14
Er hatte darauf bestanden, sie nach Hause zu begleiten. Nur ihre Hände hatten sich berührt, und dafür war sie äußerst dankbar gewesen. Er hatte sie intensiv beobachtet; sein drängendes Bedürfnis, sie zu besitzen, war überdeutlich gewesen, und sie wusste es zu schätzen, dass er sich zurückgehalten hatte. Anscheinend verstand er sehr genau, dass sie Zeit zum Nachdenken brauchte - Zeit, all das, was er ihr gesagt hatte, all das, was sie erfahren hatte, zu verarbeiten.
Und zwar nicht nur, was sie über ihn erfahren hatte, sondern auch über sich selbst.
Liebe. Wenn er tatsächlich darauf angespielt hatte, veränderte sich alles. Er hatte das Wort nicht laut ausgesprochen, doch wenn sie ihm so nah war, konnte sie es spüren. Eine Macht, die sehr viel stärker war als Lust oder Verlangen. Sehr viel erhabener.
Wenn dieses Gefühl, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte, tatsächlich Liebe war, dann gab es womöglich wirklich keinen Weg zurück, weg von ihm und seinem Heiratsantrag. Nur ein Feigling würde sich so leichtfertig aus der Affäre ziehen.
Die Entscheidung lag nun bei ihr. Nicht nur ihr eigenes, sondern auch sein Glück hing davon ab.
Während das Haus um sie herum in tiefe Stille versunken war und lediglich die auf dem Kaminsims tickende Uhr die Sekunden der frühen Morgenstunden zählte, lag Leonora in ihrem Bett und zwang sich, über jene Gründe nachzudenken, die sie bislang vom Heiraten abgehalten hatten.
Es war keineswegs eine abgrundtiefe Abneigung gegen die Ehe - so eindeutig und umfassend waren ihre Vorbehalte nicht. Ein solches Gefühl hätte sie leicht identifizieren, einschätzen und sich vielleicht sogar davon überzeugen können, es beiseitezuschieben oder es zu überwinden.
Ihr eigentliches Problem lag sehr viel tiefer begründet; es war schwer zu fassen, und doch hatte es sie im Laufe der Jahre immer wieder vor einer Heirat zurückschrecken lassen.
Und nicht allein vor einer Heirat.
Während sie im Bett lag und die mondbeschienene Decke anstarrte, lauschte sie auf das verräterisch kratzende Geräusch vor ihrer Schlafzimmertür, das von Henriettas Krallen auf dem polierten Holz herrührte. Die Hündin streckte sich und trottete dann die Treppe hinunter. Das Geräusch erstarb. Und mit ihm alle Ablenkung.
Sie atmete tief ein und zwang sich, genau das zu tun, was sie dringend tun musste, nämlich einen intensiven Blick auf ihre Vergangenheit zu werfen, auf all die Freundschaften und Bekanntschaften, denen sie nie eine Chance gegeben hatte, sich zu entwickeln.
Der einzige Grund, weshalb sie sich überhaupt jemals auf den Gedanken eingelassen hatte, Mark Whorton zu heiraten, war vom ersten Tag an die tiefe Überzeugung gewesen, dass sie ihm niemals wirklich gefühlsmäßig nahestehen würde. Sie hätte ihm nie das sein können, was seine Frau Heather für ihn war: eine abhängige Ehefrau, die ihre Abhängigkeit auch noch liebte. Eine solche Frau hatte Mark immer gebraucht. Und Leonora hätte ihm dieses Bedürfnis niemals erfüllen können; sie war schlicht und einfach nicht dazu fähig.
Sie dankte Gott dafür, dass Mark genug Verstand besessen hatte, um - wenn schon nicht die Wahrheit zu erkennen - die Unstimmigkeiten zwischen ihnen wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln.
Zwischen ihr und Tristan gab es keine solchen Unstimmigkeiten. Dafür gab es da etwas anderes. Womöglich Liebe.
Sie musste sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen; mit der Tatsache, dass sie in diesem Fall - nämlich für Tristan - durchaus eine passende Ehefrau darstellte. Und zwar in jeglicher Hinsicht, unfehlbar, unleugbar. Er hatte dies instinktiv gespürt. Er war es schließlich gewohnt, auf seine Instinkte zu hören und dementsprechend zu handeln.
Er erwartete nicht - und würde niemals erwarten -, dass sie sich von ihm abhängig machte oder sich in irgendeiner Weise veränderte. Er wollte sie so, wie sie war, und erwartete nicht von ihr, dass sie versuchte, seinetwegen irgendeinem irrigen Ideal zu entsprechen. Er spürte intuitiv, dass sie die Richtige für ihn war. Er lief nicht Gefahr, sie auf ein Podest zu stellen; und dennoch hatte er ihr in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass er nicht nur in der Lage, sondern auch mehr als willens war, sie bedingungslos zu verehren.
Und zwar ihr wahres Ich, nicht irgendein Hirngespinst, das ihr äußerlich ähnelte.
Dieser Gedanke - diese Tatsache - war so schmerzlich verlockend, dass sie einfach nicht davon ablassen konnte. Aber sie hinzunehmen, würde bedeuten, zugleich die emotionale Nähe zu akzeptieren, die - bereits jetzt - zwischen ihr und Tristan bestand und die ein wichtiges Bindeglied ihrer Beziehung darstellte.
Sie musste sich selbst bewusst werden, warum sie diese Nähe bei niemand anderem je zugelassen hatte.
Es fiel ihr nicht leicht, sich ihre Vergangenheit derart deutlich vor Augen zu führen, alle Schleier beiseitezuschieben, alle Fassaden niederzureißen, mithilfe derer sie ihren Schmerz verdeckt und entschuldigt hatte. Sie war nicht immer der Mensch gewesen, der sie jetzt war - stark, eigenverantwortlich, unabhängig von anderen. Früher war sie nicht so selbstständig, so selbstsicher gewesen, sie war keineswegs stets allein klargekommen, schon gar nicht in emotionaler Hinsicht, nicht mit allem. Wie jedes andere junge Mädchen hatte sie eine Schulter zum Anlehnen gebraucht und Arme, die sie auffingen, ihr Halt gaben.
Ihre Mutter hatte ihr diesen Halt gegeben, sie war immer für sie da gewesen, immer voller Verständnis. Doch dann waren an einem Sommertag ihre Eltern plötzlich gestorben.
Sie erinnerte sich an jene Kälte, an das eisige Gefühl des Verlusts, das sich über sie gebreitet, sie gefangengenommen hatte. Sie hatte nicht weinen können, hatte nicht gewusst, wie man trauert, wie man Abschied nimmt. Und es hatte niemanden gegeben, der ihr dabei half, der sie verstand.
Ihre Onkel und Tanten, ihre einzigen Familienangehörigen, waren deutlich älter gewesen als ihre Eltern, und keiner von ihnen besaß eigene Kinder. Sie hatten sie getätschelt, ihre Tapferkeit gelobt; doch keiner von ihnen verstand, keiner erahnte die ungeheure Qual, die sie in ihrem Innern verbarg.
Sie hatte sie immer tiefer in sich vergraben; denn genau das schien alle Welt von ihr zu erwarten. Doch von Zeit zu Zeit war die Last zu groß geworden, und sie hatte verzweifelt versucht, jemanden zu finden, der sie verstehen, ihr helfen konnte.
Doch Humphrey hatte sie nie verstanden; das Personal in Kent begriff ebenso wenig, was mit ihr los war.
Niemand hatte ihr geholfen.
Sie hatte gelernt, ihr Bedürfnis zu verstecken. Im Laufe ihrer Mädchenjahre hatte sie nach und nach, Schritt für Schritt gelernt, nicht um Hilfe zu bitten, sich gefühlsmäßig nicht zu öffnen, anderen Menschen nie so weit zu vertrauen, um ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen - und sich von ihnen abhängig zu machen; denn wenn sie niemanden um etwas bat, konnte ihr auch niemand etwas verweigern.
Oder sie abweisen.
Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge klarer.
Tristan würde sie niemals abweisen.
Bei ihm wäre sie sicher.
Sie musste lediglich den Mut aufbringen, jenes emotionale Risiko einzugehen, das sie in den vergangenen fünfzehn Jahren so beharrlich gemieden hatte.
 
Am nächsten Tag kam er zur Mittagszeit vorbei. Sie war gerade damit beschäftigt, im Salon einige Blumen zu arrangieren; er gesellte sich zu ihr.
Sie schenkte ihm zur Begrüßung ein Nicken und bemerkte auf der Stelle den scharfen Blick, mit dem er sie eingehend musterte, ehe er sich etwa einen halben Meter von ihr entfernt gegen den Türrahmen lehnte.
»Geht es dir gut?«
»Ja.« Sie blickte kurz zu ihm auf und wandte sich dann wieder ihren Blumen zu. »Und dir?«
Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich komme gerade von nebenan. Du wirst uns in Zukunft häufiger ein und aus gehen sehen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie viele von euch gibt es denn überhaupt?«
»Sieben.«
»Und sind das alles ehemalige … Gardisten?«
Er zögerte kurz, aber entgegnete dann: »Ja.«
Das machte sie neugierig. Aber bevor sie sich eine weitere Frage überlegen konnte, bewegte er sich und kam näher an sie heran.
Sie war sich seiner Nähe schlagartig bewusst, spürte die flammende Reaktion, die ihren Körper durchzuckte. Sie drehte den Kopf und sah ihn an.
Sie begegnete seinem Blick, verlor sich darin.
Und konnte nicht wieder wegsehen. Konnte nur noch mit klopfendem Herzen und pulsierenden Lippen dastehen, während er sich zu ihr herabbeugte und einen unbefriedigend flüchtigen Kuss auf ihre Lippen setzte.
»Hast du dich schon entschieden?«
Er hauchte die Worte gegen ihre hungrigen Lippen.
»Nein. Ich denke noch darüber nach.«
Er wich ein Stück zurück, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. »Was gibt es da groß nachzudenken?«
Die Frage setzte dem Zauber ein jähes Ende; sie kniff die Augen leicht zusammen, dann wandte sie sich wieder ihren Blumen zu. »Mehr als du ahnst.«
Er lehnte sich wieder gegen den Türrahmen und betrachtete ihr Gesicht. Nach einem kurzen Moment erwiderte er: »Erzähl es mir.«
Sie presste die Lippen aufeinander, wollte gerade den Kopf schütteln, als ihr plötzlich alles wieder durch den Kopf schoss, was sie sich in ihrer langen Nachtwache überlegt hatte. Sie holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Das ist nicht so einfach.«
Er sagte nichts, wartete ab.
Sie musste erneut Atem holen. »Es ist lange her, seit ich das letzte Mal zugelassen habe, dass mich irgendjemand unterstützt. Mir hilft.« Dies war nur eine - wahrscheinlich die offensichtlichste - Folge ihrer inneren Abkapselung.
»Aber du bist doch zu mir gekommen, hast mich um meine Hilfe gebeten, nachdem du den Einbrecher in deinem Garten bemerkt hattest.«
Sie schüttelte den Kopf, die Lippen zusammengepresst. »Nein. Ich bin zu dir gekommen, weil das die einzige Möglichkeit war, irgendetwas zu unternehmen.«
»Du hast mich als Informationsquelle betrachtet?«
Sie nickte. »Natürlich hast du mir geholfen, aber ich habe dich nie darum gebeten. Und du hast deine Hilfe auch nie angeboten, du hast ganz einfach gehandelt. Genauso«, sie hielt kurz inne, als ihr plötzlich einiges klar wurde, »genauso ist es die ganze Zeit zwischen uns abgelaufen. Ich habe dich nie um deine Hilfe gebeten. Du hast sie mir ungefragt gegeben, und du bist viel zu entschlossen, als dass ich sie jemals ernsthaft hätte ablehnen können. Außerdem hatte ich gar keinen Grund, mich dir zu widersetzen, da wir ja schließlich dasselbe Ziel verfolgten …«
Ihre Stimme wurde zittrig, sie unterbrach sich.
Er kam einen Schritt näher und nahm ihre Hand.
Seine Berührung drohte ihre Fassung vollends zu erschüttern, doch dann streichelte er sie zärtlich mit seinem Daumen; eine unbeschreibliche Wärme durchflutete ihren Körper, beruhigte sie, bestärkte sie.
Sie hob den Kopf, atmete stockend ein.
Er kam noch näher an sie heran, legte seine Arme von hinten um ihre Taille und zog sie an sich.
»Hör endlich auf, dagegen anzukämpfen.« Seine Stimme klang dunkel wie die magische Beschwörung eines Zauberers. »Hör auf, gegen mich anzukämpfen.«
Sie seufzte lang und schwer; ihr Körper sank gegen seine warme, felsenfeste Brust. »Ich versuche es ja. Es wird mir auch irgendwann gelingen.« Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah ihn über die Schulter an. Blickte in seine haselnussbraunen Augen. »Aber nicht heute.«
Er gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Wenn auch widerwillig.
Tagsüber verbrachte Leonora die meiste Zeit damit, Cedrics Tagebücher zu entziffern auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen auf eine geheime Formel oder auf seine Arbeit mit Carruther. Sie hatte herausgefunden, dass die Einträge keiner chronologischen Ordnung folgten; unabhängig vom jeweiligen Thema waren seine Notizen willkürlich verstreut - mal in dem einen Buch, mal in dem anderen -, nach einem scheinbar undurchschaubaren Prinzip miteinander verbunden.
Ihre Abende verbrachte sie auf gesellschaftlichen Veranstaltungen, auf Bällen oder sonstigen Festivitäten, unweigerlich an Tristans Seite. Sein eindeutiges und unerschütterliches Interesse war für alle Welt offen ersichtlich; die wenigen mutigen Damen, die einen Versuch wagten, ihn abzulenken, wurden kurz und knapp abgefertigt. Zu knapp, könnte man sagen. Es dauerte nicht lange, ehe man über den Hochzeitstermin spekulierte.
Als sie an diesem Abend durch Lady Courts Ballsaal spazierten, berichtete sie ihm von Cedrics Tagebüchern.
Er runzelte die Stirn. »Mountford kann nur hinter irgendetwas her sein, was mit Cedrics Arbeit in Zusammenhang steht. Es gibt in eurem Hause nichts anderes, was ein derartiges Interesse rechtfertigen würde.«
»Ein derartiges Interesse?« Sie sah ihn an. »Hast du etwas Neues herausgefunden?«
»Mountford, oder wie immer er wirklich heißt, ist noch immer in London, aber er hält sich nie lange an einem Ort auf; ich habe ihn bislang nicht zu fassen bekommen.«
Sie wollte nicht in Mountfords Haut stecken, wenn ihm dies endlich gelänge. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten aus Yorkshire?«
»Ja und nein. Anhand der Anwaltsakten haben wir Carruthers Haupterben ausfindig machen können, einen gewissen Jonathon Martinbury. Er war Anwaltsgehilfe in York. Er hat vor Kurzem seine Ausbildung beendet und hatte vor, nach London zu reisen; vermutlich, um seinen Abschluss zu feiern.« Er sah sie an, blickte ihr in die Augen. »Anscheinend hat er deinen Brief, den ihm der Anwalt aus Harrogate weitergeleitet hat, erhalten und daraufhin seine geplante Reise vorgezogen. Zwei Tage später nahm er die Postkutsche nach London, doch hier in der Stadt habe ich ihn bislang nicht ausfindig machen können.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie eigenartig. Man sollte doch annehmen, dass er sich umgehend bei mir melden würde, wenn er schon auf meinen Brief hin seine Reisepläne ändert.«
»Durchaus. Allerdings sollte man vorsichtig sein, was die Prioritäten junger Männer angeht. Schließlich wissen wir nicht, warum er ursprünglich nach London kommen wollte.«
Sie verzog das Gesicht. »Stimmt.«
Damit war das Thema an diesem Abend beendet. Seit ihrer Unterhaltung in seinem Arbeitszimmer und dem darauf folgenden Gespräch in ihrem Salon hatte Tristan darauf verzichtet, irgendwelche sinnlichen Vergnügungen zu arrangieren außer denjenigen, die man auf der Tanzfläche verwirklichen konnte. Doch selbst hier waren sie sich beide der Nähe des anderen aufs Äußerste bewusst, und zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht; jede Berührung, jede flüchtige Liebkosung, jeder Blick nährte ihren Hunger.
Sie spürte, wie die Begierde an ihren Nerven zehrte, und sie musste Tristan nicht einmal in die oft verdunkelten Augen sehen, um zu wissen, dass sie ihm noch mehr zusetzte als ihr.
Aber sie hatte ihn um mehr Zeit gebeten, und er gab sie ihr.
Sie hatte ihn einmal um etwas gebeten und das Erbetene erhalten.
Während sie an diesem Abend die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, musste sie sich diese Tatsache unumwunden eingestehen, sie akzeptieren.
Als sie schließlich im Bett lag, warm und wohlig eingehüllt, kam sie noch einmal auf das Thema zurück.
Sie konnte nicht bis in alle Ewigkeit warten. Sie konnte keinen weiteren Tag mehr warten. Ihr Zögern war nicht gerechtfertigt; weder ihm noch ihr gegenüber. Ihr grausames Spiel quälte sie beide. Und beruhte zudem auf Gründen, die inzwischen all ihre Macht und Bedeutsamkeit eingebüßt hatten.
Vor ihrer Zimmertür hörte sie Henrietta leise knurren; dann vernahm Leonora das kratzende, klopfende Geräusch ihrer Pfoten, das immer leiser wurde, als der Hund die Treppe hinunterlief. Die Tatsache beunruhigte sie nicht weiter, sie nahm sie nur am Rande wahr; ihre Gedanken blieben unbeirrt beim Thema.
Tristans Antrag akzeptieren oder ihn für immer aufgeben.
Es gab eigentlich keine Wahl. Nicht für sie. Nicht mehr.
Sie musste das Risiko unweigerlich eingehen, die Gelegenheit ergreifen und einen Schritt nach vorn tun.
Ihr Entschluss verfestigte sich; sie wartete ab, rechnete mit einer Gegenreaktion, einer instinktiven Abwehr, doch falls diese latent vorhanden gewesen war, so wurde sie von einer Welle plötzlicher Überzeugung und Gewissheit regelrecht überschwemmt.
Und von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl.
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass mit dem Entschluss, sich der Verletzbarkeit bewusst preiszugeben, der Kampf bereits halb gewonnen war. Es war tatsächlich so.
Sie fühlte sich mit einem Mal völlig unbeschwert und schmiedete spontan Pläne, wie sie Tristan ihre Entscheidung beibringen würde, wie sie ihm die frohe Botschaft am besten verkünden sollte …
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit wohl inzwischen vergangen war, als ihr auffiel, dass Henrietta nicht an ihren Platz vor der Tür zurückgekehrt war.
Diese Tatsache beunruhigte sie durchaus.
Henrietta trottete oft des Nachts durchs Haus, aber nie lange. Sie kehrte immer getreulich zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Läufer vor Leonoras Tür zurück.
Doch sie war jetzt nicht dort.
Das wusste Leonora mit absoluter Sicherheit, noch bevor sie sich ihren Morgenmantel überzog und leise die Tür öffnete, um nachzusehen.
Nichts.
Schwaches Licht drang vom Kopf der Treppe den Korridor hinunter; sie zögerte einen Augenblick, dann zog sie den Morgenmantel fest um sich und ging in Richtung Treppe.
Sie erinnerte sich an Henriettas leises Knurren, bevor diese die Treppe hinuntergetrottet war. Das Geräusch mochte einer streunenden Katze gegolten haben. Andererseits …
Was, wenn Mountford erneut versuchte, hier einzubrechen?
Was, wenn er Henrietta etwas antat?
Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte ihre Hündin bereits, seit diese ein kleines Fellbündel gewesen war; Henrietta war tatsächlich ihre engste Vertraute, die stille Empfängerin unzähliger Geheimnisse.
Wie ein Gespenst schlich Leonora die Treppe hinunter, während sie sich zugleich ermahnte, nicht überzureagieren. Es war sicherlich nur eine Katze. Es gab etliche Katzen am Montrose Place. Vielleicht waren es gleich zwei, und Henrietta war deswegen noch nicht zurückgekehrt.
Sie erreichte den Fuß der großen Haupttreppe in der Eingangshalle und überlegte, ob sie eine Kerze anzünden sollte. Im Untergeschoss würde es stockdunkel sein; womöglich stolperte sie gar über Henrietta, die davon ausgehen würde, dass Leonora sie sähe.
Sie blieb vor dem Beistelltisch an der Rückseite der Eingangshalle stehen und nahm die Zunderbüchse in die Hand, um sich eine der Kerzen anzustecken, die dort auf ihre Verwendung warteten. Sie nahm den schlichten Kerzenhalter in die Hand und schob sich durch die grüne Pendeltür.
Sie hielt die Kerze vor sich nach oben und schritt den Gang hinunter. Die Wände zuckten um sie herum, als hätte der Lichtschein sie zum Leben erweckt, aber ansonsten war alles so wie immer. Ihre Pantoffeln schlugen sanft gegen den Fliesenboden, während sie am Wirtschaftsraum und der Wäschekammer vorüberging; schließlich erreichte sie die kurze Treppe, die zur Küche hinunterführte.
Sie blieb stehen und blickte nach unten. Alles war in tiefes Schwarz getaucht, bis auf einige Stellen, die das fahle Mondlicht beleuchtete, welches durch die Fenster und das kleine Belüftungsgitter oberhalb der Hintertür hereinfiel. Im schwachen Lichtschein vor der Tür konnte sie schemenhaft die zottige Silhouette ihrer Hündin ausmachen; Henrietta lag direkt an der Wand des Flurs und hatte ihren Kopf auf die Pfoten gelegt.
»Henrietta?« Mit angestrengtem Blick spähte Leonora nach unten in die Dunkelheit.
Henrietta rührte sich nicht.
Irgendetwas stimmte da nicht. Henrietta war nicht mehr die Jüngste. In Sorge, der Hund könne einen Schlag erlitten haben, raffte Leonora ihr schleifendes Nachtgewand und rannte die Treppe hinunter.
»Henriet… oh!«
Mit offenem Mund blieb sie auf der letzten Treppenstufe stehen - ihr gegenüber stand die Gestalt eines Mannes, der ihr aus dem Schatten heraus entgegengetreten war.
Das Kerzenlicht flackerte über sein dunkel umrahmtes Gesicht, seine Lippen waren wie zu einem Knurren verzogen.
Ein plötzlicher Schmerz schoss ihr durch den Hinterkopf; die Kerze fiel ihr aus der Hand. Während sie vornüberstürzte, erlosch alles Licht, und tiefe Dunkelheit senkte sich über sie.
Einen Augenblick lang glaubte sie, dies läge daran, dass die Kerze ausgegangen war, doch dann hörte sie, wie in großer Ferne Henrietta plötzlich anfing zu bellen und zu heulen. Es war das grauenvollste Geräusch, das man sich überhaupt vorstellen konnte.
Leonora versuchte vergeblich, ihre Augen zu öffnen.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Die Schwärze verdichtete sich und riss sie mit sich fort.
 
Das Bewusstsein zurückzuerlangen, war alles andere als angenehm. Sie ließ sich einige Zeit in einem eigenartigen Zwischenzustand treiben, weder an- noch abwesend, während eine Vielzahl besorgter Stimmen sie umspülte; manche klangen scharf vor Wut, andere vor Angst.
Henrietta war auch da, direkt an ihrer Seite. Die Hündin jaulte und leckte an ihren Fingern. Ihre Augenlider fühlten sich an wie aus Blei; ihre Wimpern zuckten leicht. Mühsam hob sie eine Hand und stellte fest, dass sie einen breiten Verband um den Kopf hatte.
Die Gespräche rissen unvermittelt ab.
»Sie ist wach!«
Die Stimme gehörte Harriet. Die Zofe eilte an ihre Seite und ergriff ihre Hand, um sie zu tätscheln. »Keine Sorge. Der Doktor hat schon nach Ihnen gesehen und uns versichert, dass Sie im Nu wieder wie neu sein werden.«
Leonora ließ ihre Hand schlaff in Harriets Griff ruhen und gab sich Mühe, das Gesagte zu verarbeiten.
»Geht es dir gut, Schwesterherz?«
Jeremys Stimme klang seltsam erschüttert; er schien irgendwo ganz in ihrer Nähe zu stehen. Sie lag der Länge nach ausgestreckt, die Beine etwas höher als der Kopf, auf einer Chaiselongue. Sie musste sich im Salon befinden.
Eine schwere Hand tätschelte unbeholfen ihr Knie. »Ruh dich nur aus, Liebes«, kam Humphreys wohlgemeinter Rat. »Gott weiß, worauf diese Welt zusteuert, aber …« Seine Stimme wurde zittrig und riss ab.
Im nächsten Augenblick hörte sie einen bissigen Kommentar. »Es würde ihr gewiss besser bekommen, wenn Sie sie nicht alle so bedrängten.«
Tristan.
Sie öffnete die Augen und blickte ihn geradewegs an, da er direkt am Fuß des Ruhebettes stand.
Sein Gesicht wirkte starrer, als sie es je zuvor gesehen hatte; wer es zu deuten wusste, erkannte die beißende Drohung, die in seinen aristokratischen Zügen lag.
Sein funkelnder Blick allein war Warnung genug für jeden.
Sie blinzelte, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Was ist passiert?«
»Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen.«
»Das hatte ich mir schon fast gedacht.« Sie wandte ihren Blick zu Henrietta; die Hündin drängte sich näher an sie heran. »Ich ging nach unten, um nach Henrietta zu sehen. Ich hatte gehört, wie sie die Treppe hinunterlief und dann nicht wieder zurückkam. Das tut sie sonst immer.«
»Und deswegen bist du ihr gefolgt.«
Sie blickte wieder zu Tristan. »Ich hatte Angst, es wäre ihr vielleicht etwas zugestoßen. Und so war es ja auch.« Sie sah wieder Henrietta an und runzelte die Stirn. »Sie lag bei der Hintertür, aber sie bewegte sich nicht …«
»Sie wurde betäubt. Portwein mit Laudanum, den man unter der Tür hindurchgeschüttet hat.«
Sie streckte ihre Hand nach Henrietta aus, legte die Handfläche zärtlich an ihren struppigen Kopf und sah in ihre glänzenden braunen Augen.
Tristan bewegte sich. »Sie ist wieder ganz die Alte. Du hattest Glück. Wer auch immer das hier getan hat, hat ihr zu wenig verabreicht, um sie in mehr als einen sanften Schlummer zu versetzen.«
Sie atmete ein und zuckte zusammen, als ihr ein neuerlicher Schmerz durch den Kopf schoss. Ihr Blick kehrte zu Tristan zurück. »Es war Mountford. Ich habe ihm am Fuß der Treppe direkt gegenübergestanden.«
Einen Augenblick lang dachte sie, Tristan werde tatsächlich laut knurren; der Ausdruck von Gewalttätigkeit, der mit einem Mal seine Züge erfasste, war regelrecht beängstigend. Zumal sich ein Teil seiner Aggressivität ohne jeden Zweifel auf sie bezog.
Ihre Bemerkung hatte die anderen schockiert; alle Blicke waren nunmehr auf sie gerichtet, nicht auf Tristan.
»Welcher Mountford?«, fragte Jeremy. Sein Blick wanderte von Leonora zu Tristan. »Worum geht es hier eigentlich?«
Leonora seufzte. »Es geht um diesen Einbrecher. Es ist derselbe Mann, den ich bei uns im Garten gesehen habe.«
Angesichts dieser Enthüllung blieb sowohl Jeremy wie auch Humphrey der Mund offen stehen. Sie waren entsetzt - und zwar umso mehr, da sie nun nicht länger die Augen verschließen und so tun konnten, als würde Leonora sich das alles nur einbilden. Es war keineswegs ihre Einbildungskraft, die Henrietta betäubt und ihr selbst eins über den Schädel gegeben hatte. Plötzlich gezwungen, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, verfielen sie in allerlei Beteuerungen und Bekräftigungen.
Der Lärm wurde ihr zu viel. Sie schloss die Augen und gab sich der Bewusstlosigkeit dankbar hin.
Tristan fühlte sich wie eine überspannte Geigensaite, die jeden Moment zu reißen drohte, doch als er sah, wie Leonoras Augen sich langsam schlossen, wie sich ihre Stirn und ihre Züge glätteten, während sie in den Zustand der Bewusstlosigkeit hinüberglitt, atmete er tief ein, schluckte seine Wut hinunter und drängte sie alle aus dem Zimmer, ohne jemanden dabei anzubrüllen.
Sie gehorchten ihm, wenn auch widerwillig. Nach allem, was er gehört, nach allem, was er mitbekommen hatte, konnte aus seiner Sicht keinem von ihnen das Recht zuteilwerden, hier und jetzt an ihrer Seite zu wachen. Nicht einmal ihrer Zofe, die ihr so treu ergeben schien.
Er beauftragte sie stattdessen, Leonora einen Kräutertee aufzubrühen; dann stellte er sich an ihre Seite und blickte auf sie herab. Sie war zwar noch immer blass, aber ihre Haut war nicht mehr so totenbleich wie in dem Augenblick, als er sie zuerst gesehen hatte.
Jeremy, zweifellos von schweren Gewissensbissen geplagt, hatte einen Diener nach nebenan geschickt; dann hatte Gasthorpe alles Weitere in die Wege geleitet: Er hatte einen Diener in die Green Street entsendet und zugleich nach dem speziellen Arzt schicken lassen, der seinen Anweisungen nach im Notfall zu bestellen war. Jonas Pringle war ein Veteran der Feldzüge auf der Iberischen Halbinsel; er behandelte Messerstiche und Schusswunden, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Ein Schlag auf den Hinterkopf war nicht mehr als eine Lappalie, doch genau diese Bestätigung, untermauert von seiner außergewöhnlichen Fachkompetenz, war genau die Versicherung, die Tristan dringend gebraucht hatte.
Dies allein hatte ihn dazu befähigt, nicht völlig die Fassung zu verlieren.
Ihm war bewusst, dass Leonora nicht so bald wieder aufwachen würde. Er sah auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die ersten Streifen der Morgendämmerung verfärbten den Himmel. Der drängende Zwang, etwas zu tun, der ihn in den vergangenen Stunden umgetrieben hatte, verebbte allmählich.
Er drehte einen der Sessel herum, sodass er der Chaiselongue zugewandt war; dann ließ er sich hineinsinken, streckte die Beine aus und wartete, den Blick fest auf Leonora gerichtet.
Etwa eine Stunde später kam sie wieder zu sich; ihre Lider zuckten, schlugen auf, dann atmete sie scharf ein.
Ihr Blick fiel auf Tristan; ihre Augen weiteten sich. Sie blinzelte, versuchte sich umzusehen, ohne dabei den Kopf zu bewegen.
Er hob sein Kinn, das zuvor auf seiner Faust geruht hatte. »Wir sind allein.«
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. »Was ist los?«
Er hatte die letzte halbe Stunde darüber nachgedacht, wie er seine Ansprache am besten formulieren würde; aber nun, da es so weit war, fühlte er sich zu erschöpft, um irgendwelche Spielchen zu spielen. Nicht mit ihr. »Deine Zofe. Sie war völlig aufgelöst, als ich hier ankam.«
Sie schloss die Augen; als sie sie wieder öffnete, konnte er sehen, dass sie bereits einen Schritt weiter gedacht und sich überlegt hatte, was wohl danach geschehen war; als sie jedoch seinen Blick erwiderte, hatte er Mühe, ihren Ausdruck richtig zu deuten. Sie konnte die früheren Angriffe unmöglich verdrängt haben. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, warum sie seine Reaktion in irgendeiner Weise überraschen sollte.
Als er weitersprach, klang seine Stimme schärfer als beabsichtigt. »Sie sprach von zwei früheren Angriffen, einem auf der Straße, einem im vorderen Garten; beide gezielt auf dich gerichtet.«
Sie hielt seinem Blick stand; nickte und zuckte sogleich vor Schmerz zusammen. »Aber es war nicht Mountford.«
Dies war ihm neu. Eine Neuigkeit, die seine Wut jedoch nur noch mehr anfachte. Er sprang auf, nicht länger in der Lage, falsche Gelassenheit vorzutäuschen, die seine Selbstbeherrschung bei Weitem überforderte. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
Sie sah ihn weiter ruhig an, nicht im Geringsten eingeschüchtert; dann entgegnete sie leise: »Ich dachte, es wäre nicht wichtig.«
»Nicht wichtig?« Mit geballten Fäusten gelang es ihm, seine Stimme einigermaßen unter Kontrolle zu halten. »Man hat dich bedroht, und du denkst, das wäre nicht wichtig?« Er sah ihr tief in die Augen. »Denkst du nicht, dass ich es vielleicht für wichtig gehalten hätte?«
»Es war nicht …«
»Nein!« Er schnitt ihr mit einer heftigen Bewegung das Wort ab. Er hatte das dringende Bedürfnis, erneut auf und ab zu laufen. Mit einem flüchtigen Blick auf sie versuchte er, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, zumindest so weit, dass er einigermaßen vernünftig mit ihr kommunizieren konnte.
Worte, die zu hitzig und zu brutal waren, als dass er sie hätte laut aussprechen können, versengten ihm die Zunge.
Worte, von denen er wusste, dass er sie bereuen würde, sobald sie ihm über die Lippen kämen.
Er musste sich konzentrieren. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Professionalität zwang er sich, gnadenlos zum Kern der Sache vorzustoßen. Alle Schleier schonungslos herunterzureißen und der kalten, harten Wahrheit - der unumstößlichen Realität, auf die es einzig und allein ankam - unmittelbar ins Auge zu blicken.
Er blieb abrupt stehen und atmete gezwungen ein. Dann drehte er sich jäh um und sah ihr direkt in die Augen. »Du bedeutest mir etwas.« Er musste die Worte geradezu hervorzwingen; sie klangen rau und kratzig. »Und zwar nicht nur ein bisschen, sondern unendlich viel. Du bedeutest mir sehr viel mehr als irgendjemand oder irgendetwas sonst in meinem ganzen Leben.«
Er zwang sich zu atmen, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. »Wenn einem jemand etwas bedeutet, heißt das, dass man einen Teil von sich selbst, und sei es auch noch so widerwillig, in die Obhut des anderen gibt. Die Person, die einem so unendlich wichtig ist, wird zu einer Art Schatztruhe, in der dieser besagte Teil von einem selbst«, er hielt ihren Blick gebannt, »dieser unermesslich wertvolle, dieser unbeschreiblich wichtige Teil von einem selbst aufbewahrt wird. Und zugleich wird diese Person für einen ganz genauso wichtig - unbeschreiblich und unermesslich wichtig.«
Er schwieg; fügte dann leiser hinzu. »So wichtig, wie du für mich.«
Die Uhr tickte; ihre Blicke blieben fest aufeinander gerichtet. Keiner rührte sich.
Schließlich bewegte er sich. »Ich habe wirklich alles getan, was ich kann, um es dir zu erklären, um es dir begreiflich zu machen.«
Sein Ausdruck war mit einem Mal verschlossen; er wandte sich zum Gehen.
Leonora versuchte, sich zu erheben. Vergeblich. »Wo willst du hin?«
Mit einer Hand am Türgriff drehte er sich zu ihr um. »Ich gehe. Ich werde deine Zofe zu dir schicken.« Seine Worte klangen hart, doch im Hintergrund schwangen heftig brodelnde Gefühle mit. »Wenn du endlich dazu bereit bist, jemandem wichtig zu sein - dann weißt du, wo du mich findest.«
»Tristan …«
Sie wandte sich mühevoll um und hob ihre Hand.
Doch die Tür fiel ins Schloss. Ein Klang von Endgültigkeit erschütterte den gesamten Raum.
Sie starrte eine ganze Weile die Tür an, dann ließ sie sich zurücksinken und seufzte. Sie schloss die Augen. Sie wusste ganz genau, was geschehen war. Sie musste es dringend ungeschehen machen.
Aber nicht jetzt. Nicht heute.
Sie fühlte sich sogar zu schwach zum Denken. Und sie musste nachdenken, planen, sich die richtigen Worte zurechtlegen, um ihren verwundeten Wolf zu besänftigen.
 
Die nächsten drei Tage schienen nicht mehr als eine endlose Aneinanderreihung von Entschuldigungen.
Harriet zu verzeihen, fiel ihr nicht allzu schwer. Die Ärmste war derart aufgelöst gewesen, als sie Leonora bewusstlos auf dem Fliesenboden liegen sah, dass sie einfach hysterisch losgeplappert hatte. Die kleinste Bemerkung über frühere Angriffe auf Leonora hatte ausgereicht, um Tristans Aufmerksamkeit zu erregen. Er hatte ihr hemmungslos alle Informationen entlockt und sie dadurch nur noch mehr aufgewühlt.
Als Leonora sich mittags nach einer Tasse Suppe - das Einzige, was sie sich überhaupt vorstellen konnte zu essen - in ihr Bett begeben wollte, half Harriet ihr die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, ohne auch nur einen Ton zu sagen, sogar ohne sie anzublicken oder auch nur flüchtig aufzusehen.
Mit einem innerlichen Seufzer ließ sich Leonora auf die Bettkante sinken und ermunterte Harriet, ihr all ihre Sünden, ihre Sorgen und ihren Kummer zu beichten; dann schloss sie Frieden mit ihr.
Diese Sache ließ sich mit Abstand am leichtesten aus der Welt schaffen.
Erschöpft und immer noch recht zittrig zog sie es vor, den Rest des Tages in ihrem Zimmer zu verbringen. Ihre Tanten kamen zwischendurch vorbei, doch nachdem sie einen Blick auf ihr Gesicht geworfen hatten, fassten sie sich kurz. Leonora bestand allerdings darauf, dass sie niemandem von dem Angriff erzählten; wenn sich irgendjemand nach ihr erkundigte, sollten sie einfach sagen, sie sei unpässlich.
Am nächsten Morgen, Harriet hatte soeben das Frühstückstablett abgeräumt, und Leonora war gerade im Begriff, es sich in ihrem Sessel am Kamin gemütlich zu machen, klopfe es an der Tür. Sie antwortet: »Herein.«
Die Tür ging auf; Jeremy spähte in den Raum.
Er entdeckte sie. »Fühlst du dich wohl genug für eine kleine Unterhaltung?«
»Ja, sicher.« Sie winkte ihn zu sich herein.
Er trat behutsam ein, schloss leise die Tür, dann kam er langsam zu ihr herüber; am Kamin blieb er stehen und sah auf sie herab. Sein Blick war starr auf die Bandage um ihren Kopf gerichtet. Seine Züge verkrampften sich. »Es ist meine Schuld, dass du verletzt wurdest. Ich hätte dir besser zuhören, deinen Worten mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Ich wusste, dass du dir das alles nicht nur einbildest - diese Sache mit den Einbrechern -, aber es war so viel leichter, das Ganze einfach zu ignorieren …«
Er war vierundzwanzig Jahre alt, doch in diesem Moment war er wieder ihr kleiner Bruder. Sie ließ ihn reden, ließ ihn aussprechen, was ihn bekümmerte. Ließ ihn Frieden schließen, nicht nur mit ihr, sondern vor allem mit sich selbst. Mit dem Mann, der er hätte sein sollen.
Zwanzig erschöpfende Minuten später saß er am Boden neben ihrem Sessel und hatte seinen Kopf auf ihr Knie gelegt.
Sie strich ihm übers Haar, das so weich war und doch so zerzaust und widerspenstig wie eh und je.
Ein plötzlicher Schauder überfiel ihn. »Wenn Trentham nicht gewesen wäre …«
»Wenn er nicht gewesen wäre, hättet ihr die Situation auch ohne ihn gemeistert.«
Nach einer kurzen Pause seufzte er und rieb seine Wange gegen ihr Knie. »Vermutlich.«
Sie verbrachte die restliche Zeit des Tages erneut im Bett. Am darauffolgenden Morgen fühlte sie sich schon bedeutend besser. Der Arzt kam nochmals vorbei, um nach ihr zu sehen; er überprüfte ihr Sehvermögen und ihren Gleichgewichtssinn, untersuchte die empfindliche Stelle an ihrem Hinterkopf und erklärte sich mit dem Ergebnis voll und ganz zufrieden.
»Aber ich rate Ihnen, in den kommenden Tagen jegliche Anstrengung zu vermeiden.«
Sie dachte über diesen Hinweis nach - dachte an die Entschuldigung, die ihr noch bevorstand, und an die emotionalen und körperlichen Anstrengungen, die damit unweigerlich verbunden waren -, als sie langsam und vorsichtig die Treppe hinunterstieg.
Humphrey saß auf einer Bank in der Eingangshalle; als er sie herunterkommen sah, stand er mithilfe seines Stocks auf. Er lächelte ein wenig verkniffen. »Da bist du ja, Liebes. Fühlst du dich etwas besser?«
»Danke, durchaus. Viel besser sogar.« Sie war versucht, sich in irgendwelche Fragen bezüglich der Haushaltsführung zu stürzen, nur um dem zu entgehen, was sie unvermeidlich auf sich zukommen sah. Sie schob diesen unwürdigen Impuls beiseite; Humphrey musste sich, ebenso wie Harriet und Jeremy, mit ihr aussprechen. Sie lächelte warmherzig, ergriff seinen Arm, den er ihr darbot, und ging mit ihm in den Salon.
Das Gespräch erwies sich als schlimmer, emotionaler, als sie es erwartet hatte. Seite an Seite saßen sie auf der Chaiselongue und blickten in den Garten, ohne ihn wirklich zu sehen. Zu ihrer Überraschung reichten die Schuldgefühle ihres Onkels sehr viel weiter zurück, als es ihr bewusst gewesen war.
Er sprach seine Versäumnisse der letzten Wochen ganz unumwunden an und entschuldigte sich barsch, doch dann drang er tiefer in die Vergangenheit ein, und Leonora stellte fest, dass er die letzten Tage sehr viel intensiver nachgedacht haben musste, als sie es angenommen hätte.
»Ich hätte Mildred viel häufiger nach Kent einladen sollen, das war mir schon damals bewusst.« Er starrte aus dem Fenster und tätschelte geistesabwesend ihre Hand. »Aber, weißt du, als deine Tante Patricia starb, habe ich mich von der Welt abgeschottet; ich habe mir geschworen, nie wieder so tief für jemanden zu empfinden, mich nie wieder so verletzlich zu machen. Ich war froh, dich und Jeremy um mich zu haben. Ihr wart mein Rettungsanker im tristen Alltag; ihr habt es mir leichter gemacht, den Schmerz zu vergessen und ein einigermaßen normales Leben zu führen.
Aber ich war fest entschlossen, niemanden mehr so nah an mich heranzulassen, dass er mir hätte wichtig werden können. Kein zweites Mal. Deshalb habe ich euch bewusst auf Abstand gehalten; Jeremy in mancherlei Weise genauso wie dich.« Er sah sie an; seine alten Augen waren müde und wässrig von Tränen. Er lächelte halbherzig. »Und somit habe ich dich betrogen, und zwar um die Zuwendung und Sorge, die dir zustand, und ich schäme mich zutiefst dafür. Aber ich habe mich zugleich in vielfacher Hinsicht selbst betrogen. Ich habe mir all das versagt, was zwischen dir und mir - und Jeremy natürlich - hätte sein können. Ich habe uns sozusagen alle drei geprellt. Und trotzdem habe ich mein Ziel verfehlt. Ich war zu überzeugt von mir selbst, um zu begreifen, dass man seine Empfindungen nicht vollständig kontrollieren kann.«
Seine Hand schloss sich fester um die ihre. »Als wir dich dort gefunden haben, auf dem Fliesenboden …«
Seine Stimme zitterte, brach.
»Ach, Onkel Humphrey.« Leonora wandte sich ihm zu und umarmte ihn. »Es spielt doch überhaupt keine Rolle. Jetzt nicht mehr.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Es liegt in der Vergangenheit.«
Er erwiderte ihre Umarmung, doch betonte dabei barsch: »Und ob es eine Rolle spielt. Aber ich werde mich nicht mit dir streiten, denn du hast vollkommen recht. Es liegt in der Vergangenheit. Von nun an werden wir uns so verhalten, wie wir es schon immer hätten tun sollen.« Er zog den Kopf ein wenig ein, um ihr in die Augen zu sehen. »Hm?«
Sie lächelte, selbst den Tränen nahe. »Ja. Genau.«
»Gut!« Er ließ sie los und atmete tief ein. »Und nun musst du mir alles berichten, was ihr beide, du und Trentham, herausgefunden habt. Wenn ich recht verstehe, geht es dabei um Cedrics Arbeit?«
Sie erklärte ihm alles. Als Humphrey darum bat, Cedrics Tagebücher zu sehen, nahm sie einige vom Stapel in der Ecke.
»Hm … hm!« Er las die erste Seite, dann ließ er seinen Blick über den Bücherstapel wandern. »Wie weit bist du bis jetzt gekommen?«
»Erst bis zum vierten, allerdings …« Sie erklärte ihm, dass die Tagebücher keiner chronologischen Ordnung folgten.
»Dann hat er offenbar ein anderes Ordnungsprinzip verwandt; zum Beispiel ein separates Buch für jede eigenständige Idee.« Er schlug die Kladde auf seinem Schoß zu. »Es gibt keinen Grund, weshalb Jeremy und ich unsere Arbeit nicht für eine Weile unterbrechen sollten, um dir ein bisschen unter die Arme zu greifen. Es ist schließlich nicht dein Spezialgebiet, sondern unseres.«
Sie musste sich ernsthaft zusammenreißen, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. »Und was ist mit den Mesopotamiern? Und den Sumerern?«
Ihr Onkel und ihr Bruder arbeiteten beide im Auftrag des British Museums.
Humphrey schnaubte und winkte ab, während er sich von seinem Platz hochdrückte. »Das Museum kann warten, diese Sache hier nicht. Nicht, solange ein ruchloser und gefährlicher Schuft hinter irgendetwas in unserem Hause her ist. Und außerdem«, er war endlich auf den Beinen, streckte seinen Rücken und grinste Leonora an, »wen sollte das Museum schon mit der Übersetzung beauftragen, wenn nicht uns?«
Hierüber ließ sich nicht streiten. Sie stand auf und betätigte den Klingelzug. Als Castor eintrat, bat sie ihn, den Stapel Tagebücher in die Bibliothek bringen zu lassen. Humphrey steckte sich das Tagebuch, das er zuvor betrachtet hatte, kurzerhand unter den Arm und verließ mit Leonoras Hilfe langsam den Raum in selbige Richtung. Im Flur überholte sie ein Diener mit dem übrigen Bücherstapel; sie folgten ihm in die Bibliothek.
Jeremy blickte auf; wie immer war sein Schreibtisch übersät mit aufgeschlagenen Büchern.
Humphrey gestikulierte mit seinem Stock. »Schaff ein wenig Platz. Neue Aufgabe. Äußerst dringlich.«
»Ach?«
Zu Leonoras Verwunderung gehorchte Jeremy auf der Stelle; er schloss mehrere Bücher und schob sie beiseite, sodass der Diener den hohen Bücherstapel vor ihm absetzen konnte.
Jeremy ergriff das oberste und schlug es auf. »Was ist das?«
Humphrey erklärte ihm alles; Leonora fügte hinzu, dass sie vermuteten, die Tagebücher könnten womöglich eine versteckte Formel enthalten, die in irgendeiner Weise wertvoll war.
Jeremy hatte sich bereits in die Lektüre vertieft und gab lediglich ein vage zustimmendes Geräusch von sich.
Humphrey begab sich an seinen gewohnten Platz und machte sich umgehend an die Lektüre des Tagebuchs, das er eben aus dem Salon mitgebracht hatte. Leonora dachte kurz nach, dann ließ sie die beiden zurück, um sich stattdessen dem Personal zu widmen und die üblichen Haushaltsangelegenheiten durchzusprechen.
Eine Stunde später kehrte sie in die Bibliothek zurück. Beide, sowohl Jeremy als auch Humphrey, waren in Cedrics Tagebücher vertieft; Jeremys Ausdruck war nachdenklich. Er blickte auf, als sie das oberste Tagebuch vom Stapel nahm.
»Oh.« Er blinzelte sie an, als wäre er kurzsichtig.
Sie spürte seinen instinktiven Wunsch, ihr das Buch wieder zu entreißen. »Ich dachte, ich helfe euch ein bisschen.«
Jeremy errötete leicht und warf einen Blick hinüber zu Humphrey. »Das ist ehrlich gesagt nicht so ganz einfach, es sei denn, du wärest bereit, die meiste Zeit deines Tages hier zu verbringen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Wegen der vielen Querverweise. Wir haben zwar gerade erst begonnen, aber das Ganze droht zum Albtraum zu werden, bis wir die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Tagebüchern und deren logische Abfolge durchschaut haben. Wir müssen uns dabei ständig mündlich austauschen, denn es wäre viel zu umständlich, alle denkbaren Bezüge schriftlich festzuhalten; außerdem ist die Sache zu dringend.« Er sah sie an. »Wir sind diese Art von Arbeit gewohnt. Wenn es noch andere Dinge zu erkunden gibt, könntest du dich da womöglich besser nützlich machen; vermutlich können wir das ganze Rätsel schneller lösen, wenn du dich auf einen anderen Aspekt konzentrierst.«
Keiner der beiden wollte sie ausschließen; das las sie in ihren Augen, in ihren aufrichtigen Zügen. Aber Jeremy hatte recht, sie waren die Fachleute auf diesem Gebiet - und sie selbst hatte tatsächlich nicht den allergrößten Drang, den Rest des Tages und gewiss einen Großteil des Abends damit zuzubringen, Cedrics zitterige Handschrift zu entziffern.
Außerdem hatte sie eine ganze Reihe andere Dinge zu erledigen.
Sie lächelte gutmütig. »Es gibt in der Tat ein paar andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren könnte. Wenn ihr also auch ohne mich zurechtkommt?«
»O ja.«
»Wir kommen schon zurecht.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Schön, dann will ich euch nicht weiter stören.«
Sie wandte sich um und ging zur Tür. Als sie, die Hand am Türknauf, einen letzten Blick zurückwarf, waren die beiden schon wieder über die Bücher gebeugt. Immer noch lächelnd verließ sie den Raum und richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihre mit Abstand dringlichste Tätigkeit: Sie musste sich um ihren verwundeten Wolf kümmern.