6
Der Wintergarten war ihr ganz spezieller Bereich. Außer dem Gärtner kam niemand hierher. Es war ihr Heiligtum, ihre Zuflucht, der Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Während sie den Mittelgang entlangschritt und das Türschloss hinter sich schnappen hörte, verspürte sie zum ersten Mal hier in diesem Glasbau so etwas wie den Hauch einer Bedrohung.
Ihre Sohlen klopften leise gegen die Steinfliesen; ihre seidenen Röcke raschelten. Trenthams weiche Schritte, die ihr den Gang hinunter folgten, waren noch leiser als ihre.
Aufregung und ein noch durchdringenderes Gefühl erfassten sie. »Im Winter wird dieser Raum von der Küche her über ein Rohrsystem mit Dampf beheizt.« Sie erreichte das Ende des Weges, blieb in der hintersten Ecke des Erkerfensters stehen und atmete gezwungen ein. Ihr Herz pochte so laut, dass sie es hören konnte; sie fühlte ihren Puls bis in die Fingerspitzen. Sie hob die Hand und drückte einen Finger gegen die Scheibe. »Die Fenster sind doppelt verglast, damit die Wärme nicht so leicht entweicht.«
Vor ihr lag die schwarze Nacht; sie betrachtete die spiegelnde Oberfläche der Scheibe, sah, wie sich Trentham allmählich näherte. Zwei spärliche Lampen erhellten den Raum von gegenüberliegenden Seiten; sie spendeten gerade so viel Licht, dass man den Weg erkennen und einen ungefähren Eindruck von den Pflanzen erhalten konnte.
Trentham kam ihr mit ruhigen Schritten näher - der gemessene Gang eines Raubtiers; sie hatte keinerlei Zweifel, dass er sie aufmerksam beobachtete. Sein Gesicht lag im Schatten, bis er schließlich an ihre Seite trat, den Kopf hob und sie im Spiegelbild der Scheibe ansah.
Ihre Blicke blieben aneinander hängen.
Seine Hände glitten um ihre Taille, begegneten sich, hielten sie fest.
Ihr Mund war trocken. »Interessieren Sie sich wirklich für unseren Wintergarten?«
Sein Blick sank nach unten. »Ich interessiere mich für seinen Inhalt.«
»Für die Pflanzen?«
»Nein. Für Sie.«
Er drehte sie herum, hielt sie in seinen Armen. Er neigte den Kopf und legte seine Lippen auf die ihren, so als hätte er das Recht dazu. Als würde sie ihm in irgendeiner Weise gehören.
Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter, drückte sie unwillkürlich, als er ihre Lippen auseinanderdrängte und seine Zunge hindurchschob. Er hielt sie in seinen starken Armen gefangen, während er den Kuss so gemächlich auskostete, als hätte er alle Zeit der Welt.
Und als wolle er diese ausgiebig nutzen.
Von der Berührung wurde ihr schwindelig. Angenehm schwindelig. Wärme durchströmte sie. Sein männliches Aroma - hart und dominant - durchdrang jede Faser ihres Körpers.
Für eine Weile versanken sie ganz im Nehmen und Geben und Entdecken. Während sich in ihnen beiden eine plötzliche Anspannung aufbaute.
Er unterbrach den Kuss, hob den Kopf ein wenig an, doch nur um sie näher an sich heranzuziehen. Sie fühlte seine Hand auf ihrem Rücken - heiß glühend durch die Seide ihres Kleides hindurch. Er blickte sie unter schweren, nahezu schläfrigen Augenlidern an.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
Sie blinzelte und bemühte sich tapfer, ihren Verstand zurückzuerlangen. Sah, wie er sie dabei beobachtete. Ihn an diesem Punkt nach seiner weiteren Vorgehensweise zu fragen, erschien ihr übermäßig leichtsinnig. Er wartete geradezu auf die Frage.
»Nicht so wichtig.« Sie griff kühn in seinen Nacken und zog seine Lippen wieder zu sich heran.
Ein leichtes Lächeln umspielte diese, doch er gab ihr bereitwillig nach; gemeinsam sanken sie tiefer in die Umarmung und ließen sich von ihr treiben. Wieder war er es, der sie unterbrach.
»Wie alt sind Sie?«
Die Frage huschte über ihre Sinne, erreichte allmählich ihren Verstand. Ihre Lippen pulsierten hungrig; sie drückte sie leicht gegen die seinen.
»Spielt das eine Rolle?«
Er hob die Lider; ihre Blicke begegneten sich. Ein winziger Augenblick verstrich. »Im Grunde nicht.«
Sie benetzte ihre Lippen, betrachtete die seinen. »Sechsundzwanzig.«
Seine heimtückischen Lippen formten ein Lächeln. Wieder spürte sie das Prickeln der Gefahr.
»Alt genug.«
Er zog sie an sich - gegen sich; wieder neigte er seinen Kopf.
Wieder empfing sie ihn.
Tristan spürte ihren Eifer, ihren Enthusiasmus. Wenigstens das hatte er erreicht. Sie hatte ihm die Situation auf einem silbernen Tablett serviert; warum hätte er sie ausschlagen sollen, diese willkommene Gelegenheit, ihre Sinne weiter zu schulen, ihren Horizont zu erweitern. Zumindest so weit, dass sein nächster Versuch, sie auf sinnliche Art und Weise abzulenken, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Sie war ihm heute Morgen viel zu leicht entwischt, hatte seine Falle kurzerhand entschärft und die Faszination ihrer Berührung viel zu mühelos abgeschüttelt.
Seine Natur war von jeher herrisch. Tyrannisch. Räuberisch.
Seine Ahnenreihe war geprägt von hedonistischen Männerfiguren, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets das genommen hatten, was sie wollten.
Er wollte sie - ohne jede Frage -, aber in einer Weise, mit einer Intensität, die ihm völlig fremd war. In seinem Innern hatte sich etwas verändert oder, treffender gesagt, etwas Neues gebildet. Etwas, mit dem er noch nie zuvor hatte kämpfen müssen; etwas, das noch keine Frau in ihm wachgerufen hatte.
Doch sie tat es. Und zwar mühelos. Aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie da tat, weniger noch, was sie damit herausforderte.
Ihr Mund war eine Delikatesse, eine Höhle honigsüßer Verführung, warm, betörend, verlockend. Ihre Hände verfingen sich in seinem Haar; ihre Zunge duellierte sich gierig mit seiner - wissbegierig, lernbegierig.
Er gab ihr, was sie verlangte, doch er hielt sich zugleich im Zaum. Sie presste sich noch fester an ihn, drängte ihn geradezu, den Kuss noch zu vertiefen. Er sah keinerlei Grund, ihrem Drängen nicht nachzugeben.
Ihre schlanken, gelenkigen, geschwungenen Formen, ihr weicher, weiblicher Körper und ihre zarte Haut waren ein heftiger Ansporn für seine durch und durch männlichen Bedürfnisse. Sie in seinen Armen zu halten, nährte seine Lust, schürte das sinnliche Feuer, das zwischen ihnen entbrannt war.
Dem Instinkt folgen. Sich auf das eigene Gespür verlassen. Das war zweifellos der einfachste Weg.
Sie war so anders als die Ehefrau, die er sich ausgemalt hatte - jene namenlose Gattin, die ein besonders sturer Teil seiner selbst immer noch für die richtige hielt. Er war noch nicht dazu bereit, diese Überzeugung vollständig aufzugeben, zumindest nicht nach außen hin.
Er ließ sich noch tiefer in den Kuss hineinsinken, zog sie noch fester an sich heran, genoss ihre Wärme und das uralte Versprechen, das sich dahinter verbarg.
Wohin auch immer sie steuerten, sie konnten sich immer noch Gedanken machen, wenn sie erst einmal dort angekommen wären. Den Dingen vorerst ihren Lauf zu lassen, während er sich derweil um den geheimnisvollen Einbrecher kümmerte, erschien ihm durchaus vernünftig. Ob sich zwischen ihnen nun etwas entwickelte oder nicht, seine Prioritäten waren in jedem Fall klar gesetzt. Sein oberstes Ziel war es, die Bedrohung, die über ihr schwebte, zu entschärfen; nichts und niemand würde sich ihm in den Weg stellen - er war viel zu beschlagen, um sich in irgendeiner Weise von diesem Ziel abbringen zu lassen.
Wenn er seine Mission erst einmal erfüllt hatte und Leonora außer Gefahr war, in Sicherheit, dann konnte er sich immer noch überlegen, wie er mit dieser unerwarteten Leidenschaft verfahren wollte, die ihm das Schicksal so leichtfertig untergeschoben hatte.
Er spürte, wie etwas in ihm aufwallte und mit jeder Minute, die Leonora in seinen Armen lag, stärker, entschlossener, gieriger wurde. Es war an der Zeit, dem ein Ende zu setzen; er hatte keinerlei Skrupel, seine Dämonen brutal in ihre Schranken zu weisen und sich der Umarmung zu entziehen.
Er hob den Kopf. Sie blinzelte ihn benommen an, dann atmete sie scharf ein und blickte sich um. Er ließ sie los, ließ sie einen Schritt zurücktreten, während ihr Blick zu seinem Gesicht zurückkehrte.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.
Ein schmerzliches Verlangen durchzuckte ihn. Er richtete sich gerade auf, atmete tief ein.
»Wie …« Sie räusperte sich. »Wie wollen Sie hinsichtlich des Einbrechers nun weiter vorgehen?«
Er sah sie an. Fragte sich, wie viel wohl dazugehörte, ihren Verstand gänzlich auszuschalten. »Ich will einen Blick in das Zentralarchiv werfen, das in Somerset House angelegt wird. Ich will herausfinden, wer dieser Montgomery Mountford eigentlich ist.«
Sie dachte kaum einen Moment nach, bevor sie nickte. »Ich werde mitkommen. Vier Augen sehen mehr als zwei.«
Er zögerte, als müsse er darüber nachdenken, dann neigte er zustimmend den Kopf. »Einverstanden. Ich werde Sie um elf Uhr abholen.«
Sie starrte ihn an. Er konnte ihre Augen nicht richtig erkennen, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie überrascht war.
Er lächelte charmant.
Sie wirkte misstrauisch.
Sein Lächeln nahm einen ehrlicheren Zug an - zynisch und amüsiert zugleich. Er nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. »Bis morgen.«
Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen herablassend an. »Sollten Sie sich nicht ein paar Notizen über den Wintergarten machen?«
Er erwiderte ihren Blick, drehte ihre Hand herum und drückte seine Lippen in ihre Handfläche. »Ich habe gelogen. Ich habe bereits einen.« Er ließ ihre Hand los und trat zurück. »Erinnern Sie mich daran, dass ich ihn Ihnen einmal zeige.«
Mit einem Nicken und einem letzten herausfordernden Blick drehte er sich um und ging.
 
Sie wirkte noch immer misstrauisch, als Tristan sie am nächsten Morgen mit seinem offenen Zweispänner abholte.
Er sah sie an und half ihr beim Einsteigen; mit hocherhobener Nasenspitze gab sie vor, ihn nicht weiter zu beachten. Er kletterte ebenfalls in die Kutsche, nahm die Zügel auf und trieb seine beiden Schimmel an.
Sie sah bezaubernd aus in ihrer dunkelblauen Pelisse, die sie über dem himmelblauen Tageskleid zugeknöpft hatte. Ihre Haube umrahmte ihre feinen Gesichtszüge, auf denen ein zarter Hauch von Farbe lag - so als hätte ein Künstler ihr Gesicht auf feinstes Porzellan gemalt.
Während er die nervösen Pferde sicher durch die überfüllten Straßen lenkte, fragte er sich insgeheim, warum sie nie geheiratet hatte.
Es konnten doch nicht alle Männer der Londoner Oberschicht blind sein. Hatte sie sich aus einem bestimmten Grund rargemacht? Oder hatten ihre bestimmende Art, ihre ausgeprägte Selbstständigkeit und ihr Hang, die Führung an sich zu reißen, die Männerwelt vor eine zu große Herausforderung gestellt?
Er war sich ihrer weniger attraktiven Eigenschaften durchaus bewusst, doch aus einem unerfindlichen Grund war es gerade der Teil von ihm, den sie - und zwar nur sie - so unerwartet geweckt hatte, der diese Eigenschaften nicht nur als lapidare Herausforderung betrachtete, sondern vielmehr als regelrechte Kriegserklärung. Als wäre sie ein kühner Gegner, der ihm selbstbewusst die Stirn bot. Natürlich war das alles Unsinn - das wusste er selbst -, aber irgendwie hatte sich diese Überzeugung tief in ihn hineingefressen.
Sie hatte ihm seinen jüngsten Schachzug geradezu selbst vorgelegt. Er hatte ihrem Vorschlag, ihn nach Somerset House zu begleiten, bereitwillig zugestimmt, hätte ihr sogar selbst den Vorschlag gemacht, wäre sie ihm nicht zuvorgekommen - schließlich war diese Unternehmung ungefährlich.
Solange sie in seiner Nähe war, konnte ihr nichts passieren; wenn er sie aus den Augen ließe, sie ihren eigenen Plänen überließe, würde sie zweifellos versuchen, dem Problem - ihrem Problem, wie sie es nannte - auf andere Weise beizukommen. Ihr zu befehlen, ja, sie zu zwingen, ihre Nachforschungen aufzugeben, lag derzeit außerhalb seiner Macht. Sie so oft es ging an seiner Seite zu haben, war daher die sicherste Vorgehensweise.
Während er die Strand hinunterfuhr, überfiel ihn eine schmerzhafte Erkenntnis. Seine Argumente klangen vollkommen logisch und rational. Doch der innere Zwang, den er mit derlei Argumenten lediglich zu rechtfertigen suchte, war nicht nur gänzlich neu, sondern zudem überaus beunruhigend. Verunsichernd. Die jähe Erkenntnis, dass das Wohlergehen einer Dame im vorgerückten Alter und mit höchst eigenständiger Denkweise für ihn urplötzlich oberste Priorität angenommen hatte, war geradezu schockierend.
Sie hatten Somerset House erreicht. Tristan überließ den Zweispänner seinem Stallburschen, und mit laut hallenden Schritten betraten sie den kühlen Steinbau. Ein Angestellter starrte sie von seinem Platz hinter der Empfangstheke aus an; Tristan erläuterte ihr Anliegen, woraufhin sie einen Gang hinunter in eine düstere Halle geschickt wurden. Streng angeordnete Reihen von hölzernen Aktenschränken füllten den gesamten Raum; ein jeder von ihnen besaß mehrere Schubladen.
Nachdem sie einem weiteren Angestellten erklärt hatten, wonach sie suchten, deutete dieser auf einige ausgewählte Schränke. Auf ihren polierten Holzfronten prangten in goldenen Lettern die Buchstaben »MOU«. »Ich würde Ihnen raten, dort anzufangen.«
Leonora ging zielstrebig auf die Schränke zu; Tristan folgte ihr langsam, während er sich über den Inhalt der Schubladen Gedanken machte, über die zahllosen Dokumente, die sich in jeder einzelnen von ihnen befinden mussten …
Seine Befürchtungen bestätigten sich, als Leonora die erste Schublade aufzog. »Großer Gott!« Sie starrte die Unmengen von Papier an, die man in diese eine Schublade hineingesteckt hatte. »Das kann ja Tage dauern!«
Er öffnete die Schublade neben ihr. »Wie gut, dass Sie mich unbedingt begleiten wollten.«
Mit einem unterdrückten Geräusch, das verdächtig nach einem Schnauben klang, machte sie sich daran, die Namen zu überprüfen. Es war weitaus weniger schlimm, als sie zuerst befürchtet hatten; innerhalb kurzer Zeit hatten sie den ersten Mountford gefunden, wenn auch die ungeheure Anzahl gebürtiger Engländer mit diesem Namen überaus deprimierend war. Unbeirrt suchten sie weiter und stießen schließlich auf einen Montgomery Mountford.
»Aber«, Leonora starrte die Geburtsurkunde an, »demnach müsste der Mann dreiundsiebzig sein!«
Sie runzelte die Stirn, dann schob sie das Dokument zurück in die Schublade und untersuchte das nächste und das übernächste. Und das überübernächste.
»Es gibt insgesamt sechs«, murmelte sie; ihr resignierter Tonfall bestätigte seine Vorahnung. »Aber keiner von ihnen passt. Die ersten fünf sind zu alt, und der letzte hier ist dreizehn.«
Er legte flüchtig die Hand auf ihre Schulter. »Werfen Sie auch einen gründlichen Blick in die Nachbarschubladen, für den Fall, dass etwas falsch abgelegt wurde. Ich werde derweil noch einmal den Angestellten fragen.«
Während Leonora nachdenklichen Blicks weitere Dokumente durchblätterte, ging er hinüber zum Schreibtisch des leitenden Aufsehers. Nachdem einige leise Worte gewechselt waren, schickte dieser einen seiner Assistenten eilenden Schrittes davon. Drei Minuten später erschien ein gediegener Herr in der nüchternen Kluft eines Regierungsbeamten.
Tristan erklärte ihm, wonach sie suchten.
Mr Crosby verneigte sich. »Verstehe, Mylord. Ich bezweifle allerdings, dass er zu denjenigen Namen gehört, die geschützt sind. Wenn Sie erlauben, werde ich dies kurz überprüfen.«
Tristan machte eine bestätigende Handbewegung, und Crosby entfernte sich.
Leonora schob entnervt die Schubladen zu. Sie trat an Tristans Seite, und gemeinsam warteten sie darauf, dass Crosby zurückkehrte.
Er verneigte sich vor Leonora, dann blickte er Tristan an. »Es ist wohl so, wie Sie bereits vermutet haben, Mylord. Entweder es fehlt ein Dokument - was ich für höchst unwahrscheinlich halte - oder es gibt gar keinen Montgomery Mountford im Alter des Mannes, den sie suchen.«
Tristan bedankte sich und führte Leonora hinaus. Auf der Eingangstreppe blieben sie stehen, und Leonora drehte sich zu ihm um.
Ihre Blicke trafen sich. »Warum sollte er einen falschen Namen annehmen?«
»Weil«, er zog sich seine Kutschhandschuhe über und spürte wie sich seine Gesichtszüge unwillkürlich verhärteten, »dieser Mann nichts Gutes im Schilde führt.« Er griff erneut ihren Ellenbogen und schob sie vor sich die Treppe hinunter. »Kommen Sie, wir werden einen kleinen Ausflug machen.«
 
Er fuhr mit ihr in Richtung Surrey, zu seinem Landsitz Mallingham Manor, seinem neuen Zuhause. Er folgte einem spontanen Impuls in der Hoffnung, sie dadurch abzulenken, was seines Erachtens dringend nötig war. Ein Verbrecher mit falscher Identität verhieß beileibe nichts Gutes.
Von der Strand aus lenkte er die Kutsche in Richtung Süden und überquerte den Fluss, sodass Leonora den Richtungswechsel sofort bemerkte. Als er ihr jedoch erklärte, er müsse rasch einige Angelegenheiten auf seinem Anwesen erledigen, damit er danach in die Stadt zurückkehren und sich vollständig dem mysteriösen Montgomery Mountford widmen könne, nahm sie die Erklärung bereitwillig hin.
Die Straße war in hervorragendem Zustand und führte sie ohne Umwege ans Ziel; die Schimmel waren erholt und drängten darauf, sich bewegen zu können. Noch vor dem Mittagessen steuerte Tristan den Zweispänner durch die eleganten schmiedeeisernen Tore hindurch auf sein Anwesen. Während er sein Gespann die Zufahrt hinauflenkte, bemerkte er, wie Leonoras Blick wie gebannt auf das große Herrenhaus gerichtet war, das von gepflegten Rasenflächen und geometrischen Parterreanlagen umrahmt wurde. Die kiesbedeckte Auffahrt endete in einem kreisförmigen Platz unmittelbar vor dem imposanten Eingangsportal.
Er folgte ihrem Blick; höchstwahrscheinlich sah er das Haus mit ähnlichen Augen wie sie, denn er musste sich selbst noch an den Gedanken gewöhnen, dass dies nun sein Haus - sein Zuhause - war. Das Anwesen existierte bereits seit Jahrhunderten, doch sein Großonkel hatte es mit großem Eifer verändern und renovieren lassen. Was sie nun vor sich sahen, war ein Herrenhaus im palladianischen Stil aus hellem Sandstein mit Dreiecksgiebeln über jedem der hohen Fenster und Zierzinnen oberhalb der lang gestreckten Fassade.
Die Schimmel trabten locker in den Hof. Leonora atmete hörbar aus. »Es ist wunderschön. So elegant.«
Er nickte und musste sich eingestehen, dass sie vollkommen recht hatte, dass sein Onkel durchaus einmal etwas richtig gemacht hatte.
Ein Stalljunge kam herbeigerannt, als Tristan gerade einen Fuß auf den Boden setzte. Er übergab die Zügel seinem mitgefahrenen Stallburschen und half Leonora aus der Kutsche, um sie die Treppe zum Eingang hinaufzuführen.
Clitheroe, der ehemalige Butler seines Großonkels und nun sein eigener, öffnete die Tür, noch bevor sie sie erreicht hatten, und lächelte sie in seiner gewohnt herzlichen Art an. »Willkommen, Mylord.« Sein Lächeln galt auch Leonora.
»Clitheroe, ich möchte Ihnen Miss Carling vorstellen. Wir werden hier zu Mittag essen; danach werde ich mich um einige geschäftliche Dinge kümmern, bevor wir in die Stadt zurückfahren.«
»Sehr wohl, Mylord. Soll ich den Damen des Hauses Bescheid geben?«
Während Tristan seinen Paletot ablegte, unterdrückte er ein zynisches Grinsen. »Nicht nötig. Ich werde Miss Carling selbst zu ihnen führen und sie einander bekannt machen. Ich nehme an, sie befinden sich zurzeit im Frühstückssalon?«
»Jawohl, Mylord.«
Er nahm Leonora die Pelisse von den Schultern und reichte sie Clitheroe. Er legte ihre Hand auf seinen Arm und deutete mit der anderen auf das gegenüberliegende Ende der Eingangshalle. »Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass einige ältere Damen - enge und entferntere Verwandte - hier bei mir leben?«
Sie sah ihn an. »Das haben Sie durchaus. Sind es ebenfalls Cousinen von Ihnen?«
»Unter anderem, aber die herausragendsten Persönlichkeiten unter ihnen sind eindeutig meine beiden Großtanten Hermine und Hortensia. Zu dieser Tageszeit halten sie sich stets im Frühstückssalon auf.« Er begegnete ihrem Blick. »Zum Tratschen.«
Er schwieg und öffnete schwungvoll eine Tür. Wie um seine Behauptung zu untermauern, erstarb das lebhafte weibliche Geplapper, das kurzzeitig zu ihnen drang, auf der Stelle. Während er Leonora in den lang gestreckten Raum hineinführte, der sein großzügiges Licht von einer langen Fensterfront erhielt, die einen malerischen Blick auf ausgedehnte Rasenflächen und einen entfernten See freigab, war Leonora den unverhohlenen Blicken der acht Damen ausgesetzt - sie alle platzten geradezu vor Neugier.
Doch ihre Blicke waren keineswegs missbilligend.
Dies wurde spätestens deutlich, als Trentham - wie immer mit tadelloser Höflichkeit - Leonora zunächst seiner ältesten Großtante, Lady Hermine Wemyss, vorstellte. Lady Hermine strahlte sie freundlich an und hieß sie aufrichtig willkommen; Leonora knickste und erwiderte ihren Gruß.
In gleicher Weise wurde Leonora nach und nach allen Damen bekanntgemacht, deren runzlige Gesichter allesamt in verschiedener Ausprägung strahlten. Ebenso wie die sechs Damen in Trenthams Londoner Stadthaus waren die Damen hier aufrichtig entzückt, Leonoras Bekanntschaft zu machen. Ihr erster Verdacht, dass die alten Damen sich selten in gesellschaftliche Kreise wagten und daher jeden Besuch als willkommene Abwechslung sahen, wurde rasch zerschlagen; während sie sich in einen Lehnstuhl sinken ließ, den Trentham ihr hingeschoben hatte, stürzte sich Lady Hortensia in einen ausführlichen Bericht über die jüngsten gesellschaftlichen Zusammenkünfte und den allgemeinen Trubel rund um das örtliche Kirchenfest.
»Wissen Sie, hier ist immer etwas los«, gestand Hortensia. »Es wird nie langweilig.«
Die anderen nickten zustimmend und ergänzten ihre Ausführungen mit allerlei Informationen über die hiesigen Sehenswürdigkeiten und die besonderen Vorzüge dieses Anwesens sowie des nahe gelegenen Ortes; dann forderten sie Leonora freundlich auf, etwas von sich zu erzählen.
Selbstsicher stand sie ihnen Rede und Antwort, erzählte von Humphrey und Jeremy und deren Betätigungen sowie von Cedrics Garten - eben die Dinge, die ältere Damen besonders interessierten.
Trentham war neben ihrem Stuhl stehen geblieben und hatte seine Hand auf dessen Rückenlehne gelegt; er trat nun einen Schritt zurück. »Wenn die Damen mich für eine Weile entschuldigen würden; wir sehen uns dann beim Mittagessen.«
Alle nickten und strahlten ihn an; Leonora sah zu ihm auf und suchte seinen Blick. Er nickte ihr zu, dann verlangte Lady Hermine seine Aufmerksamkeit; er beugte sich zu seiner Großtante hinunter. Leonora konnte nicht verstehen, was sie sagte. Trentham richtete sich mit einem Nicken auf, dann verließ er den Salon.
»Meine liebe Miss Carling, erzählen Sie uns doch …«
Leonora wandte sich wieder Hortensia zu.
Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht im Stich gelassen gefühlt, doch in ihrer gegenwärtigen Gesellschaft war dies unmöglich. Die alten Damen gaben sich unverkennbar alle Mühe, sie angemessen zu unterhalten; Leonora konnte gar nicht anders, als hierauf einzugehen. Sie war sogar regelrecht fasziniert von den unzähligen kleinen Seitenbemerkungen über Trentham und dessen Vorgänger, Großonkel Mortimer. Sie konnte sich einigermaßen zusammenreimen, wie Trentham zu seinem Erbe gelangt war, und Hermine erzählte ihr von der verbitterten Haltung ihres verstorbenen Bruders und dessen Entfremdung von der Trentham’schen Seite der Familie.
»Er hat immer behauptet, sie seien allesamt Prasser.« Hermine schnaubte verächtlich. »Völliger Unsinn. Er war schlichtweg neidisch, dass sie in der Weltgeschichte herumreisen konnten, während er das Familienanwesen hüten musste.«
Hortensia nickte weise. »Und Tristans Verhalten in den vergangenen Monaten hat deutlich bewiesen, wie sehr Mortimer sich mit seinem Urteil geirrt hat.« Sie sah Leonora an. »Tristan ist ein überaus verlässlicher Mann. Er würde seine Pflichten niemals vernachlässigen, welcher Art sie auch immer sein mögen.«
Diese Feststellung wurde durch allseitiges Nicken bekräftigt. Leonora hatte den Eindruck, dass mehr dahintersteckte, als die Worte oberflächlich verrieten. Doch bevor ihr eine geeignete Bemerkung einfiel, mit der sie auf taktvolle Weise hätte nachhaken können, wurde sie durch einen äußerst anschaulichen Bericht über den örtlichen Pfarrer und dessen Haushalt vom Thema abgebracht.
Ein Teil ihrer selbst fand durchaus Gefallen an diesem harmlosen Klatsch und Tratsch vom Lande, genoss diesen geradezu. Als schließlich der Butler eintrat, um ihnen mitzuteilen, dass angerichtet war, erschrak sie fast innerlich, dass sie dieses unerwartete Zusammentreffen derart genossen hatte.
Wenn die alten Damen auch überaus freundlich und liebenswürdig gewesen waren, so waren es doch vor allem die Themen der Unterhaltung gewesen, die sie so besonders fasziniert hatten - die kleinen Anekdoten über Trentham und die diversen Festivitäten und Ereignisse hier auf dem Land.
Ihr war plötzlich bewusst geworden, wie sehr sie das Landleben vermisste.
Trentham erwartete sie bereits im Speisezimmer; er zog den Stuhl an seiner Seite für sie zurück.
Das Essen war hervorragend; die Unterhaltung kam nie zum Stillstand und war doch keinen Augenblick lang erzwungen. Trotz der ungewöhnlichen Zusammensetzung des Haushalts schienen dessen Mitglieder gelöst und zufrieden.
Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, suchte Tristan Leonoras Blick, dann schob er seinen Stuhl zurück und sah in die Runde.
»Wenn ihr uns nun entschuldigen würdet, ich werde noch rasch ein paar Dinge erledigen, und dann müssen wir zurück in die Stadt.«
»Aber natürlich.«
»Selbstverständlich - es war uns ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miss Carling.«
»Sagen Sie ihm, er soll Sie bei Gelegenheit mal wieder mitbringen, Liebes.«
Er erhob sich und reichte Leonora die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sich seiner eigenen Ungeduld überaus bewusst, wartete Tristan widerwillig ab, bis sie sich von jeder seiner alten Damen verabschiedet hatte, und führte sie dann aus dem Zimmer hinaus in seinen privaten Flügel des Hauses.
Man war so übereingekommen, dass die älteren Damen Tristans Privatbereich nie betraten; Leonora durch den Türbogen hindurch in den langen Korridor zu führen, wirkte sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund beruhigend auf ihn aus.
Er hatte Leonora im Kreise der alten Damen zurückgelassen - wohl wissend, dass sie sie gut unterhalten würden - in der Hoffnung, er würde sich seinen geschäftlichen Pflichten besser und zügiger widmen können, wenn Leonora sich nicht in seiner unmittelbaren Nähe befand. Er hatte dabei jedoch außer Acht gelassen, dass sein völlig irrsinniger Zwang sich nicht allein damit zufriedengeben wollte zu wissen, wo sie sich gerade befand, sondern zudem Auskunft darüber verlangte, wie es ihr gerade erging.
Er öffnete eine Tür und führte sie in sein Arbeitszimmer. »Neben Sie für ein paar Minuten Platz. Ich muss mich noch rasch um ein, zwei Dinge kümmern, dann können wir uns auf den Weg machen.«
Sie nickte und setzte sich in einen Sessel, der vorm Kamin stand. Er beobachtete, wie sie es sich bequem machte und das Feuer ansah. Sein Blick verharrte einen Moment bei ihr, dann wandte er sich um und ging zu seinem Schreibtisch.
Nun, da er sie im selben Zimmer wusste - sicher, zufrieden und still -, konnte er sich weitaus besser konzentrieren. Er bewilligte rasch einige Ausgaben, dann überprüfte er diverse Berichte. Selbst als sie aufstand, um zum Fenster hinüberzugehen und das Panorama von Rasen und Bäumen zu betrachten, blickte er nur flüchtig auf, um zu sehen, was sie da tat, und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Eine Viertelstunde später hatte er seinen Schreibtisch so weit geleert, dass er die nächsten Wochen in London verbleiben und sich voll und ganz ihrem mysteriösen Einbrecher widmen konnte. Und im Anschluss ihr selbst - sollten sich die Dinge weiter in diese Richtung entwickeln.
Er schob seinen Stuhl zurück und blickte auf. Sie stand an den Fensterrahmen gelehnt und beobachtete ihn.
Ihre veilchenblauen Augen sahen ihn unverwandt an. »Sie kommen mir gar nicht vor wie ein Gesellschaftslöwe.«
Er hielt ihrem Blick ebenso beharrlich stand. »Vermutlich, weil ich keiner bin.«
»Ich dachte jeder Earl - insbesondere jeder unverheiratete Earl - sei das schon per definitionem
Er zog eine Augenbraue hoch, während er aufstand. »Nur dass dieser Earl hier nicht auf seinen Titel vorbereitet war.« Er ging auf sie zu. »Ich habe nie damit gerechnet.«
Sie zog ebenfalls eine Braue hoch und blickte ihn forschend an. »Und wie ist das mit dem unverheiratet
Er sah auf sie herab und wartete einen Moment, ehe er antwortete. »Wie Sie selbst bemerkten, erlangt dieses Adjektiv erst in Zusammenhang mit dem Titel ernsthafte Bedeutung.«
Sie studierte ihn einen Augenblick lang, dann wandte sie sich ab.
Er folgte ihrem Blick, der über die friedliche Szenerie vor dem Fenster schweifte. Dann sah er sie erneut an. »Wir könnten noch einen Spaziergang machen, bevor wir aufbrechen.«
Sie sah ihn flüchtig an, dann kehrte ihr Blick zurück zu der sanft hügeligen Landschaft. »Ich habe gerade daran gedacht, wie sehr mir die ruhigen Freuden des Landlebens fehlen. Ein Spaziergang wäre wunderbar.«
Er führte sie durch den angrenzenden Salon hinaus auf eine abgeschiedene Terrasse. Ein paar Stufen führten hinunter auf den Rasen, der trotz des harten Winters immer noch grün war. Sie schlenderten gemächlich vorwärts; er sah sie an und fragte: »Hätten Sie gerne Ihre Pelisse?«
Sie blickte zu ihm auf, lächelte und schüttelte den Kopf. »In der Sonne ist es überhaupt nicht kalt, obwohl sie so schwach ist.«
Das stattliche Haus bot ihnen Schutz vor dem Wind. Er warf einen kurzen Blick zurück, dann sah er wieder nach vorn. Und bemerkte, dass sie ihn dabei beobachtete.
»Es muss ja ein regelrechter Schock gewesen sein, als Sie erfahren haben, dass Sie all das hier erben würden …«, ihre ausschweifende Armbewegung umfasste weit mehr als nur die vier Wände und das Dach. »Zumal Sie nicht damit gerechnet hatten.«
»Das war es in der Tat.«
»Aber Sie scheinen sich gut eingelebt zu haben. Die Damen schienen mir allesamt höchst zufrieden.«
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Oh, das sind sie ganz gewiss.« Weil er Leonora hergebracht hatte.
Er sah geradeaus in Richtung See. Ihr Blick folgte seinem. Sie gingen hinüber und schlenderten am Ufer entlang. Leonora entdeckte eine Entenfamilie. Sie blieb stehen und hielt sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können.
Er blieb einige Schritte entfernt von ihr stehen, beobachtete sie, sog das Bild in sich auf, wie sie im Sonnenschein an seinem See stand, und verspürte eine wärmende Zufriedenheit, die er bislang nicht gekannt hatte. Es wäre völlig sinnlos, sich einzureden, dass er sie aus irgendeinem anderen Grund hierher gebracht hatte als dem, sie hinter seinen schützenden Mauern in Sicherheit zu wissen.
Sie hier in seiner Nähe zu haben, hier mit ihr zusammen zu sein, war, als hätte er ein neues Teil zu einem gerade erst begonnenen Puzzle gefunden.
Das Puzzleteil passte.
Es passte geradezu beunruhigend gut.
Jegliche Art von Untätigkeit war ihm normalerweise verhasst, doch müßig mit ihr hier entlangzuspazieren, versetzte ihn in tiefe Zufriedenheit. Als würde ihre Gegenwart ihm erlauben, einfach nur er selbst zu sein; als wäre sie seine alleinige Daseinsberechtigung, zumindest in diesem Augenblick. Keine andere Frau hatte ihm je dieses Gefühl gegeben. Diese unerwartete Erkenntnis steigerte nur noch seinen Drang, die Gefahr, die ihr drohte, zu beseitigen.
Als hätte Leonora bemerkt, wie seine Stimmung sich in diesem Moment verfinsterte, blickte sie unvermittelt zu ihm auf und studierte aufmerksam seine Züge. Er setzte seine gewohnte Maske auf und lächelte sie unbeschwert an.
Sie runzelte die Stirn.
Doch bevor sie etwas sagen konnte, nahm er ihren Arm. »Lassen Sie uns hier entlanggehen.«
Obwohl der Rosengarten in tiefem Winterschlaf lag, bot er eine wirkungsvolle Ablenkung. Danach führte er sie weiter durch die ausgedehnten Strauchrabatten, die sie in einem weiten Bogen zurück zum Haus führten. Ein kleiner Marmortempel im streng klassizistischen Stil bildete das Zentrum der Rabatten.
Leonora hatte ganz vergessen, wie wundervoll es sein konnte, durch einen großen, kunstvoll angelegten und gepflegten Park zu schlendern. In ihrem Londoner Garten fehlten ihr, Cedrics fantastischer Gartenkunst zum Trotz, die beruhigenden Ausblicke auf sanft gewellte Hügellandschaften; die großen Stadtparks wiederum hatten nur ein äußerst begrenztes Panorama und waren zudem viel zu überfüllt. Alles andere als besinnlich. Während sie hier an Trenthams Seite spazieren ging, erfüllte sie eine große Ruhe, die wie eine Droge all ihre Glieder erreichte, fast so, als würde ein Quell, der schon fast ausgetrocknet war, sich wieder neu auffüllen.
Der kleine Tempel, auf den alle Wege zuliefen, war einfach perfekt. Sie hob ihre Röcke leicht an und trat die Stufen hinauf. Im Innern befand sich ein fein gearbeitetes Bodenmosaik aus schwarzen, grauen und weißen Steinen. Die weißen ionischen Säulen, die das kleine Kuppelgewölbe trugen, waren grau geädert.
Sie drehte sich um und sah zurück zum Haus, das von hohen Hecken umrahmt wurde. Die Perspektive war absolut meisterlich. »Einfach wunderbar.« Sie lächelte zu Trentham auf, der neben ihr stehen geblieben war. »Ungeachtet aller Schwierigkeiten kann es Ihnen doch gewiss nicht leidtun, all das hier geerbt zu haben.«
Sie breitete ihre Arme aus, ihre Hände, bezog alles - die Gärten, den See, die gesamte Landschaft - in ihre Aussage mit ein.
Er kreuzte ihren Blick, erwiderte ihn eine ganze Weile, ehe er leise antwortete: »Nein, es tut mir nicht leid.«
Sie bemerkte seinen Tonfall, ahnte einen tieferen Sinn hinter den Worten. Sie runzelte fragend die Stirn.
Seine Lippen, die bisher eine ernste Linie geformt hatten - ebenso ernst wie sein Gesichtsausdruck -, verzogen sich zu einem ihrer Ansicht nach leicht ironischen Lächeln. Er umfasste ihr Handgelenk, dann ließ er seine Hand nach unten wandern und umschloss die ihre.
Langsam hob er ihr Handgelenk an seine Lippen. Während seines Kusses hielt er ihren Blick gebannt; seine Lippen verweilten, während ihr Puls einen Satz machte und heftig zu rasen begann.
Als wäre dies das Signal, auf das er nur gewartet hatte, umfasste er sie und zog sie an sich heran. Sie ließ es bereitwillig geschehen und begegnete seiner Umarmung - nicht nur neugierig, sondern unverhüllt begierig.
Er neigte den Kopf zu ihr herab, und ihre Augen schlossen sich; sie hob ihm ihre Lippen entgegen, er empfing sie. Schob sie auseinander, drängte hinein, nahm ihren Mund und ihre Sinne vollkommen in Beschlag.
Sie gab ihm nach, ohne dabei die geringsten Bedenken zu hegen. Sie war sich absolut sicher, ihn richtig einzuschätzen: Er würde ihr niemals schaden. Wo seine berauschenden Küsse sie jedoch hinführten - was als Nächstes kommen würde und wann -, darüber war sie sich völlig im Unklaren; sie hatte keinerlei Erfahrung, auf die sie hätte zurückgreifen können.
Sie war eben noch nie verführt worden.
Dass er genau dieses Ziel verfolgte, hatte sie längst akzeptiert; es konnte keinen anderen Grund für sein Verhalten geben. Er hatte sie nach ihrem Alter gefragt und konstatiert, dass sie alt genug war. Mit fünfundzwanzig war sie in die Ränge der alten Jungfern aufgestiegen; nun, mit sechsundzwanzig, war sie - in seinen Augen gewiss nicht weniger als in ihren - die Herrin über ihr eigenes Leben. Eine alte Jungfer, die tun und lassen konnte, was sie wollte; ihre Handlungen wirkten sich auf niemanden nachteilig aus, sie gingen niemanden etwas an.
Was nicht bedeuten sollte, dass sie all seinen Wünschen zwangsläufig nachgeben würde. Sie würde selbst entscheiden, ob und wie viel weiter sie gehen würde, wenn es erst einmal so weit war.
Heute mit Sicherheit nicht. Nicht in einem offenen Tempel, der vom Haus aus zu sehen war. In der sicheren Überzeugung, nicht weiter nachdenken zu müssen, ließ sie sich tiefer in seine Arme sinken und erwiderte seinen Kuss.
Ihre Zunge duellierte sich mit seiner; sie ließ sich vom Geben und Nehmen treiben, spürte die Hitze zwischen ihnen aufwallen, genoss die unbeschreibliche Anspannung, die knisternde Erregung, die ihren Körper vollständig erfasste und ihn mit prickelnder Vorfreude erfüllte.
Ihre Glieder spannten sich; die Hitze wurde intensiver, staute sich auf.
Mutig schob sie ihre Hände über seine Schultern hinauf in den Nacken. Sie spreizte ihre Finger und vergrub sie in seinen dunklen Locken. Dicht und schwer glitten sie ihr durch die Finger, während seine Zunge tief in ihren Mund drang.
Er legte seinen Kopf schräg, zog sie näher an sich heran, bis ihre Brust hart gegen seinen Oberkörper gepresst war; ihre Oberschenkel berührten seine, ihre Röcke verhedderten sich über seinen Schuhen. Er hielt sie fest umschlungen, hob sie mühelos an; seine Stärke fesselte sie. Ihr Kuss wurde immer intimer, sodass ihre Münder vollständig miteinander verschmolzen. Sie hatte das Gefühl, sie müsste - sie sollte - schockiert sein, doch stattdessen verspürte sie nur diese ungeheure Hitze, diese kühne Selbstsicherheit - ihre wie seine - und ein schwindelerregendes Verlangen.
Dieses unstillbare Verlangen entsprang ihnen gemeinsam - nicht allein ihm und nicht allein ihr; es war etwas, was zwischen ihnen beiden wuchs.
Was sie beide verlockte.
Verführte.
Was Tristans Bedürfnisse schürte.
Doch es waren ihre Bedürfnisse, auf die er sich in diesem Augenblick konzentrierte, die er beobachtete, einschätzte, befriedigte, die ihn schließlich dazu bewegten, seine Umarmung zu lockern und sie nur noch mit einem Arm festzuhalten, während seine freie Hand zu ihrem Gesicht hinaufwanderte. Um ihre Wange, ihren Kiefer nachzuzeichnen, ihr Gesicht zu umfassen, während er ihren Mund beharrlich plünderte. Doch keinen Moment lang versuchte er, sie zu drängen; ihm war bewusst, dass er sie auf diese Weise nicht gewinnen konnte.
Sie zu verführen, war eine instinktive Handlung, der er sich nicht länger widersetzte. Er löste seine Finger von ihrem zarten Kiefer und ließ seine Hand nach unten gleiten - reizte ihre Sinne, bis ihre Lippen noch fordernder wurden; liebkoste sie zärtlich, sodass ihre Fantasie geweckt, ihr Verlangen gesteigert, doch keineswegs gesättigt wurde.
Ihre Brüste schwollen unter seiner leicht umspielenden Berührung an; ihn drängte es, mehr zu fordern, sich mehr zu nehmen, aber er hielt sich zurück. Seine Trumpfkarten hießen Strategie und Taktik; ob hier oder woanders - er spielte, um zu gewinnen.
Als ihre Finger sich in seinen Hinterkopf krallten, ließ er zu, dass seine gesamte Handfläche sich über ihrer Brust schloss, sie liebkoste - immer noch leicht, eher anregend als befriedigend. Er spürte die plötzliche Reaktion ihrer Sinne, ihre unwillkürliche Anspannung. Spürte, wie ihre Brustwarze unter seiner Berührung zu einer harten Knospe wurde.
Er musste tief einatmen, hielt für einen Moment die Luft an, bevor er sich ganz allmählich aus dem Kuss zurückzog. Er ließ seinen Muskeln Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen, gab Leonora Zeit, aus dem Kuss zu erwachen.
Doch er nahm seine Hand nicht von ihrer Brust.
Während er den Kuss vollständig unterbrach und den Kopf hob, fuhr seine Hand weiter über die sanfte Wölbung, umspielten seine Finger weiterhin ihre Brustwarze. Ihre Lider zuckten, dann öffnete sie ihre Augen und sah ihn an.
Ihre Lippen waren leicht geschwollen, ihre Augen geweitet.
Er sah nach unten.
Ihr Blick folgte ihm.
Ihr Atem stockte.
Er zählte die Sekunden, bis sie wieder Luft holte, und wusste, dass ihr schwindelig sein musste. Doch sie tat keinen Schritt zurück.
Er war es, der schließlich seine Position änderte und seine liebkosende Hand zu ihrem Oberarm gleiten ließ, ihn leicht drückte, dann weiter nach unten glitt, um ihre Hand zu umfassen. Er hob ihre Finger an seine Lippen, begegnete ihrem Blick, als sie, leicht errötet, wieder zu ihm aufsah.
Er lächelte, ohne ihr den wahren Grund dieser Geste preiszugeben. »Kommen Sie.« Er legte ihre Hand auf seinen Arm und führte sie in Richtung Haus. »Wir müssen uns auf den Rückweg machen.«
 
Die Rückfahrt war ein wahrer Segen. Während Trentham sich auf seine Tiere konzentrierte, um das Gespann sicher durch den immer dichter werdenden Londoner Stadtverkehr zu lenken, nutzte Leonora die Stunde, um ihren Verstand wiederzufinden. Und um ihre übliche Selbstsicherheit zurückzuerlangen - zurückzuerobern.
Sie warf ihm zahlreiche Blicke zu, während sie sich fragte, was er wohl gerade dachte; doch trotz einiger geheimnisvoller Blicke seinerseits - hinter denen sie Belustigung sowie ungebrochene Entschlossenheit zu lesen glaubte - sagte er kein Wort. Unabhängig von mutmaßlichen anderen Gründen verbot allein die Tatsache, dass sein Stallbursche hinter ihnen auf dem Wagen mitfuhr, jedes private Wort.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie derlei überhaupt hören wollte. Erklärende Worte. Nicht, dass er irgendwelche Anstalten gemacht hätte, ihr eine Erklärung zu liefern. Das war dem Spiel offenbar nicht dienlich.
Oder der zunehmenden Euphorie, dem Enthusiasmus. Dem wachsenden Verlangen.
Mit Letzterem hatte sie keineswegs gerechnet, aber es war nicht zu leugnen. Mit einem Mal verstand sie, was sie nie zuvor hatte verstehen können, warum Frauen - sogar überaus kluge Frauen - den fleischlichen Forderungen eines Mannes so bereitwillig nachgaben.
Nicht, dass Trentham bislang echte Forderungen gestellt hätte. Noch nicht. Das war ja gerade der Punkt.
Wenn sie den Zeitpunkt und die Art seiner Forderungen gekannt hätte, hätte sie sich eine geeignete Taktik zurechtlegen können.
Doch wie die Dinge standen, blieb ihr nichts anderes übrig, als … zu spekulieren.
Und genau damit war sie beschäftigt, als der Zweispänner seine Fahrt verlangsamte. Sie sah sich blinzelnd um und stellte fest, dass sie bereits angekommen waren. Trentham ließ das Gespann vor seinem Haus halten. Er übergab die Zügel dem Stallburschen, dann stieg er aus und hob sie von der Kutsche.
Während seine Hände auf ihrer Taille ruhten, sah er sie an.
Sie erwiderte seinen Blick und machte keinerlei Anstalten, sich seinem Griff zu entziehen.
Seine Lippen rührten sich, öffneten sich …
Schritte knirschten ganz in der Nähe im Kies. Beide blickten sich um.
Gasthorpe, der Majordomus, ein gedrungener Mann mit borstigem, grau meliertem Haar, näherte sich ihnen vom Haus her. Als er sie erreicht hatte, verneigte er sich. »Miss Carling.«
Sie hatte Wert darauf gelegt, dem Mann bereits am Tag nach seinem Einzug einen Besuch abzustatten. Sie lächelte und neigte den Kopf.
Er wandte sich Trentham zu. »Mylord, verzeihen Sie die Störung, ich wollte nur sichergehen, dass Sie hereinkommen. Die Tischler haben heute das Mobiliar für die erste Etage geliefert. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einen kurzen Blick darauf werfen und mir sagen könnten, ob alles zu Ihrer Zufriedenheit ist.«
»Selbstverständlich. Ich komme gleich …«
»Eigentlich«, Leonora berührte Trenthams Arm und suchte seinen Blick, »würde ich nur allzu gern sehen, was Sie aus Mr Morrisseys Haus gemacht haben. Wäre es Ihnen recht, wenn ich mit reinkomme, während Sie die Möbel überprüfen?« Sie lächelte. »Möglicherweise kann ich Ihnen sogar helfen - der Blick einer Frau betrachtet derlei Dinge anders als der eines Mannes.«
Trentham sah sie an, dann wanderte sein Blick zu Gasthorpe. »Es ist schon spät. Ihr Onkel und ihr Bruder …«
»Werden nicht einmal bemerkt haben, dass ich weg war.« Ihre Neugier war nicht zu bremsen; ihre Augen waren weit geöffnet und fixierten Trenthams Gesicht.
Seine Mundwinkel zuckten flüchtig, wurden dann jedoch wieder unbeweglich; sein Blick kehrte zu Gasthorpe zurück. »Wenn Sie darauf bestehen.« Sie ergriff seinen Arm und ließ sich von ihm zum Weg führen. »Allerdings ist bis jetzt nur der erste Stock möbliert.«
Sie fragte sich, woher diese plötzliche Zurückhaltung rührte. Schließlich schob sie es darauf, dass er als Gentleman wohl unerwartet in die Verlegenheit gekommen war, ein Haus ausstatten lassen zu müssen. Vermutlich fühlte er sich in dieser Rolle nicht besonders wohl.
Sie ignorierte seine Zurückhaltung und ging beschwingten Schrittes an seiner Seite den Weg entlang. Gasthorpe war vorausgegangen und hielt ihnen die Tür auf. Sie trat über die Schwelle und blickte sich um. Das letzte Mal hatte sie diesen Flur in nächtlicher Dunkelheit betreten - der Raum war kahl und leer und mit Tüchern verhangen gewesen.
Die Verwandlung hätte vollständiger nicht sein können. Der Flur war überraschend hell und luftig, keineswegs dunkel und erdrückend - eine Stimmung, die sie im Allgemeinen mit Herrenklubs in Verbindung brachte. Allerdings fand sich nicht das kleinste Detail, welches die durch und durch elegante, doch überaus strenge Linie in irgendeiner Weise auflockerte - keine gemusterten Tapeten, nicht einmal Stuckverzierungen. Es wirkte irgendwie kühl, fast trist, da jedes feminine Element fehlte; nichtsdestoweniger konnte sie sich gut vorstellen, dass Männer wie Trentham sich hier gern treffen würden.
Sie würden die mangelnde Zartheit des Ortes gar nicht bemerken.
Trentham bot nicht an, ihr das Erdgeschoss zu zeigen; er deutete stattdessen zum Treppenaufgang. Während sie zusammen hinaufgingen, fielen ihr das makellos glänzende Geländer und der dicke Teppich ins Auge. Geld war offenbar kein Kriterium gewesen.
Im ersten Stock ging Trentham an ihr vorbei und führte sie in das zur Frontseite hin gelegene Zimmer. In der Mitte des Raumes befand sich ein langer Tisch aus Mahagoni; acht mit ockerfarbenem Samt bezogene passende Stühle standen um ihn herum. Vor der einen Wand stand eine Anrichte, ihr gegenüber befand sich eine lang gestreckte Kommode.
Tristan sah sich aufmerksam um und warf einen kritischen Blick auf ihr künftiges Versammlungszimmer. Alles war ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatten; er kreuzte Gasthorpes Blick und nickte ihm bestätigend zu. Dann bedeutete er Leonora, den Gang hinunter in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.
Bei einem kleinen Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Schubladenschrank und zwei Stühlen genügte ein flüchtiger Blick. Sie gingen weiter, um das rückwärtig gelegene Zimmer zu begutachten - die Bibliothek.
Der Händler, bei dem sie das Mobiliar bestellt hatten, Mr Meecham, beaufsichtigte gerade den Einbau eines der hohen Bücherregale. Er blickte kurz auf, wandte seine gesamte Aufmerksamkeit jedoch umgehend wieder seinen beiden Gehilfen zu, um sie zuerst in die eine, dann in die andere Richtung zu winken, bis sie das schwere Regal schließlich zu seiner vollsten Zufriedenheit positioniert hatten. Sie setzten es mit einem hörbaren Schnauben ab.
Meecham kam mit breitem Lächeln auf Tristan zu. »Nun, Mylord.« Er verneigte sich, dann sah er sich mit offenkundiger Zufriedenheit um. »Ich möchte behaupten, Sie und Ihre Freunde werden sich hier ausgesprochen wohlfühlen.«
Tristan hatte keinerlei Anlass, dem zu widersprechen; der Raum wirkte einladend, gepflegt und nicht zu überfüllt, obgleich zahlreiche bequeme Sessel zum Verweilen einluden und mehrere Beistelltische darauf warteten, ein Glas Brandy bereitzuhalten. Es gab zwei Bücherregale, die zurzeit noch leer waren. Auch wenn es sich um eine Bibliothek handelte, war es höchst unwahrscheinlich, dass sie sich hier in Romane vertiefen würden. Mit Sicherheit dagegen in Tageszeitungen, Zeitschriften, Nachrichten- oder auch Sportblätter. Die Bibliothek sollte ihnen in erster Linie als stiller Rückzugsort dienen, an dem - wenn überhaupt - nur im Flüsterton gesprochen werden würde.
Während er sich umschaute, konnte er sie alle bereits hier versammelt sehen - zurückgezogen, ungestört, in kameradschaftliches Schweigen gehüllt. Sein Blick kehrte zurück zu Meecham. Er nickte. »Gute Arbeit.«
»Durchaus, durchaus.« Selbstzufrieden winkte er seine beiden Gehilfen aus dem Raum. »Und nun werden wir Sie allein lassen, damit Sie die ersten Früchte unserer Arbeit in aller Ruhe genießen können. Die übrigen Stücke werde ich im Laufe der nächsten Woche liefern.«
Er verneigte sich tief; Tristan entließ ihn mit einem Kopfnicken.
Gasthorpe begegnete seinem Blick. »Ich werde Mr Meecham zur Tür geleiten.«
»Danke, Gasthorpe … Ich werde Sie hier oben nicht mehr benötigen. Wir finden dann selbst hinaus.«
Mit einem Nicken und einem vielsagenden Blick verließ Gasthorpe den Raum.
Tristan verzog innerlich das Gesicht, aber was konnte er schon tun? Er konnte Leonora schlecht erklären, dass Frauen in diesem Klub eigentlich nicht geduldet wurden, zumindest nicht außerhalb des kleinen Empfangszimmers; dies würde nur zu unangenehmen Fragen führen, die seiner Ansicht nach - und hierin war er sich mit den anderen Klubmitgliedern einig - besser nicht gestellt würden. Sie zu beantworten, wäre viel zu riskant - man sollte sein Schicksal nicht herausfordern.
Es war jedenfalls besser, ihrem Drängen jetzt nachzugeben, solange es im Grunde egal war und niemandem schadete, als ihr erklären zu müssen, was es mit der Gründung des Bastion-Klubs auf sich hatte.
Leonora war allmählich weitergeschlendert. Nachdem sie ihre Finger über die Rückenlehne eines Sessels hatte gleiten lassen und - voll Anerkennung, wie er glaubte - die Einrichtung begutachtet hatte, war sie zum Fenster hinübergegangen und blickte nach unten.
Auf ihren eigenen Garten.
Er wartete ab, doch sie kehrte nicht an seine Seite zurück. Mit einem unhörbaren - leicht resignierten - Seufzer durchquerte er leise den Raum, während seine Schritte von dem dicken türkischen Teppich gedämpft wurden. Er blieb neben dem Fenster stehen und lehnte sich gegen den Rahmen.
Sie wandte den Kopf und sah ihn an.
»Sie haben regelmäßig hier gestanden und mich beobachtet, nicht wahr?«