sie durch einen äußerst
anschaulichen Bericht über den örtlichen Pfarrer und dessen
Haushalt vom Thema abgebracht.
Ein Teil ihrer selbst fand durchaus Gefallen an
diesem harmlosen Klatsch und Tratsch vom Lande, genoss diesen
geradezu. Als schließlich der Butler eintrat, um ihnen mitzuteilen,
dass angerichtet war, erschrak sie fast innerlich, dass sie dieses
unerwartete Zusammentreffen derart genossen hatte.
Wenn die alten Damen auch überaus freundlich und
liebenswürdig gewesen waren, so waren es doch vor allem die Themen
der Unterhaltung gewesen, die sie so besonders fasziniert hatten -
die kleinen Anekdoten über Trentham und die diversen Festivitäten
und Ereignisse hier auf dem Land.
Ihr war plötzlich bewusst geworden, wie sehr sie
das Landleben vermisste.
Trentham erwartete sie bereits im Speisezimmer;
er zog den Stuhl an seiner Seite für sie zurück.
Das Essen war hervorragend; die Unterhaltung kam
nie zum Stillstand und war doch keinen Augenblick lang erzwungen.
Trotz
der ungewöhnlichen Zusammensetzung des Haushalts schienen dessen
Mitglieder gelöst und zufrieden.
Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, suchte
Tristan Leonoras Blick, dann schob er seinen Stuhl zurück und sah
in die Runde.
»Wenn ihr uns nun entschuldigen würdet, ich
werde noch rasch ein paar Dinge erledigen, und dann müssen wir
zurück in die Stadt.«
»Aber natürlich.«
»Selbstverständlich - es war uns ein Vergnügen,
Sie kennenzulernen, Miss Carling.«
»Sagen Sie ihm, er soll Sie bei Gelegenheit mal
wieder mitbringen, Liebes.«
Er erhob sich und reichte Leonora die Hand, um
ihr aufzuhelfen. Sich seiner eigenen Ungeduld überaus bewusst,
wartete Tristan widerwillig ab, bis sie sich von jeder seiner alten
Damen verabschiedet hatte, und führte sie dann aus dem Zimmer
hinaus in seinen privaten Flügel des Hauses.
Man war so übereingekommen, dass die älteren
Damen Tristans Privatbereich nie betraten; Leonora durch den
Türbogen hindurch in den langen Korridor zu führen, wirkte sich aus
irgendeinem unerfindlichen Grund beruhigend auf ihn aus.
Er hatte Leonora im Kreise der alten Damen
zurückgelassen - wohl wissend, dass sie sie gut unterhalten würden
- in der Hoffnung, er würde sich seinen geschäftlichen Pflichten
besser und zügiger widmen können, wenn Leonora sich nicht in seiner
unmittelbaren Nähe befand. Er hatte dabei jedoch außer Acht
gelassen, dass sein völlig irrsinniger Zwang sich nicht allein
damit zufriedengeben wollte zu wissen, wo sie sich gerade befand,
sondern zudem Auskunft darüber verlangte, wie es ihr gerade
erging.
Er öffnete eine Tür und führte sie in sein
Arbeitszimmer. »Neben Sie für ein paar Minuten Platz. Ich muss mich
noch rasch um ein, zwei Dinge kümmern, dann können wir uns auf den
Weg machen.«
Sie nickte und setzte sich in einen Sessel, der
vorm Kamin stand. Er beobachtete, wie sie es sich bequem machte und
das Feuer ansah. Sein Blick verharrte einen Moment bei ihr, dann
wandte er sich um und ging zu seinem Schreibtisch.
Nun, da er sie im selben Zimmer wusste - sicher,
zufrieden und still -, konnte er sich weitaus besser konzentrieren.
Er bewilligte rasch einige Ausgaben, dann überprüfte er diverse
Berichte. Selbst als sie aufstand, um zum Fenster hinüberzugehen
und das Panorama von Rasen und Bäumen zu betrachten, blickte er nur
flüchtig auf, um zu sehen, was sie da tat, und wandte sich dann
wieder seiner Arbeit zu.
Eine Viertelstunde später hatte er seinen
Schreibtisch so weit geleert, dass er die nächsten Wochen in London
verbleiben und sich voll und ganz ihrem mysteriösen Einbrecher
widmen konnte. Und im Anschluss ihr selbst - sollten sich die Dinge
weiter in diese Richtung entwickeln.
Er schob seinen Stuhl zurück und blickte auf.
Sie stand an den Fensterrahmen gelehnt und beobachtete ihn.
Ihre veilchenblauen Augen sahen ihn unverwandt
an. »Sie kommen mir gar nicht vor wie ein Gesellschaftslöwe.«
Er hielt ihrem Blick ebenso beharrlich stand.
»Vermutlich, weil ich keiner bin.«
»Ich dachte jeder Earl - insbesondere jeder
unverheiratete Earl - sei das schon per
definitionem.«
Er zog eine Augenbraue hoch, während er
aufstand. »Nur dass dieser Earl hier nicht auf seinen Titel
vorbereitet war.« Er ging auf sie zu. »Ich habe nie damit
gerechnet.«
Sie zog ebenfalls eine Braue hoch und blickte
ihn forschend an. »Und wie ist das mit dem unverheiratet?«
Er sah auf sie herab und wartete einen Moment,
ehe er antwortete. »Wie Sie selbst bemerkten, erlangt dieses
Adjektiv erst in Zusammenhang mit dem Titel ernsthafte
Bedeutung.«
Sie studierte ihn einen Augenblick lang, dann
wandte sie sich ab.
Er folgte ihrem Blick, der über die friedliche
Szenerie vor dem Fenster schweifte. Dann sah er sie erneut an. »Wir
könnten noch einen Spaziergang machen, bevor wir aufbrechen.«
Sie sah ihn flüchtig an, dann kehrte ihr Blick
zurück zu der sanft hügeligen Landschaft. »Ich habe gerade daran
gedacht, wie sehr mir die ruhigen Freuden des Landlebens fehlen.
Ein Spaziergang wäre wunderbar.«
Er führte sie durch den angrenzenden Salon
hinaus auf eine abgeschiedene Terrasse. Ein paar Stufen führten
hinunter auf den Rasen, der trotz des harten Winters immer noch
grün war. Sie schlenderten gemächlich vorwärts; er sah sie an und
fragte: »Hätten Sie gerne Ihre Pelisse?«
Sie blickte zu ihm auf, lächelte und schüttelte
den Kopf. »In der Sonne ist es überhaupt nicht kalt, obwohl sie so
schwach ist.«
Das stattliche Haus bot ihnen Schutz vor dem
Wind. Er warf einen kurzen Blick zurück, dann sah er wieder nach
vorn. Und bemerkte, dass sie ihn dabei beobachtete.
»Es muss ja ein regelrechter Schock gewesen
sein, als Sie erfahren haben, dass Sie all das hier erben würden
…«, ihre ausschweifende Armbewegung umfasste weit mehr als nur die
vier Wände und das Dach. »Zumal Sie nicht damit gerechnet
hatten.«
»Das war es in der Tat.«
»Aber Sie scheinen sich gut eingelebt zu haben.
Die Damen schienen mir allesamt höchst zufrieden.«
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Oh, das
sind sie ganz gewiss.« Weil er Leonora hergebracht hatte.
Er sah geradeaus in Richtung See. Ihr Blick
folgte seinem. Sie gingen hinüber und schlenderten am Ufer entlang.
Leonora entdeckte eine Entenfamilie. Sie blieb stehen und hielt
sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können.
Er blieb einige Schritte entfernt von ihr
stehen, beobachtete sie, sog das Bild in sich auf, wie sie im
Sonnenschein an seinem See stand, und
verspürte eine wärmende Zufriedenheit, die er bislang nicht gekannt
hatte. Es wäre völlig sinnlos, sich einzureden, dass er
sie aus irgendeinem anderen Grund hierher gebracht hatte als dem,
sie hinter seinen schützenden Mauern in Sicherheit zu wissen.
Sie hier in seiner Nähe zu haben, hier mit ihr
zusammen zu sein, war, als hätte er ein neues Teil zu einem gerade
erst begonnenen Puzzle gefunden.
Das Puzzleteil passte.
Es passte geradezu beunruhigend gut.
Jegliche Art von Untätigkeit war ihm
normalerweise verhasst, doch müßig mit ihr hier entlangzuspazieren,
versetzte ihn in tiefe Zufriedenheit. Als würde ihre Gegenwart ihm
erlauben, einfach nur er selbst zu sein; als wäre sie seine alleinige Daseinsberechtigung, zumindest
in diesem Augenblick. Keine andere Frau hatte ihm je dieses Gefühl
gegeben. Diese unerwartete Erkenntnis steigerte nur noch seinen
Drang, die Gefahr, die ihr drohte, zu beseitigen.
Als hätte Leonora bemerkt, wie seine Stimmung
sich in diesem Moment verfinsterte, blickte sie unvermittelt zu ihm
auf und studierte aufmerksam seine Züge. Er setzte seine gewohnte
Maske auf und lächelte sie unbeschwert an.
Sie runzelte die Stirn.
Doch bevor sie etwas sagen konnte, nahm er ihren
Arm. »Lassen Sie uns hier entlanggehen.«
Obwohl der Rosengarten in tiefem Winterschlaf
lag, bot er eine wirkungsvolle Ablenkung. Danach führte er sie
weiter durch die ausgedehnten Strauchrabatten, die sie in einem
weiten Bogen zurück zum Haus führten. Ein kleiner Marmortempel im
streng klassizistischen Stil bildete das Zentrum der
Rabatten.
Leonora hatte ganz vergessen, wie wundervoll es
sein konnte, durch einen großen, kunstvoll angelegten und
gepflegten Park zu schlendern. In ihrem Londoner Garten fehlten
ihr, Cedrics fantastischer Gartenkunst zum Trotz, die beruhigenden
Ausblicke auf sanft gewellte Hügellandschaften; die großen
Stadtparks wiederum hatten nur ein äußerst begrenztes Panorama und
waren zudem viel zu überfüllt. Alles andere als besinnlich. Während
sie hier an Trenthams Seite spazieren ging, erfüllte sie eine große
Ruhe, die wie
eine Droge all ihre Glieder erreichte, fast so, als würde ein
Quell, der schon fast ausgetrocknet war, sich wieder neu
auffüllen.
Der kleine Tempel, auf den alle Wege zuliefen,
war einfach perfekt. Sie hob ihre Röcke leicht an und trat die
Stufen hinauf. Im Innern befand sich ein fein gearbeitetes
Bodenmosaik aus schwarzen, grauen und weißen Steinen. Die weißen
ionischen Säulen, die das kleine Kuppelgewölbe trugen, waren grau
geädert.
Sie drehte sich um und sah zurück zum Haus, das
von hohen Hecken umrahmt wurde. Die Perspektive war absolut
meisterlich. »Einfach wunderbar.« Sie lächelte zu Trentham auf, der
neben ihr stehen geblieben war. »Ungeachtet aller Schwierigkeiten
kann es Ihnen doch gewiss nicht leidtun, all das hier geerbt zu
haben.«
Sie breitete ihre Arme aus, ihre Hände, bezog
alles - die Gärten, den See, die gesamte Landschaft - in ihre
Aussage mit ein.
Er kreuzte ihren Blick, erwiderte ihn eine ganze
Weile, ehe er leise antwortete: »Nein, es tut mir nicht
leid.«
Sie bemerkte seinen Tonfall, ahnte einen
tieferen Sinn hinter den Worten. Sie runzelte fragend die
Stirn.
Seine Lippen, die bisher eine ernste Linie
geformt hatten - ebenso ernst wie sein Gesichtsausdruck -, verzogen
sich zu einem ihrer Ansicht nach leicht ironischen Lächeln. Er
umfasste ihr Handgelenk, dann ließ er seine Hand nach unten wandern
und umschloss die ihre.
Langsam hob er ihr Handgelenk an seine Lippen.
Während seines Kusses hielt er ihren Blick gebannt; seine Lippen
verweilten, während ihr Puls einen Satz machte und heftig zu rasen
begann.
Als wäre dies das Signal, auf das er nur
gewartet hatte, umfasste er sie und zog sie an sich heran. Sie ließ
es bereitwillig geschehen und begegnete seiner Umarmung - nicht nur
neugierig, sondern unverhüllt begierig.
Er neigte den Kopf zu ihr herab, und ihre Augen
schlossen sich; sie hob ihm ihre Lippen entgegen, er empfing sie.
Schob sie auseinander, drängte hinein, nahm ihren Mund und ihre
Sinne vollkommen in Beschlag.
Sie gab ihm nach, ohne dabei die geringsten
Bedenken zu hegen. Sie war sich absolut sicher, ihn richtig
einzuschätzen: Er würde ihr niemals schaden. Wo seine berauschenden
Küsse sie jedoch hinführten - was als Nächstes kommen würde und
wann -, darüber war sie sich völlig im Unklaren; sie hatte
keinerlei Erfahrung, auf die sie hätte zurückgreifen können.
Sie war eben noch nie verführt worden.
Dass er genau dieses Ziel verfolgte, hatte sie
längst akzeptiert; es konnte keinen anderen Grund für sein
Verhalten geben. Er hatte sie nach ihrem Alter gefragt und
konstatiert, dass sie alt genug war. Mit fünfundzwanzig war sie in
die Ränge der alten Jungfern aufgestiegen; nun, mit
sechsundzwanzig, war sie - in seinen Augen gewiss nicht weniger als
in ihren - die Herrin über ihr eigenes Leben. Eine alte Jungfer,
die tun und lassen konnte, was sie wollte; ihre Handlungen wirkten
sich auf niemanden nachteilig aus, sie gingen niemanden etwas
an.
Was nicht bedeuten sollte, dass sie all seinen
Wünschen zwangsläufig nachgeben würde. Sie würde selbst
entscheiden, ob und wie viel weiter sie gehen würde, wenn es erst
einmal so weit war.
Heute mit Sicherheit nicht. Nicht in einem
offenen Tempel, der vom Haus aus zu sehen war. In der sicheren
Überzeugung, nicht weiter nachdenken zu müssen, ließ sie sich
tiefer in seine Arme sinken und erwiderte seinen Kuss.
Ihre Zunge duellierte sich mit seiner; sie ließ
sich vom Geben und Nehmen treiben, spürte die Hitze zwischen ihnen
aufwallen, genoss die unbeschreibliche Anspannung, die knisternde
Erregung, die ihren Körper vollständig erfasste und ihn mit
prickelnder Vorfreude erfüllte.
Ihre Glieder spannten sich; die Hitze wurde
intensiver, staute sich auf.
Mutig schob sie ihre Hände über seine Schultern
hinauf in den Nacken. Sie spreizte ihre Finger und vergrub sie in
seinen dunklen Locken. Dicht und schwer glitten sie ihr durch die
Finger, während seine Zunge tief in ihren Mund drang.
Er legte seinen Kopf schräg, zog sie näher an
sich heran, bis ihre Brust hart gegen seinen Oberkörper gepresst
war; ihre Oberschenkel berührten seine, ihre Röcke verhedderten
sich über seinen Schuhen. Er hielt sie fest umschlungen, hob sie
mühelos an; seine Stärke fesselte sie. Ihr Kuss wurde immer
intimer, sodass ihre Münder vollständig miteinander verschmolzen.
Sie hatte das Gefühl, sie müsste - sie sollte - schockiert sein,
doch stattdessen verspürte sie nur diese ungeheure Hitze, diese
kühne Selbstsicherheit - ihre wie seine - und ein
schwindelerregendes Verlangen.
Dieses unstillbare Verlangen entsprang ihnen
gemeinsam - nicht allein ihm und nicht allein ihr; es war etwas,
was zwischen ihnen beiden wuchs.
Was sie beide verlockte.
Verführte.
Was Tristans Bedürfnisse schürte.
Doch es waren ihre
Bedürfnisse, auf die er sich in diesem Augenblick konzentrierte,
die er beobachtete, einschätzte, befriedigte, die ihn schließlich
dazu bewegten, seine Umarmung zu lockern und sie nur noch mit einem
Arm festzuhalten, während seine freie Hand zu ihrem Gesicht
hinaufwanderte. Um ihre Wange, ihren Kiefer nachzuzeichnen, ihr
Gesicht zu umfassen, während er ihren Mund beharrlich plünderte.
Doch keinen Moment lang versuchte er, sie zu drängen; ihm war
bewusst, dass er sie auf diese Weise nicht gewinnen konnte.
Sie zu verführen, war eine instinktive Handlung,
der er sich nicht länger widersetzte. Er löste seine Finger von
ihrem zarten Kiefer und ließ seine Hand nach unten gleiten - reizte
ihre Sinne, bis ihre Lippen noch fordernder wurden; liebkoste sie
zärtlich, sodass ihre Fantasie geweckt, ihr Verlangen gesteigert,
doch keineswegs gesättigt wurde.
Ihre Brüste schwollen unter seiner leicht
umspielenden Berührung an; ihn drängte es, mehr zu fordern, sich
mehr zu nehmen, aber er hielt sich zurück. Seine Trumpfkarten
hießen Strategie und Taktik; ob hier oder woanders - er spielte, um
zu gewinnen.
Als ihre Finger sich in seinen Hinterkopf
krallten, ließ er zu, dass seine gesamte Handfläche sich über ihrer
Brust schloss, sie liebkoste - immer noch leicht, eher anregend als
befriedigend. Er spürte die plötzliche Reaktion ihrer Sinne, ihre
unwillkürliche Anspannung. Spürte, wie ihre Brustwarze unter seiner
Berührung zu einer harten Knospe wurde.
Er musste tief einatmen, hielt für einen Moment
die Luft an, bevor er sich ganz allmählich aus dem Kuss zurückzog.
Er ließ seinen Muskeln Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen, gab
Leonora Zeit, aus dem Kuss zu erwachen.
Doch er nahm seine Hand nicht von ihrer
Brust.
Während er den Kuss vollständig unterbrach und
den Kopf hob, fuhr seine Hand weiter über die sanfte Wölbung,
umspielten seine Finger weiterhin ihre Brustwarze. Ihre Lider
zuckten, dann öffnete sie ihre Augen und sah ihn an.
Ihre Lippen waren leicht geschwollen, ihre Augen
geweitet.
Er sah nach unten.
Ihr Blick folgte ihm.
Ihr Atem stockte.
Er zählte die Sekunden, bis sie wieder Luft
holte, und wusste, dass ihr schwindelig sein musste. Doch sie tat
keinen Schritt zurück.
Er war es, der schließlich seine Position
änderte und seine liebkosende Hand zu ihrem Oberarm gleiten ließ,
ihn leicht drückte, dann weiter nach unten glitt, um ihre Hand zu
umfassen. Er hob ihre Finger an seine Lippen, begegnete ihrem
Blick, als sie, leicht errötet, wieder zu ihm aufsah.
Er lächelte, ohne ihr den wahren Grund dieser
Geste preiszugeben. »Kommen Sie.« Er legte ihre Hand auf seinen Arm
und führte sie in Richtung Haus. »Wir müssen uns auf den Rückweg
machen.«
Die Rückfahrt war ein wahrer Segen. Während
Trentham sich auf seine Tiere konzentrierte, um das Gespann sicher
durch den immer dichter werdenden Londoner Stadtverkehr zu lenken,
nutzte Leonora
die Stunde, um ihren Verstand wiederzufinden. Und um ihre übliche
Selbstsicherheit zurückzuerlangen - zurückzuerobern.
Sie warf ihm zahlreiche Blicke zu, während sie
sich fragte, was er wohl gerade dachte; doch trotz einiger
geheimnisvoller Blicke seinerseits - hinter denen sie Belustigung
sowie ungebrochene Entschlossenheit zu lesen glaubte - sagte er
kein Wort. Unabhängig von mutmaßlichen anderen Gründen verbot
allein die Tatsache, dass sein Stallbursche hinter ihnen auf dem
Wagen mitfuhr, jedes private Wort.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie derlei
überhaupt hören wollte. Erklärende Worte. Nicht, dass er
irgendwelche Anstalten gemacht hätte, ihr eine Erklärung zu
liefern. Das war dem Spiel offenbar nicht dienlich.
Oder der zunehmenden Euphorie, dem Enthusiasmus.
Dem wachsenden Verlangen.
Mit Letzterem hatte sie keineswegs gerechnet,
aber es war nicht zu leugnen. Mit einem Mal verstand sie, was sie
nie zuvor hatte verstehen können, warum Frauen - sogar überaus
kluge Frauen - den fleischlichen Forderungen eines Mannes so
bereitwillig nachgaben.
Nicht, dass Trentham bislang echte Forderungen
gestellt hätte. Noch nicht. Das war ja gerade der Punkt.
Wenn sie den Zeitpunkt und die Art seiner
Forderungen gekannt hätte, hätte sie sich eine geeignete Taktik
zurechtlegen können.
Doch wie die Dinge standen, blieb ihr nichts
anderes übrig, als … zu spekulieren.
Und genau damit war sie beschäftigt, als der
Zweispänner seine Fahrt verlangsamte. Sie sah sich blinzelnd um und
stellte fest, dass sie bereits angekommen waren. Trentham ließ das
Gespann vor seinem Haus halten. Er übergab die Zügel dem
Stallburschen, dann stieg er aus und hob sie von der Kutsche.
Während seine Hände auf ihrer Taille ruhten, sah
er sie an.
Sie erwiderte seinen Blick und machte keinerlei
Anstalten, sich seinem Griff zu entziehen.
Seine Lippen rührten sich, öffneten sich …
Schritte knirschten ganz in der Nähe im Kies.
Beide blickten sich um.
Gasthorpe, der Majordomus, ein gedrungener Mann
mit borstigem, grau meliertem Haar, näherte sich ihnen vom Haus
her. Als er sie erreicht hatte, verneigte er sich. »Miss
Carling.«
Sie hatte Wert darauf gelegt, dem Mann bereits
am Tag nach seinem Einzug einen Besuch abzustatten. Sie lächelte
und neigte den Kopf.
Er wandte sich Trentham zu. »Mylord, verzeihen
Sie die Störung, ich wollte nur sichergehen, dass Sie hereinkommen.
Die Tischler haben heute das Mobiliar für die erste Etage
geliefert. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einen kurzen Blick
darauf werfen und mir sagen könnten, ob alles zu Ihrer
Zufriedenheit ist.«
»Selbstverständlich. Ich komme gleich …«
»Eigentlich«, Leonora berührte Trenthams Arm und
suchte seinen Blick, »würde ich nur allzu gern sehen, was Sie aus
Mr Morrisseys Haus gemacht haben. Wäre es Ihnen recht, wenn ich mit
reinkomme, während Sie die Möbel überprüfen?« Sie lächelte.
»Möglicherweise kann ich Ihnen sogar helfen - der Blick einer Frau
betrachtet derlei Dinge anders als der eines Mannes.«
Trentham sah sie an, dann wanderte sein Blick zu
Gasthorpe. »Es ist schon spät. Ihr Onkel und ihr Bruder …«
»Werden nicht einmal bemerkt haben, dass ich weg
war.« Ihre Neugier war nicht zu bremsen; ihre Augen waren weit
geöffnet und fixierten Trenthams Gesicht.
Seine Mundwinkel zuckten flüchtig, wurden dann
jedoch wieder unbeweglich; sein Blick kehrte zu Gasthorpe zurück.
»Wenn Sie darauf bestehen.« Sie ergriff seinen Arm und ließ sich
von ihm zum Weg führen. »Allerdings ist bis jetzt nur der erste
Stock möbliert.«
Sie fragte sich, woher diese plötzliche
Zurückhaltung rührte. Schließlich schob sie es darauf, dass er als
Gentleman wohl unerwartet in die Verlegenheit gekommen war, ein
Haus ausstatten lassen
zu müssen. Vermutlich fühlte er sich in dieser Rolle nicht
besonders wohl.
Sie ignorierte seine Zurückhaltung und ging
beschwingten Schrittes an seiner Seite den Weg entlang. Gasthorpe
war vorausgegangen und hielt ihnen die Tür auf. Sie trat über die
Schwelle und blickte sich um. Das letzte Mal hatte sie diesen Flur
in nächtlicher Dunkelheit betreten - der Raum war kahl und leer und
mit Tüchern verhangen gewesen.
Die Verwandlung hätte vollständiger nicht sein
können. Der Flur war überraschend hell und luftig, keineswegs
dunkel und erdrückend - eine Stimmung, die sie im Allgemeinen mit
Herrenklubs in Verbindung brachte. Allerdings fand sich nicht das
kleinste Detail, welches die durch und durch elegante, doch überaus
strenge Linie in irgendeiner Weise auflockerte - keine gemusterten
Tapeten, nicht einmal Stuckverzierungen. Es wirkte irgendwie kühl,
fast trist, da jedes feminine Element fehlte; nichtsdestoweniger
konnte sie sich gut vorstellen, dass Männer wie Trentham sich hier
gern treffen würden.
Sie würden die mangelnde Zartheit des Ortes gar
nicht bemerken.
Trentham bot nicht an, ihr das Erdgeschoss zu
zeigen; er deutete stattdessen zum Treppenaufgang. Während sie
zusammen hinaufgingen, fielen ihr das makellos glänzende Geländer
und der dicke Teppich ins Auge. Geld war offenbar kein Kriterium
gewesen.
Im ersten Stock ging Trentham an ihr vorbei und
führte sie in das zur Frontseite hin gelegene Zimmer. In der Mitte
des Raumes befand sich ein langer Tisch aus Mahagoni; acht mit
ockerfarbenem Samt bezogene passende Stühle standen um ihn herum.
Vor der einen Wand stand eine Anrichte, ihr gegenüber befand sich
eine lang gestreckte Kommode.
Tristan sah sich aufmerksam um und warf einen
kritischen Blick auf ihr künftiges Versammlungszimmer. Alles war
ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatten; er kreuzte Gasthorpes
Blick und nickte ihm bestätigend zu. Dann bedeutete er Leonora, den
Gang hinunter in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.
Bei einem kleinen Arbeitszimmer mit
Schreibtisch, Schubladenschrank und zwei Stühlen genügte ein
flüchtiger Blick. Sie gingen weiter, um das rückwärtig gelegene
Zimmer zu begutachten - die Bibliothek.
Der Händler, bei dem sie das Mobiliar bestellt
hatten, Mr Meecham, beaufsichtigte gerade den Einbau eines der
hohen Bücherregale. Er blickte kurz auf, wandte seine gesamte
Aufmerksamkeit jedoch umgehend wieder seinen beiden Gehilfen zu, um
sie zuerst in die eine, dann in die andere Richtung zu winken, bis
sie das schwere Regal schließlich zu seiner vollsten Zufriedenheit
positioniert hatten. Sie setzten es mit einem hörbaren Schnauben
ab.
Meecham kam mit breitem Lächeln auf Tristan zu.
»Nun, Mylord.« Er verneigte sich, dann sah er sich mit
offenkundiger Zufriedenheit um. »Ich möchte behaupten, Sie und Ihre
Freunde werden sich hier ausgesprochen wohlfühlen.«
Tristan hatte keinerlei Anlass, dem zu
widersprechen; der Raum wirkte einladend, gepflegt und nicht zu
überfüllt, obgleich zahlreiche bequeme Sessel zum Verweilen
einluden und mehrere Beistelltische darauf warteten, ein Glas
Brandy bereitzuhalten. Es gab zwei Bücherregale, die zurzeit noch
leer waren. Auch wenn es sich um eine Bibliothek handelte, war es
höchst unwahrscheinlich, dass sie sich hier in Romane vertiefen
würden. Mit Sicherheit dagegen in Tageszeitungen, Zeitschriften,
Nachrichten- oder auch Sportblätter. Die Bibliothek sollte ihnen in
erster Linie als stiller Rückzugsort dienen, an dem - wenn
überhaupt - nur im Flüsterton gesprochen werden würde.
Während er sich umschaute, konnte er sie alle
bereits hier versammelt sehen - zurückgezogen, ungestört, in
kameradschaftliches Schweigen gehüllt. Sein Blick kehrte zurück zu
Meecham. Er nickte. »Gute Arbeit.«
»Durchaus, durchaus.« Selbstzufrieden winkte er
seine beiden Gehilfen aus dem Raum. »Und nun werden wir Sie allein
lassen, damit Sie die ersten Früchte unserer Arbeit in aller Ruhe
genießen
können. Die übrigen Stücke werde ich im Laufe der nächsten Woche
liefern.«
Er verneigte sich tief; Tristan entließ ihn mit
einem Kopfnicken.
Gasthorpe begegnete seinem Blick. »Ich werde Mr
Meecham zur Tür geleiten.«
»Danke, Gasthorpe … Ich werde Sie hier oben
nicht mehr benötigen. Wir finden dann selbst hinaus.«
Mit einem Nicken und einem vielsagenden Blick
verließ Gasthorpe den Raum.
Tristan verzog innerlich das Gesicht, aber was
konnte er schon tun? Er konnte Leonora schlecht erklären, dass
Frauen in diesem Klub eigentlich nicht geduldet wurden, zumindest
nicht außerhalb des kleinen Empfangszimmers; dies würde nur zu
unangenehmen Fragen führen, die seiner Ansicht nach - und hierin
war er sich mit den anderen Klubmitgliedern einig - besser nicht
gestellt würden. Sie zu beantworten, wäre viel zu riskant - man
sollte sein Schicksal nicht herausfordern.
Es war jedenfalls besser, ihrem Drängen jetzt
nachzugeben, solange es im Grunde egal war und niemandem schadete,
als ihr erklären zu müssen, was es mit der Gründung des
Bastion-Klubs auf sich hatte.
Leonora war allmählich weitergeschlendert.
Nachdem sie ihre Finger über die Rückenlehne eines Sessels hatte
gleiten lassen und - voll Anerkennung, wie er glaubte - die
Einrichtung begutachtet hatte, war sie zum Fenster hinübergegangen
und blickte nach unten.
Auf ihren eigenen Garten.
Er wartete ab, doch sie kehrte nicht an seine
Seite zurück. Mit einem unhörbaren - leicht resignierten - Seufzer
durchquerte er leise den Raum, während seine Schritte von dem
dicken türkischen Teppich gedämpft wurden. Er blieb neben dem
Fenster stehen und lehnte sich gegen den Rahmen.
Sie wandte den Kopf und sah ihn an.
»Sie haben regelmäßig hier gestanden und mich
beobachtet, nicht wahr?«