14
Er hatte darauf bestanden, sie nach Hause zu
begleiten. Nur ihre Hände hatten sich berührt, und dafür war sie
äußerst dankbar gewesen. Er hatte sie intensiv beobachtet; sein
drängendes Bedürfnis, sie zu besitzen, war überdeutlich gewesen,
und sie wusste es zu schätzen, dass er sich zurückgehalten hatte.
Anscheinend verstand er sehr genau, dass sie Zeit zum Nachdenken
brauchte - Zeit, all
das, was er ihr gesagt hatte, all das, was sie erfahren hatte, zu
verarbeiten.
Und zwar nicht nur, was sie über ihn erfahren
hatte, sondern auch über sich selbst.
Liebe. Wenn er tatsächlich darauf angespielt
hatte, veränderte sich alles. Er hatte das Wort nicht laut
ausgesprochen, doch wenn sie ihm so nah war, konnte sie es spüren.
Eine Macht, die sehr viel stärker war als Lust oder Verlangen. Sehr
viel erhabener.
Wenn dieses Gefühl, das sich zwischen ihnen
entwickelt hatte, tatsächlich Liebe war, dann gab es womöglich
wirklich keinen Weg zurück, weg von ihm und seinem Heiratsantrag.
Nur ein Feigling würde sich so leichtfertig aus der Affäre
ziehen.
Die Entscheidung lag nun bei ihr. Nicht nur ihr
eigenes, sondern auch sein Glück hing davon
ab.
Während das Haus um sie herum in tiefe Stille
versunken war und lediglich die auf dem Kaminsims tickende Uhr die
Sekunden der frühen Morgenstunden zählte, lag Leonora in ihrem Bett
und zwang sich, über jene Gründe nachzudenken, die sie bislang vom
Heiraten abgehalten hatten.
Es war keineswegs eine abgrundtiefe Abneigung
gegen die Ehe - so eindeutig und umfassend waren ihre Vorbehalte
nicht. Ein solches Gefühl hätte sie leicht identifizieren,
einschätzen und sich vielleicht sogar davon überzeugen können, es
beiseitezuschieben oder es zu überwinden.
Ihr eigentliches Problem lag sehr viel tiefer
begründet; es war schwer zu fassen, und doch hatte es sie im Laufe
der Jahre immer wieder vor einer Heirat zurückschrecken
lassen.
Und nicht allein vor einer Heirat.
Während sie im Bett lag und die mondbeschienene
Decke anstarrte, lauschte sie auf das verräterisch kratzende
Geräusch vor ihrer Schlafzimmertür, das von Henriettas Krallen auf
dem polierten Holz herrührte. Die Hündin streckte sich und trottete
dann die Treppe hinunter. Das Geräusch erstarb. Und mit ihm alle
Ablenkung.
Sie atmete tief ein und zwang sich, genau das zu
tun, was sie dringend tun musste, nämlich einen intensiven Blick
auf ihre Vergangenheit zu werfen, auf all die Freundschaften und
Bekanntschaften, denen sie nie eine Chance gegeben hatte, sich zu
entwickeln.
Der einzige Grund, weshalb sie sich überhaupt
jemals auf den Gedanken eingelassen hatte, Mark Whorton zu
heiraten, war vom ersten Tag an die tiefe Überzeugung gewesen, dass
sie ihm niemals wirklich gefühlsmäßig
nahestehen würde. Sie hätte ihm nie das sein können, was seine Frau
Heather für ihn war: eine abhängige Ehefrau, die ihre Abhängigkeit
auch noch liebte. Eine solche Frau hatte Mark immer gebraucht. Und
Leonora hätte ihm dieses Bedürfnis niemals erfüllen können; sie war
schlicht und einfach nicht dazu fähig.
Sie dankte Gott dafür, dass Mark genug Verstand
besessen hatte, um - wenn schon nicht die Wahrheit zu erkennen -
die Unstimmigkeiten zwischen ihnen wahrzunehmen und dementsprechend
zu handeln.
Zwischen ihr und Tristan gab es keine solchen
Unstimmigkeiten. Dafür gab es da etwas anderes. Womöglich
Liebe.
Sie musste sich mit dieser Tatsache
auseinandersetzen; mit der Tatsache, dass sie in diesem Fall - nämlich für Tristan - durchaus eine
passende Ehefrau darstellte. Und zwar in jeglicher Hinsicht,
unfehlbar, unleugbar. Er hatte dies instinktiv gespürt. Er war es
schließlich gewohnt, auf seine Instinkte zu hören und
dementsprechend zu handeln.
Er erwartete nicht - und würde niemals erwarten
-, dass sie sich von ihm abhängig machte oder sich in irgendeiner
Weise veränderte. Er wollte sie so, wie sie war, und erwartete
nicht von ihr, dass sie versuchte, seinetwegen irgendeinem irrigen
Ideal zu entsprechen. Er spürte intuitiv, dass sie die Richtige für
ihn war. Er lief nicht Gefahr, sie auf ein Podest zu stellen; und
dennoch hatte er ihr in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass er
nicht nur in der Lage, sondern auch mehr als willens war, sie
bedingungslos zu verehren.
Und zwar ihr wahres Ich, nicht irgendein
Hirngespinst, das ihr äußerlich ähnelte.
Dieser Gedanke - diese Tatsache - war so
schmerzlich verlockend, dass sie einfach nicht davon ablassen
konnte. Aber sie hinzunehmen, würde bedeuten, zugleich die
emotionale Nähe zu akzeptieren, die - bereits jetzt - zwischen ihr
und Tristan bestand und die ein wichtiges Bindeglied ihrer
Beziehung darstellte.
Sie musste sich selbst bewusst werden, warum sie
diese Nähe bei niemand anderem je zugelassen hatte.
Es fiel ihr nicht leicht, sich ihre
Vergangenheit derart deutlich vor Augen zu führen, alle Schleier
beiseitezuschieben, alle Fassaden niederzureißen, mithilfe derer
sie ihren Schmerz verdeckt und entschuldigt hatte. Sie war nicht
immer der Mensch gewesen, der sie jetzt war - stark,
eigenverantwortlich, unabhängig von anderen. Früher war sie nicht
so selbstständig, so selbstsicher gewesen, sie war keineswegs stets
allein klargekommen, schon gar nicht in emotionaler Hinsicht, nicht
mit allem. Wie jedes andere junge Mädchen hatte sie eine Schulter
zum Anlehnen gebraucht und Arme, die sie auffingen, ihr Halt
gaben.
Ihre Mutter hatte ihr diesen Halt gegeben, sie
war immer für sie da gewesen, immer voller Verständnis. Doch dann
waren an einem Sommertag ihre Eltern plötzlich gestorben.
Sie erinnerte sich an jene Kälte, an das eisige
Gefühl des Verlusts, das sich über sie gebreitet, sie
gefangengenommen hatte. Sie hatte nicht weinen können, hatte nicht
gewusst, wie man trauert, wie man Abschied nimmt. Und es hatte
niemanden gegeben, der ihr dabei half, der sie verstand.
Ihre Onkel und Tanten, ihre einzigen
Familienangehörigen, waren deutlich älter gewesen als ihre Eltern,
und keiner von ihnen besaß eigene Kinder. Sie hatten sie
getätschelt, ihre Tapferkeit gelobt; doch keiner von ihnen
verstand, keiner erahnte die ungeheure Qual, die sie in ihrem
Innern verbarg.
Sie hatte sie immer tiefer in sich vergraben;
denn genau das schien alle Welt von ihr zu erwarten. Doch von Zeit
zu Zeit war
die Last zu groß geworden, und sie hatte verzweifelt versucht,
jemanden zu finden, der sie verstehen, ihr helfen konnte.
Doch Humphrey hatte sie nie verstanden; das
Personal in Kent begriff ebenso wenig, was mit ihr los war.
Niemand hatte ihr geholfen.
Sie hatte gelernt, ihr Bedürfnis zu verstecken.
Im Laufe ihrer Mädchenjahre hatte sie nach und nach, Schritt für
Schritt gelernt, nicht um Hilfe zu bitten, sich gefühlsmäßig nicht
zu öffnen, anderen Menschen nie so weit zu vertrauen, um ihre Hilfe
in Anspruch zu nehmen - und sich von ihnen abhängig zu machen; denn
wenn sie niemanden um etwas bat, konnte ihr auch niemand etwas
verweigern.
Oder sie abweisen.
Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge
klarer.
Tristan würde sie niemals abweisen.
Bei ihm wäre sie sicher.
Sie musste lediglich den Mut aufbringen, jenes
emotionale Risiko einzugehen, das sie in den vergangenen fünfzehn
Jahren so beharrlich gemieden hatte.
Am nächsten Tag kam er zur Mittagszeit vorbei.
Sie war gerade damit beschäftigt, im Salon einige Blumen zu
arrangieren; er gesellte sich zu ihr.
Sie schenkte ihm zur Begrüßung ein Nicken und
bemerkte auf der Stelle den scharfen Blick, mit dem er sie
eingehend musterte, ehe er sich etwa einen halben Meter von ihr
entfernt gegen den Türrahmen lehnte.
»Geht es dir gut?«
»Ja.« Sie blickte kurz zu ihm auf und wandte
sich dann wieder ihren Blumen zu. »Und dir?«
Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich komme
gerade von nebenan. Du wirst uns in Zukunft häufiger ein und aus
gehen sehen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie viele von euch gibt
es denn überhaupt?«
»Sieben.«
»Und sind das alles ehemalige …
Gardisten?«
Er zögerte kurz, aber entgegnete dann:
»Ja.«
Das machte sie neugierig. Aber bevor sie sich
eine weitere Frage überlegen konnte, bewegte er sich und kam näher
an sie heran.
Sie war sich seiner Nähe schlagartig bewusst,
spürte die flammende Reaktion, die ihren Körper durchzuckte. Sie
drehte den Kopf und sah ihn an.
Sie begegnete seinem Blick, verlor sich
darin.
Und konnte nicht wieder wegsehen. Konnte nur
noch mit klopfendem Herzen und pulsierenden Lippen dastehen,
während er sich zu ihr herabbeugte und einen unbefriedigend
flüchtigen Kuss auf ihre Lippen setzte.
»Hast du dich schon entschieden?«
Er hauchte die Worte gegen ihre hungrigen
Lippen.
»Nein. Ich denke noch darüber nach.«
Er wich ein Stück zurück, sodass er ihr in die
Augen sehen konnte. »Was gibt es da groß nachzudenken?«
Die Frage setzte dem Zauber ein jähes Ende; sie
kniff die Augen leicht zusammen, dann wandte sie sich wieder ihren
Blumen zu. »Mehr als du ahnst.«
Er lehnte sich wieder gegen den Türrahmen und
betrachtete ihr Gesicht. Nach einem kurzen Moment erwiderte er:
»Erzähl es mir.«
Sie presste die Lippen aufeinander, wollte
gerade den Kopf schütteln, als ihr plötzlich alles wieder durch den
Kopf schoss, was sie sich in ihrer langen Nachtwache überlegt
hatte. Sie holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Das
ist nicht so einfach.«
Er sagte nichts, wartete ab.
Sie musste erneut Atem holen. »Es ist lange her,
seit ich das letzte Mal zugelassen habe, dass mich irgendjemand
unterstützt. Mir hilft.« Dies war nur eine - wahrscheinlich die
offensichtlichste - Folge ihrer inneren Abkapselung.
»Aber du bist doch zu mir gekommen, hast mich um
meine Hilfe gebeten, nachdem du den Einbrecher in deinem Garten
bemerkt hattest.«
Sie schüttelte den Kopf, die Lippen
zusammengepresst. »Nein. Ich bin zu dir gekommen, weil das die
einzige Möglichkeit war, irgendetwas zu unternehmen.«
»Du hast mich als Informationsquelle
betrachtet?«
Sie nickte. »Natürlich hast du mir geholfen,
aber ich habe dich nie darum gebeten. Und du hast deine Hilfe auch
nie angeboten, du hast ganz einfach gehandelt. Genauso«, sie hielt
kurz inne, als ihr plötzlich einiges klar wurde, »genauso ist es
die ganze Zeit zwischen uns abgelaufen. Ich habe dich nie um deine
Hilfe gebeten. Du hast sie mir ungefragt gegeben, und du bist viel
zu entschlossen, als dass ich sie jemals ernsthaft hätte ablehnen
können. Außerdem hatte ich gar keinen Grund, mich dir zu
widersetzen, da wir ja schließlich dasselbe Ziel verfolgten
…«
Ihre Stimme wurde zittrig, sie unterbrach
sich.
Er kam einen Schritt näher und nahm ihre
Hand.
Seine Berührung drohte ihre Fassung vollends zu
erschüttern, doch dann streichelte er sie zärtlich mit seinem
Daumen; eine unbeschreibliche Wärme durchflutete ihren Körper,
beruhigte sie, bestärkte sie.
Sie hob den Kopf, atmete stockend ein.
Er kam noch näher an sie heran, legte seine Arme
von hinten um ihre Taille und zog sie an sich.
»Hör endlich auf, dagegen anzukämpfen.« Seine
Stimme klang dunkel wie die magische Beschwörung eines Zauberers.
»Hör auf, gegen mich anzukämpfen.«
Sie seufzte lang und schwer; ihr Körper sank
gegen seine warme, felsenfeste Brust. »Ich versuche es ja. Es wird
mir auch irgendwann gelingen.« Sie legte ihren Kopf in den Nacken
und sah ihn über die Schulter an. Blickte in seine haselnussbraunen
Augen. »Aber nicht heute.«
Er gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Wenn auch
widerwillig.
Tagsüber verbrachte Leonora die meiste Zeit
damit, Cedrics Tagebücher zu entziffern auf der Suche nach
irgendwelchen Hinweisen auf eine geheime Formel oder auf seine
Arbeit mit Carruther. Sie hatte herausgefunden, dass die Einträge
keiner chronologischen Ordnung folgten; unabhängig vom jeweiligen
Thema waren seine Notizen willkürlich verstreut - mal in dem einen
Buch, mal in dem anderen -, nach einem scheinbar undurchschaubaren
Prinzip miteinander verbunden.
Ihre Abende verbrachte sie auf
gesellschaftlichen Veranstaltungen, auf Bällen oder sonstigen
Festivitäten, unweigerlich an Tristans Seite. Sein eindeutiges und
unerschütterliches Interesse war für alle Welt offen ersichtlich;
die wenigen mutigen Damen, die einen Versuch wagten, ihn
abzulenken, wurden kurz und knapp abgefertigt. Zu knapp, könnte man
sagen. Es dauerte nicht lange, ehe man über den Hochzeitstermin
spekulierte.
Als sie an diesem Abend durch Lady Courts
Ballsaal spazierten, berichtete sie ihm von Cedrics
Tagebüchern.
Er runzelte die Stirn. »Mountford kann nur
hinter irgendetwas her sein, was mit Cedrics Arbeit in Zusammenhang
steht. Es gibt in eurem Hause nichts anderes, was ein derartiges
Interesse rechtfertigen würde.«
»Ein derartiges
Interesse?« Sie sah ihn an. »Hast du etwas Neues
herausgefunden?«
»Mountford, oder wie immer er wirklich heißt,
ist noch immer in London, aber er hält sich nie lange an einem Ort
auf; ich habe ihn bislang nicht zu fassen bekommen.«
Sie wollte nicht in Mountfords Haut stecken,
wenn ihm dies endlich gelänge. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten
aus Yorkshire?«
»Ja und nein. Anhand der Anwaltsakten haben wir
Carruthers Haupterben ausfindig machen können, einen gewissen
Jonathon Martinbury. Er war Anwaltsgehilfe in York. Er hat vor
Kurzem seine Ausbildung beendet und hatte vor, nach London zu
reisen; vermutlich, um seinen Abschluss zu feiern.« Er sah sie an,
blickte ihr
in die Augen. »Anscheinend hat er deinen Brief, den ihm der Anwalt
aus Harrogate weitergeleitet hat, erhalten und daraufhin seine
geplante Reise vorgezogen. Zwei Tage später nahm er die Postkutsche
nach London, doch hier in der Stadt habe ich ihn bislang nicht
ausfindig machen können.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie eigenartig. Man
sollte doch annehmen, dass er sich umgehend bei mir melden würde,
wenn er schon auf meinen Brief hin seine Reisepläne ändert.«
»Durchaus. Allerdings sollte man vorsichtig
sein, was die Prioritäten junger Männer angeht. Schließlich wissen
wir nicht, warum er ursprünglich nach London kommen wollte.«
Sie verzog das Gesicht. »Stimmt.«
Damit war das Thema an diesem Abend beendet.
Seit ihrer Unterhaltung in seinem Arbeitszimmer und dem darauf
folgenden Gespräch in ihrem Salon hatte Tristan darauf verzichtet,
irgendwelche sinnlichen Vergnügungen zu arrangieren außer
denjenigen, die man auf der Tanzfläche verwirklichen konnte. Doch
selbst hier waren sie sich beide der Nähe des anderen aufs Äußerste
bewusst, und zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht; jede
Berührung, jede flüchtige Liebkosung, jeder Blick nährte ihren
Hunger.
Sie spürte, wie die Begierde an ihren Nerven
zehrte, und sie musste Tristan nicht einmal in die oft verdunkelten
Augen sehen, um zu wissen, dass sie ihm noch mehr zusetzte als
ihr.
Aber sie hatte ihn um mehr Zeit gebeten, und er
gab sie ihr.
Sie hatte ihn einmal um
etwas gebeten und das Erbetene erhalten.
Während sie an diesem Abend die Treppe zu ihrem
Zimmer hinaufstieg, musste sie sich diese Tatsache unumwunden
eingestehen, sie akzeptieren.
Als sie schließlich im Bett lag, warm und wohlig
eingehüllt, kam sie noch einmal auf das Thema zurück.
Sie konnte nicht bis in alle Ewigkeit warten.
Sie konnte keinen weiteren Tag mehr warten. Ihr Zögern war nicht
gerechtfertigt; weder ihm noch ihr gegenüber. Ihr grausames Spiel
quälte sie beide.
Und beruhte zudem auf Gründen, die inzwischen all ihre Macht und
Bedeutsamkeit eingebüßt hatten.
Vor ihrer Zimmertür hörte sie Henrietta leise
knurren; dann vernahm Leonora das kratzende, klopfende Geräusch
ihrer Pfoten, das immer leiser wurde, als der Hund die Treppe
hinunterlief. Die Tatsache beunruhigte sie nicht weiter, sie nahm
sie nur am Rande wahr; ihre Gedanken blieben unbeirrt beim
Thema.
Tristans Antrag akzeptieren oder ihn für immer
aufgeben.
Es gab eigentlich keine Wahl. Nicht für sie.
Nicht mehr.
Sie musste das Risiko unweigerlich eingehen, die
Gelegenheit ergreifen und einen Schritt nach vorn tun.
Ihr Entschluss verfestigte sich; sie wartete ab,
rechnete mit einer Gegenreaktion, einer instinktiven Abwehr, doch
falls diese latent vorhanden gewesen war, so wurde sie von einer
Welle plötzlicher Überzeugung und Gewissheit regelrecht
überschwemmt.
Und von einem unbeschreiblichen
Glücksgefühl.
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass mit dem
Entschluss, sich der Verletzbarkeit bewusst preiszugeben, der Kampf
bereits halb gewonnen war. Es war tatsächlich so.
Sie fühlte sich mit einem Mal völlig unbeschwert
und schmiedete spontan Pläne, wie sie Tristan ihre Entscheidung
beibringen würde, wie sie ihm die frohe Botschaft am besten
verkünden sollte …
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit wohl
inzwischen vergangen war, als ihr auffiel, dass Henrietta nicht an
ihren Platz vor der Tür zurückgekehrt war.
Diese Tatsache
beunruhigte sie durchaus.
Henrietta trottete oft des Nachts durchs Haus,
aber nie lange. Sie kehrte immer getreulich zu ihrem Lieblingsplatz
auf dem Läufer vor Leonoras Tür zurück.
Doch sie war jetzt nicht dort.
Das wusste Leonora mit absoluter Sicherheit,
noch bevor sie sich ihren Morgenmantel überzog und leise die Tür
öffnete, um nachzusehen.
Nichts.
Schwaches Licht drang vom Kopf der Treppe den
Korridor hinunter; sie zögerte einen Augenblick, dann zog sie den
Morgenmantel fest um sich und ging in Richtung Treppe.
Sie erinnerte sich an Henriettas leises Knurren,
bevor diese die Treppe hinuntergetrottet war. Das Geräusch mochte
einer streunenden Katze gegolten haben. Andererseits …
Was, wenn Mountford erneut versuchte, hier
einzubrechen?
Was, wenn er Henrietta etwas antat?
Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte ihre
Hündin bereits, seit diese ein kleines Fellbündel gewesen war;
Henrietta war tatsächlich ihre engste Vertraute, die stille
Empfängerin unzähliger Geheimnisse.
Wie ein Gespenst schlich Leonora die Treppe
hinunter, während sie sich zugleich ermahnte, nicht
überzureagieren. Es war sicherlich nur eine Katze. Es gab etliche
Katzen am Montrose Place. Vielleicht waren es gleich zwei, und
Henrietta war deswegen noch nicht zurückgekehrt.
Sie erreichte den Fuß der großen Haupttreppe in
der Eingangshalle und überlegte, ob sie eine Kerze anzünden sollte.
Im Untergeschoss würde es stockdunkel sein; womöglich stolperte sie
gar über Henrietta, die davon ausgehen würde, dass Leonora sie
sähe.
Sie blieb vor dem Beistelltisch an der Rückseite
der Eingangshalle stehen und nahm die Zunderbüchse in die Hand, um
sich eine der Kerzen anzustecken, die dort auf ihre Verwendung
warteten. Sie nahm den schlichten Kerzenhalter in die Hand und
schob sich durch die grüne Pendeltür.
Sie hielt die Kerze vor sich nach oben und
schritt den Gang hinunter. Die Wände zuckten um sie herum, als
hätte der Lichtschein sie zum Leben erweckt, aber ansonsten war
alles so wie immer. Ihre Pantoffeln schlugen sanft gegen den
Fliesenboden, während sie am Wirtschaftsraum und der Wäschekammer
vorüberging; schließlich erreichte sie die kurze Treppe, die zur
Küche hinunterführte.
Sie blieb stehen und blickte nach unten. Alles
war in tiefes Schwarz getaucht, bis auf einige Stellen, die das
fahle Mondlicht
beleuchtete, welches durch die Fenster und das kleine
Belüftungsgitter oberhalb der Hintertür hereinfiel. Im schwachen
Lichtschein vor der Tür konnte sie schemenhaft die zottige
Silhouette ihrer Hündin ausmachen; Henrietta lag direkt an der Wand
des Flurs und hatte ihren Kopf auf die Pfoten gelegt.
»Henrietta?« Mit angestrengtem Blick spähte
Leonora nach unten in die Dunkelheit.
Henrietta rührte sich nicht.
Irgendetwas stimmte da nicht. Henrietta war
nicht mehr die Jüngste. In Sorge, der Hund könne einen Schlag
erlitten haben, raffte Leonora ihr schleifendes Nachtgewand und
rannte die Treppe hinunter.
»Henriet… oh!«
Mit offenem Mund blieb sie auf der letzten
Treppenstufe stehen - ihr gegenüber stand die Gestalt eines Mannes,
der ihr aus dem Schatten heraus entgegengetreten war.
Das Kerzenlicht flackerte über sein dunkel
umrahmtes Gesicht, seine Lippen waren wie zu einem Knurren
verzogen.
Ein plötzlicher Schmerz schoss ihr durch den
Hinterkopf; die Kerze fiel ihr aus der Hand. Während sie
vornüberstürzte, erlosch alles Licht, und tiefe Dunkelheit senkte
sich über sie.
Einen Augenblick lang glaubte sie, dies läge
daran, dass die Kerze ausgegangen war, doch dann hörte sie, wie in
großer Ferne Henrietta plötzlich anfing zu bellen und zu heulen. Es
war das grauenvollste Geräusch, das man sich überhaupt vorstellen
konnte.
Leonora versuchte vergeblich, ihre Augen zu
öffnen.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Die
Schwärze verdichtete sich und riss sie mit sich fort.
Das Bewusstsein zurückzuerlangen, war alles
andere als angenehm. Sie ließ sich einige Zeit in einem
eigenartigen Zwischenzustand treiben, weder an- noch abwesend,
während eine Vielzahl besorgter Stimmen sie umspülte; manche
klangen scharf vor Wut, andere vor Angst.
Henrietta war auch da, direkt an ihrer Seite.
Die Hündin jaulte und leckte an ihren Fingern. Ihre Augenlider
fühlten sich an wie aus Blei; ihre Wimpern zuckten leicht. Mühsam
hob sie eine Hand und stellte fest, dass sie einen breiten Verband
um den Kopf hatte.
Die Gespräche rissen unvermittelt ab.
»Sie ist wach!«
Die Stimme gehörte Harriet. Die Zofe eilte an
ihre Seite und ergriff ihre Hand, um sie zu tätscheln. »Keine
Sorge. Der Doktor hat schon nach Ihnen gesehen und uns versichert,
dass Sie im Nu wieder wie neu sein werden.«
Leonora ließ ihre Hand schlaff in Harriets Griff
ruhen und gab sich Mühe, das Gesagte zu verarbeiten.
»Geht es dir gut, Schwesterherz?«
Jeremys Stimme klang seltsam erschüttert; er
schien irgendwo ganz in ihrer Nähe zu stehen. Sie lag der Länge
nach ausgestreckt, die Beine etwas höher als der Kopf, auf einer
Chaiselongue. Sie musste sich im Salon befinden.
Eine schwere Hand tätschelte unbeholfen ihr
Knie. »Ruh dich nur aus, Liebes«, kam Humphreys wohlgemeinter Rat.
»Gott weiß, worauf diese Welt zusteuert, aber …« Seine Stimme wurde
zittrig und riss ab.
Im nächsten Augenblick hörte sie einen bissigen
Kommentar. »Es würde ihr gewiss besser bekommen, wenn Sie sie nicht
alle so bedrängten.«
Tristan.
Sie öffnete die Augen und blickte ihn geradewegs
an, da er direkt am Fuß des Ruhebettes stand.
Sein Gesicht wirkte starrer, als sie es je zuvor
gesehen hatte; wer es zu deuten wusste, erkannte die beißende
Drohung, die in seinen aristokratischen Zügen lag.
Sein funkelnder Blick allein war Warnung genug
für jeden.
Sie blinzelte, ohne den Blick von ihm
abzuwenden. »Was ist passiert?«
»Du hast einen Schlag auf den Kopf
bekommen.«
»Das hatte ich mir schon fast gedacht.« Sie
wandte ihren Blick zu Henrietta; die Hündin drängte sich näher an
sie heran. »Ich ging nach unten, um nach Henrietta zu sehen. Ich
hatte gehört, wie sie die Treppe hinunterlief und dann nicht wieder
zurückkam. Das tut sie sonst immer.«
»Und deswegen bist du ihr gefolgt.«
Sie blickte wieder zu Tristan. »Ich hatte Angst,
es wäre ihr vielleicht etwas zugestoßen. Und so war es ja auch.«
Sie sah wieder Henrietta an und runzelte die Stirn. »Sie lag bei
der Hintertür, aber sie bewegte sich nicht …«
»Sie wurde betäubt. Portwein mit Laudanum, den
man unter der Tür hindurchgeschüttet hat.«
Sie streckte ihre Hand nach Henrietta aus, legte
die Handfläche zärtlich an ihren struppigen Kopf und sah in ihre
glänzenden braunen Augen.
Tristan bewegte sich. »Sie ist wieder ganz die
Alte. Du hattest Glück. Wer auch immer das hier getan hat, hat ihr
zu wenig verabreicht, um sie in mehr als einen sanften Schlummer zu
versetzen.«
Sie atmete ein und zuckte zusammen, als ihr ein
neuerlicher Schmerz durch den Kopf schoss. Ihr Blick kehrte zu
Tristan zurück. »Es war Mountford. Ich habe ihm am Fuß der Treppe
direkt gegenübergestanden.«
Einen Augenblick lang dachte sie, Tristan werde
tatsächlich laut knurren; der Ausdruck von Gewalttätigkeit, der mit
einem Mal seine Züge erfasste, war regelrecht beängstigend. Zumal
sich ein Teil seiner Aggressivität ohne jeden Zweifel auf sie
bezog.
Ihre Bemerkung hatte die anderen schockiert;
alle Blicke waren nunmehr auf sie gerichtet, nicht auf
Tristan.
»Welcher Mountford?«, fragte Jeremy. Sein Blick
wanderte von Leonora zu Tristan. »Worum geht es hier
eigentlich?«
Leonora seufzte. »Es geht um diesen Einbrecher.
Es ist derselbe Mann, den ich bei uns im Garten gesehen
habe.«
Angesichts dieser Enthüllung blieb sowohl Jeremy
wie auch
Humphrey der Mund offen stehen. Sie waren entsetzt - und zwar umso
mehr, da sie nun nicht länger die Augen verschließen und so tun
konnten, als würde Leonora sich das alles nur einbilden. Es war
keineswegs ihre Einbildungskraft, die Henrietta betäubt und ihr
selbst eins über den Schädel gegeben hatte. Plötzlich gezwungen,
sich mit der Realität auseinanderzusetzen, verfielen sie in
allerlei Beteuerungen und Bekräftigungen.
Der Lärm wurde ihr zu viel. Sie schloss die
Augen und gab sich der Bewusstlosigkeit dankbar hin.
Tristan fühlte sich wie eine überspannte
Geigensaite, die jeden Moment zu reißen drohte, doch als er sah,
wie Leonoras Augen sich langsam schlossen, wie sich ihre Stirn und
ihre Züge glätteten, während sie in den Zustand der
Bewusstlosigkeit hinüberglitt, atmete er tief ein, schluckte seine
Wut hinunter und drängte sie alle aus dem Zimmer, ohne jemanden
dabei anzubrüllen.
Sie gehorchten ihm, wenn auch widerwillig. Nach
allem, was er gehört, nach allem, was er mitbekommen hatte, konnte
aus seiner Sicht keinem von ihnen das Recht zuteilwerden, hier und
jetzt an ihrer Seite zu wachen. Nicht einmal ihrer Zofe, die ihr so
treu ergeben schien.
Er beauftragte sie stattdessen, Leonora einen
Kräutertee aufzubrühen; dann stellte er sich an ihre Seite und
blickte auf sie herab. Sie war zwar noch immer blass, aber ihre
Haut war nicht mehr so totenbleich wie in dem Augenblick, als er
sie zuerst gesehen hatte.
Jeremy, zweifellos von schweren Gewissensbissen
geplagt, hatte einen Diener nach nebenan geschickt; dann hatte
Gasthorpe alles Weitere in die Wege geleitet: Er hatte einen Diener
in die Green Street entsendet und zugleich nach dem speziellen Arzt
schicken lassen, der seinen Anweisungen nach im Notfall zu
bestellen war. Jonas Pringle war ein Veteran der Feldzüge auf der
Iberischen Halbinsel; er behandelte Messerstiche und Schusswunden,
ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Ein Schlag auf den Hinterkopf
war nicht mehr als eine Lappalie, doch genau diese Bestätigung,
untermauert
von seiner außergewöhnlichen Fachkompetenz, war genau die
Versicherung, die Tristan dringend gebraucht hatte.
Dies allein hatte ihn dazu befähigt, nicht
völlig die Fassung zu verlieren.
Ihm war bewusst, dass Leonora nicht so bald
wieder aufwachen würde. Er sah auf und warf einen Blick aus dem
Fenster. Die ersten Streifen der Morgendämmerung verfärbten den
Himmel. Der drängende Zwang, etwas zu tun, der ihn in den
vergangenen Stunden umgetrieben hatte, verebbte allmählich.
Er drehte einen der Sessel herum, sodass er der
Chaiselongue zugewandt war; dann ließ er sich hineinsinken,
streckte die Beine aus und wartete, den Blick fest auf Leonora
gerichtet.
Etwa eine Stunde später kam sie wieder zu sich;
ihre Lider zuckten, schlugen auf, dann atmete sie scharf ein.
Ihr Blick fiel auf Tristan; ihre Augen weiteten
sich. Sie blinzelte, versuchte sich umzusehen, ohne dabei den Kopf
zu bewegen.
Er hob sein Kinn, das zuvor auf seiner Faust
geruht hatte. »Wir sind allein.«
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. »Was ist
los?«
Er hatte die letzte halbe Stunde darüber
nachgedacht, wie er seine Ansprache am besten formulieren würde;
aber nun, da es so weit war, fühlte er sich zu erschöpft, um
irgendwelche Spielchen zu spielen. Nicht mit ihr. »Deine Zofe. Sie
war völlig aufgelöst, als ich hier ankam.«
Sie schloss die Augen; als sie sie wieder
öffnete, konnte er sehen, dass sie bereits einen Schritt weiter
gedacht und sich überlegt hatte, was wohl danach geschehen war; als
sie jedoch seinen Blick erwiderte, hatte er Mühe, ihren Ausdruck
richtig zu deuten. Sie konnte die früheren Angriffe unmöglich
verdrängt haben. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen,
warum sie seine Reaktion in irgendeiner Weise überraschen
sollte.
Als er weitersprach, klang seine Stimme schärfer
als beabsichtigt. »Sie sprach von zwei früheren Angriffen, einem
auf der Straße, einem im vorderen Garten; beide gezielt auf dich
gerichtet.«
Sie hielt seinem Blick stand; nickte und zuckte
sogleich vor Schmerz zusammen. »Aber es war nicht Mountford.«
Dies war ihm neu. Eine Neuigkeit, die seine Wut
jedoch nur noch mehr anfachte. Er sprang auf, nicht länger in der
Lage, falsche Gelassenheit vorzutäuschen, die seine
Selbstbeherrschung bei Weitem überforderte. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
Sie sah ihn weiter ruhig an, nicht im Geringsten
eingeschüchtert; dann entgegnete sie leise: »Ich dachte, es wäre
nicht wichtig.«
»Nicht wichtig?« Mit geballten Fäusten gelang es
ihm, seine Stimme einigermaßen unter Kontrolle zu halten. »Man hat
dich bedroht, und du denkst, das wäre nicht wichtig?« Er sah ihr
tief in die Augen. »Denkst du nicht, dass ich es vielleicht für wichtig gehalten hätte?«
»Es war nicht …«
»Nein!« Er schnitt ihr
mit einer heftigen Bewegung das Wort ab. Er hatte das dringende
Bedürfnis, erneut auf und ab zu laufen. Mit einem flüchtigen Blick
auf sie versuchte er, wieder einen klaren Kopf zu bekommen,
zumindest so weit, dass er einigermaßen vernünftig mit ihr
kommunizieren konnte.
Worte, die zu hitzig und zu brutal waren, als
dass er sie hätte laut aussprechen können, versengten ihm die
Zunge.
Worte, von denen er wusste, dass er sie bereuen
würde, sobald sie ihm über die Lippen kämen.
Er musste sich konzentrieren. Mit aller ihm zur
Verfügung stehenden Professionalität zwang er sich, gnadenlos zum
Kern der Sache vorzustoßen. Alle Schleier schonungslos
herunterzureißen und der kalten, harten Wahrheit - der
unumstößlichen Realität, auf die es einzig und allein ankam -
unmittelbar ins Auge zu blicken.
Er blieb abrupt stehen und atmete gezwungen ein.
Dann drehte er sich jäh um und sah ihr direkt in die Augen. »Du
bedeutest mir etwas.« Er musste die Worte geradezu hervorzwingen;
sie klangen rau und kratzig. »Und zwar nicht nur ein bisschen,
sondern unendlich viel. Du bedeutest mir sehr viel mehr als
irgendjemand oder irgendetwas sonst in meinem ganzen Leben.«
Er zwang sich zu atmen, den Blick unverwandt auf
sie gerichtet. »Wenn einem jemand etwas bedeutet, heißt das, dass
man einen Teil von sich selbst, und sei es auch noch so
widerwillig, in die Obhut des anderen gibt. Die Person, die einem
so unendlich wichtig ist, wird zu einer Art Schatztruhe, in der
dieser besagte Teil von einem selbst«, er hielt ihren Blick
gebannt, »dieser unermesslich wertvolle, dieser unbeschreiblich
wichtige Teil von einem selbst aufbewahrt
wird. Und zugleich wird diese Person für einen ganz genauso
wichtig - unbeschreiblich und unermesslich
wichtig.«
Er schwieg; fügte dann leiser hinzu. »So
wichtig, wie du für mich.«
Die Uhr tickte; ihre Blicke blieben fest
aufeinander gerichtet. Keiner rührte sich.
Schließlich bewegte er sich. »Ich habe wirklich
alles getan, was ich kann, um es dir zu erklären, um es dir
begreiflich zu machen.«
Sein Ausdruck war mit einem Mal verschlossen; er
wandte sich zum Gehen.
Leonora versuchte, sich zu erheben. Vergeblich.
»Wo willst du hin?«
Mit einer Hand am Türgriff drehte er sich zu ihr
um. »Ich gehe. Ich werde deine Zofe zu dir schicken.« Seine Worte
klangen hart, doch im Hintergrund schwangen heftig brodelnde
Gefühle mit. »Wenn du endlich dazu bereit bist, jemandem wichtig zu sein - dann weißt du, wo du mich
findest.«
»Tristan …«
Sie wandte sich mühevoll um und hob ihre
Hand.
Doch die Tür fiel ins Schloss. Ein Klang von
Endgültigkeit erschütterte den gesamten Raum.
Sie starrte eine ganze Weile die Tür an, dann
ließ sie sich zurücksinken und seufzte. Sie schloss die Augen. Sie
wusste ganz genau, was geschehen war. Sie musste es dringend
ungeschehen machen.
Aber nicht jetzt. Nicht heute.
Sie fühlte sich sogar zu schwach zum Denken. Und
sie musste
nachdenken, planen, sich die richtigen Worte zurechtlegen, um
ihren verwundeten Wolf zu besänftigen.
Die nächsten drei Tage schienen nicht mehr als
eine endlose Aneinanderreihung von Entschuldigungen.
Harriet zu verzeihen, fiel ihr nicht allzu
schwer. Die Ärmste war derart aufgelöst gewesen, als sie Leonora
bewusstlos auf dem Fliesenboden liegen sah, dass sie einfach
hysterisch losgeplappert hatte. Die kleinste Bemerkung über frühere
Angriffe auf Leonora hatte ausgereicht, um Tristans Aufmerksamkeit
zu erregen. Er hatte ihr hemmungslos alle Informationen entlockt
und sie dadurch nur noch mehr aufgewühlt.
Als Leonora sich mittags nach einer Tasse Suppe
- das Einzige, was sie sich überhaupt vorstellen konnte zu essen -
in ihr Bett begeben wollte, half Harriet ihr die Treppe hinauf und
in ihr Zimmer, ohne auch nur einen Ton zu sagen, sogar ohne sie
anzublicken oder auch nur flüchtig aufzusehen.
Mit einem innerlichen Seufzer ließ sich Leonora
auf die Bettkante sinken und ermunterte Harriet, ihr all ihre
Sünden, ihre Sorgen und ihren Kummer zu beichten; dann schloss sie
Frieden mit ihr.
Diese Sache ließ sich mit Abstand am leichtesten
aus der Welt schaffen.
Erschöpft und immer noch recht zittrig zog sie
es vor, den Rest des Tages in ihrem Zimmer zu verbringen. Ihre
Tanten kamen zwischendurch vorbei, doch nachdem sie einen Blick auf
ihr Gesicht geworfen hatten, fassten sie sich kurz. Leonora bestand
allerdings darauf, dass sie niemandem von dem Angriff erzählten;
wenn sich irgendjemand nach ihr erkundigte, sollten sie einfach
sagen, sie sei unpässlich.
Am nächsten Morgen, Harriet hatte soeben das
Frühstückstablett abgeräumt, und Leonora war gerade im Begriff, es
sich in ihrem Sessel am Kamin gemütlich zu machen, klopfe es an der
Tür. Sie antwortet: »Herein.«
Die Tür ging auf; Jeremy spähte in den
Raum.
Er entdeckte sie. »Fühlst du dich wohl genug für
eine kleine Unterhaltung?«
»Ja, sicher.« Sie winkte ihn zu sich
herein.
Er trat behutsam ein, schloss leise die Tür,
dann kam er langsam zu ihr herüber; am Kamin blieb er stehen und
sah auf sie herab. Sein Blick war starr auf die Bandage um ihren
Kopf gerichtet. Seine Züge verkrampften sich. »Es ist meine Schuld,
dass du verletzt wurdest. Ich hätte dir besser zuhören, deinen
Worten mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Ich wusste, dass du dir
das alles nicht nur einbildest - diese Sache mit den Einbrechern -,
aber es war so viel leichter, das Ganze einfach zu ignorieren
…«
Er war vierundzwanzig Jahre alt, doch in diesem
Moment war er wieder ihr kleiner Bruder. Sie ließ ihn reden, ließ
ihn aussprechen, was ihn bekümmerte. Ließ ihn Frieden schließen,
nicht nur mit ihr, sondern vor allem mit sich selbst. Mit dem Mann,
der er hätte sein sollen.
Zwanzig erschöpfende Minuten später saß er am
Boden neben ihrem Sessel und hatte seinen Kopf auf ihr Knie
gelegt.
Sie strich ihm übers Haar, das so weich war und
doch so zerzaust und widerspenstig wie eh und je.
Ein plötzlicher Schauder überfiel ihn. »Wenn
Trentham nicht gewesen wäre …«
»Wenn er nicht gewesen wäre, hättet ihr die
Situation auch ohne ihn gemeistert.«
Nach einer kurzen Pause seufzte er und rieb
seine Wange gegen ihr Knie. »Vermutlich.«
Sie verbrachte die restliche Zeit des Tages
erneut im Bett. Am darauffolgenden Morgen fühlte sie sich schon
bedeutend besser. Der Arzt kam nochmals vorbei, um nach ihr zu
sehen; er überprüfte ihr Sehvermögen und ihren Gleichgewichtssinn,
untersuchte die empfindliche Stelle an ihrem Hinterkopf und
erklärte sich mit dem Ergebnis voll und ganz zufrieden.
»Aber ich rate Ihnen, in den kommenden Tagen
jegliche Anstrengung zu vermeiden.«
Sie dachte über diesen Hinweis nach - dachte an
die Entschuldigung, die ihr noch bevorstand, und an die emotionalen
und körperlichen Anstrengungen, die damit unweigerlich verbunden
waren -, als sie langsam und vorsichtig die Treppe
hinunterstieg.
Humphrey saß auf einer Bank in der
Eingangshalle; als er sie herunterkommen sah, stand er mithilfe
seines Stocks auf. Er lächelte ein wenig verkniffen. »Da bist du
ja, Liebes. Fühlst du dich etwas besser?«
»Danke, durchaus. Viel besser sogar.« Sie war
versucht, sich in irgendwelche Fragen bezüglich der
Haushaltsführung zu stürzen, nur um dem zu entgehen, was sie
unvermeidlich auf sich zukommen sah. Sie schob diesen unwürdigen
Impuls beiseite; Humphrey musste sich, ebenso wie Harriet und
Jeremy, mit ihr aussprechen. Sie lächelte warmherzig, ergriff
seinen Arm, den er ihr darbot, und ging mit ihm in den Salon.
Das Gespräch erwies sich als schlimmer,
emotionaler, als sie es erwartet hatte. Seite an Seite saßen sie
auf der Chaiselongue und blickten in den Garten, ohne ihn wirklich
zu sehen. Zu ihrer Überraschung reichten die Schuldgefühle ihres
Onkels sehr viel weiter zurück, als es ihr bewusst gewesen
war.
Er sprach seine Versäumnisse der letzten Wochen
ganz unumwunden an und entschuldigte sich barsch, doch dann drang
er tiefer in die Vergangenheit ein, und Leonora stellte fest, dass
er die letzten Tage sehr viel intensiver nachgedacht haben musste,
als sie es angenommen hätte.
»Ich hätte Mildred viel häufiger nach Kent
einladen sollen, das war mir schon damals bewusst.« Er starrte aus
dem Fenster und tätschelte geistesabwesend ihre Hand. »Aber, weißt
du, als deine Tante Patricia starb, habe ich mich von der Welt
abgeschottet; ich habe mir geschworen, nie wieder so tief für
jemanden zu empfinden, mich nie wieder so verletzlich zu machen.
Ich war froh, dich und Jeremy um mich zu haben. Ihr wart mein
Rettungsanker im tristen Alltag; ihr habt es mir leichter gemacht,
den Schmerz zu vergessen und ein einigermaßen normales Leben zu
führen.
Aber ich war fest entschlossen, niemanden mehr
so nah an mich heranzulassen, dass er mir hätte wichtig werden
können. Kein zweites Mal. Deshalb habe ich euch bewusst auf Abstand
gehalten; Jeremy in mancherlei Weise genauso wie dich.« Er sah sie
an; seine alten Augen waren müde und wässrig von Tränen. Er
lächelte halbherzig. »Und somit habe ich dich betrogen, und zwar um
die Zuwendung und Sorge, die dir zustand, und ich schäme mich
zutiefst dafür. Aber ich habe mich zugleich in vielfacher Hinsicht
selbst betrogen. Ich habe mir all das versagt, was zwischen dir und
mir - und Jeremy natürlich - hätte sein können. Ich habe uns
sozusagen alle drei geprellt. Und trotzdem habe ich mein Ziel
verfehlt. Ich war zu überzeugt von mir selbst, um zu begreifen,
dass man seine Empfindungen nicht vollständig kontrollieren
kann.«
Seine Hand schloss sich fester um die ihre. »Als
wir dich dort gefunden haben, auf dem Fliesenboden …«
Seine Stimme zitterte, brach.
»Ach, Onkel Humphrey.« Leonora wandte sich ihm
zu und umarmte ihn. »Es spielt doch überhaupt keine Rolle. Jetzt
nicht mehr.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Es liegt in
der Vergangenheit.«
Er erwiderte ihre Umarmung, doch betonte dabei
barsch: »Und ob es eine Rolle spielt. Aber ich werde mich nicht mit
dir streiten, denn du hast vollkommen recht. Es liegt in der
Vergangenheit. Von nun an werden wir uns so verhalten, wie wir es
schon immer hätten tun sollen.« Er zog den Kopf ein wenig ein, um
ihr in die Augen zu sehen. »Hm?«
Sie lächelte, selbst den Tränen nahe. »Ja.
Genau.«
»Gut!« Er ließ sie los und atmete tief ein. »Und
nun musst du mir alles berichten, was ihr beide, du und Trentham,
herausgefunden habt. Wenn ich recht verstehe, geht es dabei um
Cedrics Arbeit?«
Sie erklärte ihm alles. Als Humphrey darum bat,
Cedrics Tagebücher zu sehen, nahm sie einige vom Stapel in der
Ecke.
»Hm … hm!« Er las die erste Seite, dann ließ er
seinen Blick über den Bücherstapel wandern. »Wie weit bist du bis
jetzt gekommen?«
»Erst bis zum vierten, allerdings …« Sie
erklärte ihm, dass die Tagebücher keiner chronologischen Ordnung
folgten.
»Dann hat er offenbar ein anderes
Ordnungsprinzip verwandt; zum Beispiel ein separates Buch für jede
eigenständige Idee.« Er schlug die Kladde auf seinem Schoß zu. »Es
gibt keinen Grund, weshalb Jeremy und ich unsere Arbeit nicht für
eine Weile unterbrechen sollten, um dir ein bisschen unter die Arme
zu greifen. Es ist schließlich nicht dein
Spezialgebiet, sondern unseres.«
Sie musste sich ernsthaft zusammenreißen, um ihn
nicht mit offenem Mund anzustarren. »Und was ist mit den
Mesopotamiern? Und den Sumerern?«
Ihr Onkel und ihr Bruder arbeiteten beide im
Auftrag des British Museums.
Humphrey schnaubte und winkte ab, während er
sich von seinem Platz hochdrückte. »Das Museum kann warten, diese
Sache hier nicht. Nicht, solange ein ruchloser und gefährlicher
Schuft hinter irgendetwas in unserem Hause her ist. Und außerdem«,
er war endlich auf den Beinen, streckte seinen Rücken und grinste
Leonora an, »wen sollte das Museum schon mit der Übersetzung
beauftragen, wenn nicht uns?«
Hierüber ließ sich nicht streiten. Sie stand auf
und betätigte den Klingelzug. Als Castor eintrat, bat sie ihn, den
Stapel Tagebücher in die Bibliothek bringen zu lassen. Humphrey
steckte sich das Tagebuch, das er zuvor betrachtet hatte,
kurzerhand unter den Arm und verließ mit Leonoras Hilfe langsam den
Raum in selbige Richtung. Im Flur überholte sie ein Diener mit dem
übrigen Bücherstapel; sie folgten ihm in die Bibliothek.
Jeremy blickte auf; wie immer war sein
Schreibtisch übersät mit aufgeschlagenen Büchern.
Humphrey gestikulierte mit seinem Stock. »Schaff
ein wenig Platz. Neue Aufgabe. Äußerst dringlich.«
»Ach?«
Zu Leonoras Verwunderung gehorchte Jeremy auf
der Stelle; er schloss mehrere Bücher und schob sie beiseite,
sodass der Diener den hohen Bücherstapel vor ihm absetzen
konnte.
Jeremy ergriff das oberste und schlug es auf.
»Was ist das?«
Humphrey erklärte ihm alles; Leonora fügte
hinzu, dass sie vermuteten, die Tagebücher könnten womöglich eine
versteckte Formel enthalten, die in irgendeiner Weise wertvoll
war.
Jeremy hatte sich bereits in die Lektüre
vertieft und gab lediglich ein vage zustimmendes Geräusch von
sich.
Humphrey begab sich an seinen gewohnten Platz
und machte sich umgehend an die Lektüre des Tagebuchs, das er eben
aus dem Salon mitgebracht hatte. Leonora dachte kurz nach, dann
ließ sie die beiden zurück, um sich stattdessen dem Personal zu
widmen und die üblichen Haushaltsangelegenheiten
durchzusprechen.
Eine Stunde später kehrte sie in die Bibliothek
zurück. Beide, sowohl Jeremy als auch Humphrey, waren in Cedrics
Tagebücher vertieft; Jeremys Ausdruck war nachdenklich. Er blickte
auf, als sie das oberste Tagebuch vom Stapel nahm.
»Oh.« Er blinzelte sie an, als wäre er
kurzsichtig.
Sie spürte seinen instinktiven Wunsch, ihr das
Buch wieder zu entreißen. »Ich dachte, ich helfe euch ein
bisschen.«
Jeremy errötete leicht und warf einen Blick
hinüber zu Humphrey. »Das ist ehrlich gesagt nicht so ganz einfach,
es sei denn, du wärest bereit, die meiste Zeit deines Tages hier zu
verbringen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Wegen der vielen Querverweise. Wir haben zwar
gerade erst begonnen, aber das Ganze droht zum Albtraum zu werden,
bis wir die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Tagebüchern und
deren logische Abfolge durchschaut haben. Wir müssen uns dabei
ständig mündlich austauschen, denn es wäre viel zu umständlich,
alle denkbaren Bezüge schriftlich festzuhalten; außerdem ist die
Sache zu dringend.« Er sah sie an. »Wir sind diese Art von Arbeit
gewohnt. Wenn es noch andere Dinge zu erkunden gibt, könntest
du dich da womöglich besser nützlich machen; vermutlich können wir
das ganze Rätsel schneller lösen, wenn du dich auf einen anderen
Aspekt konzentrierst.«
Keiner der beiden wollte sie ausschließen; das
las sie in ihren Augen, in ihren aufrichtigen Zügen. Aber Jeremy
hatte recht, sie waren die Fachleute auf diesem Gebiet - und sie
selbst hatte tatsächlich nicht den allergrößten Drang, den Rest des
Tages und gewiss einen Großteil des Abends damit zuzubringen,
Cedrics zitterige Handschrift zu entziffern.
Außerdem hatte sie eine ganze Reihe andere Dinge
zu erledigen.
Sie lächelte gutmütig. »Es gibt in der Tat ein
paar andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren könnte. Wenn ihr
also auch ohne mich zurechtkommt?«
»O ja.«
»Wir kommen schon zurecht.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Schön, dann will ich
euch nicht weiter stören.«
Sie wandte sich um und ging zur Tür. Als sie,
die Hand am Türknauf, einen letzten Blick zurückwarf, waren die
beiden schon wieder über die Bücher gebeugt. Immer noch lächelnd
verließ sie den Raum und richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf
ihre mit Abstand dringlichste Tätigkeit: Sie musste sich um ihren
verwundeten Wolf kümmern.