5
»Ist das der Laden?«
Er nickte Charles St. Austell bestätigend zu und ergriff den Türknauf zu Stolemores Geschäft. Als Tristan am Vorabend einen seiner Klubs, The Guards, aufgesucht hatte, stand sein Entschluss bereits fest, Stolemore einen neuerlichen Besuch abzustatten und diesmal mit deutlich mehr Nachdruck aufzutreten. Dass er nun ausgerechnet Charles im The Guards angetroffen hatte, der gerade geschäftlich in der Stadt war und sich zufälligerweise in ebendiesen Klub zurückgezogen hatte, war ein unerwarteter Glücksfall, den Tristan nicht so einfach ignorieren konnte.
Jeder von ihnen konnte für sich genommen bedrohlich genug auftreten, um so gut wie jeden zum Reden zu bringen; gemeinsam würden sie Stolemore ohne Zweifel alles entlocken, was Tristan von ihm wissen wollte.
Er hatte die Angelegenheit nur zu erwähnen brauchen, und schon war Charles bereitwillig darauf angesprungen. Er war geradezu begeistert von der Idee, Tristan zu helfen und seine speziellen Talente wieder einmal unter Beweis zu stellen.
Die Tür öffnete sich nach innen; Tristan trat als Erster ein. Diesmal saß Stolemore hinter seinem Schreibtisch. Er sah auf, und sein Blick verhärtete sich, als er Tristan erkannte.
Tristan schlenderte hinein, den Blick unverwandt auf den unglückseligen Makler geheftet. Stolemores Augen weiteten sich. Sein Blick war zu Charles hinübergewandert. Mit einem Mal wirkte der Makler blass und angespannt.
Tristan hörte, wie Charles sich hinter ihm bewegte; er drehte sich nicht um. Seine feinen Sinne verrieten ihm, dass er das hölzerne Türschild umgedreht hatte, sodass man von außen den Schriftzug GESCHLOSSEN las. Dann hörte er das Geräusch von Metallringen auf Holz. Als Charles die Vorhänge zuzog, verdunkelte sich der Raum ein wenig.
Stolemores Gesichtsausdruck und das Misstrauen in seinen Augen verrieten, dass er die Drohung sehr wohl verstand. Er fasste mit den Händen nach der Schreibtischkante und schob seinen Stuhl langsam zurück.
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Tristan, wie Charles sich leisen Schrittes zu dem verhangenen Durchgang begab, der tiefer ins Haus führte, und sich mit verschränkten Armen lässig gegen den Türrahmen lehnte. Sein Lächeln war das eines Teufels.
Die Botschaft war eindeutig. Um aus seinem Büro entkommen zu können, musste er an einem der beiden Männer vorbei. Obwohl der Makler kräftig gebaut war - weitaus kräftiger als Tristan oder Charles -, hegte niemand der Anwesenden den geringsten Zweifel, dass er weder gegen den einen noch gegen den anderen die geringste Chance hatte.
Tristan lächelte - nicht freundlich, jedoch einigermaßen versöhnlich. »Wir wollen nur ein paar Informationen.«
Stolemore fuhr sich mit der Zunge über die Lippen; sein Blick wanderte von Tristan zu Charles und wieder zurück. »Informationen worüber?«
Seine Stimme klang rau - seine unterschwellige Angst nagte daran.
Tristan wartete einen Moment ab, so als wolle er diesen Klang genießen, dann entgegnete er: »Ich will Namen und Daten derjenigen Person, die das Haus Nummer vierzehn am Montrose Place kaufen wollte.«
Stolemore schluckte; er wich noch weiter zurück, während sein Blick unruhig zwischen den beiden Männern hin und her zuckte. »Ich gebe keine Auskünfte über meine Kunden. Ich will nicht meinen Ruf riskieren.«
Erneut wartete Tristan ab, ohne seinen Blick einen Moment lang von Stolemore abzuwenden. Als die Stille bis zum Zerreißen gespannt war - ebenso wie Stolemores Nerven -, fragte er ruhig: »Und was meinen Sie wohl zu riskieren, wenn Sie uns die gewünschte Information vorenthalten?«
Stolemore wurde noch bleicher; die Blutergüsse, die ihm ebenjene Partei zugefügt hatte, die er in diesem Moment schützte, waren auf seiner fahlen Haut deutlich zu erkennen. Er sah Charles an, so als wolle er seine Chancen abwägen; kurz darauf wandte er sich wieder Tristan zu. Er schien verwirrt. »Wer sind Sie?«
Tristans Antwort war ruhig, emotionslos. »Wir sind zwei Gentlemen, die es nicht gern sehen, wenn Unschuldige zu Schaden kommen. Ich könnte auch sagen, die jüngsten Aktivitäten Ihres Kunden kommen bei uns nicht sonderlich gut an.«
»So ist es«, setzte Charles in einem Ton hinzu, der dem Schnurren einer Raubkatze glich. »Wir fühlen uns sozusagen auf den Schwanz getreten.«
Seine Worte trieften vor latenter Drohung.
Stolemore warf einen flüchtigen Blick zu Charles hinüber, sah dann aber hastig zurück zu Tristan. »In Ordnung. Ich werde es Ihnen verraten. Aber nur unter einer Bedingung: Sie dürfen ihm auf gar keinen Fall sagen, dass Sie seinen Namen von mir haben.«
»Ich kann Ihnen versichern, wenn wir ihn erst einmal in die Finger bekommen, werden wir sicherlich keine Zeit darauf verschwenden, ihm zu erklären, wie wir ihn gefunden haben.« Tristan zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann Ihnen zudem garantieren, dass er sich dann über ganz andere Dinge Sorgen machen wird.«
Stolemore unterdrückte ein nervöses Schnauben. Er zog eine der Schreibtischschubladen auf.
Tristan und Charles bewegten sich fast unmerklich - lautlos und tödlich. Stolemore erstarrte; als er nervös aufblickte, war er zwischen ihnen eingekesselt. »Es ist nur ein Buch«, krächzte er. »Ich schwöre es!«
Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte absolute Stille, dann nickte Tristan. »Holen Sie es heraus.«
Stolemore wagte kaum zu atmen, während er das Hauptbuch aus der Schublade zog.
Die Anspannung im Raum ließ ein wenig nach; der Makler legte das Buch auf den Tisch und schlug es auf. Er blätterte nervös darin herum, wanderte dann mit dem Finger über eine der Seiten und hielt schließlich inne.
»Schreiben Sie es auf.«
Stolemore gehorchte.
Tristan hatte den Eintrag bereits gelesen und auswendig gelernt. Als Stolemore fertig war und ihm den Zettel mit der Adresse hinschob, lächelte Tristan - diesmal mit seinem ganz eigenen Charme.
»Auf diese Weise«, er sah Stolemore tief in die Augen, während er den Zettel in die Innentasche seines Mantels steckte, »können Sie - sofern jemand danach fragen sollte - ruhigen Gewissens behaupten, Sie hätten niemandem seinen Namen oder seine Adresse gesagt. Und nun beschreiben Sie uns, wie er aussieht. Es handelt sich doch um einen einzelnen Mann, oder nicht?«
Stolemore nickte in dieselbe Richtung, in die das Papier verschwunden war. »Nur der eine. Unangenehmer Zeitgenosse. Dem Aussehen nach durchaus ein Gentleman - schwarze Haare, blasse Haut, braune Augen. Gut gekleidet, aber nicht den Ansprüchen Mayfairs genügend. Landadel oder so was in der Richtung. Er hat sich jedenfalls überheblich genug aufgeführt. Noch recht jung, hat aber irgendwie was Böses an sich und ist überaus leicht zu reizen.« Stolemore legte eine Hand an den Bluterguss über seinem Auge. »Ihn nicht wiederzusehen, wäre bei Gott kein Verlust.«
Tristan neigte den Kopf. »Wir werden sehen, was sich tun lässt.«
Er drehte sich um und ging zur Tür. Charles folgte ihm auf dem Fuß.
Auf dem Gehweg blieben sie stehen.
Charles verzog das Gesicht. »So gerne ich auch einen Blick auf unsere zukünftige Festung werfen würde«, sein schalkhaftes Grinsen trat in Erscheinung, »und auf unsere reizende Nachbarin … Aber ich muss leider von dannen - das gute alte Cornwall ruft.«
»Ich danke dir für deine Hilfe.« Tristan reichte ihm die Hand.
Charles schüttelte sie. »Jederzeit.« Ein Anflug von falscher Bescheidenheit umspielte seine Züge. »Um ehrlich zu sein, habe ich es regelrecht genossen - auch wenn es nur eine Kleinigkeit war. Auf dem Land habe ich das Gefühl, völlig einzurosten.«
»Niemand hat behauptet, dass die Umstellung leichtfallen würde - für uns noch weniger als für jeden anderen.«
»Du hast wenigstens eine sinnvolle Beschäftigung. Das Einzige, was mich beschäftigt, sind Schafe, Kühe und Schwestern.«
Tristan musste über Charles’ abgrundtiefen Unmut lachen. Er klopfte ihm auf die Schulter, dann gingen beide ihrer Wege - Charles zurück nach Mayfair, Tristan in die andere Richtung.
Sprich, in Richtung Montrose Place. Es war noch nicht einmal zehn Uhr. Er wollte mit Gasthorpe reden, dem ehemaligen Hauptfeldwebel, den sie nunmehr als Majordomus des Bastion-Klubs eingestellt hatten und der die abschließenden Arbeiten im Klub überwachte; danach würde er, wie versprochen, bei Leonora vorbeisehen.
Und zwar um - wie ebenfalls versprochen - die weitere Vorgehensweise mit ihr abzusprechen.
 
Um elf Uhr klopfte er an der Eingangstür der Carlings. Der Butler führte ihn in den Salon; als er eintrat, erhob sich Leonora von ihrem Platz auf dem Sofa.
»Guten Morgen.« Sie knickste höflich, während er sich über ihrer Hand verneigte.
Die Sonne hatte sich zwischen den Wolken hindurchgekämpft; ihre Strahlen, die auf das satte Grün des Gartens fielen, erregten Tristans Aufmerksamkeit.
»Lassen Sie uns in den Garten gehen.« Er hielt ihre Hand fest. »Ich würde mir gern einmal die hintere Grundstücksmauer ansehen.«
Sie zögerte einen Moment, neigte dann aber den Kopf; sie wäre vorausgegangen, doch er gab ihre Finger nicht frei. Stattdessen schloss er seine Hand fester um die ihre. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, während sie Seite an Seite auf die Verandatüren zugingen. Sie stießen sie weit auf und traten hindurch. Als sie die Stufen hinunterstiegen, legte er ihre Hand auf seinen Arm.
Er bemerkte ihren flatternden Puls unter seinen Fingern.
Sie hob den Kopf. »Wir müssen durch den Bogen in der Hecke hindurchgehen.« Sie deutete vor sich. »Die Mauer befindet sich am hinteren Ende des Küchengartens.«
Der überaus großzügig angelegt war. Mit Henrietta im Schlepptau schlenderten sie den Mittelweg hinunter, vorbei an Reihen von Kohlköpfen, gefolgt von mehreren brachliegenden Beeten und einigen lang aufgetürmten Haufen aus Blättern und anderen Gartenabfällen, die still vor sich hin schlummerten und auf den Frühling warteten.
Tristan hielt inne. »Wo genau hat er gestanden, als Sie ihn gesehen haben?«
Leonora blickte sich um und deutete auf eine Stelle vor sich, weniger als zehn Schritte von der hinteren Mauer entfernt. »Ungefähr dort.«
Er ließ sie los und drehte sich um; durch den Heckenbogen hindurch blickte er zurück zum Rasen. »Sie sagten, er sei plötzlich verschwunden. In welche Richtung ist er gelaufen? Hat er sich umgedreht und ist geradewegs zur Mauer gerannt?«
»Nein, er ist zur Seite hin geflohen. Wäre er den Mittelweg hinuntergelaufen, hätte ich ihn länger sehen können.«
Er nickte und ließ seinen Blick über den Boden schweifen in der Richtung, die sie ihm gerade genannt hatte. »Das ist jetzt zwei Tage her.« Es hatte seitdem nicht geregnet. »Hat Ihr Gärtner in letzter Zeit hier unten gearbeitet?«
»In den letzten paar Tagen nicht. Im Winter gibt es nicht viel zu tun hier.«
Er drückte leicht ihren Arm. »Warten Sie hier.« Er ging vorsichtig am Rand des Weges entlang. »Sagen Sie mir, wenn ich die Stelle erreicht habe, an der er gestanden hat.«
Sie beobachtete ihn und sagte schließlich: »Etwa dort.«
Er ging langsam um die Stelle herum und inspizierte den Boden; dann entfernte er sich vom Weg und ging zwischen den Beeten hindurch in die Richtung, die der Mann bei seiner Flucht eingeschlagen hatte.
Etwa einen Fußbreit vor der Mauer wurde er fündig. Hier hatte der Mann sich fest abdrücken müssen, um an der Mauer hochzuspringen und sich im Efeu festzuklammern. Tristan hockte sich hin; Leonora kam hinzugeeilt. Der Fußabdruck war deutlich zu erkennen.
»Hm, passt.«
Er sah auf und stellte fest, dass sie sich ebenfalls herabgebeugt hatte, um den Fußabdruck zu betrachten.
Sie kreuzte seinen Blick. »Das kommt hin.«
Er erhob sich; sie richtete sich ebenfalls auf. »Er hat die gleiche Form und Größe wie der Abdruck, den ich vor der Seitentür in Nummer zwölf entdeckt habe.«
»Die Tür, durch die der Einbrecher hereingekommen ist?«
Er nickte und betrachtete die dicht bewachsene Mauer. Er untersuchte sie sorgfältig, doch Leonora war es, die die Spuren zuerst entdeckte.
»Hier.« Sie griff nach einem abgebrochenen Zweig und ließ ihn zu Boden fallen.
»Und da.« Er deutete etwas höher hinauf, wo sich einige Ranken von der Mauer gelöst hatten. Sein Blick fiel auf das schwere Gartentor. »Ich gehe nicht davon aus, dass Sie den Schlüssel bei sich haben?«
Sie warf ihm einen kühl überlegenen Blick zu. Und zog einen alten Schlüssel aus der Tasche.
Er schnappte ihn ihr aus den Fingern. Und tat so, als würde er das wütende Funkeln in ihren Augen gar nicht bemerken. Er trat an ihr vorbei, steckte den Schlüssel in das schwere, alte Schloss und drehte ihn herum. Das Tor gab ächzend nach, als er es kraftvoll aufzog. Im Dreck, der das grobe Pflaster des rückwärtigen Verbindungsweges bedeckte, waren zwei deutliche Abdrücke zu erkennen. Ein flüchtiger Blick genügte, um festzustellen, dass sie von denselben Schuhen stammten und von dem Sprung des Mannes von der Mauer herrührten. Darüber hinaus waren keine deutlichen Spuren zu erkennen.
»Die Hinweise sind eindeutig genug.« Er nahm Leonoras Arm und schob sie zurück zum Tor. Sie scheuchte Henrietta vor sich her, und gemeinsam traten die drei zurück in den Garten. Tristan zog das Tor hinter sich zu und schloss es wieder ab. Leonora war die Einzige, die hier im Garten spazieren ging; Tristan hatte lange genug ein Auge darauf gehabt, um sich dessen absolut sicher zu sein. Dass der Täter gezielt ihr auflauerte, machte ihm Sorgen. Er erinnerte sich an seine frühere Überzeugung, dass sie ihm irgendetwas vorenthalten hatte.
Er kehrte dem Tor den Rücken zu und hielt ihr den Schlüssel hin. Sie nahm ihn entgegen und blickte an sich herab, um ihn einzustecken.
Er ließ seine Blicke schweifen. Das Tor war etwas seitlich vom Weg gelegen, nicht in einer Flucht mit dem Heckendurchgang. Vom Haus oder vom Rasen her konnte man Leonora und ihn hier nicht sehen. Die Obstbäume, welche die seitlichen Grundstücksmauern säumten, schirmten sie zudem von etwaigen Blicken aus den Nachbarhäusern ab.
Er sah auf Leonora hinab, als diese den Kopf hob.
Er lächelte - und zwar mit all der besonderen Kunstfertigkeit, die ihm gegeben war.
Sie blinzelte, doch zu seiner großen Bestürzung wirkte sie weit weniger geblendet, als er es sich erhofft hatte.
»Bei seinen früheren Einbruchsversuchen - da hat er Sie doch nicht gesehen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das erste Mal waren nur Bedienstete dabei. Das zweite Mal kamen wir zwar alle hinuntergestürzt, als wir Henrietta hörten, aber da war er längst auf und davon.«
Mehr gab sie nicht preis. Ihr Blick blieb scharf und klar. Leonora war kein Stück vor ihm zurückgewichen. Sie standen dicht voreinander, ihr Kopf war leicht zurückgeneigt, sodass sie ihm in die Augen blicken konnte.
Begehren flammte auf, durchzuckte seinen Körper.
Er ließ es geschehen. Ließ es durch sich hindurchfließen und anschwellen, versuchte nicht, es zu unterdrücken. Er ließ zu, dass sie es in seinem Gesicht, in seinen Augen las.
Ihre Augen, die fest auf ihn gerichtet waren, weiteten sich. Sie räusperte sich. »Wir wollten noch über unser weiteres Vorgehen sprechen.«
Ihre Stimme klang dünn, ungewöhnlich kraftlos.
Er ließ einen winzigen Augenblick verstreichen, lehnte sich dann näher an sie heran. »Ich denke, wir sollten einfach unserem Instinkt folgen.«
»Instinkt?« Ihre Wimpern zuckten reflexartig nach unten, als er ihr noch näher kam.
»Hm. Uns ganz auf unser Gespür verlassen.«
Nichts anderes tat er, als er seinen Kopf zu ihr herunterneigte und seine Lippen sanft auf die ihren presste.
Sie rührte sich nicht. Trotz ihrer Wachsamkeit, ihrer Aufmerksamkeit hatte sie nicht mit einem derart direkten Angriff gerechnet.
Er war viel zu erfahren, um seine Absichten nach außen erkennen zu lassen. Insbesondere auf dem Schlachtfeld.
Daher legte er auch nicht sofort die Arme um sie, sondern beschränkte sich darauf, sie zu küssen und seine Lippen sanft herausfordernd gegen die ihren zu drängen.
Bis sie schließlich ihre Lippen öffnete und ihren Mund freigab. Und er im Gegenzug die Hände um ihr Gesicht legte und immer tiefer in dem Kuss versank, kostete, genoss und forderte.
Während ihre Zungen sich spielerisch umkreisten, umarmte er sie, zog sie an sich heran, wenig überrascht darüber, dass sie seine Annäherung ohne Weiteres erwiderte. Ohne zu zögern.
Sie war völlig gefangen in dem Kuss.
So wie er auch.
Es war nur eine winzige Sache - ein einfacher Kuss. Doch als Leonora fühlte, wie ihre Brust gegen seinen Oberkörper gedrückt wurde, wie seine Arme sich um ihre Taille schlossen, da schien ihr plötzlich noch unendlich viel mehr zwischen ihnen zu liegen. So vieles, was sie noch nie zuvor empfunden hatte, von dem sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie es empfinden könnte. Wie etwa die Wärme, die sie beide durchströmte - nicht nur sie selbst, sondern auch ihn. Wie dieses plötzliche Gefühl von Anspannung - nicht aus Abwehr, nicht aus Zurückhaltung, sondern vor Verlangen.
Ihre Hände waren zu seinen Schultern hinaufgewandert. Unter ihrer Berührung spürte sie seine Reaktion, seine Selbstsicherheit auf diesem Gebiet, sein Können, doch auch sein tiefes, unerfülltes Verlangen.
Seine auf ihrem Rücken gespreizten Hände, seine starken Finger zogen sie näher zu sich heran; sie ließ es zu, und seine Lippen wurden noch bestimmender. Befehlend. Sie gab ihnen nach, öffnete sich und spürte einen Anflug von Triumph in seinen hungrigen Bewegungen. Sein Körper fühlte sich an wie eine Eiche, unbeugsam und stark, doch seine weichen Lippen, die mit ihr spielten, sie aufreizten, ihr Verlangen steigerten, waren über die Maßen lebendig und selbstsicher.
Und machten sie süchtig.
Sie war kurz davor, völlig in der Umarmung zu versinken, seinem Zauber zu erliegen, als er plötzlich behutsam zurückwich, seine Hände auf ihre Hüfte legte und sie festhielt.
Er unterbrach den Kuss und hob den Kopf.
Er sah ihr in die Augen.
Einen Moment lang konnte sie ihn nur verständnislos anzwinkern und sich fragen, warum er wohl aufhörte. Sie sah das Bedauern in seinen Augen, welches von fester Entschlossenheit überlagert wurde - ein hartes, haselnussbraunes Funkeln. So als habe er keineswegs aufhören wollen, sondern war vielmehr überzeugt davon, es zu müssen.
Einen wahnsinnigen Moment lang hatte sie das dringende Bedürfnis, ihre Hand in seinen Nacken zu legen und ihn und seine faszinierenden Lippen wieder zu sich herabzuziehen.
Sie blinzelte erneut.
Er stützte sie behutsam, bis sie ihren Halt zurückerlangt hatte.
»Ich sollte nun gehen.«
Ihr Verstand setzte ruckartig wieder ein, schleuderte sie zurück in die Realität. »Wie werden Sie denn nun vorgehen?«
Er sah sie eindringlich an; sie war sich sicher, ein ärgerliches Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Seine Lippen wurden schmal. Sie hielt seinem Blick gelassen stand.
Schließlich antwortete er ihr. »Ich habe Stolemore heute Morgen einen Besuch abgestattet.« Er nahm ihre Hand, legte sie auf seinen Arm und führte sie den Weg hinauf.
»Und?«
»Er hat sich bereiterklärt, mir den Namen des Mannes zu nennen, der Ihr Haus unbedingt kaufen wollte. Ein gewisser Montgomery Mountford. Sagt Ihnen der Name irgendetwas?«
Sie blickte ins Leere, während sie im Geiste den Kreis ihrer Bekannten und Familienmitglieder durchging. »Nein. Es ist auch keiner von Humphreys oder Jeremys Kollegen. Ich helfe den beiden manchmal mit der Korrespondenz - dieser Name ist mir noch nie untergekommen.«
Als er ihr nichts entgegnete, sah sie ihn an. »Hat er Ihnen eine Adresse genannt?«
Er nickte. »Ich werde hingehen und sehen, ob ich irgendetwas in Erfahrung bringen kann.«
Sie hatten den Heckendurchgang erreicht. Leonora blieb stehen. »Und wo?«
Er begegnete ihrem Blick; wieder kam es ihr so vor, als wäre er irgendwie verärgert. »Bloomsbury.«
»Bloomsbury?« Sie starrte ihn an. »Da haben wir vorher gewohnt.«
Er runzelte die Stirn. »Bevor Sie hierher gezogen sind?«
»Ja. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass wir erst vor zwei Jahren hier eingezogen sind, als Humphrey das Haus geerbt hat. Die vier Jahre davor haben wir in Bloomsbury gelebt. In der Keppell Street.« Sie fasste seinen Arm. »Vielleicht ist es ja ein ehemaliger Nachbar, der aus irgendeinem Grund …« Sie gestikulierte ratlos. »Wer weiß warum, aber irgendeine Verbindung wird es da wohl geben.«
»Möglicherweise.«
»Kommen Sie!« Sie schritt eilig in Richtung Salontür. »Ich werde Sie begleiten. Wir haben noch reichlich Zeit bis zum Mittag.«
Tristan unterdrückte ein Fluchen und folgte ihr. »Sie müssen mich wirklich nicht …«
»Und ob ich das muss!« Sie warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Woher wollen Sie sonst wissen, ob dieser Mr Mountford irgendetwas mit unserer Vergangenheit zu tun hat?«
Darauf hatte er leider keine überzeugende Antwort parat. Er hatte sie mit der eindeutigen Absicht geküsst, ihre Neugier an sinnlichen Erfahrungen weiter anzustacheln und sie im Gegenzug zumindest so weit von der Einbrechersuche abzubringen, dass er dieser Tätigkeit ungestört allein nachgehen konnte. Offenbar war ihm beides misslungen. Er schluckte seinen Ärger hinunter und folgte ihr die Stufen hinauf.
Durch die Verandatüren hindurch.
Er blieb unvermittelt stehen. Es war beileibe nicht seine Art, der Führung anderer zu folgen, schon gar nicht, wenn diese Führung in den Händen einer Frau lag. »Miss Carling!«
Sie blieb vor der Flurtür stehen. Mit hocherhobenem Kopf und angespanntem Rücken wandte sie sich zu ihm um. »Ja?«
Er musste sich zwingen, sie nicht böse anzufunkeln. Er sah die Unnachgiebigkeit, die aus ihren hübschen Augen, aus ihrer gesamten Haltung sprach. Er dachte einen Augenblick lang nach, dann beschloss er - wie es jeder erfahrene Befehlshaber angesichts einer unerwarteten Situation tun würde -, spontan seine Taktik zu ändern.
»Schon gut.« Voll innerem Widerwillen bedeutete er ihr weiterzugehen. In einem weniger wichtigen Punkt nachzugeben, mochte bedeuten, seine Position an anderer Stelle zu stärken.
Mit einem strahlenden Lächeln öffnete sie die Tür und führte ihn in die Eingangshalle.
Er folgte ihr mit fest aufeinandergepressten Lippen. Zum Glück war es lediglich Bloomsbury.
 
Tatsächlich war es gerade in Bloomsbury durchaus von Vorteil, eine Dame am Arm zu führen. Er hatte vergessen, dass in jener bürgerlichen Gegend, in die Mountfords Adresse sie führte, ein Paar weitaus weniger Aufsehen erregte als ein einzelner, wohlgekleideter Gentleman.
Das Haus in der Taviton Street war schmal und hoch. Es handelte sich um eine Pension. Die Besitzerin - eine gepflegte, streng wirkende Frau, ganz in Schwarz gekleidet - öffnete ihnen die Tür und kniff bei dem Namen Mountford die Augen zusammen.
»Der ist nicht mehr hier. Letzte Woche abgereist.«
Sprich, nachdem sein Einbruch in der Nummer zwölf gescheitert war. Tristan zeigte sich überrascht. »Hat er gesagt, wohin er will?«
»Nein. Hat mir nur im Vorbeigehen das Geld in die Hand gedrückt.« Sie schnaubte verächtlich. »Wäre ich nicht zufällig da gewesen, hätte ich keinen blanken Schilling von ihm gesehen.«
Leonora schob sich vor Tristan. »Wir sind auf der Suche nach einem Mann, der möglicherweise etwas über einen Vorfall in Belgravia wissen könnte. Wir sind uns nicht einmal sicher, ob Mr Mountford der richtige ist. War er groß?«
Die Frau studierte sie eingehend, dann taute sie auf. »Ja. Mittelgroß.« Sie warf einen kurzen Blick auf Tristan. »Nicht so groß wie Ihr Gatte hier, aber auch nicht gerade klein.«
Eine leichte Röte stieg Leonora ins Gesicht; sie fragte rasch weiter: »Eher schlank als kräftig?«
Die Besitzerin nickte. »Schwarze Haare und ungesund blass. Braune Augen, aber ein eiskalter Bursche, wenn Sie mich fragen. Sieht noch recht jung aus, ist aber wohl so Mitte zwanzig, würde ich sagen. Schien ziemlich große Stücke auf sich zu halten und war ein Einzelgänger.«
Leonora warf einen Blick über ihre Schulter. »Das scheint mir der Mann zu sein, nach dem wir suchen.«
Tristan begegnete ihrem Blick, dann wandte er sich der Besitzerin zu. »Hatte er irgendwelche Besucher?«
»Nein, das kam mir nämlich ebenfalls komisch vor. Normalerweise muss ich bei den jungen Herren immer sehr deutlich werden, was die Besuche angeht - Sie verstehen schon, was ich meine.«
Leonora lächelte unbeholfen. Tristan zog sie zurück. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Madam.«
»Ist schon in Ordnung. Ich hoffe, Sie werden ihn finden und er kann Ihnen weiterhelfen.«
Sie traten aus dem kleinen Eingang heraus. Die Frau hatte die Tür schon halb geschlossen, als sie plötzlich innehielt.
»Warten Sie, mir fällt da gerade noch was ein …« Sie nickte Tristan zu. »Er hatte einen Besucher, aber der ist nicht reingekommen. Hat vor der Tür gestanden, gerade so wie Sie jetzt, und gewartet, bis Mr Mountford zu ihm herunterkam.«
»Wie sah dieser Besucher aus? Hat er seinen Namen genannt?«
»Das hat er nicht, aber als ich raufgegangen bin, um Mr Mountford Bescheid zu geben, habe ich so im Stillen gedacht, dass ich gewiss keinen Namen brauche. Als ich ihm sagte, der Besucher sei Ausländer, da hat der junge Mann schon gewusst, von wem ich rede.«
»Ein Ausländer?«
»Jawohl. Er hatte so einen Akzent, den man gar nicht überhören kann. Klang fast wie ein Knurren.«
Tristan rührte sich nicht. »Wie hat er ausgesehen?«
Sie runzelte die Stirn, zuckte die Schultern. »Wie ein adretter Gentleman eben. War überaus gepflegt, das weiß ich noch.«
»Und seine Haltung?«
Die Anspannung wich aus ihren Zügen. »Ja, das kann ich Ihnen ganz genau sagen - er stand kerzengerade da, so als hätte man ihn an einen Stock gebunden. Er war so steif, dass ich dachte, er müsste durchbrechen, wenn er sich verneigt.«
Tristan lächelte sie freundlich an. »Vielen Dank. Sie waren uns eine große Hilfe.«
Die Pensionswirtin bekam etwas Farbe im Gesicht. Sie knickste. »Vielen Dank, Sir.« Nach einem kurzen Augenblick wanderte ihr Blick hinüber zu Leonora. »Viel Glück, Madam.«
Leonora neigte anmutig den Kopf und ließ sich von Trentham wegführen. Es tat ihr fast leid, dass sie die Frau nicht gefragt hatte, warum sie ihr Glück wünschte - damit sie Mountford fänden oder damit Trentham sich an sein vermeintliches Ehegelübde hielte?
Mit seinem fatalen Lächeln war Trentham wahrhaftig eine Bedrohung.
Sie sah kurz zu ihm auf, dann verdrängte sie den Gedanken aus ihrem Kopf - ebenso wie die übrigen Ereignisse des Tages. Solange er sich an ihrer Seite befand, mochte sie lieber nicht genauer über das Geschehene nachdenken.
Er ging gelassen neben ihr her.
»Was halten Sie von Mountfords Besucher?«
Er sah sie an. »Was ich von ihm halte?«
Ihre Augen verengten sich, ihre Lippen waren aufeinandergepresst; ihr Gesichtsausdruck gab ihm deutlich zu verstehen, dass sie keine sieben Jahre alt war. »Was glauben Sie, woher er kam? Sie haben doch sicherlich eine Vermutung.«
Ihr Scharfsinn wurde ihm allmählich lästig. Aber im Grunde sprach nichts dagegen, es ihr zu sagen. »Österreich, Preußen oder ein anderer deutscher Staat. Seine außergewöhnlich steife Haltung und seine Aussprache deuten darauf hin.«
Sie runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Er winkte eine Droschke heran und half ihr hinauf. Als die Kutsche in Richtung Belgravia losfuhr, fragte sie weiter: »Glauben Sie, dass dieser ausländische Herr irgendetwas mit den Einbrüchen zu tun hat?« Als er ihr nicht sofort antwortete, fügte sie hinzu: »Was könnte ein Deutscher, Österreicher oder Preuße im Montrose Place Nummer vierzehn suchen?«
»Das«, gab er offen zu, »würde ich in der Tat selbst gerne wissen.«
Sie sah ihn scharf an, doch als er dem nichts weiter hinzuzufügen hatte, blickte sie überraschenderweise wieder geradeaus und schwieg.
Am Montrose Place angekommen, half er ihr aus der Droschke; sie wartete, bis er den Kutscher bezahlt hatte, dann hakte sie sich bei ihm ein, und gemeinsam gingen sie zum Tor ihres Hauses. Während er den Torflügel öffnete und sie hindurchtraten, hielt Leonora den Blick gesenkt.
»Wir geben heute Abend eine kleine Dinnerparty für ein paar Freunde von Onkel Humphrey und Jeremy.« Sie blickte flüchtig zu ihm auf; ihre Wangen waren leicht gerötet. »Vielleicht hätten Sie ja Interesse, ebenfalls vorbeizukommen? Sie könnten sich bei der Gelegenheit ein Bild davon machen, über welche geheime Entdeckung mein Onkel und Jeremy gestolpert sein könnten.«
Er unterdrückte ein zynisches Grinsen. Stattdessen zog er die Augenbrauen hoch und zeigte sich interessiert. »Das ist keine schlechte Idee.«
»Wenn Sie noch nichts anderes vorhaben …?«
Sie hatten die Eingangstreppe erreicht. Er nahm ihre Hand und verneigte sich. »Es ist mir ein Vergnügen.« Er sah ihr in die Augen. »Um acht?«
Sie nickte. »Acht.« Bevor sie sich abwandte, trafen sich ihre Blicke erneut. »Ich freue mich darauf, Sie bei uns begrüßen zu dürfen.«
Tristan beobachtete, wie sie die Stufen hinaufging und dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Haus verschwand; erst dann wandte er sich um und grinste.
Sie war durchschaubar wie Glas. Ihre Absicht war es, ihn weiter über seine Vermutungen hinsichtlich dieses ausländischen Gentlemans auszuhorchen …
Sein Lächeln verebbte; sein Gesicht nahm wieder seinen gewohnten unbeteiligten Ausdruck an.
Deutscher, Österreicher oder Preuße - alle drei Nationen waren ihm vertraut genug, um die Alarmglocken läuten zu lassen, aber er hatte nicht genügend Informationen, um etwas Konkretes unternehmen zu können … außer beharrlich weiterzuforschen.
Vielleicht war Mountfords Bekanntschaft mit diesem ausländischen Gentleman auch purer Zufall.
Als er das Eingangstor erreichte und es schwungvoll öffnete, verspürte er jedoch ein überaus vertrautes Gefühl im Nacken …
Er glaubte nicht an Zufälle.
 
Leonora verbrachte den Rest des Tages in gespannter Erwartung. Nachdem sie dem Hauspersonal alle nötigen Anweisungen für das Dinner erteilt und Humphrey und Jeremy im Plauderton über ihren zusätzlichen Gast informiert hatte, flüchtete sie sich in den Wintergarten.
Um ihren Verstand zu sortieren und sich über ihr weiteres Vorgehen Gedanken zu machen.
Und um die Ereignisse und Enthüllungen des Tages noch einmal Revue passieren zu lassen.
Zum Beispiel die Tatsache, dass Trentham offenbar nicht abgeneigt war, sie zu küssen. Und sie war ihrerseits ganz und gar nicht abgeneigt, seine Küsse zu erwidern. Dies war eine gänzlich neue Erfahrung, bisher hatte sie der Beschäftigung nämlich nie viel abgewinnen können. Mit Trentham hingegen …
Sie ließ sich tiefer in die Kissen ihres schmiedeeisernen Sessels sinken und musste sich zugleich eingestehen, dass sie seiner Initiative mit Freuden überallhin gefolgt wäre - zumindest im vertretbaren Maße. Ihn zu küssen, hatte sich als überaus angenehm erwiesen …
Umso besser war es wahrscheinlich, dass er der Situation ein Ende gesetzt hatte.
Aus zusammengekniffen Augen betrachtete sie eine weiße Orchidee, welche im Luftzug sanft wippte, während sie in Gedanken die Ereignisse, die Empfindungen - die Sinneseindrücke - noch einmal durchging.
Er hatte den Kuss keineswegs unterbrochen, weil er es so gewollt, sondern weil er es so geplant hatte. Sein Hunger hatte nach mehr verlangt, aber sein Wille hatte beschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sie hatte den Konflikt in seinen Augen gesehen, hatte das haselnussbraune Funkeln bemerkt, als sein Wille triumphierte.
Aber warum? Sie setzte sich anders hin, ihr war schmerzlich bewusst, wie sehr die Folgen dieses unvollständigen Intermezzos an ihr zehrten. Vielleicht war das gerade die Antwort auf ihre Frage - das vorschnelle Ende dieses Kusses war nichts anderes als … unbefriedigend. Und zwar auf einer Ebene, die ihr vorher nicht einmal bewusst gewesen war.
Es verlangte sie nach mehr.
Sie runzelte nachdenklich die Stirn, während ihre Finger abwesend auf die Tischplatte trommelten. Trenthams Küsse hatten ihr die Augen geöffnet und ihre Sinne geweckt. Ihr angedeutet, was alles sein konnte - und es ihr dann vorenthalten.
Absichtlich.
Nachdem er zuvor noch gesagt hatte, sie solle ihrem Instinkt folgen.
Sie war eine Lady, er ein Gentleman. Theoretisch geziemte es sich nicht, sie zu drängen, es sei denn, sie ermunterte seine Avancen.
Auf ihren Lippen formte sich ein zynisches Lächeln; sie unterdrückte ein leises Schnauben. Sie mochte vielleicht unerfahren sein, aber sie war beileibe nicht dumm. Er hatte den Kuss gewiss nicht unterbrochen, weil er sich den gesellschaftlichen Normen gemäß dazu verpflichtet fühlte. Er hatte ihn unterbrochen, um sie gezielt zu umgarnen, um ihr Bewusstsein zu kitzeln, um ihre Neugier anzustacheln.
Um ihre Lust zu wecken.
Nur damit sie sich umso bereitwilliger fügen würde, wenn es ihn schließlich danach verlangte - besser gesagt, wenn es ihn nach mehr verlangte, wenn er mit ihr einen Schritt weiter gehen wollte.
Verführung. Das Wort kam ihr plötzlich in den Sinn, versprach ihr verbotene Reize und Abenteuer.
Wollte Trentham sie verführen?
Ihr war durchaus bewusst, dass sie nicht unattraktiv war; sie hatte schon immer leicht die Blicke der Männer auf sich ziehen können. Aber bislang hatte sie dieser Tatsache wenig Beachtung geschenkt; sie zeigte keinerlei Interesse an den üblichen Spielchen. Oder vielmehr an den Spielern.
Sie war inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt und damit, zum großen Unmut ihrer Tante Mildred, ein eindeutig hoffnungsloser Fall.
Trentham war urplötzlich aufgetaucht und hatte ihre Sinne wachgerüttelt, nur um sie unbefriedigt nach mehr hungern zu lassen. Ein unbekanntes Verlangen hatte sich ihrer bemächtigt, doch sie war sich alles andere als sicher, was sie eigentlich von ihm erwartete - wie sie sich ihr weiteres Verhältnis vorstellte.
Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Sie musste jetzt noch keine Entscheidung treffen. Sie konnte getrost abwarten, beobachten, lernen - und sich auf ihren Instinkt verlassen, um schließlich herauszufinden, ob sie den Weg, der sich ihr darbot, auch wirklich gehen wollte; sie hatte ihn nicht abgewiesen, sie hatte ihn auch keineswegs glauben lassen, sie sei nicht interessiert.
Denn das war sie durchaus. Sehr interessiert sogar.
Sie war fest davon ausgegangen, dass dieser Aspekt des Lebens sang- und klanglos an ihr vorübergezogen war, dass die Umstände ihr diese spezielle Erfahrung für immer vorenthalten würden.
Heirat war für sie kein Thema mehr - aber vielleicht hatte das Schicksal ihr Trentham geschickt, um sie ein wenig über diese Tatsache hinwegzutrösten.
 
Als Leonora sich umdrehte und Trentham quer durch den Salon auf sich zukommen sah, hallten diese Worte in ihren Ohren nach.
Wenn dies ihr Trost war, wie hoch war der Preis?
Trenthams breite Schultern waren in edles Schwarz gehüllt, sein Jackett war ein Meisterwerk an schlichter Eleganz. Seine graue Seidenweste glänzte sanft im Kerzenschein; auf seiner Krawatte funkelte eine diamantenbesetzte Anstecknadel. Wie sie es inzwischen von ihm kannte, verzichtete er bewusst auf auffällige Details. Seine Krawatte war auf schlichte Art gebunden. Sein glänzendes dunkelbraunes Haar war sorgfältig frisiert und umrahmte wirkungsvoll seine markanten Gesichtszüge; alle Aspekte seiner Erscheinung - seine Kleidung, sein selbstsicheres Auftreten, seine Umgangsformen - machten unmissverständlich deutlich, dass er den obersten gesellschaftlichen Kreisen angehörte; er war es gewohnt zu befehlen und gewohnt, dass man ihm gehorchte.
Gewohnt, seine Wege selbst zu bestimmen.
Sie knickste und reichte ihm die Hand. Er nahm sie und verneigte sich. Indem er sich aufrichtete, bedeutete er ihr, das Gleiche zu tun. Seine Brauen waren leicht hochgezogen.
Seine Augen funkelten sie herausfordernd an.
Leonora lächelte, bereit sich der Herausforderung zu stellen; sie wusste, dass sie in ihrem aprikosenfarbenen, seidenen Abendkleid gut aussah. »Erlauben Sie, dass ich Sie den anderen Gästen vorstelle, Mylord?«
Er neigte den Kopf, legte ihre Hand auf seinen Arm und seine eigene darüber.
Unverhohlen besitzergreifend.
Ohne die geringste Reaktion zu zeigen, führte sie ihn gelassen hinüber zu Humphrey und zweien seiner Freunde, Mr Morecote und Mr Cunningham, die bereits in eine angeregte Diskussion vertieft waren. Sie unterbrachen ihr Gespräch, um Trentham zu begrüßen und einige Worte mit ihm zu wechseln; dann führte Leonora ihn weiter zu Jeremy, Mr Filmore und Mr Horace Wright, um ihn den beiden Letzteren ebenfalls vorzustellen.
Sie hatte vorgehabt, einige Zeit bei der Gruppe zu verweilen, um Horace, dem lebhaftesten ihrer Wissenschaftlerfreunde, die Gelegenheit zu geben, sie eine Weile zu unterhalten, während sie die sittsame Dame spielte, doch Trentham hatte offenbar andere Pläne. In seiner gewohnt bestimmenden Art redete er sich geschickt aus der Unterhaltung heraus und führte sie zurück zu ihrem Ausgangspunkt beim Kamin.
Alle waren so sehr in ihre Gespräche vertieft, dass sein Verhalten niemandem auffiel.
Aus einer intuitiven Vorsicht heraus entzog sie ihm ihre Hand und sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln, das nicht nur seine weißen Zähne erkennen ließ, sondern auch einen Anflug von Anerkennung. Und zwar nicht nur aufgrund ihrer Entschlossenheit, sondern auch aufgrund ihres Äußeren - ihrer Schultern, die von dem großzügigen Ausschnitt ihres Kleides entblößt wurden, ihres Haars, das in Locken gelegt war, die ihre Ohren und ihren Nacken sanft umspielten.
Angesichts seines bewundernden Blickes, der langsam über ihren Körper glitt, fiel ihr das Atmen zunehmend schwerer; sie unterdrückte ein Schaudern - allerdings nicht vor Kälte. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und hoffte inständig, er möge die Hitze des Feuers dafür verantwortlich machen.
Träge wanderte sein Blick zurück zu ihrem.
Der Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen versetzte ihr einen kleinen Schock, ließ ihren Atem vollends stocken. Dann blinzelte er, und seine langen Wimpern legten sich über den beunruhigenden Blick.
»Führen Sie Sir Humphrey schon lange den Haushalt?«
Er sprach in einem typischen Konversationston - schleppend und scheinbar gelangweilt. Sie zwang sich zu atmen, neigte den Kopf und beantwortete seine Frage.
Sie nutzte diesen Aufhänger, um die Unterhaltung auf eine unverfängliche Beschreibung der Grafschaft Kent zu lenken, in der sie zuvor gelebt hatten; Lobreden auf die Natur und das unbeschwerte Landleben zu schwingen, erschien ihr weitaus sicherer, als den fragwürdigen Absichten in seinem Blick zu begegnen.
Er berichtete ihr im Gegenzug von seinem Landsitz in Surrey, doch seine Augen verrieten, dass er in Wirklichkeit nur mit ihr spielte.
Wie eine übergroße Katze mit einer besonders schmackhaften Maus.
Sie hielt ihr Kinn hocherhoben, fest entschlossen, sich in keiner Weise anmerken zu lassen, dass sie etwas ahnte. Sie atmete vor Erleichterung tief durch, als Castor die Gäste ins Speisezimmer bat, bis ihr jedoch bewusst wurde, dass Trentham selbstverständlich sie, als die einzige anwesende Dame, zu Tisch führen würde.
Seinen Blick gezielt suchend, legte sie ihre Hand auf den ihr dargebotenen Arm und ließ sich von Trentham ins Speisezimmer geleiten. Er führte sie ans Ende der Tafel und setzte sich auf den Stuhl zu ihrer Rechten. Im Trubel der scherzhaften Unterhaltungen der übrigen Herren, die um sie herum Platz nahmen, kreuzte er unbemerkt ihren Blick und zog spielerisch eine Braue hoch.
»Ich bin beeindruckt.«
»Tatsächlich?« Sie ließ ihren Blick über den Tisch gleiten, als wolle sie überprüfen, ob alles in Ordnung sei - als hätte sein Kommentar der Tafel gegolten.
Seine Lippen zuckten gefährlich. Er lehnte sich näher an sie heran und murmelte: »Ich hatte angenommen, Sie würden schon eher schwach werden.«
Sie sah ihn an. »Schwach werden?«
Seine Augen weiteten sich. »Ich war mir sicher, Sie würden alles daransetzen, von mir zu erfahren, wie wir nun weiter vorgehen sollten.«
Sein Gesichtsausdruck wirkte vollkommen unschuldig; nicht so seine Augen.
Jedes seiner Worte war doppeldeutig; sie konnte nicht sagen, worauf er tatsächlich hinauswollte.
Nach einer kurzen Pause entgegnete sie: »Ich habe beschlossen, mich noch etwas zu gedulden.«
Sie sah nach unten, um ihre Serviette auszubreiten, während Castor einen Teller Suppe an ihren Platz stellte. Sie ergriff ihren Löffel und bedachte Trentham mit einem kühlen Blick - zumindest weitaus kühler, als sie sich fühlte.
Während er selbst bedient wurde, hielt er ihren Blick gebannt, dann schenkte er ihr ein Lächeln. »Das ist sicherlich eine weise Entscheidung.«
»Meine werte Miss Carling, was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte …«
Horace, zu ihrer Linken, nahm ihre Aufmerksamkeit in Beschlag. Trentham wandte sich Jeremy zu, um ihm einige Fragen zu stellen. Wie es bei derartigen Treffen meist der Fall war, kreisten die Gesprächsthemen bald um uralte Texte. Leonora aß, trank und beobachtete voller Erstaunen, wie angeregt Trentham sich an der Unterhaltung beteiligte, bis ihr schließlich bewusst wurde, dass er die Gruppe sehr geschickt nach irgendwelchen außergewöhnlichen Funden aushorchte.
Sie spitzte die Ohren; als sich ihr eine geeignete Gelegenheit bot, warf sie selbst eine Frage ein, um zwischen den Ruinen des alten Persiens nach weiteren Ansatzpunkten zu suchen. Aber in welche Richtung sie oder Trentham das Gespräch auch immer lenkten, die sechs Wissenschaftler waren sich keiner potenziell wertvollen Entdeckung bewusst.
Schließlich wurde der Tisch abgeräumt, und Leonora stand auf. Die Männer taten es ihr nach. Wie üblich beabsichtigten ihr Onkel und Jeremy nun, die Gäste in die Bibliothek zu führen, um sich bei Portwein und Brandy in ihre aktuellen Forschungen zu vertiefen; normalerweise zog sich Leonora an diesem Punkt zurück.
Selbstverständlich lud Humphrey Trentham dazu ein, ihnen in ihrer Männerrunde Gesellschaft zu leisten.
Trentham suchte ihren Blick; sie erwiderte ihn in der Hoffnung, er möge ihre stille Aufforderung, die Einladung auszuschlagen, verstehen und sich stattdessen von ihr zur Tür geleiten lassen …
Seine Lippen beschrieben ein Lächeln; er wandte sich wieder Humphrey zu. »Wenn ich ehrlich bin, ist mir aufgefallen, dass sie einen recht großen Wintergarten besitzen. Ich habe vor, mir selbst einen zuzulegen, und habe mich daher gefragt, ob Sie vielleicht so freundlich wären, mir einen kurzen Blick zu gestatten?«
»In den Wintergarten?« Humphrey strahlte Leonora freundlich an. »Leonora kennt sich da mit Abstand am besten aus. Ich bin mir sicher, sie wird Sie gerne herumführen.«
»Selbstverständlich. Es wäre mir ein Vergnügen …«
Trenthams Lächeln strahlte pure Verführung aus; er trat an ihre Seite. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.« Sein Blick kehrte zurück zu Humphrey. »Ich muss allerdings ohnehin bald aufbrechen, also für den Fall, dass wir uns nicht mehr sehen, möchte ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Gastfreundschaft danken.«
»Die Freude ist ganz unsererseits, Mylord.« Humphrey schüttelte ihm die Hand.
Jeremy und die anderen verabschiedeten sich ebenfalls.
Schließlich wandte Trentham sich wieder ihr zu. Er zog die Augenbrauen hoch und deutete zur Tür. »Wollen wir?«
Ihr Herz schlug schneller, aber sie nickte ruhig und gefasst. Und führte ihn aus dem Zimmer.