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Lust und eine tugendhafte Frau - nur ein Narr würde versuchen, das eine mit dem anderen in Einklang zu bringen.
Tristan Wemyss, der vierte Earl of Trentham, hatte sich nur selten einen Narren schimpfen lassen, und dennoch stand er hier am Fenster in Betrachtungen einer eindeutig tugendhaften Dame versunken und gab sich dabei allerlei lüsternen Gedanken hin.
Was vielleicht sogar nachvollziehbar war; besagte Dame war nämlich groß, dunkelhaarig und von schlanker wie sanft kurvenreicher Gestalt - die überdies perfekt zur Geltung kam, während sie müßig durch den benachbarten Garten streifte und sich gelegentlich hinunterbeugte, um hier und da ein Blatt oder eine Blüte näher zu betrachten, welche in den üppigen und eigentümlich wild erscheinenden Beeten prächtig gediehen.
Es war Februar und das Wetter genauso trüb und kalt, wie der Monat es erwarten ließ, und dennoch war der Garten nebenan voller Leben - der Frost schien dem dichten dunkelgrünen Blattwerk und den kupfern schimmernden, exotischen Pflanzen nichts anhaben zu können. Natürlich waren einige Bäume und Büsche kahl und leblos, doch alles in allem strahlte der Garten eine Art winterliche Lebendigkeit aus, die für Londoner Gärten zu dieser Jahreszeit völlig untypisch war.
Nicht, dass er sich auch nur im Geringsten für Gartenkunst interessierte; was ihn hingegen faszinierte war jene junge Frau, die leicht und elegant durch den Garten schwebte und ihren Kopf schräg legte, wenn sie eine Blüte betrachtete. Ihr tief mahagonifarbenes Haar hatte sie zu einer Art Krone hochgesteckt. Er konnte den Ausdruck auf ihrem blassen, ovalen Gesicht nicht richtig erkennen, aber ihre Züge wirkten zart und rein.
Ein Irischer Wolfshund mit rauem, zottigem Fell schnüffelte behäbig um sie herum; wenn sie im Garten war, leistete der Hund ihr meistens Gesellschaft.
Sein scharfer und überaus zuverlässiger Instinkt verriet Tristan, dass ihr Interesse heute nur oberflächlicher Natur war, ein vorübergehender Zeitvertreib, so als würde sie auf irgendetwas warten. Oder auf jemanden.
»Mylord?«
Tristan drehte sich um. Er stand im ersten Stock am Erkerfenster der Bibliothek, die im hinteren Teil des Hauses Nummer zwölf am Montrose Place gelegen war. Er und seine sechs Mitverschwörer, die Mitglieder des Bastion-Klubs, hatten das Haus drei Wochen zuvor erworben und waren nun dabei, es zu ihrer privaten Festung - einer letzten Bastion gegen die Kupplerinnen der Gesellschaft - umgestalten zu lassen. Das Haus hatte die perfekte Lage für ihre Zwecke; es befand sich in einem ruhigen Teil von Belgravia, nur wenige Straßen südöstlich des großen Parks gelegen, welcher den Stadtteil von Mayfair trennte, wo jeder der Junggesellen ein Haus besaß.
Das Bibliotheksfenster überblickte den hinteren Garten von Nummer zwölf sowie den Garten des etwas größeren Nachbarhauses Nummer vierzehn, in dem besagte Dame wohnte.
Billings, der Tischler, der für sie die Renovierungsarbeiten leitete, war im Türrahmen erschienen und studierte ein zerknittertes Blatt Papier.
»Ich würd vorschlagen, da wir ja jetzt mit den Neuanfertigungen im Groben fertig sind, mal abgesehen von den paar Schränken fürs Büro …«, er schaute auf. »Wenn Sie vielleicht mal’nen Blick draufwerfen würden, ob das alles so in Ihrem Sinne ist, dann könnten wir schon mit dem Streichen und Polieren weitermachen und mit dem Saubermachen anfangen, damit Sie’s sich hier recht bald gemütlich machen können.«
»Sehr gern.« Tristan schickte sich an, ihm zu folgen. »Ich komme sofort.« Er warf einen letzten Blick in den Nachbargarten und sah, wie ein flachsblonder Junge auf die Frau zulief. Sie drehte sich um, sah ihn erwartungsvoll an … und erhielt ganz offensichtlich die Nachricht, mit der sie gerechnet hatte.
Ihm war nicht klar, was ihn eigentlich so sehr an ihr faszinierte; zum einen bevorzugte er blonde Frauen mit üppigeren Reizen, und zum anderen war sie - angesichts seiner dringenden Suche nach einer Ehefrau - ganz offensichtlich zu alt, um dem Heiratsmarkt noch zur Verfügung zu stehen; sicherlich war sie bereits verheiratet.
Er zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden. »Was denken Sie, wie lange wird es noch dauern, ehe man hier einziehen kann?«
»Nur’n paar Tage, im Höchstfall’ne Woche. Das Untergeschoss ist so gut wie fertig.«
Tristan gab Billings ein Zeichen voranzugehen und folgte ihm aus dem Raum.
 
»Miss, Miss! Der Gentleman is da!«
Na endlich! Leonora Carling atmete tief durch. Sie richtete sich auf, streckte den Rücken durch und löste die Spannung wieder, um dem Laufburschen ein Lächeln zu schenken. »Danke, Toby. Ist es derselbe Gentleman wie zuvor?«
Toby nickte. »Der, von dem Quiggs meint, es wär einer von den Besitzern.«
Quiggs war ein Tischlergeselle, der im Nachbarhaus arbeitete; neugierig, wie Toby war, hatte er mit dem Jungen Freundschaft geschlossen. Auf diesem Weg hatte Leonora schon so einiges über die Pläne der neuen Besitzer in Erfahrung bringen können - genug, um noch mehr erfahren zu wollen. Noch sehr viel mehr.
Tobys Haar war zerzaust, seine Wangen vom Wind gerötet; ungeduldig hüpfte er von einem Bein aufs andere. »Aber Sie müssen sich beeilen, wenn Sie ihn noch erwischen wollen. Quiggs hat gesagt, Billings will nur kurz mit ihm reden, und dann wird er wohl verschwinden.«
»Danke schön.« Leonora legte Toby eine Hand auf die Schulter und zog ihn mit sich, während sie zügig auf die Hintertür des Hauses zusteuerte. Henrietta, ihr Wolfshund, sprang aufgeregt um sie herum. »Ich werde gleich hinübergehen. Du warst mir eine große Hilfe - vielleicht können wir die Köchin ja davon überzeugen, dir ein Marmeladentörtchen abzutreten.«
»Klasse!« Tobys Augen weiteten sich; die Marmeladentörtchen waren geradezu legendär.
Harriet, Leonoras Zofe, eine etwas mollige und gewitzte Frau mit dichtem, rot gelocktem Haar, die schon seit vielen Jahren zum Haushalt gehörte, erwartete sie unmittelbar hinter der Tür zum Flur. Leonora forderte Toby auf, sich seine Belohnung abzuholen. Harriet wartete gerade so lange, bis der Junge außer Hörweite war, um Leonora zu fragen: »Sie werden doch wohl nichts Unüberlegtes tun?«
»Natürlich nicht.« Leonora blickte an sich herab und rückte das Oberteil ihres Kleides zurecht. »Aber ich muss unbedingt herausfinden, ob diese Gentlemen von nebenan dieselben Leute sind, die zuvor unser Haus kaufen wollten.«
»Und wenn sie es sind?«
»Wenn sie es sind, dann steckten sie vermutlich hinter all den Vorfällen, womit besagte Vorfälle ein für alle Mal beendet wären, oder aber sie wissen gar nichts von den versuchten Einbrüchen und den übrigen Ereignissen, was wiederum bedeuten würde …« Sie runzelte die Stirn und schob sich an Harriet vorbei. »Ich muss jetzt los. Toby sagte, der Herr sei im Begriff zu gehen.«
Leonora ignorierte Harriets besorgten Gesichtsausdruck und eilte durch die Küche. Sie wehrte all die üblichen Haushaltsfragen der Köchin, der Haushälterin Mrs Wantage und Castors, des uralten Butlers ihres Onkels, erfolgreich ab mit dem Versprechen, im Handumdrehen zurückzukehren und sich dann um alles zu kümmern; dann drängte sie durch die stoffbespannte Pendeltür hindurch in den Hauptflur.
Castor folgte ihr auf dem Fuß. »Soll ich Ihnen eine Droschke bestellen, Miss? Oder möchten Sie vielleicht von einem Diener begleitet werden …?«
»Weder noch.« Sie griff nach ihrem Mantel, warf ihn sich über die Schultern und band ihn hastig zu. »Ich werde nur kurz hinausgehen - ich bin sofort wieder zurück.«
Sie schnappte sich ihre Haube und setzte sie hastig auf. Dann warf sie einen knappen Blick in den Spiegel, um sich die Bänder zuzubinden. Sie beäugte sich einen Moment lang kritisch. Nicht perfekt, aber durchaus akzeptabel. Die Befragung fremder Männer gehörte nicht gerade zu ihren gewohnten Tätigkeiten, doch davon würde sie sich keinesfalls beirren lassen. Dafür war die Situation viel zu ernst.
Sie wandte sich zur Tür.
Castor stand bereit und sah sie mit leicht besorgter Miene an. »Was soll ich Sir Humphrey oder Mr Jeremy ausrichten, wenn sie fragen sollten, wohin Sie gegangen sind?«
»Sie werden nicht fragen. Und falls doch, sagen Sie einfach, dass ich mich im Nachbarhaus aufhalte.« Sie würden davon ausgehen, dass sie zu Miss Timmins gegangen war, die im Haus Nummer sechzehn wohnte, und nicht zu Nummer zwölf.
Henrietta saß mit geöffnetem Maul und hängender Zunge an der Tür, ihren hoffnungsvollen Hundeblick fest auf Leonora gerichtet …
»Du bleibst hier.«
Winselnd legte sich der große Jagdhund nieder und ließ seinen riesigen Kopf mit offenkundiger Empörung auf die Pfoten sinken.
Leonora ignorierte ihn. Sie wies ungeduldig auf die Tür; Castor hatte sie noch nicht ganz geöffnet, da trat sie bereits auf den Absatz der Eingangstreppe hinaus ins Freie. Sie blieb auf den Stufen stehen, um die Straße flüchtig zu überblicken; wie erhofft, war weit und breit niemand zu sehen. Erleichtert stieg sie die Treppe hinunter in den märchenhaften Garten vor ihrem Haus.
Normalerweise hätte der Garten sie abgelenkt oder wenigstens ihre Aufmerksamkeit erregt. Doch als sie heute den Mittelweg hinuntereilte, nahm sie die bezaubernden Büsche, die leuchtenden Beeren an ihren nackten Zweigen, die fremdartig filigranen Blätter kaum wahr. In diesem Augenblick konnten die fantastischen Gartenkünste ihres entfernten Cousins Cedric Carling ihre hastigen Schritte in Richtung Eingangstor nicht im Mindesten bremsen.
Bei den neuen Besitzern des Nachbarhauses handelte es sich um eine Gruppe adeliger Herren - so hatte es sich Toby zumindest erzählen lassen. In jedem Fall waren es Gentlemen, die in gesellschaftlichen Kreisen verkehrten. Anscheinend ließen sie das Haus komplett renovieren und umgestalten, obgleich niemand von ihnen vorhatte, dort zu wohnen - ein Umstand, den man zweifellos als sonderbar, um nicht zu sagen verdächtig beschreiben konnte. Und dann diese sonderbaren Zwischenfälle … Sie war fest entschlossen herauszufinden, ob da eine Verbindung bestand.
In den vergangenen drei Monaten hatte man sie und ihre Familie beharrlich dazu gedrängt, ihr Haus zu verkaufen. Zunächst war einer der örtlichen Makler an sie herangetreten. Was mit lästigen Überredungsversuchen begonnen hatte, verschlimmerte sich rasch zu harter, aggressiver Nötigung. Nichtsdestotrotz war es ihr irgendwann gelungen, den Makler und anscheinend auch dessen Kunden davon zu überzeugen, dass ihr Onkel nicht gewillt war, das Haus zu verkaufen.
Doch ihre Erleichterung war nur von kurzer Dauer gewesen.
Innerhalb weniger Wochen hatte man gleich zweimal versucht, bei ihnen einzubrechen. Beide Male war der Täter verjagt worden, einmal vom Personal und das andere Mal von Henrietta. Leonora hätte dies als Zufall abgetan, hätte man sie nicht kurz darauf persönlich angegriffen.
Und diese körperlichen Übergriffe waren noch weitaus beängstigender als alles andere.
Außer Harriet hatte sie niemandem davon erzählt, weder ihrem Onkel Humphrey noch ihrem Bruder Jeremy und ebenso wenig den Angestellten. Sie hatte das Personal nicht beunruhigen wollen, und was ihren Onkel und ihren Bruder anging …, sofern sie ihr überhaupt Glauben geschenkt hätten - anstatt die Vorfälle ihrer überspannten weiblichen Fantasie zuzuschreiben -, wären sie sicherlich bestrebt gewesen, Leonoras Freiheit einzuschränken, und hätten es ihr damit erschwert, das Problem selbst in die Hand zu nehmen - nämlich herauszufinden, wer hinter der ganzen Sache steckte, dessen Beweggründe zu erfahren und weitere Vorfälle zu unterbinden.
Dies war ihr Ziel; sie hoffte, dass der Gentleman von nebenan sie in ihren Bestrebungen einen guten Schritt voranbringen würde.
Sie erreichte das große schmiedeeiserne Tor, das die hohe Mauer durchbrach, zog es auf und schlüpfte rasch hindurch. Dann wandte sie sich eilig nach rechts zum Haus Nummer zwölf …
Und kollidierte mit einem lebenden Monument.
»Oh!«
Sie prallte ab wie von einer Wand.
Der kräftige Körper gab keinen Millimeter nach, reagierte dafür jedoch blitzschnell.
Ehe sie sichs versah, hatten zwei starke Hände sie oberhalb der Ellbogen gepackt.
Funken stoben und knisterten, ausgelöst durch die Kollision. Ein eigentümliches Gefühl durchfuhr ihren Körper, ausgehend vom Griff seiner Hände.
Er hielt sie fest, damit sie nicht fiel.
Doch er hielt sie zugleich gefangen.
Leonora stockte der Atem. Ihre weit aufgerissenen Augen begegneten dem starren haselnussbraunen Blick ihres Gegenübers und blieben gebannt daran hängen. Sein Blick war überaus durchdringend. Im nächsten Moment blinzelte er; schwere Lider verhüllten für einen kurzen Moment seine Augen. Seine wie in Granit gemeißelten Züge wurden weich und nahmen einen durch und durch charmanten Ausdruck an.
Seine Lippen verwandelten sich von einer schmalen Linie harter Entschlossenheit in weiche, sinnliche Kurven.
Er lächelte.
Sie zwang ihren Blick zurück zu seinen Augen. Und errötete.
»Es tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte vielmals.« Sie trat nervös einen Schritt zurück, befreite sich. Seine Finger lockerten sich; seine Hände glitten von ihren Armen. Bildete sie sich das nur ein, oder ließ er sie nur widerwillig los? Ihre Haut prickelte; ihre Nerven lagen blank. Während sie hastig weiterredete, fühlte sie sich seltsam atemlos. »Ich habe Sie gar nicht kommen sehen …«
Ihr Blick wanderte für einen Moment hinüber zum Haus Nummer zwölf. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, aus welcher Richtung er gekommen sein musste - die Bäume entlang der Grundstücksmauer zwischen den beiden Häusern waren die einzige mögliche Erklärung, weshalb er ihr nicht aufgefallen war, als sie die Straße inspiziert hatte.
Ihre Nervosität löste sich in Luft auf; sie blickte wieder zu ihm auf. »Sind Sie der Gentleman von Nummer zwölf?«
Er zuckte mit keiner Wimper; nicht der geringste Anflug von Verwunderung zeigte sich angesichts dieser ungewöhnlichen Begrüßung - dem Ton nach eher eine Anschuldigung - auf seinem attraktiv lebhaften Gesicht. Er hatte dunkelbraunes Haar, das er etwas länger trug, als es die aktuelle Mode vorschrieb; auf seinen Zügen lag ein deutlicher Ausdruck von autokratischer Selbstsicherheit. Ein winziger und doch spürbarer Augenblick verstrich, ehe er seinen Kopf neigte und antwortete: »Tristan Wemyss. Earl of Trentham … zu meinem großen Leidwesen.« Sein Blick fiel an ihr vorbei zum Eingangstor. »Ich nehme an, Sie wohnen hier?«
»Ganz recht. Gemeinsam mit meinem Onkel und meinem Bruder.« Sie hob ihr Kinn, atmete gezwungen ein und betrachtete seine Augen, die hinter den dunklen Wimpern goldbraun schimmerten. »Ich bin froh, dass ich Sie erwischt habe. Ich wollte Sie nämlich fragen, ob Sie und Ihre Freunde es waren, die im vergangenen November mittels Makler Stolemore versucht haben, meinen Onkel zum Verkauf unseres Hauses zu bewegen.«
Sein Blick kehrte zurück zu ihrem Gesicht; er betrachtete es forschend, so als könne er darin deutlich mehr lesen, als ihr lieb war. Seine Gestalt war groß und breitschultrig; darüber hinaus ließ sein eindringlicher Blick keine weitergehende Betrachtung zu, doch ihrem ersten Eindruck nach ruhte hinter der schlichten eleganten Fassade ein unerwartet muskulöser Kern. Sie hatte einen gewissen Widerspruch wahrgenommen, als sie in ihn hineingerannt war; wie er aussah und wie er sich anfühlte, schien nicht recht zusammenpassen zu wollen.
Weder sein Name noch der Titel sagten ihr irgendetwas. Noch nicht; sie würde nachher in Debrett’s Adelsverzeichnis nachschlagen. Ihr fiel auf, dass seine Haut leicht sonnengebräunt war, eine Tatsache, die ebenfalls nicht so recht zu einem Gentleman passte … Ihr war so, als wolle ihr jeden Moment eine Erklärung hierfür einfallen, aber sein intensiver Blick lenkte sie zu sehr ab, um diesen Gedanken weiterverfolgen zu können. Sanft gewelltes Haar umrahmte seine hohe Stirn, die sich leicht kräuselte, als er seine fein geschwungenen Augenbrauen nachdenklich zusammenzog.
»Nein.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Wir haben Mitte Januar von einem Bekannten erfahren, dass das Haus Nummer zwölf zum Verkauf steht. Stolemore hat den Kauf zwar vermittelt, doch alles Weitere haben wir mit den Besitzern selbst geregelt.«
»Ach.« All ihre Gewissheit wich; ihre Streitlust verebbte. Dennoch folgte sie ihrem Drang zu fragen: »Dann haben Sie also mit den damaligen Offerten nichts zu tun? Oder mit den übrigen Vorfällen?«
»Offerten? Demnach war jemand interessiert daran, das Haus Ihres Onkels zu kaufen?«
»Und ob. Sehr interessiert sogar.« Das Ganze hatte sie beinahe um den Verstand gebracht. »Wie auch immer, wenn Sie oder Ihre Freunde nichts damit zu tun hatten …« Sie unterbrach sich. »Sie sind sich doch sicher, dass es keiner Ihrer Freunde …?«
»Ganz sicher. Wir haben von vornherein alles gemeinsam geregelt.«
»Verstehe.« Sie atmete entschlossen ein und hob ihr Kinn noch ein wenig höher. Er war einen ganzen Kopf größer als sie; es fiel ihr daher nicht leicht, eine gestrenge Haltung einzunehmen. »In jedem Fall habe ich wohl das Recht zu erfahren, was Sie mit dem Haus, das Sie nun erworben haben, zu tun gedenken? Soweit ich gehört habe, werden weder Sie noch einer Ihrer Freunde dort einziehen?«
Ihre Vermutung - ihr Verdacht - strahlte nur so aus ihren hübschen blauen Augen hervor. Sie hatte eine atemberaubende Augenfarbe - weder violett noch schlicht blau; sie erinnerte Tristan an die Farbe von Veilchen in der Dämmerung. Ihr unerwartetes Auftauchen, der flüchtige Moment ihrer kurzen - viel zu kurzen - Kollision, als sie ihm wider aller Wahrscheinlichkeit geradewegs in die Arme gelaufen war … Angesichts seiner unzüchtigen Gedanken von vorhin und der Leidenschaft, die sich in den vergangenen Wochen aufgestaut hatte, während er vom Bibliotheksfenster aus beobachtet hatte, wie sie durch den Garten schlenderte - angesichts all dessen hatte ihn ihre unerwartet stürmische Bekanntmachung etwas aus dem Konzept gebracht.
Ihre offenkundigen Befürchtungen brachten ihn unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück.
Er zog eine Augenbraue hoch und entgegnete mit einem Anflug von Arroganz: »Meine Freunde und ich waren lediglich auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an den wir uns zurückziehen können. Ich versichere Ihnen, unsere Absichten sind in keiner Weise anstößig, illegal oder …« Er hatte hinzufügen wollen »gesellschaftlich inakzeptabel«, aber die Anstandsdamen der feinen Gesellschaft würden das wahrscheinlich anders sehen. Ohne seinen Blick abzuwenden, improvisierte er mühelos: »… der Art, die unter prüden Seelen Aufsehen erregen würde«.
Anstatt sich davon den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen, kniff sie die Augen zusammen und erwiderte: »Ich dachte, das sei der Sinn und Zweck solcher Herrenklubs. Nur ein paar Straßen von hier entfernt, in Mayfair, befinden sich viele derartige Etablissements.«
»Durchaus. Wir hingegen legen Wert auf ein bisschen Privatsphäre. « Er war nicht gewillt, ihr die wahren Interessen ihres Klubs offenzulegen. Bevor sie einen neuerlichen Angriff starten konnte, nahm er die Unterhaltung selbst in die Hand. »Die Leute, die das Haus Ihres Onkels kaufen wollten - waren sie sehr aufdringlich?«
Die Erinnerung weckte in ihr eine neuerliche Wut. »Und ob! Sie, besser gesagt, ihr Makler entwickelte sich zu einer regelrechten Plage.«
»Die Interessenten haben sich also nie persönlich an Ihren Onkel gewandt?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Stolemore trat mit ihren Angeboten an uns heran, aber das war schon schlimm genug.«
»Inwiefern?«
Als sie zögerte, machte er ihr einen Vorschlag. »Stolemore ist der Makler, der uns unser Haus vermittelt hat. Ich wollte ohnehin heute noch mit ihm sprechen. War er es, der sich so unangenehm verhalten hat, oder …«
Sie verzog das Gesicht. »Ich möchte nicht behaupten, dass er sich aus eigenem Antrieb so verhalten hat. Ich nehme eher an, es lag an den Leuten, die ihn beauftragt haben - kein Makler könnte lange im Geschäft bleiben, wenn er sich immer derart aufführt; und bisweilen schien ihm sein eigenes Verhalten sogar regelrecht unangenehm zu sein.«
»Verstehe.« Er sah sie wieder an. »Und von welchen anderen Vorfällen haben Sie gesprochen?«
Sie war nicht gewillt, mit ihm darüber zu sprechen, und wünschte sich inständig, sie hätte die Vorfälle gar nicht erst erwähnt; ihre Augen und ihre Lippen verrieten dies nur allzu deutlich.
Er wartete ab und sah ihr unverwandt in die Augen; unbeirrt ließ er die Stille andauern, seine Haltung unnachgiebig, aber nicht drängend. Wie schon viele andere vor ihr deutete sie seine Botschaft richtig und gab spitz zurück: »Man hat zweimal versucht, bei uns einzubrechen.«
Er sah sie nachdenklich an. »Beide Male, nachdem Sie den Kauf abgelehnt hatten?«
»Der erste Einbruchsversuch geschah eine Woche nachdem Stolemore aufgegeben hatte und uns endlich in Ruhe ließ.«
Tristan zögerte, doch sie sprach seine Gedanken aus.
»Natürlich besteht zwischen den Einbruchsversuchen und dem Kaufangebot kein eindeutiger Zusammenhang.«
Außer, dass sie selbst felsenfest davon überzeugt war.
»Ich nahm an«, fuhr sie fort, »wenn Sie und Ihre Freunde hinter diesen mysteriösen Offerten gesteckt hätten, so würde dies bedeuten, dass die versuchten Einbrüche und …«, sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig und nahm einen tiefen Atemzug, »nichts mit dem Verkauf zu tun hätten, sondern andere Gründe haben müssten.«
Er nickte leicht; ihre Argumentation war stichhaltig, und dennoch hatte sie ihm ganz offensichtlich etwas vorenthalten. Er war einen Moment lang unschlüssig, ob er sie zu einer Antwort drängen und sie geradeheraus fragen sollte, ob die versuchten Einbrüche der einzige Grund waren, weshalb sie zu ihm herausgestürzt war, um sich - allen gesellschaftlichen Gepflogenheiten zum Trotz - hier ein Gefecht mit ihm zu liefern. Sie warf einen kurzen Blick hinüber zum Eingangstor. Eine solche Befragung konnte warten; wie die Dinge standen, mochte ein Gespräch mit Stolemore sich als aufschlussreicher erweisen. Als ihr Blick zu ihm zurückkehrte, lächelte er sie an. Und zwar äußerst charmant. »Ich würde sagen, Sie haben mir etwas voraus.«
Als sie ihn verständnislos anblinzelte, fuhr er fort: »Da wir von nun an gewissermaßen Nachbarn sind, wäre es doch sicher nicht unangemessen, wenn Sie mir Ihren Namen verrieten.«
Sie musterte ihn - nicht argwöhnisch, aber abschätzend. Dann nickte sie und hielt ihm die Hand hin. »Miss Leonora Carling.«
Sein Lächeln wurde breiter. Er ergriff für einen kurzen Moment ihre Finger und verspürte den unbändigen Drang, diese festzuhalten. Sie war also keineswegs verheiratet. »Freut mich, Miss Carling. Und Ihr Onkel ist …?«
»Sir Humphrey Carling.«
»Und Ihr Bruder?«
Ihre Augen funkelten skeptisch. »Jeremy Carling.«
Er lächelte unbeirrt weiter, um mögliche Bedenken zu zerstreuen. »Leben Sie schon lange hier? Dies scheint mir auf den ersten Blick eine eher friedliche Gegend zu sein, oder täuscht dieser Eindruck?«
Ihre leicht zusammengekniffenen Augen verrieten, dass sie sich nicht von ihm täuschen ließ. Sie beantwortete nur seine zweite Frage. »Überaus friedlich.«
Zumindest bis vor Kurzem. Sie hielt seinem unangenehm eindringlichen Blick stand. Dann fügte sie mit unmissverständlichem Nachdruck hinzu: »Wir wollen hoffen, dass es auch so bleibt.«
Sie sah, wie seine Mundwinkel flüchtig zuckten, ehe er seinen Blick zu Boden sinken ließ.
»In der Tat.« Mit einer einladenden Bewegung bot er an, sie die paar Schritte zum Tor zu begleiten. Sie wandte sich bereitwillig um, doch im nächsten Moment wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie ihm damit stillschweigend eingestanden hatte, nur seinetwegen aus dem Haus gestürmt zu sein. Sie sah zu ihm auf und erkannte an seinem Blick, dass er ihr Eingeständnis durchschaut hatte. Schlimm genug. Doch der funkelnde Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen, der all ihre Sinne durchzuckte und ihr den Atem stocken ließ, war noch unendlich viel schlimmer.
Aber schließlich ließ er seine Augenlider sinken und lächelte so charmant wie zuvor. Sie kam immer mehr zu der Überzeugung, dass sein Ausdruck nichts weiter war als eine Maske.
Vor dem Tor blieb er stehen und streckte ihr die Hand hin.
Die Höflichkeit verlangte, dass sie ihm ihre Finger erneut auslieferte.
Seine Hand schloss sich um die ihre; sein viel zu scharfsichtiger Blick hielt sie gefangen. »Ich hoffe, wir werden unsere Bekanntschaft bald vertiefen, Miss Carling. Bitte übermitteln Sie Ihrem Onkel meine aufrichtigen Grüße; ich werde ihm, sobald es geht, meine Aufwartungen machen.«
Sie neigte höflich den Kopf, der Etikette bewusst gehorchend, obwohl sie ihm am liebsten auf der Stelle ihre Hand entzogen hätte. Es kostete sie einige Mühe, das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken. Sein kühler, fester, vielleicht etwas zu starker Händedruck brachte ihr Gleichgewicht auf eine ganz und gar seltsame Art ins Wanken. »Guten Tag, Lord Trentham.«
Er gab ihre Hand frei und verneigte sich.
Sie drehte sich um, trat durchs Tor und warf es hinter sich zu. Ihre Blicke trafen sich flüchtig, bevor sie sich endgültig dem Haus zuwandte.
Dieser winzige Augenblick reichte aus, um ihr erneut den Atem zu rauben.
Während sie den Weg entlangschritt, bemühte sie sich vergeblich weiterzuatmen - sie spürte seinen Blick nach wie vor auf ihr ruhen. Dann erkannte sie am Geräusch seiner Schuhe, dass er sich umdrehte, und schließlich hörte sie seine festen Schritte, die sich auf dem Gehweg entfernten. Endlich nahm sie einen tiefen Atemzug und ließ die Luft erleichtert entweichen. Was hatte Trentham nur an sich, dass er sie derart nervös machte?
Nervös weswegen?
Das Gefühl seiner harten, beinahe schwieligen Hand unter ihren Fingern wirkte noch nach - wie eine sinnliche Erinnerung, die sich ihr eingebrannt hatte. Ein vager Gedanke versuchte, wie bereits zuvor, Gestalt anzunehmen, doch er entglitt ihr erneut. Obwohl sie Trentham noch nie zuvor begegnet war - daran bestand kein Zweifel -, kam ihr irgendetwas an ihm vertraut vor.
Während sie die Treppe zum Eingang hinaufstieg, schüttelte sie innerlich den Kopf und zwang sich, ihre Gedanken ausschließlich auf die von ihr zuvor vernachlässigten Pflichten zu richten.
 
Tristan schlenderte auf eine kleine Ansammlung von Ladenlokalen in der Motcomb Street zu, wo sich auch Earnest Stolemores Maklerbüro befand. Das Gespräch mit Leonora Carling hatte seine Sinne geschärft und Instinkte in ihm wachgerufen, die noch vor nicht allzu langer Zeit fester Bestandteil seines alltäglichen Lebens gewesen waren. Nicht selten hatte sein Leben davon abgehangen, dass er diese Instinkte genau analysierte und korrekt interpretierte.
Er war sich nicht ganz sicher, was er von Miss Carling - oder Leonora, wie er sie innerlich nannte, immerhin hatte er sie bereits volle drei Monate lang beobachtet - eigentlich halten sollte. Sie war noch deutlich attraktiver, als er es aus der Entfernung angenommen hatte. Ihr dichtes mahagonifarbenes Haar war durchzogen von granatfarbenen Reflexen; ihre ungewöhnlich blauvioletten Augen waren groß und mandelförmig und wurden von feinen, dunklen Augenbrauen überspannt. Sie hatte eine gerade Nase, fein modellierte Züge, hohe Wangenknochen und eine blasse, makellose Haut. Doch es waren ihre Lippen, die ihrem Gesicht einen ganz besonderen Charakter verliehen - volle, weich geschwungene Lippen von dunklem Rosa, die einen Mann regelrecht dazu aufforderten, sie zu schmecken, sie zu kosten.
Seine spontane körperliche Reaktion, ebenso wie die ihre, war ihm durchaus nicht entgangen. Es war vor allem ihre Reaktion, die ihn so faszinierte; es schien, als wäre ihr gar nicht bewusst, was es mit diesem plötzlichen Aufflammen sinnlicher Empfindungen eigentlich auf sich hatte.
Woraus sich einige höchst interessante Fragen ergaben, die er sicherlich noch weiterverfolgen würde - allerdings nicht jetzt. Im Moment waren es vielmehr die banalen Fakten, die sich aus ihrer Unterhaltung ergeben hatten, welche seinen Intellekt beschäftigten.
Ihre Ängste und Befürchtungen bezüglich der versuchten Einbrüche mochten ihrer zu ausgeprägten weiblichen Fantasie entsprungen sein, ausgelöst von dem einschüchternden Verhalten Stolemores, der sie zum Verkauf nötigen wollte.
Möglicherweise hatte sie sich die Vorfälle sogar gänzlich eingebildet.
Doch sein Instinkt war da anderer Meinung.
In seinem bisherigen Betätigungsfeld hatte er sich darauf verlassen müssen, Menschen richtig zu deuten, sie richtig einzuschätzen; er hatte den Bogen seit Langem raus. Er war überzeugt davon, dass es sich bei Leonora Carling um eine starke, überaus praktisch veranlagte Frau handelte, die zudem eine ordentliche Portion gesunden Menschenverstand besaß. Gewiss nicht die Art von Frau, die vor einem Schatten zusammenzuckt und sich Einbrüche einbildet.
Wenn ihre Vermutung hingegen stimmte und die Einbrüche tatsächlich mit Stolemores Kunden und dessen Kaufbestrebungen zusammenhingen …
Er kniff die Augen zusammen. Allmählich enthüllte sich ihm ein Bild, das Leonoras Verhalten - ihn so unvermittelt auf der Straße zu konfrontieren - durchaus nachvollziehbar machte. Und dieses Gesamtbild wollte er, nein, würde er keinesfalls akzeptieren. Entschlossenen Schrittes ging er weiter.
Bis er Stolemores grün gestrichene Ladenfront erreichte. Tristans Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck, den ein unerfahrener Betrachter niemals als Lächeln gedeutet hätte. Als er nach der Türklinke griff, bemerkte er sein Gesicht in der Scheibe und setzte eine versöhnlichere Miene auf. Stolemore würde seine Neugier mit Sicherheit befriedigen können.
Die Türglocke läutete.
Tristan trat ein. Stolemores rundliche Gestalt saß nicht hinter dem Schreibtisch. Das kleine Büro war leer. Gegenüber der Eingangstür befand sich ein Durchgang, der von einem Vorhang verdeckt wurde; er führte tiefer in das winzige Haus, dessen vorderstes Zimmer Stolemores Büro beherbergte.
Tristan schloss die Tür und wartete ab, doch von dem schlurfenden, schweren Gang des korpulenten Maklers war nichts zu hören.
»Stolemore?« Tristans Stimme hallte lauter durch das kleine Gebäude als das zarte Bimmeln der Türglocke. Er wartete erneut ab. Eine Minute verstrich, ohne dass das geringste Geräusch zu vernehmen war.
Nichts.
Er hatte einen Termin mit Stolemore, den der Makler gewiss nicht absichtlich versäumen würde. Tristan hatte den Wechsel für die Abschlusszahlung des Hauses in der Tasche; der Kaufvertrag war so ausgelegt, dass die Maklerprovision mit der letzten Zahlung fällig wurde.
Die Hände in den Taschen seines Paletots stand er völlig regungslos da; sein Rücken war der Eingangstür zugewandt, sein Blick fest auf den leichten Vorhang gerichtet.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Er konzentrierte sich, richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Vorhang und ging langsam, völlig lautlos darauf zu. Er hob den Arm und zog den Stoff abrupt beiseite, während er gleichzeitig einen Schritt zur Seite trat.
Das Klappern der Gardinenringe verstummte allmählich.
Vor ihm lag ein enger, düsterer Korridor. Seitwärts, den Rücken zur Wand gerichtet, trat er hinein. Nach wenigen Schritten erreichte er eine Treppe, die so schmal war, dass er sich fragte, wie Stolemore überhaupt dort hinaufkam; er überlegte kurz, aber nachdem von oben keinerlei Geräusch zu vernehmen war und Tristan nicht das Gefühl hatte, dass sich dort oben jemand befand, entschloss er sich, weiter den Korridor entlangzugehen.
Dieser führte ihn in eine kleine Küche, die hinten an das Haupthaus angebaut war.
Auf den Steinfliesen, jenseits des wackeligen Tisches, der fast den gesamten Raum einnahm, lag, in sich zusammengesunken, eine menschliche Gestalt.
Ansonsten war der Raum leer.
Die Gestalt war niemand anderes als Stolemore selbst; er war übel zugerichtet.
Außer ihnen war das Haus menschenleer; Tristan war sich dessen sicher genug, um seine Wachsamkeit abzulegen. Den Blutergüssen auf Stolemores Gesicht nach lag der Überfall bereits mehrere Stunden zurück.
Ein Stuhl lag umgekippt am Boden. Tristan stellte ihn wieder auf und trat um den Tisch herum, um sich zu dem Makler hinunterzuknien. Eine flüchtige Untersuchung bestätigte ihm, dass Stolemore lebte, jedoch bewusstlos war. Allem Anschein nach hatte er versuchte, den Schwengel der Wasserpumpe zu erreichen, die am hinteren Ende der Küche in die Arbeitsplatte eingelassen war. Tristan stand auf, fand eine Schüssel und hielt sie unter das Rohr, während er den Hebel betätigte.
Ein großes Herrentaschentuch lugte aus der Manteltasche des elegant gekleideten Maklers hervor; Tristan benutzte es, um Stolemores Gesicht anzufeuchten.
Der Mann rührte sich und schlug die Augen auf.
Eine plötzliche Anspannung durchzuckte seinen schweren Körper. Ein Ausdruck von Panik trat in Stolemores Augen, dann fiel sein Blick auf Tristan, und er erkannte ihn.
»Oh. Aah …« Stolemore jaulte auf, versuchte dann aber, sich aufzurichten.
Tristan packte seinen Arm und zog ihn hoch. »Versuchen Sie nicht zu sprechen.« Er hievte Stolemore auf den Stuhl. »Haben Sie Brandy im Haus?«
Stolemore deutete auf einen Schrank. Tristan öffnete die Tür, nahm eine Flasche und ein Glas heraus und goss einen großzügigen Schluck ein. Er schob Stolemore das Glas hin, verkorkte die Flasche wieder und stellte sie vor dem Makler auf den Tisch.
Tristan schob seine Hände in die Manteltaschen und lehnte sich gegen die schmale Arbeitsfläche. Er gab Stolemore einen Moment Zeit, sich zu sammeln.
Jedoch nicht mehr als eine Minute.
»Wer hat Ihnen das angetan?«
Stolemore sah ihn aus einem halb zugeschwollenen Auge an; das andere war vollständig geschlossen. Er nahm einen weiteren Schluck Brandy, starrte in sein Glas und murmelte: »Bin die Treppe runtergefallen.«
»Die Treppe runtergefallen, vor eine Tür gerannt und mit dem Kopf gegen die Tischkante geprallt … Verstehe.«
Stolemore sah flüchtig zu ihm auf, blickte dann wieder in sein Glas und starrte es unverwandt an. »War ein Unfall.«
Tristan ließ einen Augenblick verstreichen und entgegnete dann: »Ganz wie Sie meinen.«
Der Ton in seiner Stimme - eine subtile Drohung, die bis ins Mark drang - ließ Stolemore erneut aufblicken; seine Lippen öffneten sich. Sein eines Auge war nunmehr weit aufgerissen. Er sprach hastig weiter. »Ich kann Ihnen nichts sagen - streng vertraulich, wissen Sie. Es hat nicht das Geringste mit Ihnen zu tun. Ich schwöre es.«
Tristan versuchte, in den Zügen des Maklers so gut es ging zu lesen, was durch die vielen Schwellungen und Ergüsse jedoch deutlich erschwert wurde. »Verstehe.« Wer auch immer Stolemore so zugerichtet hatte, war eindeutig ein Anfänger; wie jeder seiner ehemaligen Kollegen hätte Tristan problemlos größeren Schaden anrichten und dabei weit geringere Spuren hinterlassen können.
Aber eine derartige Vorgehensweise erschien ihm angesichts Stolemores Zustand im Moment wenig erfolgversprechend. Der Makler würde nur wieder das Bewusstsein verlieren.
Tristan griff in seine Manteltasche und zog den Wechsel hervor. »Ich habe die Summe für die Abschlusszahlung wie vereinbart dabei.« Stolemore heftete seinen Blick auf das Stück Papier, das Tristan zwischen den Fingern hin und her schob. »Ich nehme an, Sie haben die Eigentumsurkunde hier?«
Stolemore brummte zustimmend. »An einem sicheren Ort.« Er stützte sich am Tisch ab und stand langsam auf. »Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen, werde ich sie Ihnen holen.«
Tristan nickte. Er beobachtete, wie Stolemore zur Tür hinkte. »Lassen Sie sich Zeit.«
Tristan verwandte einen winzigen Teil seiner Aufmerksamkeit darauf, dem Makler im Geiste durchs Haus zu folgen und besagten »sicheren Ort« unterhalb der dritten Treppe zu lokalisieren. Der größere Teil seiner Gedanken verblieb jedoch bei ihm in der Küche und zählte konsequent eins und eins zusammen.
Das Ergebnis seiner Berechnungen war alles andere als zufriedenstellend.
Als Stolemore, die zusammengerollte Eigentumsurkunde in der Hand, wieder in den Raum gehinkt kam, richtete Tristan sich auf. Er streckte fordernd die Hand aus; Stolemore übergab ihm die Urkunde. Tristan löste das Band, rollte das Schriftstück auseinander und warf einen prüfenden Blick darauf; dann rollte er es wieder zusammen und steckte es ein.
Stolemore hatte sich schwer atmend wieder auf den Stuhl sinken lassen.
Tristan sah ihm tief in die Augen und hielt ihm den Wechsel mit zwei Fingern unter die Nase. »Eine Frage noch, dann werde ich Sie in Ruhe lassen.«
Stolemore sah ihn mit ausdruckslosem Blick an; er wartete ab.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass, wer auch immer Ihnen das hier angetan hat, dieselbe Person oder Personen sind, die Sie letztes Jahr damit beauftragt haben, das Haus Nummer vierzehn am Montrose Place zu erwerben?«
Eine Antwort war eigentlich nicht vonnöten; die Wahrheit stand dem Makler in sein angeschwollenes Gesicht geschrieben, während dieser Tristans wohlgewählte Worte zur Kenntnis nahm. Einzig die Frage, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte, brachte den Mann zum Nachdenken. Er blinzelte schmerzhaft und erwiderte Tristans Blick. Seiner blieb ausdruckslos und trüb. »Das ist vertraulich.«
Tristan ließ etwa eine halbe Minute verstreichen, dann nickte er dem Makler zu. Er schnippte mit den Fingern und ließ den Wechsel quer über den Tisch auf Stolemore zusegeln. Dieser streckte seine große Pranke aus, um das Papier abzufangen.
Tristan stieß sich von der Theke ab. »Ich werde Sie nun Ihren Geschäften überlassen.«
 
Etwa eine halbe Stunde nachdem Leonora ins Haus zurückgekehrt war, entzog sie sich ihren Haushaltspflichten und suchte Zuflucht in ihrem Wintergarten. Der von gläsernen Wänden und Glasdach umschlossene Raum war ihr eigener, spezieller Rückzugsort in dem großen Haus.
Ihre Absätze klapperten über den gekachelten Boden, als sie zur Fensternische hinüberging, in der ein schmiedeeiserner Tisch mit dazu passenden Sitzmöbeln stand. Henriettas Krallen klapperten im entgegengesetzten Takt leise hinter ihr her.
Der gegen die winterliche Kälte beheizte Raum beherbergte eine Vielzahl üppig wuchernder Pflanzen - Farne, exotische Kletterpflanzen und eigentümlich riechende Kräuter. Der Duft der Pflanzen, kombiniert mit dem subtilen und dennoch durchdringenden Aroma der Erde und der Lebewesen in ihr, wirkte beruhigend und entspannend.
Sie sank auf einen der gepolsterten Stühle und ließ ihren Blick über den Wintergarten schweifen. Sie wusste, sie sollte ihrem Onkel und Jeremy von Trentham berichten; wenn er später noch vorbeikäme und ihre Begegnung erwähnte, würde es den beiden seltsam vorkommen, dass sie ihnen nichts davon erzählt hatte. Sowohl Humphrey als auch Jeremy würden eine detaillierte Beschreibung Trenthams erwarten, doch es würde ihr nicht leicht fallen, die Erscheinung des Mannes, dem sie vor weniger als einer Stunde vor dem Haus begegnet war, angemessen in Worte zu fassen. Dunkle Haare, breite Schultern, gut aussehend, elegant gekleidet und eindeutig ein Mann aus guten Kreisen - die oberflächlichen Merkmale waren nicht schwer zu benennen.
Schwieriger wurde es bei dem Versuch, den Eindruck zu beschreiben, den dieser Mann - mit seinem charmanten Äußeren und seinem völlig gegensätzlich erscheinenden Innern - in ihr erweckt hatte.
Dieser Eindruck ergab sich vor allem aus seinen Zügen - die durchdringende Schärfe seiner Augen, die längst nicht immer von den schweren Augenlidern mit ihren langen Wimpern verdeckt wurde; die fast schon verbissene Entschlossenheit, die seinen Mund und seinen Kiefer zeichnete; die Härte seiner Züge, bevor er bewusst einen weicheren Ausdruck annahm und seine Maske entwaffnenden Charmes aufsetzte. Dieser Eindruck wurde von anderen, äußerlichen Merkmalen noch verstärkt - etwa der Tatsache, dass er keinen Millimeter nachgegeben hatte, als sie mit voller Wucht in ihn hineingerannt war. Für eine Frau war sie überdurchschnittlich groß; die meisten Männer wären bei der Kollision zumindest einen Schritt zurückgewichen.
Nicht so Trentham.
Es gab noch weitere Auffälligkeiten. Sein Verhalten gegenüber einer Dame, die er noch nie zuvor gesehen hatte und über die er nicht das Geringste wissen konnte, war außergewöhnlich bestimmend, fast herrisch gewesen. Er hatte doch tatsächlich die Kühnheit besessen, sie auszufragen. Und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl er eindeutig gemerkt hatte, dass sie sein Verhalten missbilligte.
Sie war es gewohnt, einen Haushalt zu führen, gewissermaßen sogar eine ganze Familie, und das seit nunmehr zwölf Jahren. Sie war entschlossen, selbstsicher, überzeugt von dem, was sie tat, und gewiss nicht die Art von Frau, die sich von einem Mann leicht einschüchtern lässt, aber Trentham … Was hatte er nur an sich, dass sie sich ihm gegenüber wenn schon nicht misstrauisch so doch zumindest vorsichtig und wachsam verhielt?
Die ungewohnten Gefühle, die seine Berührung in ihr ausgelöst hatten - und zwar gleich mehrfach -, kehrten ihr intensiv ins Gedächtnis zurück; sie stutzte und verdrängte sie rasch wieder. Es musste sich wohl um eine nervliche Überreaktion handeln; sie hatte schließlich nicht damit gerechnet, mit ihm zusammenzuprallen - zweifellos litt sie unter einer außergewöhnlichen Art von Schockreaktion.
Die Minuten verstrichen; sie blickte eine Weile starr aus dem Fenster, dann wechselte sie ihre Sitzposition und überlegte mit gerunzelter Stirn, welche Konsequenzen sich nunmehr für ihr eigentliches Problem ergaben.
Unabhängig von Trenthams irritierendem Gebaren hatte das Zusammentreffen ihr alle Informationen geliefert, die sie benötigt hatte. Ihre dringlichste Frage, nämlich ob Trentham und seine Freunde hinter den Kaufangeboten steckten, war ihr endlich beantwortet worden. Sie glaubte ihm vorbehaltlos; Trentham hatte irgendetwas an sich, das sie seine Worte nicht anzweifeln ließ. Er und seine Freunde waren also weder für die versuchten Einbrüche verantwortlich noch für die weitaus beunruhigenderen Bestrebungen, sie zu Tode zu ängstigen.
Was sie jedoch mit einer gänzlich neuen Frage konfrontierte: Wenn sie es nicht waren, wer dann?
Sie vernahm das Klicken der Türklinke; Castor trat ein.
»Der Earl of Trentham wünscht Sie zu sprechen, Miss.«
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf; gänzlich unbekannte Gefühle versetzten ihren Magen in Aufruhr. Innerlich stutzend unterdrückte sie beides und erhob sich; Henrietta tat es ihr nach und schüttelte ihr Fell. »Vielen Dank, Castor. Sind mein Onkel und mein Bruder in der Bibliothek?«
»Das sind sie, Miss.« Castor hielt ihr die Tür auf und folgte ihr. »Ich habe den Gentleman ins Frühstückszimmer geführt.«
Mit hocherhobenem Kopf durchquerte sie den Hauptflur und blieb dann abrupt stehen. Sie betrachtete die geschlossene Tür des Frühstückszimmers.
Und spürte, wie sich irgendetwas in ihr verkrampfte.
Sie zögerte. In ihrem Alter hatte sie keinerlei Grund sich zu zieren, nur weil sie sich für einige Minuten mit einem Gentleman allein im Frühstückszimmer aufhalten würde. Sie konnte unbesorgt eintreten, Trentham begrüßen und herausfinden, warum er sie zu sprechen wünschte - und das alles unter vier Augen; wenn sie sich auch kaum vorstellen konnte, was er ihr zu sagen haben könnte, was dringend unter vier Augen bleiben müsste.
Doch eine innere Stimme gemahnte sie zur Vorsicht. Die Haut oberhalb ihrer Ellbogen fing an zu prickeln.
»Ich werde Sir Humphrey und Mr Jeremy von seiner Gegenwart in Kenntnis setzen.« Sie sah Castor an. »Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, und geleiten Sie Lord Trentham dann in die Bibliothek.«
»Sehr wohl, Miss.« Castor verneigte sich.
Manche Löwen forderte man besser nicht unnötig heraus; und sie hegte den starken Verdacht, dass Trentham dazugehörte. Mit rauschenden Röcken begab sie sich in die sichere Zuflucht der Bibliothek. Henrietta trottete ihr hinterher.