5
»Ist das der Laden?«
Er nickte Charles St. Austell bestätigend zu und
ergriff den Türknauf zu Stolemores Geschäft. Als Tristan am
Vorabend einen seiner Klubs, The Guards,
aufgesucht hatte, stand sein Entschluss bereits fest, Stolemore
einen neuerlichen Besuch abzustatten und diesmal mit deutlich mehr
Nachdruck aufzutreten. Dass er nun ausgerechnet Charles im
The Guards angetroffen hatte, der gerade
geschäftlich in der Stadt war und sich zufälligerweise in
ebendiesen Klub zurückgezogen hatte, war ein unerwarteter
Glücksfall, den Tristan nicht so einfach ignorieren konnte.
Jeder von ihnen konnte für sich genommen
bedrohlich genug auftreten, um so gut wie jeden zum Reden zu
bringen; gemeinsam würden sie Stolemore ohne Zweifel alles
entlocken, was Tristan von ihm wissen wollte.
Er hatte die Angelegenheit nur zu erwähnen
brauchen, und schon war Charles bereitwillig darauf angesprungen.
Er war geradezu begeistert von der Idee, Tristan zu helfen und
seine speziellen Talente wieder einmal unter Beweis zu
stellen.
Die Tür öffnete sich nach innen; Tristan trat
als Erster ein. Diesmal saß Stolemore hinter seinem Schreibtisch.
Er sah auf, und sein Blick verhärtete sich, als er Tristan
erkannte.
Tristan schlenderte hinein, den Blick unverwandt
auf den unglückseligen Makler geheftet. Stolemores Augen weiteten
sich. Sein Blick war zu Charles hinübergewandert. Mit einem Mal
wirkte der Makler blass und angespannt.
Tristan hörte, wie Charles sich hinter ihm
bewegte; er drehte sich nicht um. Seine feinen Sinne verrieten ihm,
dass er das hölzerne Türschild umgedreht hatte, sodass man von
außen den Schriftzug GESCHLOSSEN las. Dann hörte er das Geräusch
von Metallringen auf Holz. Als Charles die Vorhänge zuzog,
verdunkelte sich der Raum ein wenig.
Stolemores Gesichtsausdruck und das Misstrauen
in seinen Augen verrieten, dass er die Drohung sehr wohl verstand.
Er fasste mit den Händen nach der Schreibtischkante und schob
seinen Stuhl langsam zurück.
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Tristan,
wie Charles sich leisen Schrittes zu dem verhangenen Durchgang
begab, der tiefer ins Haus führte, und sich mit verschränkten Armen
lässig gegen den Türrahmen lehnte. Sein Lächeln war das eines
Teufels.
Die Botschaft war eindeutig. Um aus seinem Büro
entkommen zu können, musste er an einem der beiden Männer vorbei.
Obwohl der Makler kräftig gebaut war - weitaus kräftiger als
Tristan oder Charles -, hegte niemand der Anwesenden den geringsten
Zweifel, dass er weder gegen den einen noch gegen den anderen die
geringste Chance hatte.
Tristan lächelte - nicht freundlich, jedoch
einigermaßen versöhnlich. »Wir wollen nur ein paar
Informationen.«
Stolemore fuhr sich mit der Zunge über die
Lippen; sein Blick wanderte von Tristan zu Charles und wieder
zurück. »Informationen worüber?«
Seine Stimme klang rau - seine unterschwellige
Angst nagte daran.
Tristan wartete einen Moment ab, so als wolle er
diesen Klang genießen, dann entgegnete er: »Ich will Namen und
Daten derjenigen Person, die das Haus Nummer vierzehn am Montrose
Place kaufen wollte.«
Stolemore schluckte; er wich noch weiter zurück,
während sein Blick unruhig zwischen den beiden Männern hin und her
zuckte. »Ich gebe keine Auskünfte über meine Kunden. Ich will nicht
meinen Ruf riskieren.«
Erneut wartete Tristan ab, ohne seinen Blick
einen Moment lang von Stolemore abzuwenden. Als die Stille bis zum
Zerreißen gespannt war - ebenso wie Stolemores Nerven -, fragte er
ruhig: »Und was meinen Sie wohl zu riskieren, wenn Sie uns die
gewünschte Information vorenthalten?«
Stolemore wurde noch bleicher; die Blutergüsse,
die ihm ebenjene Partei zugefügt hatte, die er in diesem Moment
schützte, waren auf seiner fahlen Haut deutlich zu erkennen. Er sah
Charles an, so als wolle er seine Chancen abwägen; kurz darauf
wandte er sich wieder Tristan zu. Er schien verwirrt. »Wer sind
Sie?«
Tristans Antwort war ruhig, emotionslos. »Wir
sind zwei Gentlemen, die es nicht gern sehen, wenn Unschuldige zu
Schaden kommen. Ich könnte auch sagen, die jüngsten Aktivitäten
Ihres Kunden kommen bei uns nicht sonderlich gut an.«
»So ist es«, setzte Charles in einem Ton hinzu,
der dem Schnurren einer Raubkatze glich. »Wir fühlen uns sozusagen
auf den Schwanz getreten.«
Seine Worte trieften vor latenter Drohung.
Stolemore warf einen flüchtigen Blick zu Charles
hinüber, sah dann aber hastig zurück zu Tristan. »In Ordnung. Ich
werde es Ihnen verraten. Aber nur unter einer Bedingung: Sie dürfen
ihm auf gar keinen Fall sagen, dass Sie seinen Namen von mir
haben.«
»Ich kann Ihnen versichern, wenn wir ihn erst
einmal in die Finger bekommen, werden wir sicherlich keine Zeit
darauf verschwenden, ihm zu erklären, wie wir ihn gefunden haben.«
Tristan zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann Ihnen zudem
garantieren, dass er sich dann über ganz andere Dinge Sorgen machen
wird.«
Stolemore unterdrückte ein nervöses Schnauben.
Er zog eine der Schreibtischschubladen auf.
Tristan und Charles bewegten sich fast
unmerklich - lautlos und tödlich. Stolemore erstarrte; als er
nervös aufblickte, war er zwischen ihnen eingekesselt. »Es ist nur
ein Buch«, krächzte er. »Ich schwöre es!«
Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte
absolute Stille, dann nickte Tristan. »Holen Sie es heraus.«
Stolemore wagte kaum zu atmen, während er das
Hauptbuch aus der Schublade zog.
Die Anspannung im Raum ließ ein wenig nach; der
Makler legte das Buch auf den Tisch und schlug es auf. Er blätterte
nervös darin
herum, wanderte dann mit dem Finger über eine der Seiten und hielt
schließlich inne.
»Schreiben Sie es auf.«
Stolemore gehorchte.
Tristan hatte den Eintrag bereits gelesen und
auswendig gelernt. Als Stolemore fertig war und ihm den Zettel mit
der Adresse hinschob, lächelte Tristan - diesmal mit seinem ganz
eigenen Charme.
»Auf diese Weise«, er sah Stolemore tief in die
Augen, während er den Zettel in die Innentasche seines Mantels
steckte, »können Sie - sofern jemand danach fragen sollte - ruhigen
Gewissens behaupten, Sie hätten niemandem seinen Namen oder seine
Adresse gesagt. Und nun beschreiben Sie
uns, wie er aussieht. Es handelt sich doch um einen einzelnen Mann,
oder nicht?«
Stolemore nickte in dieselbe Richtung, in die
das Papier verschwunden war. »Nur der eine. Unangenehmer
Zeitgenosse. Dem Aussehen nach durchaus ein Gentleman - schwarze
Haare, blasse Haut, braune Augen. Gut gekleidet, aber nicht den
Ansprüchen Mayfairs genügend. Landadel oder so was in der Richtung.
Er hat sich jedenfalls überheblich genug aufgeführt. Noch recht
jung, hat aber irgendwie was Böses an sich und ist überaus leicht
zu reizen.« Stolemore legte eine Hand an den Bluterguss über seinem
Auge. »Ihn nicht wiederzusehen, wäre bei Gott kein Verlust.«
Tristan neigte den Kopf. »Wir werden sehen, was
sich tun lässt.«
Er drehte sich um und ging zur Tür. Charles
folgte ihm auf dem Fuß.
Auf dem Gehweg blieben sie stehen.
Charles verzog das Gesicht. »So gerne ich auch
einen Blick auf unsere zukünftige Festung werfen würde«, sein
schalkhaftes Grinsen trat in Erscheinung, »und auf unsere reizende
Nachbarin … Aber ich muss leider von dannen - das gute alte
Cornwall ruft.«
»Ich danke dir für deine Hilfe.« Tristan reichte
ihm die Hand.
Charles schüttelte sie. »Jederzeit.« Ein Anflug
von falscher Bescheidenheit umspielte seine Züge. »Um ehrlich zu
sein, habe ich es regelrecht genossen - auch wenn es nur eine
Kleinigkeit war. Auf dem Land habe ich das Gefühl, völlig
einzurosten.«
»Niemand hat behauptet, dass die Umstellung
leichtfallen würde - für uns noch weniger als für jeden
anderen.«
»Du hast wenigstens eine sinnvolle
Beschäftigung. Das Einzige, was mich beschäftigt, sind Schafe, Kühe
und Schwestern.«
Tristan musste über Charles’ abgrundtiefen Unmut
lachen. Er klopfte ihm auf die Schulter, dann gingen beide ihrer
Wege - Charles zurück nach Mayfair, Tristan in die andere
Richtung.
Sprich, in Richtung Montrose Place. Es war noch
nicht einmal zehn Uhr. Er wollte mit Gasthorpe reden, dem
ehemaligen Hauptfeldwebel, den sie nunmehr als Majordomus des
Bastion-Klubs eingestellt hatten und der die abschließenden
Arbeiten im Klub überwachte; danach würde er, wie versprochen, bei
Leonora vorbeisehen.
Und zwar um - wie ebenfalls versprochen - die
weitere Vorgehensweise mit ihr abzusprechen.
Um elf Uhr klopfte er an der Eingangstür der
Carlings. Der Butler führte ihn in den Salon; als er eintrat, erhob
sich Leonora von ihrem Platz auf dem Sofa.
»Guten Morgen.« Sie knickste höflich, während er
sich über ihrer Hand verneigte.
Die Sonne hatte sich zwischen den Wolken
hindurchgekämpft; ihre Strahlen, die auf das satte Grün des Gartens
fielen, erregten Tristans Aufmerksamkeit.
»Lassen Sie uns in den Garten gehen.« Er hielt
ihre Hand fest. »Ich würde mir gern einmal die hintere
Grundstücksmauer ansehen.«
Sie zögerte einen Moment, neigte dann aber den
Kopf; sie wäre vorausgegangen, doch er gab ihre Finger nicht frei.
Stattdessen schloss er seine Hand fester um die ihre. Sie warf ihm
einen flüchtigen
Blick zu, während sie Seite an Seite auf die Verandatüren
zugingen. Sie stießen sie weit auf und traten hindurch. Als sie die
Stufen hinunterstiegen, legte er ihre Hand auf seinen Arm.
Er bemerkte ihren flatternden Puls unter seinen
Fingern.
Sie hob den Kopf. »Wir müssen durch den Bogen in
der Hecke hindurchgehen.« Sie deutete vor sich. »Die Mauer befindet
sich am hinteren Ende des Küchengartens.«
Der überaus großzügig angelegt war. Mit
Henrietta im Schlepptau schlenderten sie den Mittelweg hinunter,
vorbei an Reihen von Kohlköpfen, gefolgt von mehreren
brachliegenden Beeten und einigen lang aufgetürmten Haufen aus
Blättern und anderen Gartenabfällen, die still vor sich hin
schlummerten und auf den Frühling warteten.
Tristan hielt inne. »Wo genau hat er gestanden,
als Sie ihn gesehen haben?«
Leonora blickte sich um und deutete auf eine
Stelle vor sich, weniger als zehn Schritte von der hinteren Mauer
entfernt. »Ungefähr dort.«
Er ließ sie los und drehte sich um; durch den
Heckenbogen hindurch blickte er zurück zum Rasen. »Sie sagten, er
sei plötzlich verschwunden. In welche Richtung ist er gelaufen? Hat
er sich umgedreht und ist geradewegs zur Mauer gerannt?«
»Nein, er ist zur Seite hin geflohen. Wäre er
den Mittelweg hinuntergelaufen, hätte ich ihn länger sehen
können.«
Er nickte und ließ seinen Blick über den Boden
schweifen in der Richtung, die sie ihm gerade genannt hatte. »Das
ist jetzt zwei Tage her.« Es hatte seitdem nicht geregnet. »Hat Ihr
Gärtner in letzter Zeit hier unten gearbeitet?«
»In den letzten paar Tagen nicht. Im Winter gibt
es nicht viel zu tun hier.«
Er drückte leicht ihren Arm. »Warten Sie hier.«
Er ging vorsichtig am Rand des Weges entlang. »Sagen Sie mir, wenn
ich die Stelle erreicht habe, an der er gestanden hat.«
Sie beobachtete ihn und sagte schließlich: »Etwa
dort.«
Er ging langsam um die Stelle herum und
inspizierte den Boden; dann entfernte er sich vom Weg und ging
zwischen den Beeten hindurch in die Richtung, die der Mann bei
seiner Flucht eingeschlagen hatte.
Etwa einen Fußbreit vor der Mauer wurde er
fündig. Hier hatte der Mann sich fest abdrücken müssen, um an der
Mauer hochzuspringen und sich im Efeu festzuklammern. Tristan
hockte sich hin; Leonora kam hinzugeeilt. Der Fußabdruck war
deutlich zu erkennen.
»Hm, passt.«
Er sah auf und stellte fest, dass sie sich
ebenfalls herabgebeugt hatte, um den Fußabdruck zu
betrachten.
Sie kreuzte seinen Blick. »Das kommt hin.«
Er erhob sich; sie richtete sich ebenfalls auf.
»Er hat die gleiche Form und Größe wie der Abdruck, den ich vor der
Seitentür in Nummer zwölf entdeckt habe.«
»Die Tür, durch die der Einbrecher
hereingekommen ist?«
Er nickte und betrachtete die dicht bewachsene
Mauer. Er untersuchte sie sorgfältig, doch Leonora war es, die die
Spuren zuerst entdeckte.
»Hier.« Sie griff nach einem abgebrochenen Zweig
und ließ ihn zu Boden fallen.
»Und da.« Er deutete etwas höher hinauf, wo sich
einige Ranken von der Mauer gelöst hatten. Sein Blick fiel auf das
schwere Gartentor. »Ich gehe nicht davon aus, dass Sie den
Schlüssel bei sich haben?«
Sie warf ihm einen kühl überlegenen Blick zu.
Und zog einen alten Schlüssel aus der Tasche.
Er schnappte ihn ihr aus den Fingern. Und tat
so, als würde er das wütende Funkeln in ihren Augen gar nicht
bemerken. Er trat an ihr vorbei, steckte den Schlüssel in das
schwere, alte Schloss und drehte ihn herum. Das Tor gab ächzend
nach, als er es kraftvoll aufzog. Im Dreck, der das grobe Pflaster
des rückwärtigen Verbindungsweges bedeckte, waren zwei deutliche
Abdrücke zu erkennen.
Ein flüchtiger Blick genügte, um festzustellen, dass sie von
denselben Schuhen stammten und von dem Sprung des Mannes von der
Mauer herrührten. Darüber hinaus waren keine deutlichen Spuren zu
erkennen.
»Die Hinweise sind eindeutig genug.« Er nahm
Leonoras Arm und schob sie zurück zum Tor. Sie scheuchte Henrietta
vor sich her, und gemeinsam traten die drei zurück in den Garten.
Tristan zog das Tor hinter sich zu und schloss es wieder ab.
Leonora war die Einzige, die hier im Garten spazieren ging; Tristan
hatte lange genug ein Auge darauf gehabt, um sich dessen absolut
sicher zu sein. Dass der Täter gezielt ihr
auflauerte, machte ihm Sorgen. Er erinnerte sich an seine frühere
Überzeugung, dass sie ihm irgendetwas vorenthalten hatte.
Er kehrte dem Tor den Rücken zu und hielt ihr
den Schlüssel hin. Sie nahm ihn entgegen und blickte an sich herab,
um ihn einzustecken.
Er ließ seine Blicke schweifen. Das Tor war
etwas seitlich vom Weg gelegen, nicht in einer Flucht mit dem
Heckendurchgang. Vom Haus oder vom Rasen her konnte man Leonora und
ihn hier nicht sehen. Die Obstbäume, welche die seitlichen
Grundstücksmauern säumten, schirmten sie zudem von etwaigen Blicken
aus den Nachbarhäusern ab.
Er sah auf Leonora hinab, als diese den Kopf
hob.
Er lächelte - und zwar mit all der besonderen
Kunstfertigkeit, die ihm gegeben war.
Sie blinzelte, doch zu seiner großen Bestürzung
wirkte sie weit weniger geblendet, als er es sich erhofft
hatte.
»Bei seinen früheren Einbruchsversuchen - da hat
er Sie doch nicht gesehen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das erste Mal waren
nur Bedienstete dabei. Das zweite Mal kamen wir zwar alle
hinuntergestürzt, als wir Henrietta hörten, aber da war er längst
auf und davon.«
Mehr gab sie nicht preis. Ihr Blick blieb scharf
und klar. Leonora war kein Stück vor ihm zurückgewichen. Sie
standen dicht voreinander,
ihr Kopf war leicht zurückgeneigt, sodass sie ihm in die Augen
blicken konnte.
Begehren flammte auf, durchzuckte seinen
Körper.
Er ließ es geschehen. Ließ es durch sich
hindurchfließen und anschwellen, versuchte nicht, es zu
unterdrücken. Er ließ zu, dass sie es in seinem Gesicht, in seinen
Augen las.
Ihre Augen, die fest auf ihn gerichtet waren,
weiteten sich. Sie räusperte sich. »Wir wollten noch über unser
weiteres Vorgehen sprechen.«
Ihre Stimme klang dünn, ungewöhnlich
kraftlos.
Er ließ einen winzigen Augenblick verstreichen,
lehnte sich dann näher an sie heran. »Ich denke, wir sollten
einfach unserem Instinkt folgen.«
»Instinkt?« Ihre Wimpern zuckten reflexartig
nach unten, als er ihr noch näher kam.
»Hm. Uns ganz auf unser Gespür verlassen.«
Nichts anderes tat er, als er seinen Kopf zu ihr
herunterneigte und seine Lippen sanft auf die ihren presste.
Sie rührte sich nicht. Trotz ihrer Wachsamkeit,
ihrer Aufmerksamkeit hatte sie nicht mit einem derart direkten
Angriff gerechnet.
Er war viel zu erfahren, um seine Absichten nach
außen erkennen zu lassen. Insbesondere auf dem Schlachtfeld.
Daher legte er auch nicht sofort die Arme um
sie, sondern beschränkte sich darauf, sie zu küssen und seine
Lippen sanft herausfordernd gegen die ihren zu drängen.
Bis sie schließlich ihre Lippen öffnete und
ihren Mund freigab. Und er im Gegenzug die Hände um ihr Gesicht
legte und immer tiefer in dem Kuss versank, kostete, genoss und
forderte.
Während ihre Zungen sich spielerisch umkreisten,
umarmte er sie, zog sie an sich heran, wenig überrascht darüber,
dass sie seine Annäherung ohne Weiteres erwiderte. Ohne zu
zögern.
Sie war völlig gefangen in dem Kuss.
So wie er auch.
Es war nur eine winzige Sache - ein einfacher
Kuss. Doch als Leonora fühlte, wie ihre Brust gegen seinen
Oberkörper gedrückt wurde, wie seine Arme sich um ihre Taille
schlossen, da schien ihr plötzlich noch unendlich viel mehr
zwischen ihnen zu liegen. So vieles, was sie noch nie zuvor
empfunden hatte, von dem sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie es
empfinden könnte. Wie etwa die Wärme, die sie beide durchströmte -
nicht nur sie selbst, sondern auch ihn. Wie dieses plötzliche
Gefühl von Anspannung - nicht aus Abwehr, nicht aus Zurückhaltung,
sondern vor Verlangen.
Ihre Hände waren zu seinen Schultern
hinaufgewandert. Unter ihrer Berührung spürte sie seine Reaktion,
seine Selbstsicherheit auf diesem Gebiet, sein Können, doch auch
sein tiefes, unerfülltes Verlangen.
Seine auf ihrem Rücken gespreizten Hände, seine
starken Finger zogen sie näher zu sich heran; sie ließ es zu, und
seine Lippen wurden noch bestimmender. Befehlend. Sie gab ihnen
nach, öffnete sich und spürte einen Anflug von Triumph in seinen
hungrigen Bewegungen. Sein Körper fühlte sich an wie eine Eiche,
unbeugsam und stark, doch seine weichen Lippen, die mit ihr
spielten, sie aufreizten, ihr Verlangen steigerten, waren über die
Maßen lebendig und selbstsicher.
Und machten sie süchtig.
Sie war kurz davor, völlig in der Umarmung zu
versinken, seinem Zauber zu erliegen, als er plötzlich behutsam
zurückwich, seine Hände auf ihre Hüfte legte und sie
festhielt.
Er unterbrach den Kuss und hob den Kopf.
Er sah ihr in die Augen.
Einen Moment lang konnte sie ihn nur
verständnislos anzwinkern und sich fragen, warum er wohl aufhörte.
Sie sah das Bedauern in seinen Augen, welches von fester
Entschlossenheit überlagert wurde - ein hartes, haselnussbraunes
Funkeln. So als habe er keineswegs aufhören wollen, sondern war
vielmehr überzeugt davon, es zu müssen.
Einen wahnsinnigen Moment lang hatte sie das
dringende Bedürfnis,
ihre Hand in seinen Nacken zu legen und ihn und seine
faszinierenden Lippen wieder zu sich herabzuziehen.
Sie blinzelte erneut.
Er stützte sie behutsam, bis sie ihren Halt
zurückerlangt hatte.
»Ich sollte nun gehen.«
Ihr Verstand setzte ruckartig wieder ein,
schleuderte sie zurück in die Realität. »Wie werden Sie denn nun
vorgehen?«
Er sah sie eindringlich an; sie war sich sicher,
ein ärgerliches Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Seine Lippen
wurden schmal. Sie hielt seinem Blick gelassen stand.
Schließlich antwortete er ihr. »Ich habe
Stolemore heute Morgen einen Besuch abgestattet.« Er nahm ihre
Hand, legte sie auf seinen Arm und führte sie den Weg hinauf.
»Und?«
»Er hat sich bereiterklärt, mir den Namen des
Mannes zu nennen, der Ihr Haus unbedingt kaufen wollte. Ein
gewisser Montgomery Mountford. Sagt Ihnen der Name
irgendetwas?«
Sie blickte ins Leere, während sie im Geiste den
Kreis ihrer Bekannten und Familienmitglieder durchging. »Nein. Es
ist auch keiner von Humphreys oder Jeremys Kollegen. Ich helfe den
beiden manchmal mit der Korrespondenz - dieser Name ist mir noch
nie untergekommen.«
Als er ihr nichts entgegnete, sah sie ihn an.
»Hat er Ihnen eine Adresse genannt?«
Er nickte. »Ich werde hingehen und sehen, ob ich
irgendetwas in Erfahrung bringen kann.«
Sie hatten den Heckendurchgang erreicht. Leonora
blieb stehen. »Und wo?«
Er begegnete ihrem Blick; wieder kam es ihr so
vor, als wäre er irgendwie verärgert. »Bloomsbury.«
»Bloomsbury?« Sie starrte ihn an. »Da haben wir
vorher gewohnt.«
Er runzelte die Stirn. »Bevor Sie hierher
gezogen sind?«
»Ja. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass wir erst
vor zwei Jahren
hier eingezogen sind, als Humphrey das Haus geerbt hat. Die vier
Jahre davor haben wir in Bloomsbury gelebt. In der Keppell Street.«
Sie fasste seinen Arm. »Vielleicht ist es ja ein ehemaliger
Nachbar, der aus irgendeinem Grund …« Sie gestikulierte ratlos.
»Wer weiß warum, aber irgendeine Verbindung wird es da wohl
geben.«
»Möglicherweise.«
»Kommen Sie!« Sie schritt eilig in Richtung
Salontür. »Ich werde Sie begleiten. Wir haben noch reichlich Zeit
bis zum Mittag.«
Tristan unterdrückte ein Fluchen und folgte ihr.
»Sie müssen mich wirklich nicht …«
»Und ob ich das muss!« Sie warf ihm einen
ungeduldigen Blick zu. »Woher wollen Sie sonst wissen, ob dieser Mr
Mountford irgendetwas mit unserer Vergangenheit zu tun hat?«
Darauf hatte er leider keine überzeugende
Antwort parat. Er hatte sie mit der eindeutigen Absicht geküsst,
ihre Neugier an sinnlichen Erfahrungen weiter anzustacheln und sie
im Gegenzug zumindest so weit von der Einbrechersuche abzubringen,
dass er dieser Tätigkeit ungestört allein nachgehen konnte.
Offenbar war ihm beides misslungen. Er schluckte seinen Ärger
hinunter und folgte ihr die Stufen hinauf.
Durch die Verandatüren hindurch.
Er blieb unvermittelt stehen. Es war beileibe
nicht seine Art, der Führung anderer zu folgen, schon gar nicht,
wenn diese Führung in den Händen einer Frau lag. »Miss
Carling!«
Sie blieb vor der Flurtür stehen. Mit
hocherhobenem Kopf und angespanntem Rücken wandte sie sich zu ihm
um. »Ja?«
Er musste sich zwingen, sie nicht böse
anzufunkeln. Er sah die Unnachgiebigkeit, die aus ihren hübschen
Augen, aus ihrer gesamten Haltung sprach. Er dachte einen
Augenblick lang nach, dann beschloss er - wie es jeder erfahrene
Befehlshaber angesichts einer unerwarteten Situation tun würde -,
spontan seine Taktik zu ändern.
»Schon gut.« Voll innerem Widerwillen bedeutete
er ihr weiterzugehen.
In einem weniger wichtigen Punkt nachzugeben, mochte bedeuten,
seine Position an anderer Stelle zu stärken.
Mit einem strahlenden Lächeln öffnete sie die
Tür und führte ihn in die Eingangshalle.
Er folgte ihr mit fest aufeinandergepressten
Lippen. Zum Glück war es lediglich Bloomsbury.
Tatsächlich war es gerade in Bloomsbury durchaus
von Vorteil, eine Dame am Arm zu führen. Er hatte vergessen, dass
in jener bürgerlichen Gegend, in die Mountfords Adresse sie führte,
ein Paar weitaus weniger Aufsehen erregte als ein einzelner,
wohlgekleideter Gentleman.
Das Haus in der Taviton Street war schmal und
hoch. Es handelte sich um eine Pension. Die Besitzerin - eine
gepflegte, streng wirkende Frau, ganz in Schwarz gekleidet -
öffnete ihnen die Tür und kniff bei dem Namen Mountford die Augen
zusammen.
»Der ist nicht mehr hier. Letzte Woche
abgereist.«
Sprich, nachdem sein Einbruch in der Nummer
zwölf gescheitert war. Tristan zeigte sich überrascht. »Hat er
gesagt, wohin er will?«
»Nein. Hat mir nur im Vorbeigehen das Geld in
die Hand gedrückt.« Sie schnaubte verächtlich. »Wäre ich nicht
zufällig da gewesen, hätte ich keinen blanken Schilling von ihm
gesehen.«
Leonora schob sich vor Tristan. »Wir sind auf
der Suche nach einem Mann, der möglicherweise etwas über einen
Vorfall in Belgravia wissen könnte. Wir sind uns nicht einmal
sicher, ob Mr Mountford der richtige ist. War er groß?«
Die Frau studierte sie eingehend, dann taute sie
auf. »Ja. Mittelgroß.« Sie warf einen kurzen Blick auf Tristan.
»Nicht so groß wie Ihr Gatte hier, aber auch nicht gerade
klein.«
Eine leichte Röte stieg Leonora ins Gesicht; sie
fragte rasch weiter: »Eher schlank als kräftig?«
Die Besitzerin nickte. »Schwarze Haare und
ungesund blass. Braune Augen, aber ein eiskalter Bursche, wenn Sie
mich fragen.
Sieht noch recht jung aus, ist aber wohl so Mitte zwanzig, würde
ich sagen. Schien ziemlich große Stücke auf sich zu halten und war
ein Einzelgänger.«
Leonora warf einen Blick über ihre Schulter.
»Das scheint mir der Mann zu sein, nach dem wir suchen.«
Tristan begegnete ihrem Blick, dann wandte er
sich der Besitzerin zu. »Hatte er irgendwelche Besucher?«
»Nein, das kam mir nämlich ebenfalls komisch
vor. Normalerweise muss ich bei den jungen Herren immer sehr
deutlich werden, was die Besuche angeht - Sie verstehen schon, was
ich meine.«
Leonora lächelte unbeholfen. Tristan zog sie
zurück. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Madam.«
»Ist schon in Ordnung. Ich hoffe, Sie werden ihn
finden und er kann Ihnen weiterhelfen.«
Sie traten aus dem kleinen Eingang heraus. Die
Frau hatte die Tür schon halb geschlossen, als sie plötzlich
innehielt.
»Warten Sie, mir fällt da gerade noch was ein …«
Sie nickte Tristan zu. »Er hatte einen Besucher, aber der ist nicht
reingekommen. Hat vor der Tür gestanden, gerade so wie Sie jetzt,
und gewartet, bis Mr Mountford zu ihm herunterkam.«
»Wie sah dieser Besucher aus? Hat er seinen
Namen genannt?«
»Das hat er nicht, aber als ich raufgegangen
bin, um Mr Mountford Bescheid zu geben, habe ich so im Stillen
gedacht, dass ich gewiss keinen Namen brauche. Als ich ihm sagte,
der Besucher sei Ausländer, da hat der junge Mann schon gewusst,
von wem ich rede.«
»Ein Ausländer?«
»Jawohl. Er hatte so einen Akzent, den man gar
nicht überhören kann. Klang fast wie ein Knurren.«
Tristan rührte sich nicht. »Wie hat er
ausgesehen?«
Sie runzelte die Stirn, zuckte die Schultern.
»Wie ein adretter Gentleman eben. War überaus gepflegt, das weiß
ich noch.«
»Und seine Haltung?«
Die Anspannung wich aus ihren Zügen. »Ja, das
kann ich Ihnen
ganz genau sagen - er stand kerzengerade da, so als hätte man ihn
an einen Stock gebunden. Er war so steif, dass ich dachte, er
müsste durchbrechen, wenn er sich verneigt.«
Tristan lächelte sie freundlich an. »Vielen
Dank. Sie waren uns eine große Hilfe.«
Die Pensionswirtin bekam etwas Farbe im Gesicht.
Sie knickste. »Vielen Dank, Sir.« Nach einem kurzen Augenblick
wanderte ihr Blick hinüber zu Leonora. »Viel Glück, Madam.«
Leonora neigte anmutig den Kopf und ließ sich
von Trentham wegführen. Es tat ihr fast leid, dass sie die Frau
nicht gefragt hatte, warum sie ihr Glück wünschte - damit sie
Mountford fänden oder damit Trentham sich an sein vermeintliches
Ehegelübde hielte?
Mit seinem fatalen Lächeln war Trentham
wahrhaftig eine Bedrohung.
Sie sah kurz zu ihm auf, dann verdrängte sie den
Gedanken aus ihrem Kopf - ebenso wie die übrigen Ereignisse des
Tages. Solange er sich an ihrer Seite befand, mochte sie lieber
nicht genauer über das Geschehene nachdenken.
Er ging gelassen neben ihr her.
»Was halten Sie von Mountfords Besucher?«
Er sah sie an. »Was ich von ihm halte?«
Ihre Augen verengten sich, ihre Lippen waren
aufeinandergepresst; ihr Gesichtsausdruck gab ihm deutlich zu
verstehen, dass sie keine sieben Jahre alt war. »Was glauben Sie,
woher er kam? Sie haben doch sicherlich eine Vermutung.«
Ihr Scharfsinn wurde ihm allmählich lästig. Aber
im Grunde sprach nichts dagegen, es ihr zu sagen. »Österreich,
Preußen oder ein anderer deutscher Staat. Seine außergewöhnlich
steife Haltung und seine Aussprache deuten darauf hin.«
Sie runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts.
Er winkte eine Droschke heran und half ihr hinauf. Als die Kutsche
in Richtung Belgravia losfuhr, fragte sie weiter: »Glauben Sie,
dass dieser ausländische Herr irgendetwas mit den Einbrüchen zu tun
hat?« Als er ihr nicht sofort antwortete, fügte sie hinzu: »Was
könnte ein
Deutscher, Österreicher oder Preuße im Montrose Place Nummer
vierzehn suchen?«
»Das«, gab er offen zu, »würde ich in der Tat
selbst gerne wissen.«
Sie sah ihn scharf an, doch als er dem nichts
weiter hinzuzufügen hatte, blickte sie überraschenderweise wieder
geradeaus und schwieg.
Am Montrose Place angekommen, half er ihr aus
der Droschke; sie wartete, bis er den Kutscher bezahlt hatte, dann
hakte sie sich bei ihm ein, und gemeinsam gingen sie zum Tor ihres
Hauses. Während er den Torflügel öffnete und sie hindurchtraten,
hielt Leonora den Blick gesenkt.
»Wir geben heute Abend eine kleine Dinnerparty
für ein paar Freunde von Onkel Humphrey und Jeremy.« Sie blickte
flüchtig zu ihm auf; ihre Wangen waren leicht gerötet. »Vielleicht
hätten Sie ja Interesse, ebenfalls vorbeizukommen? Sie könnten sich
bei der Gelegenheit ein Bild davon machen, über welche geheime
Entdeckung mein Onkel und Jeremy gestolpert sein könnten.«
Er unterdrückte ein zynisches Grinsen.
Stattdessen zog er die Augenbrauen hoch und zeigte sich
interessiert. »Das ist keine schlechte Idee.«
»Wenn Sie noch nichts anderes vorhaben …?«
Sie hatten die Eingangstreppe erreicht. Er nahm
ihre Hand und verneigte sich. »Es ist mir ein Vergnügen.« Er sah
ihr in die Augen. »Um acht?«
Sie nickte. »Acht.« Bevor sie sich abwandte,
trafen sich ihre Blicke erneut. »Ich freue mich darauf, Sie bei uns
begrüßen zu dürfen.«
Tristan beobachtete, wie sie die Stufen
hinaufging und dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Haus
verschwand; erst dann wandte er sich um und grinste.
Sie war durchschaubar wie Glas. Ihre Absicht war
es, ihn weiter über seine Vermutungen hinsichtlich dieses
ausländischen Gentlemans auszuhorchen …
Sein Lächeln verebbte; sein Gesicht nahm wieder
seinen gewohnten unbeteiligten Ausdruck an.
Deutscher, Österreicher oder Preuße - alle drei
Nationen waren ihm vertraut genug, um die Alarmglocken läuten zu
lassen, aber er hatte nicht genügend Informationen, um etwas
Konkretes unternehmen zu können … außer beharrlich
weiterzuforschen.
Vielleicht war Mountfords Bekanntschaft mit
diesem ausländischen Gentleman auch purer Zufall.
Als er das Eingangstor erreichte und es
schwungvoll öffnete, verspürte er jedoch ein überaus vertrautes
Gefühl im Nacken …
Er glaubte nicht an Zufälle.
Leonora verbrachte den Rest des Tages in
gespannter Erwartung. Nachdem sie dem Hauspersonal alle nötigen
Anweisungen für das Dinner erteilt und Humphrey und Jeremy im
Plauderton über ihren zusätzlichen Gast informiert hatte, flüchtete
sie sich in den Wintergarten.
Um ihren Verstand zu sortieren und sich über ihr
weiteres Vorgehen Gedanken zu machen.
Und um die Ereignisse und Enthüllungen des Tages
noch einmal Revue passieren zu lassen.
Zum Beispiel die Tatsache, dass Trentham
offenbar nicht abgeneigt war, sie zu küssen. Und sie war ihrerseits
ganz und gar nicht abgeneigt, seine Küsse zu erwidern. Dies war
eine gänzlich neue Erfahrung, bisher hatte sie der Beschäftigung
nämlich nie viel abgewinnen können. Mit Trentham hingegen …
Sie ließ sich tiefer in die Kissen ihres
schmiedeeisernen Sessels sinken und musste sich zugleich
eingestehen, dass sie seiner Initiative mit Freuden überallhin
gefolgt wäre - zumindest im vertretbaren Maße. Ihn zu küssen, hatte
sich als überaus angenehm erwiesen …
Umso besser war es wahrscheinlich, dass er der
Situation ein Ende gesetzt hatte.
Aus zusammengekniffen Augen betrachtete sie eine
weiße Orchidee,
welche im Luftzug sanft wippte, während sie in Gedanken die
Ereignisse, die Empfindungen - die Sinneseindrücke - noch einmal
durchging.
Er hatte den Kuss keineswegs unterbrochen, weil
er es so gewollt, sondern weil er es so geplant hatte. Sein Hunger hatte nach mehr verlangt,
aber sein Wille hatte beschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Sie hatte den Konflikt in seinen Augen gesehen, hatte das
haselnussbraune Funkeln bemerkt, als sein Wille triumphierte.
Aber warum? Sie setzte sich anders hin, ihr war
schmerzlich bewusst, wie sehr die Folgen dieses unvollständigen
Intermezzos an ihr zehrten. Vielleicht war das gerade die Antwort
auf ihre Frage - das vorschnelle Ende dieses Kusses war nichts
anderes als … unbefriedigend. Und zwar auf einer Ebene, die ihr
vorher nicht einmal bewusst gewesen war.
Es verlangte sie nach mehr.
Sie runzelte nachdenklich die Stirn, während
ihre Finger abwesend auf die Tischplatte trommelten. Trenthams
Küsse hatten ihr die Augen geöffnet und ihre Sinne geweckt. Ihr
angedeutet, was alles sein konnte - und es ihr dann
vorenthalten.
Absichtlich.
Nachdem er zuvor noch gesagt hatte, sie solle
ihrem Instinkt folgen.
Sie war eine Lady, er ein Gentleman. Theoretisch
geziemte es sich nicht, sie zu drängen, es sei denn, sie ermunterte
seine Avancen.
Auf ihren Lippen formte sich ein zynisches
Lächeln; sie unterdrückte ein leises Schnauben. Sie mochte
vielleicht unerfahren sein, aber sie war beileibe nicht dumm. Er
hatte den Kuss gewiss nicht unterbrochen, weil er sich den
gesellschaftlichen Normen gemäß dazu verpflichtet fühlte. Er hatte
ihn unterbrochen, um sie gezielt zu umgarnen, um ihr Bewusstsein zu
kitzeln, um ihre Neugier anzustacheln.
Um ihre Lust zu wecken.
Nur damit sie sich umso bereitwilliger fügen
würde, wenn es
ihn schließlich danach verlangte - besser gesagt, wenn es ihn nach
mehr verlangte, wenn er mit ihr einen
Schritt weiter gehen wollte.
Verführung. Das Wort kam
ihr plötzlich in den Sinn, versprach ihr verbotene Reize und
Abenteuer.
Wollte Trentham sie verführen?
Ihr war durchaus bewusst, dass sie nicht
unattraktiv war; sie hatte schon immer leicht die Blicke der Männer
auf sich ziehen können. Aber bislang hatte sie dieser Tatsache
wenig Beachtung geschenkt; sie zeigte keinerlei Interesse an den
üblichen Spielchen. Oder vielmehr an den Spielern.
Sie war inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt und
damit, zum großen Unmut ihrer Tante Mildred, ein eindeutig
hoffnungsloser Fall.
Trentham war urplötzlich aufgetaucht und hatte
ihre Sinne wachgerüttelt, nur um sie unbefriedigt nach mehr hungern
zu lassen. Ein unbekanntes Verlangen hatte sich ihrer bemächtigt,
doch sie war sich alles andere als sicher, was sie eigentlich von
ihm erwartete - wie sie sich ihr weiteres
Verhältnis vorstellte.
Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Sie
musste jetzt noch keine Entscheidung treffen. Sie konnte getrost
abwarten, beobachten, lernen - und sich auf ihren Instinkt
verlassen, um schließlich herauszufinden, ob sie den Weg, der sich
ihr darbot, auch wirklich gehen wollte; sie hatte ihn nicht
abgewiesen, sie hatte ihn auch keineswegs glauben lassen, sie sei
nicht interessiert.
Denn das war sie durchaus. Sehr interessiert
sogar.
Sie war fest davon ausgegangen, dass dieser
Aspekt des Lebens sang- und klanglos an ihr vorübergezogen war,
dass die Umstände ihr diese spezielle Erfahrung für immer
vorenthalten würden.
Heirat war für sie kein Thema mehr - aber
vielleicht hatte das Schicksal ihr Trentham geschickt, um sie ein
wenig über diese Tatsache hinwegzutrösten.
Als Leonora sich umdrehte und Trentham quer durch
den Salon auf sich zukommen sah, hallten diese Worte in ihren Ohren
nach.
Wenn dies ihr Trost war, wie hoch war der
Preis?
Trenthams breite Schultern waren in edles
Schwarz gehüllt, sein Jackett war ein Meisterwerk an schlichter
Eleganz. Seine graue Seidenweste glänzte sanft im Kerzenschein; auf
seiner Krawatte funkelte eine diamantenbesetzte Anstecknadel. Wie
sie es inzwischen von ihm kannte, verzichtete er bewusst auf
auffällige Details. Seine Krawatte war auf schlichte Art gebunden.
Sein glänzendes dunkelbraunes Haar war sorgfältig frisiert und
umrahmte wirkungsvoll seine markanten Gesichtszüge; alle Aspekte
seiner Erscheinung - seine Kleidung, sein selbstsicheres Auftreten,
seine Umgangsformen - machten unmissverständlich deutlich, dass er
den obersten gesellschaftlichen Kreisen angehörte; er war es
gewohnt zu befehlen und gewohnt, dass man ihm gehorchte.
Gewohnt, seine Wege selbst zu bestimmen.
Sie knickste und reichte ihm die Hand. Er nahm
sie und verneigte sich. Indem er sich aufrichtete, bedeutete er
ihr, das Gleiche zu tun. Seine Brauen waren leicht
hochgezogen.
Seine Augen funkelten sie herausfordernd
an.
Leonora lächelte, bereit sich der
Herausforderung zu stellen; sie wusste, dass sie in ihrem
aprikosenfarbenen, seidenen Abendkleid gut aussah. »Erlauben Sie,
dass ich Sie den anderen Gästen vorstelle, Mylord?«
Er neigte den Kopf, legte ihre Hand auf seinen
Arm und seine eigene darüber.
Unverhohlen besitzergreifend.
Ohne die geringste Reaktion zu zeigen, führte
sie ihn gelassen hinüber zu Humphrey und zweien seiner Freunde, Mr
Morecote und Mr Cunningham, die bereits in eine angeregte
Diskussion vertieft waren. Sie unterbrachen ihr Gespräch, um
Trentham zu begrüßen und einige Worte mit ihm zu wechseln; dann
führte Leonora ihn weiter zu Jeremy, Mr Filmore und Mr Horace
Wright, um ihn den beiden Letzteren ebenfalls vorzustellen.
Sie hatte vorgehabt, einige Zeit bei der Gruppe
zu verweilen, um Horace, dem lebhaftesten ihrer
Wissenschaftlerfreunde, die Gelegenheit
zu geben, sie eine Weile zu unterhalten, während sie die sittsame
Dame spielte, doch Trentham hatte offenbar andere Pläne. In seiner
gewohnt bestimmenden Art redete er sich geschickt aus der
Unterhaltung heraus und führte sie zurück zu ihrem Ausgangspunkt
beim Kamin.
Alle waren so sehr in ihre Gespräche vertieft,
dass sein Verhalten niemandem auffiel.
Aus einer intuitiven Vorsicht heraus entzog sie
ihm ihre Hand und sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Seine
Lippen formten sich zu einem Lächeln, das nicht nur seine weißen
Zähne erkennen ließ, sondern auch einen Anflug von Anerkennung. Und
zwar nicht nur aufgrund ihrer Entschlossenheit, sondern auch
aufgrund ihres Äußeren - ihrer Schultern, die von dem großzügigen
Ausschnitt ihres Kleides entblößt wurden, ihres Haars, das in
Locken gelegt war, die ihre Ohren und ihren Nacken sanft
umspielten.
Angesichts seines bewundernden Blickes, der
langsam über ihren Körper glitt, fiel ihr das Atmen zunehmend
schwerer; sie unterdrückte ein Schaudern - allerdings nicht vor
Kälte. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und hoffte
inständig, er möge die Hitze des Feuers dafür verantwortlich
machen.
Träge wanderte sein Blick zurück zu ihrem.
Der Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen
versetzte ihr einen kleinen Schock, ließ ihren Atem vollends
stocken. Dann blinzelte er, und seine langen Wimpern legten sich
über den beunruhigenden Blick.
»Führen Sie Sir Humphrey schon lange den
Haushalt?«
Er sprach in einem typischen Konversationston -
schleppend und scheinbar gelangweilt. Sie zwang sich zu atmen,
neigte den Kopf und beantwortete seine Frage.
Sie nutzte diesen Aufhänger, um die Unterhaltung
auf eine unverfängliche Beschreibung der Grafschaft Kent zu lenken,
in der sie zuvor gelebt hatten; Lobreden auf die Natur und das
unbeschwerte Landleben zu schwingen, erschien ihr weitaus sicherer,
als den fragwürdigen Absichten in seinem Blick zu begegnen.
Er berichtete ihr im Gegenzug von seinem
Landsitz in Surrey, doch seine Augen verrieten, dass er in
Wirklichkeit nur mit ihr spielte.
Wie eine übergroße Katze mit einer besonders
schmackhaften Maus.
Sie hielt ihr Kinn hocherhoben, fest
entschlossen, sich in keiner Weise anmerken zu lassen, dass sie
etwas ahnte. Sie atmete vor Erleichterung tief durch, als Castor
die Gäste ins Speisezimmer bat, bis ihr jedoch bewusst wurde, dass
Trentham selbstverständlich sie, als die
einzige anwesende Dame, zu Tisch führen würde.
Seinen Blick gezielt suchend, legte sie ihre
Hand auf den ihr dargebotenen Arm und ließ sich von Trentham ins
Speisezimmer geleiten. Er führte sie ans Ende der Tafel und setzte
sich auf den Stuhl zu ihrer Rechten. Im Trubel der scherzhaften
Unterhaltungen der übrigen Herren, die um sie herum Platz nahmen,
kreuzte er unbemerkt ihren Blick und zog spielerisch eine Braue
hoch.
»Ich bin beeindruckt.«
»Tatsächlich?« Sie ließ ihren Blick über den
Tisch gleiten, als wolle sie überprüfen, ob alles in Ordnung sei -
als hätte sein Kommentar der Tafel gegolten.
Seine Lippen zuckten gefährlich. Er lehnte sich
näher an sie heran und murmelte: »Ich hatte angenommen, Sie würden
schon eher schwach werden.«
Sie sah ihn an. »Schwach werden?«
Seine Augen weiteten sich. »Ich war mir sicher,
Sie würden alles daransetzen, von mir zu erfahren, wie wir nun
weiter vorgehen sollten.«
Sein Gesichtsausdruck wirkte vollkommen
unschuldig; nicht so seine Augen.
Jedes seiner Worte war doppeldeutig; sie konnte
nicht sagen, worauf er tatsächlich hinauswollte.
Nach einer kurzen Pause entgegnete sie: »Ich
habe beschlossen, mich noch etwas zu gedulden.«
Sie sah nach unten, um ihre Serviette
auszubreiten, während
Castor einen Teller Suppe an ihren Platz stellte. Sie ergriff
ihren Löffel und bedachte Trentham mit einem kühlen Blick -
zumindest weitaus kühler, als sie sich fühlte.
Während er selbst bedient wurde, hielt er ihren
Blick gebannt, dann schenkte er ihr ein Lächeln. »Das ist
sicherlich eine weise Entscheidung.«
»Meine werte Miss Carling, was ich Sie schon die
ganze Zeit fragen wollte …«
Horace, zu ihrer Linken, nahm ihre
Aufmerksamkeit in Beschlag. Trentham wandte sich Jeremy zu, um ihm
einige Fragen zu stellen. Wie es bei derartigen Treffen meist der
Fall war, kreisten die Gesprächsthemen bald um uralte Texte.
Leonora aß, trank und beobachtete voller Erstaunen, wie angeregt
Trentham sich an der Unterhaltung beteiligte, bis ihr schließlich
bewusst wurde, dass er die Gruppe sehr geschickt nach irgendwelchen
außergewöhnlichen Funden aushorchte.
Sie spitzte die Ohren; als sich ihr eine
geeignete Gelegenheit bot, warf sie selbst eine Frage ein, um
zwischen den Ruinen des alten Persiens nach weiteren Ansatzpunkten
zu suchen. Aber in welche Richtung sie oder Trentham das Gespräch
auch immer lenkten, die sechs Wissenschaftler waren sich keiner
potenziell wertvollen Entdeckung bewusst.
Schließlich wurde der Tisch abgeräumt, und
Leonora stand auf. Die Männer taten es ihr nach. Wie üblich
beabsichtigten ihr Onkel und Jeremy nun, die Gäste in die
Bibliothek zu führen, um sich bei Portwein und Brandy in ihre
aktuellen Forschungen zu vertiefen; normalerweise zog sich Leonora
an diesem Punkt zurück.
Selbstverständlich lud Humphrey Trentham dazu
ein, ihnen in ihrer Männerrunde Gesellschaft zu leisten.
Trentham suchte ihren Blick; sie erwiderte ihn
in der Hoffnung, er möge ihre stille Aufforderung, die Einladung
auszuschlagen, verstehen und sich stattdessen von ihr zur Tür
geleiten lassen …
Seine Lippen beschrieben ein Lächeln; er wandte
sich wieder Humphrey zu. »Wenn ich ehrlich bin, ist mir
aufgefallen, dass sie
einen recht großen Wintergarten besitzen. Ich habe vor, mir selbst
einen zuzulegen, und habe mich daher gefragt, ob Sie vielleicht so
freundlich wären, mir einen kurzen Blick zu gestatten?«
»In den Wintergarten?« Humphrey strahlte Leonora
freundlich an. »Leonora kennt sich da mit Abstand am besten aus.
Ich bin mir sicher, sie wird Sie gerne herumführen.«
»Selbstverständlich. Es wäre mir ein Vergnügen
…«
Trenthams Lächeln strahlte pure Verführung aus;
er trat an ihre Seite. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.« Sein
Blick kehrte zurück zu Humphrey. »Ich muss allerdings ohnehin bald
aufbrechen, also für den Fall, dass wir uns nicht mehr sehen,
möchte ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Gastfreundschaft
danken.«
»Die Freude ist ganz unsererseits, Mylord.«
Humphrey schüttelte ihm die Hand.
Jeremy und die anderen verabschiedeten sich
ebenfalls.
Schließlich wandte Trentham sich wieder ihr zu.
Er zog die Augenbrauen hoch und deutete zur Tür. »Wollen
wir?«
Ihr Herz schlug schneller, aber sie nickte ruhig
und gefasst. Und führte ihn aus dem Zimmer.