13
»Großartig!« Leonora blickte sofort auf, als
Tristan den Raum betrat. Sie räumte eilig ihren Sekretär auf,
schloss ihn ab und stand auf. »Wir können mit Henrietta im Park
spazieren gehen, und ich werde dir derweil von meinen Neuigkeiten
berichten.«
Tristan sah sie mit hochgezogenen Brauen an,
hielt ihr jedoch kommentarlos die Tür auf, um ihr dann in den Flur
zu folgen. Sie hatte ihm am Vorabend erzählt, dass ihr einige von
Cedrics Bekannten bereits geantwortet hatten; sie hatte ihn gebeten
vorbeizukommen, damit sie mit ihm darüber sprechen konnte - den
Spaziergang mit ihrem Hund hatte sie hingegen nicht erwähnt.
Er half ihr, ihre Pelisse überzustreifen, dann
zog er selbst seinen Mantel über - in den Straßen herrschte ein
eisiger Wind. Die Sonne
war von dichten Wolken verdeckt, aber immerhin war es trocken. Ein
Diener brachte die an der Leine zerrende Henrietta zu ihnen.
Tristan warf dem Jagdhund einen warnenden Blick zu, dann übernahm
er die Leine.
Leonora ging voraus. »Bis zum Park sind es nur
wenige Straßen.«
»Ich nehme an«, sagte Tristan, während er ihr
zum Tor folgte, »du hast dir in letzter Zeit gemeinsam mit deinem
Hund Bewegung verschafft?«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Wenn das eine
indirekte Frage ist, ob ich allein durch die Straßen gezogen bin,
lautet die Antwort nein. Aber es schränkt einen schon sehr ein. Je
eher wir Mountford das Handwerk legen, desto besser.«
Leonora eilte weiter voraus, zog das Tor auf und
wartete, bis er und Henrietta hindurchgegangen waren, um es hinter
ihnen zu schließen.
Er griff nach ihrer Hand und suchte ihren Blick,
während er ihre Finger an seinen Ärmel führte. »Also, direkt zum
Punkt.« Leonora sicher am Arm, ließ er sich von Henrietta in
Richtung Park ziehen. »Was hast du herausgefunden?«
Sie atmete tief ein, hielt seinen Arm fest
umschlungen und ließ ihren Blick geradeaus wandern. »Ich hatte
große Hoffnungen auf A.J. Carruther gesetzt - Cedric hat in seinen
letzten Lebensjahren überwiegend mit ihm korrespondiert. Gestern
erhielt ich endlich Antwort aus Yorkshire, wo die Carruthers leben.
Zuvor hatte ich schon drei weitere
Mitteilungen von Naturkundlern aus verschiedenen Teilen des Landes
erhalten, die mir allesamt rieten, mich an A.J. Carruther zu
wenden, da sie der Ansicht waren, Cedric hätte vor allem mit ihm
zusammengearbeitet.«
»Drei voneinander unabhängige Antworten, die
alle die Vermutung anstellten, Carruther könnte etwas
wissen?«
Leonora nickte. »Ganz genau. Unglücklicherweise
ist A.J. Carruther jedoch tot.«
»Tot?« Tristan blieb auf dem Gehweg stehen und
blickte sie an.
Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich das weitläufige Grün
des Hyde Parks. »Inwiefern tot?«
Sie verstand seine Frage richtig, zog aber
trotzdem eine Grimasse. »Ich weiß es leider nicht - ich weiß nur,
dass er tot ist.«
Henrietta zerrte an der Leine; Tristan warf
einen Blick auf die Straße, dann führte er die beiden Damen
hinüber. Henriettas riesige, zottige Gestalt und ihr offen
stehendes Maul mit den vielen scharfen Zähnen lieferten Tristan
eine willkommene Entschuldigung, um die beliebteren Ecken des Parks
samt den Matronen und ihren Töchtern zu meiden; stattdessen führte
er die drängende Hündin in westlicher Richtung in die dichter
bewachsenen Gegenden jenseits der Rotten Row.
Dieser Bereich des Parks war nahezu
verlassen.
Leonora wartete gar nicht erst auf die nächste
Frage. »Der Brief, den ich gestern erhielt, kam von einem Anwalt in
Harrogate, der für Carruther tätig war und den Familienbesitz
betreute. Er setzte mich von Carruthers Tod in Kenntnis, sagte aber
zugleich, dass er mir ansonsten leider nicht weiterhelfen könne. Er
vermutete jedoch, Carruthers Neffe, der alle seine Tagebücher und
Aufzeichnungen geerbt habe, könne vielleicht etwas Licht in die
Sache bringen. Dem Anwalt war bekannt, dass Carruther und Cedric in
den Monaten vor Cedrics Tod regelmäßig miteinander korrespondiert
haben.«
»Hat dieser Anwalt erwähnt, wann Carruther
verstorben ist?«
»Nicht genau. Er bemerkte lediglich, dass
Carruther einige Monate nach Cedric gestorben sei und zuvor einige
Zeit krank gewesen wäre.« Leonora hielt einen Moment inne, dann
fügte sie hinzu: »Carruther erwähnt in seinen Briefen nie etwas von
einer Krankheit, aber möglicherweise haben sie sich dafür nicht
nahe genug gestanden.«
»Gut möglich. Und dieser Neffe - haben wir
seinen Namen und die Adresse?«
»Nein.« Ihr Gesichtsausdruck gab beredt Auskunft
über den Grad ihrer Enttäuschung. »Der Anwalt gab mir zu verstehen,
dass
er meinen Brief an besagten Neffen in York weitergeleitet hätte,
aber das ist auch schon alles.«
»Hm.« Tristan blickte zu Boden und konzentriert
sich darauf, die Situation einzuschätzen und entsprechende Schlüsse
zu ziehen.
Leonora sah ihn an. »Es ist immerhin die
wertvollste Information, die wir bislang auftreiben konnten; die am
ehesten, nein, die als einzige zu einem
Hinweis führen könnte, worauf dieser Mountford überhaupt aus ist.
Carruthers Briefe an Cedric beinhalten zwar nichts weiter als ein
paar obskure Andeutungen auf irgendetwas, an dem sie gemeinsam
gearbeitet haben, und keinerlei Einzelheiten, aber wir sollten dem
trotzdem nachgehen, findest du nicht?«
Er sah auf, begegnete ihrem Blick, nickte. »Ich
werde gleich morgen jemanden darauf ansetzen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wo? In
Harrogate?«
»Und in York. Wenn wir erst einmal Name und
Adresse haben, gibt es keinen Grund länger zu warten, um diesem
Neffen einmal einen Besuch abzustatten.«
Er bedauerte lediglich, dass er dies nicht
selber tun konnte. Nach Yorkshire zu reisen, würde bedeuten,
Leonora aus den Augen zu lassen; er konnte sie zwar bewachen
lassen, aber wie umfangreich eine solche Bewachung auch immer
ausfallen mochte, sie wäre nie umfassend genug, um Leonora wirklich
in Sicherheit zu wissen - nicht, solange Mountford oder wer immer
sich dahinter verbarg nicht gestellt war.
Sie waren kontinuierlich weitergegangen, weder
langsam noch schnell, von Henrietta beharrlich hinter sich
hergezogen. Ihm wurde bewusst, dass Leonora ihn musterte, und zwar
mit einem äußerst merkwürdigen Gesichtsausdruck.
»Was?«
Sie presste die Lippen aufeinander, den Blick
fest auf ihn gerichtet; dann schüttelte sie den Kopf und sah weg.
»Du …«
Er wartete ab, hakte dann nach. »Was ist mit
mir?«
»Du hast das nötige Wissen, um zu bemerken, dass
jemand einen Abdruck von einem Schlüssel gemacht hat. Du hast einem
Einbrecher
aufgelauert und dich mit ihm angelegt, ohne auch nur mit der
Wimper zu zucken. Du kannst Schlösser aufbrechen. Du hast Erfahrung
damit, zu überprüfen, ob ein Haus ausreichend gegen Eindringlinge
gesichert ist. Du verschaffst dir Zugriff auf Dokumente, von denen
andere nicht einmal wissen, dass sie existieren. Mit einem Wink«,
sie deutete um sich herum, »lässt du mal eben meine Straße
überwachen. Du kleidest dich wie ein einfacher Arbeiter und
verkehrst im Hafenviertel, im nächsten Moment verwandelst du dich
in einen Earl, der im Übrigen immer ganz genau weiß, wo ich mich am
Abend aufhalten werde, und sich zudem auffällig gut in den Häusern
seiner Gastgeberinnen auskennt.
Und nun willst du ganz einfach ein paar Leute
darauf ansetzen, Nachforschungen in Harrogate und York
anzustellen.« Sie durchbohrte ihn mit einem ernsten und zugleich
neugierigen Blick. »Du bist der mit Abstand eigenartigste adelige
Exsoldat, der mir jemals begegnet ist.«
Er erwiderte ihren Blick lange Zeit schweigend,
dann sagte er. »Ich war kein gewöhnlicher Soldat.«
Sie nickte und blickte wieder geradeaus. »So
weit war ich auch schon. Du warst Major der Garde, jemand wie Devil
Cynster …«
»Nein.« Er wartete, bis sie ihn wieder ansah.
»Ich …«
Er brach ab. Der Moment hatte sich eher ergeben,
als er es erwartete hatte. Eine wahre Flut von Gedanken schoss ihm
durch den Kopf, insbesondere die Frage, wie eine Frau, die von
einem Soldaten sitzen gelassen worden war, wohl darauf reagieren
würde, von einem anderen belogen worden zu sein. Nun, vielleicht
nicht direkt belogen; aber würde sie den Unterschied als solchen
anerkennen? Sein Instinkt drängte darauf, sie im Dunkel zu lassen
und seine gefährliche Vergangenheit ebenso wie seine gefährlichen
Neigungen vor ihr zu verbergen. Sie über diesen Teil seines Lebens
- und zugleich darüber, was er über seinen Charakter verriet - für
immer im Ungewissen zu lassen.
Während sie langsam weiterschritt, den Kopf
schräg gelegt und ihm zugewandt, studierte sie ihn eindringlich.
Und wartete.
Er atmete tief ein, dann sagte er leise: »Ich
war auch kein Soldat wie Devil Cynster.«
Leonora blickte ihm tief in die Augen, doch sie
konnte nicht deuten, was sie darin las. »Und was für ein Soldat
warst du?«
Die Antwort auf diese Frage - so viel war ihr
bewusst - würde ihr einen wesentlichen Hinweis darauf liefern, wer
dieser Mann an ihrer Seite in Wirklichkeit war.
Seine Lippen nahmen einen zynischen Ausdruck an.
»Wenn du Zugang zu meiner Akte hättest, würdest du dort lesen, dass
ich mit zwanzig in die Armee eingetreten und zum Major der Garde
aufgestiegen bin. Dort ist auch das entsprechende Regiment
vermerkt. Wenn man allerdings die Soldaten dieses Regiments nach
mir fragen würde, bekäme man von den meisten überhaupt keine
Antwort und andere würden behaupten, dass sie mich schon seit der
Zeit kurz nach meinem Eintritt nicht mehr gesehen hätten.«
»Und bei welchem Regiment warst du? Nicht bei
der Kavallerie.«
»Nein. Auch nicht bei der Infanterie oder bei
der Artillerie.«
»Aber du sagtest doch, du wärst bei Waterloo
dabei gewesen.«
»Das war ich auch.« Er hielt ihrem Blick stand.
»Ich war auf dem Schlachtfeld - allerdings nicht bei unseren
eigenen Truppen.« Er beobachtete, wie ihre Augen sich weiteten,
dann fuhr er leise fort. »Ich war hinter der feindlichen
Linie.«
Sie blinzelte; dann starrte sie ihn voller
Faszination an. »Du warst ein Spion?«
Er verzog leicht das Gesicht und sah geradeaus.
»Ein Agent im inoffiziellen Dienst für die Regierung Seiner
Majestät.«
Eine Flut von Gedanken stürzte auf sie ein -
Beobachtungen, die plötzlich einen Sinn ergaben, verschiedene
Dinge, die ihr nun weitaus weniger mysteriös erschienen -, aber was
sie am allermeisten interessierte, war die Frage, was diese
Enthüllung über ihn aussagte, über seinen Charakter. »Das muss
furchtbar einsam gewesen sein. Und entsetzlich gefährlich.«
Tristan blickte sie an; er hätte niemals
erwartet, dass sie etwas
Derartiges sagen, in diese Richtung denken würde. Seine Gedanken
schweiften über die Jahre zurück. Er nickte. »Ja, häufig.«
Er wartete - auf all die voraussehbaren Fragen.
Doch sie blieben aus. Ihr Gang hatte sich verlangsamt; Henrietta
bellte ungeduldig und zog an der Leine. Er und Leonora tauschten
einen knappen Blick aus; sie lächelte, hielt seinen Arm noch etwas
fester, dann kehrten sie zügigen Schrittes im Bogen nach Belgravia
zurück.
Sie wirkte nachdenklich; fern und abwesend, doch
keineswegs bestürzt, verärgert oder besorgt. Als sie seinen Blick
auf sich spürte, sah sie zu ihm auf, erwiderte seinen Blick und
lächelte, um dann erneut nach vorn zu sehen.
Sie überquerten die Hauptstraße und gingen
weiter, bis sie schließlich den Montrose Place erreichten. Am
Eingangstor von Nummer vierzehn angekommen, stieß er das Gitter
weit auf und ließ sie hindurchtreten; dann folgte er ihr. Sie blieb
stehen, um sich bei ihm einzuhaken, noch immer tief in Gedanken
versunken.
Vor den Stufen der Eingangstreppe blieb er
stehen. »Ich werde dich hier verlassen.«
Sie sah zu ihm auf, nickte und übernahm
Henriettas Leine. Sie erwiderte seinen Blick - ihre Augen waren von
strahlendstem Blau. »Danke.«
Der Ausdruck in jenen veilchenblauen Augen
verriet ihm, dass sie damit nicht allein seine Hilfe mit der Hündin
meinte.
Er nickte und steckte seine Hände in die
Manteltaschen. »Ich werde noch heute jemanden nach York schicken.
Ich nehme an, du wirst heute Abend Lady Manivers Ball
besuchen?«
Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. »In der
Tat.«
»Dann sehe ich dich dort.«
Sie sah ihn einen Moment lang an, dann neigte
sie den Kopf. »Bis später.«
Sie drehte sich um. Er sah zu, wie sie
hineinging, und wartete, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen
hatte, dann wandte er sich um und ging davon.
Ihr Umgang mit Tristan, so Leonoras Urteil,
verkomplizierte sich zusehends.
Am folgenden Morgen rekelte sie sich in ihrem
Bett und betrachtete die Muster, welche das Sonnenlicht an ihre
Decke zeichnete. Zugleich versuchte sie sich Klarheit darüber zu
verschaffen, was genau da eigentlich
zwischen ihnen geschah. Zwischen Tristan Wemyss - Exspion
beziehungsweise Exagent im inoffiziellen Dienst für die Regierung
Seiner Majestät - und ihr.
Sie hatte geglaubt, sie würde die Antwort
bereits kennen, doch Tag für Tag, Nacht für Nacht enthüllte er ihr
weitere nicht widersprüchliche, aber tiefer greifende und
faszinierendere Aspekte seiner Persönlichkeit.
Charaktereigenschaften, von denen sie niemals geahnt hätte, dass er
sie besaß, und die sie zudem überaus anziehend fand.
Der vergangene Abend war schon wieder nach dem
üblichen Schema verlaufen. Sie hatte zumindest versucht, enthaltsam
zu bleiben - wenn auch eher halbherzig; die nachmittäglichen
Enthüllungen hatten sie einfach zu sehr abgelenkt. Aber im
Vergleich zu sonst hatte er nur noch entschlossener, noch
schonungsloser danach gedrängt, ihren Widerstand zu brechen und sie
sich zu nehmen.
Er hatte sie in ein abgelegenes Zimmer entführt,
das in tiefe Schatten getaucht war. Auf einem Ruhebett hatte er sie
angeleitet, ihn zu reiten - auch jetzt noch wurde sie rot, wenn sie
nur daran dachte. Die Erinnerung sandte einen warmen Schauer durch
ihren Körper. Heute taten ihr zwar die Oberschenkel weh, aber dafür
hatte sie in dieser Position noch viel bewusster wahrgenommen,
welche Lust sie ihm schenkte. Welch sinnliches Vergnügen ihr Körper
ihm bereitete. Zum ersten Mal hatte sie selbst die Führung
übernommen, ausprobiert und ihre Gabe, ihm ihrerseits Lust zu
schenken, intensiv ausgekostet.
Sucht. Faszination. Und höchste
Befriedigung.
Und dies war nur der unbedeutendere
Erkenntnisgewinn des Abends gewesen.
Als sie schließlich heiß und erfüllt in seinen
Armen zusammengesunken war, hatte sie zärtlich an seiner Schulter
geknabbert und ihm versichert, dass sie die Art von Soldat, die er
verkörperte, überaus schätzte; woraufhin er mit seiner starken Hand
langsam über ihren Rücken gefahren war und nachdenklich erwidert
hatte: »Ich verspreche dir, ich bin nicht so wie Whorton.«
Sie hatte ihn überrascht angeblinzelt und sich
dann mühsam auf ihre Ellenbogen gestützt, um ihn mit gerunzelter
Stirn zu betrachten. »Du bist doch völlig anders als Mark.« Ihr
Verstand hatte sich matt angefühlt. Der gestählte, gebräunte und
mit Narben überzogene Körper unter ihr hatte nicht das Geringste
mit dem zu tun, wie sie sich Marks Körper vorgestellt hätte - von
dem Mann, der sich hinter diesem Körper verbarg, einmal ganz zu
schweigen …
Tristans Augen glichen zwei dunklen Seen; es war
unmöglich, etwas darin zu lesen. Seine Hand strich weiterhin
langsam und beruhigend über ihren Rücken. Er musste ihr die
Verwirrung angesehen haben. »Ich will dich wirklich heiraten, und
ich werde meine Meinung nicht ändern. Du brauchst keine Angst zu
haben, dass ich dich ebenso verletzen werde wie er.«
Mit einem Mal war ihr alles klar geworden. Sie
hatte sich aufgerichtet und ihn von oben herab angestarrt. »Mark
hat mich nicht verletzt.«
Er stutzte. »Er hat dich sitzenlassen.«
»Ja, schon. Aber … im Grunde war ich froh
darüber.«
Natürlich hatte sie ihre Worte näher erklären
müssen. Und sie hatte sich dem Thema mit mehr Aufrichtigkeit
gewidmet als jemals zuvor. Indem sie die latente Wahrheit laut
aussprach, wurde sie zu einer unerschütterlichen Tatsache.
»Und daher«, hatte sie ihre Rede abschließend
zusammengefasst, »war es auch keine tiefe und fortdauernde Kränkung
- in keiner Weise. Ich hege deswegen keinerlei«, sie gestikulierte,
»bittere Gefühle gegen Soldaten im Allgemeinen.«
Er hatte sie eindringlich studiert, ihre Züge
gedeutet. »Also schreckt meine berufliche Laufbahn dich nicht
ab?«
»Wegen der Geschichte mit Whorton? Nein.«
Sein nachdenklicher Gesichtsausdruck hatte sich
nur noch vertieft. »Aber wenn Whorton nicht der Grund ist für deine
Abneigung gegen Männer und Heirat, was ist es dann?« Sein Blick war
immer durchdringender geworden; selbst in der Dunkelheit hatte sie
seine Schärfe spüren können. »Warum hast du niemals
geheiratet?«
Sie war nicht dazu bereit gewesen, ihm diese
Frage zu beantworten.
Sie war ihr ausgewichen und hatte sich
stattdessen einer naheliegenderen Frage zugewandt. »Hast du mir
deshalb von deinem Beruf erzählt? Um dich von Whorton
abzugrenzen?«
Er wirkte verstimmt. »Hättest du nicht danach
gefragt, hätte ich es nicht erzählt.«
»Aber ich habe danach gefragt. Hast du mir nur
deshalb geantwortet?«
Er hatte einen Moment lang gezögert, ganz und
gar unwillig zu antworten, doch schließlich hatte er ihr
eingestanden: »Zum Teil. Ich wusste, dass ich es dir irgendwann
erzählen müsste …«
»Aber du hast es mir heute Nachmittag erzählt,
weil du wolltest, dass ich dich nicht im gleichen Licht sehe wie
Whorton - oder vielmehr so, wie du geglaubt hast, dass ich ihn sehe
…«
Er hatte sie zu sich heruntergezogen und
geküsst. Sie abgelenkt.
Und zwar sehr wirkungsvoll.
Sie hatte seine Gedankengänge, seine
Beweggründe, seine Reaktion nicht wirklich nachvollziehen können.
Weder letzte Nacht noch jetzt. Allerdings hatte er sich aufgrund
der Geschichte mit Whorton - und infolgedessen ihrer vermeintlichen
Einstellung gegenüber Männern vom Militär - offenbar derart bedroht
gefühlt, dass er sich gezwungen gesehen hatte, ihr die Wahrheit zu
erzählen. Und mit einem, wie sie glaubte, für ihn wesentlichen
Grundsatz zu brechen, indem er seine Vergangenheit ihr gegenüber
weder versteckte noch verschleierte.
Eine Vergangenheit, von der - da war sie sich
einigermaßen sicher - nicht einmal seine Familie etwas ahnte. Von
der gewiss nur eine Handvoll Menschen überhaupt etwas wusste.
Er war ein Mann, der tiefe Schatten hinter sich
zurückgelassen hatte; die Umstände hatten ihn dazu getrieben, ins
Licht zu treten, und nun brauchte er jemanden an seiner Seite;
jemanden, der seinen Hintergrund verstand, der ihn verstand und dem er sich anvertrauen
konnte.
Zumindest das hatte sie inzwischen erkannt - und
akzeptiert.
Sie rekelte sich unter der Decke und seufzte.
Seine Worte hatten sie dazu bewegt, sich die Vorstellung, mit ihm
verheiratet zu sein, zumindest einmal vor Augen zu führen; ihre
intuitive Reaktion auf dieses fiktive Zukunftsbild war völlig
anders ausgefallen, als sie es erwartet hatte. Völlig anders als
jede Reaktion, die sie bislang dem Thema Heirat gegenüber gezeigt
hatte.
Jetzt, da sie sich vorstellte, seine Ehefrau zu werden, fand sie die Aussicht mit
einem Mal überaus reizvoll. Mit zunehmendem Alter, zunehmender
Erfahrung - vielleicht auch zunehmender Reife - wurde ihr bewusst,
dass sie gewisse Dinge, wie etwa das ruhigere Leben auf dem Land,
inzwischen weitaus mehr schätzte, als sie es früher getan hatte;
allmählich begriff sie, dass ihr diese Dinge durchaus wichtig
waren, dass sie ihr ein Betätigungsfeld lieferten, das ihren
natürlichen Begabungen entsprach - ihrem Führungsund
Organisationstalent; ohne derlei Betätigungsmöglichkeiten fühlte
sie sich unausgefüllt …
So wie sie sich im Hause ihres Onkels in
zunehmendem Maße unausgefüllt fühlte.
Diese Erkenntnis war nicht nur ein Schock,
sondern vielmehr ein regelrechtes Erdbeben, das ihren gesamten
Lebensentwurf in seinen Grundfesten erschütterte. Diese neue
Erkenntnis war keineswegs leicht zu verarbeiten, zu
akzeptieren.
Sonnenstrahlen tanzten an der Decke ihres
Schlafzimmers; der gesamte Haushalt war bereits wach, der neue Tag
erwartete sie. Und dennoch blieb sie in den Schutz der Decke
gehüllt liegen und
vertiefte sich weiter in ihre Gedanken. Sie ließ ihrer Fantasie
freien Lauf und folgte ihr, wohin sie sie führte.
Ihre Mädchenträume, die sie vor langer Zeit
begraben hatte, erhielten plötzlich neues Leben und eine neue
Gestalt, entsprechend der Frau, die sie inzwischen geworden war -
und diesmal passten die Träume zu ihrer Person.
Sie konnte sich eine solche Zukunft vorstellen,
sie sich ausmalen - sich regelrecht danach sehnen, wenn sie es nur
zuließ -, eine Zukunft als Tristans Ehefrau. Als seine Countess.
Seine Gefährtin.
Was ihre Träume besonders beflügelte, ihnen noch
größere Faszination und Macht verlieh, war die magische
Vorstellung, dass sie es war - und zwar sie
allein, wie er betonte -, die ihm alles geben konnte, was er
wollte. Womöglich sogar alles, was er brauchte. Wenn sie beide
zusammen waren, spürte sie die ungeheure Macht dessen, was sich
zwischen ihnen entwickelt hatte. Dieses lebendige Gefühl, das so
viel tiefer ging als jedes Verlangen, stärker war als jede
körperliche Lust. Dieses Gefühl, das sie in jenen intimen und
vertrauten Momenten schützend umfing.
Ein Gefühl, das sie beide miteinander
teilten.
Subtil und schwer zu fassen; etwas, was am
deutlichsten hervortrat, wenn sie beide in jenen hitzigen Momenten
ihre Deckung vollständig aufgaben; etwas, was aber
nichtsdestoweniger immer da war, selbst wenn sie sich in der
Öffentlichkeit bewegten - wie ein leises Funkeln, das man aus dem
Augenwinkel heraus wahrnimmt.
Er hatte sie gefragt, warum sie nie geheiratet
hatte; die Wahrheit war, sie hatte sich über den eigentlichen Grund
noch nie Gedanken gemacht. Ihre tiefe, instinktive Überzeugung -
die es ihr so leicht gemacht hatte, Whorton gehen zu lassen - war
so fest in ihr verwurzelt, bildete einen so wesentlichen Teil ihrer
selbst, dass sie sie noch nie gezielt zutage gefördert und studiert
hatte. Sie war einfach immer da gewesen als eine unumstößliche
Wahrheit.
Zumindest bis Tristan aufgetaucht war und seine
gesamte Persönlichkeit vor ihr ausgebreitet hatte.
Und im Gegenzug hatte er nun selbst das Recht,
ihr Fragen zu stellen, ihre Gründe zu erfahren und deren
Berechtigung zu überprüfen.
Es war daher an der Zeit, einen eingehenden
Blick in ihr Innerstes zu werfen, in ihr Herz und in ihre Seele,
und herauszufinden, ob jene alten Vorbehalte noch immer Gültigkeit
hatten oder ob sie angesichts dieser völlig neuen Perspektive - dem
Ausblick auf ein Leben, an dessen Schwelle sie gemeinsam mit
Tristan stand - ihre Gültigkeit nicht womöglich verlieren
würden.
Er hatte ihre Hand gepackt, sie an diese
Schwelle gezerrt und sie gezwungen, die Augen zu öffnen und
hinzusehen. Und er würde sie nicht im Stich lassen. Er würde keinen
Rückzieher machen, würde sie niemals enttäuschen.
Tristan hatte vollkommen recht: Die
Anziehungskraft zwischen ihnen würde nicht schwinden.
Sie hatte auch nicht nachgelassen. Sie war
beständig gewachsen.
Mit aufeinandergepressten Lippen schlug Leonora
die Bettdecke zurück, stand auf und trat entschlossen zum
Klingelzug.
Die wesentlichen Glaubenssätze ihres Lebens zu
hinterfragen und möglicherweise sogar über den Haufen zu werfen,
war keine Tätigkeit, die Leonora in ein paar Minuten rasch hinter
sich bringen konnte.
Nur unglücklicherweise waren es nie mehr als ein
paar knappe Minuten, die Leonora im Laufe des Tages wie auch an den
darauffolgenden Tagen entbehren konnte. Und während der Lauf der
Ereignisse die Verbindung zwischen ihr und Tristan mit jedem Tag
stärkte und vertiefte, wurde die Notwendigkeit, sich die Gründe für
ihre entschiedene Haltung gegen die Ehe vor Augen zu führen, immer
dringlicher.
Ihr mehr als schleppender Fortschritt in Sachen
Mountford - sowohl hinsichtlich der Frage, wer sich hinter diesem
Namen verbarg, als auch bezüglich des Rätsels, worauf dieser Mann
eigentlich aus
war - machte das Ganze nur noch schlimmer, da Tristans
Beschützerinstinkt beständig an Intensität gewann und sich in einem
geradezu primitiven Besitzanspruch ihr gegenüber äußerte.
Obwohl er sich die allergrößte Mühe gab, dies zu
verbergen, nahm Leonora seine Reaktion deutlich wahr. Und konnte
sie durchaus nachvollziehen.
Sie versuchte, sich möglichst nicht darüber
aufzuregen, denn offenbar konnte er gar nicht anders.
Der Februar war inzwischen dem März gewichen;
ein zarter Anflug von Frühling setzte erste Zeichen gegen die
Trostlosigkeit des Winters. Die feine Gesellschaft kehrte mit
spürbarer Entschlossenheit in die Hauptstadt zurück, um sich auf
den nahen Saisonbeginn vorzubereiten. Waren die bisherigen
Festlichkeiten noch eher klein und wenig förmlich gewesen, so waren
die aktuellen Veranstaltungen - hinsichtlich ihrer Häufigkeit wie
auch ihrer Besucherzahlen - dicht gedrängt.
Lady Hammonds Ball galt als erste
Pflichtveranstaltung des Jahres; alles, was in der guten
Gesellschaft Rang und Namen hatte und bereits in der Stadt weilte,
erschien zu diesem Fest. Zusammen mit Mildred und Gertie stand
Leonora auf den Stufen zum Ballsaal und wartete mit ungefähr
hundert anderen Gästen darauf, ihre Gastgeberin zu begrüßen. Sie
sah sich ein wenig um, entdeckte einige bekannte Gesichter, nickte,
lächelte. Bis zum Beginn der eigentlichen Saison waren es noch
mehrere Wochen; sie war sich relativ sicher, dass die Stadt in den
vergangenen Jahren nie so früh derart überlaufen gewesen war. Sogar
im Park …
»Aber selbstverständlich
sind wir dieses Jahr früher gekommen, Liebes.«
Die Dame hinter ihr hatte gerade eine alte
Bekannte wiedergetroffen.
»Ich sage dir, sie werden alle früher kommen.
Zumindest diejenigen, die eine Tochter haben, die sie in die
Gesellschaft einführen müssen. Es ist doch wirklich verheerend, wie
viele Gentlemen in all diesen Kriegen zu Tode gekommen sind
…«
Die Dame redete weiter; Leonora hörte nicht mehr
zu - sie hatte begriffen. Gnade den wohlsituierten Gentlemen, die
noch nicht verheiratet waren.
Schließlich erreichte sie mit Mildred und Gertie
den Eingang zum Ballsaal; sie knickste vor Lady Hammond, einer
langjährigen Bekannten ihrer beiden Tanten, und folgte Mildred und
Gertie zu einer der Nischen, in denen die Sitzgelegenheiten für die
Anstandsdamen und älteren Herrschaften aufgereiht waren.
Ihre Tanten fanden rasch ein Plätzchen im Kreise
ihrer Freundinnen; nachdem Leonora einige neckische Fragen
abgewehrt hatte, entfernte sie sich von der Gruppe.
Und tauchte in die Menge ein. Tristan würde
seine liebe Mühe haben, sie hier zu finden. Als sie das obere Ende
der Treppe erreicht hatte, war er noch nicht einmal in der Schlange
zu sehen gewesen; er würde daher einige Zeit brauchen, ehe er sich
zu ihr gesellen konnte.
Am heutigen Abend war die Menge viel zu dicht,
um einfach nur hindurchzuschlendern und hier und da freundlich zu
nicken und zu lächeln; sie musste immer wieder stehen bleiben, um
zu plaudern, Begrüßungen und Bemerkungen auszutauschen und hier und
da eine Konversation zu führen. Sie hatte dies noch nie als
schwierig empfunden, eher bisweilen als langweilig, aber heute
waren derart viele Gäste darunter, die gerade erst in die Stadt
zurückgekehrt waren, dass es reichlich zu erzählen und
auszutauschen gab, vieles, über das man lachen und sich amüsieren
konnte. Trotzdem war ihr bewusst, dass sie die Aufmerksamkeit
einiger Gentlemen auf sich zog, die erst seit Kurzem wieder in der
Stadt waren und von Tristans offenkundigem Interesse noch nichts
mitbekommen hatten; um möglichen Missverständnissen aus dem Wege zu
gehen, blieb Leonora daher nie allzu lange bei einer Gruppe stehen,
sondern ließ sich vielmehr kontinuierlich weitertreiben.
Es schien ihr ratsam, sich nicht mit mehreren
Wölfen gleichzeitig anzulegen.
»Leonora!«
Sie drehte sich um und lächelte Crissy
Wainwright entgegen, einer ziemlich üppigen blonden Lady, die im
selben Jahr debütiert hatte wie Leonora selbst. Crissy hatte sich
umgehend einen Lord geangelt und geheiratet; die Niederkunft
mehrerer Kinder hatte sie einige Jahre aus der Hauptstadt
ferngehalten. Crissy drängelte sich regelrecht durch die Menge.
»Puh!« Als sie Leonora endlich erreichte, schlug sie als Erstes
ihren Fächer auf. »Das ist ja das reinste Tollhaus hier. Und ich
dachte, es wäre ein kluger Schachzug, möglichst früh in die Stadt
zu kommen.«
»Viele hatten wohl denselben Gedanken, wie mir
scheint.« Leonora nahm Crissys Hand; sie drückten einander die
Finger und pressten ihre Wangen aneinander.
»Mama wird entsetzt sein.« Crissys umhertanzende
Blicke kehrten zu Leonora zurück. »Sie wollte nämlich allen anderen
Damen, die dieses Jahr eine Tochter einzuführen haben, zuvorkommen.
Sie muss dieses Jahr meine jüngste Schwester an den Mann bringen,
und sie hat sich bereits diesen Earl ausgeguckt, der unbedingt
heiraten muss.«
Leonora blinzelte sie an. »Ein Earl, der
unbedingt heiraten muss?«
Crissy lehnte sich näher an sie heran und senkte
ihre Stimme. »Anscheinend hat diese arme Seele kürzlich geerbt und
muss nun bis spätestens Juli verheiratet sein, sonst verliert er
sein gesamtes Vermögen. Seine Häuser und deren Bewohner blieben ihm
hingegen erhalten, und weder das eine noch das andere würde sich
allein mit Almosen finanzieren lassen.«
Leonora lief ein Schauer über den Rücken. »Davon
habe ich ja noch gar nichts gehört. Um welchen Earl handelt es sich
denn?«
Crissy machte eine vage Handbewegung.
»Vermutlich hat es niemand für besonders erwähnenswert gehalten,
schließlich suchst du keinen Ehemann.« Sie zog eine Grimasse. »Ich
dachte ja immer, dass du einen leichten Stich hättest von wegen
deiner starrköpfigen Haltung gegenüber der Ehe, aber inzwischen …
Ich muss schon zugeben, manchmal glaube ich fast, du hattest recht
damit.« Ihr Ausdruck
trübte sich für einen Moment, doch dann strahlte sie wieder. »Aber
ich bin schließlich hier, um mich zu amüsieren, und ich will nicht
den geringsten Gedanken daran verschwenden, verheiratet zu sein.
Wenn dieser bemitleidenswerte Earl tatsächlich so begierig gejagt
wird, wie man den Gerüchten nach annehmen muss, könnte ich ihm doch
vielleicht eine sichere Zuflucht bieten? Ich habe gehört, er soll
überaus gut aussehen. Das kommt bei Männern mit Reichtum und Titel
ja leider nur allzu selten vor …«
»Welcher Titel denn eigentlich?« Leonora
unterbrach sie ohne jeden Skrupel; Crissy konnte ohne Weiteres
stundenlang so weiterreden.
»Ach, hatte ich den noch gar nicht erwähnt?
Trillingwell, Trellham oder irgend so etwas in der Art.«
»Trentham?«
»Ja! Ganz genau.« Crissy wirbelte wieder zu ihr
herum. »Du hast also doch schon davon gehört.«
»Ich garantiere dir, das hatte ich noch nicht;
aber ich bin dir dankbar, dass du es mir erzählt hast.«
Crissy blinzelte und musterte sie eingehend. »Du
durchtriebenes Ding. Du kennst ihn also.«
Leonoras Augen waren zu Schlitzen verengt, aber
ihr Blick galt nicht Crissy, sondern einem dunkelhaarigen Mann, der
sich ihr durch die Menge hindurch näherte. »Und ob ich ihn kenne.«
Und zwar im biblischen Sinne. »Wenn du mich bitte entschuldigen
würdest … Ich nehme an, wenn du länger in der Stadt bleiben wirst,
werden wir uns in Zukunft häufiger über den Weg laufen.«
Crissy packte sie bei der Hand, als sie sich
gerade entfernen wollte.
»Verrate mir nur eins … Ist er wirklich so
attraktiv, wie alle sagen?«
Sie zog ihre Augenbrauen hoch. »Er ist weitaus
attraktiver, als für ihn gut ist.« Sie entwand sich Crissys
schwächer werdendem Griff und begab sich auf direkten
Konfrontationskurs mit besagtem Earl, der unbedingt heiraten
musste.
Tristan wusste auf der Stelle, dass etwas nicht
stimmte, als sie plötzlich unvermittelt vor ihm stand.
Ihr scharfer Blick schien ihn erdolchen zu
wollen; ihr spitzer Zeigefinger, den sie ihm in die Brust rammte,
lieferte ihm einen noch direkteren Hinweis.
»Wir müssen reden. Und zwar jetzt!«
Ihre Worte waren ein bedrohliches Zischen, sie
schien vor Wut zu kochen.
Er befragte sein Gewissen und kam zu dem
Schluss, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte. »Was ist
passiert?«
»Das werde ich dir gerne verraten, aber ich
nehme an, dass du es dir lieber unter vier Augen anhören willst.«
Ihre Blicke spießten ihn auf. »Welches Hinterstübchen hältst du
heute für uns bereit?«
Er hielt ihrem Blick stand, während er über die
kleine Speisekammer nachdachte, die - so hatte man ihm versichert -
in Hammond House den einzigen sicheren Ort für private
Vergnüglichkeiten darstellte. Der unbeleuchtete Raum wäre
gleichermaßen dunkel wie beengt und damit für seine ursprünglichen
Absichten bestens geeignet … »Es gibt in diesem Haus keinen
angemessenen Ort für private Unterredungen.«
Schon gar nicht, wenn sie die Fassung verlor,
was seiner Einschätzung nach jeden Moment der Fall sein
konnte.
Ihre Augen explodierten geradezu. »Jetzt ist der
Moment gekommen, deinem Ruf alle Ehre zu machen. Finde einen
Ort.«
Seine Fähigkeiten traten in Aktion; er nahm ihre
Hand und legte sie auf seinen Arm - erleichtert, dass sie es
zuließ.
»Wo sind deine Tanten?«
Sie wies auf den Rand des Raumes. »Bei den
Stühlen dort drüben.«
Er ging mit ihr in besagte Richtung und
konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf Leonora, während er
allen Blicken, die seiner eigenen Person galten, gezielt auswich.
Er beugte sich zu ihr hinunter und sagte mit gedämpfter Stimme: »Du
hast plötzlich Kopfschmerzen bekommen, schlimme Migräne. Sag deinen
Tanten,
dass du dich überaus unwohl fühlst und auf der Stelle nach Hause
willst. Ich werde mich anbieten, dich in meiner Kutsche
heimzufahren …« Er unterbrach sich, blieb stehen und winkte einen
Diener heran. Als dieser sich näherte, erteilte Tristan ihm ein
paar knappe Anweisungen, woraufhin dieser davoneilte.
Sie gingen weiter. »Ich habe meine Kutsche
bereits vorfahren lassen.« Er sah sie an. »Wenn du nicht ganz so
aufrecht gehen und ein bisschen matter erscheinen würdest, könnten
wir damit durchkommen. Wir müssen nur sicherstellen, dass deine
Tanten hierbleiben.«
Letzteres war gar nicht so einfach, aber welcher
Teufel Leonora auch immer ritt, sie war offenbar dringend bestrebt,
mit ihm allein zu sein; es war daher weniger ihr schauspielerisches
Talent, das den Plan am Ende gelingen ließ, sondern vielmehr ihre
äußerst bedrohliche Ausstrahlung, die jeden davor warnte, sich mit
ihr anzulegen, da sie ansonsten ausfallend werden könnte.
Mildred warf ihm einen besorgten Blick zu. »Wenn
Sie das wirklich tun würden …?«
Er nickte. »Meine Kutsche wartet bereits. Seien
Sie versichert, ich werde sie auf direktem Weg nach Hause
bringen.«
Leonora sah ihn aus zusammengekniffenen Augen
an; er ließ seinen Gesichtsausdruck bewusst neutral
erscheinen.
Mit der Miene zweier Frauen, die sich einem
stärkeren - und für sie nicht nachvollziehbaren - Willen beugten,
blieben Mildred und Gertie gehorsam sitzen und ließen zu, dass
Tristan Leonora aus dem Raum und anschließend aus dem Haus
führte.
Seine Kutsche wartete bereits; er half Leonora
hinauf und folgte ihr. Ein Diener schloss den Schlag; dann hörte
sie den Knall einer Peitsche, und der Wagen setzte sich mit einem
Ruck in Bewegung.
Er ergriff in der Dunkelheit ihre Hand und
drückte sie. »Noch nicht.« Er sprach mit gedämpfter Stimme. »Mein
Kutscher braucht nichts davon mitzubekommen, und die Green Street
liegt direkt um die Ecke.«
Leonora sah zu ihm auf. »Green Street?«
»Ich habe versprochen, dich nach Hause zu
fahren. Und zwar in mein Zuhause. Wo sonst sollten wir einen Raum
finden, der nicht nur abgeschieden, sondern zugleich adäquat
ausgeleuchtet ist, damit wir uns angemessen unterhalten
können?«
Sie sah keinen Grund, dem zu widersprechen; sie
war vielmehr froh darüber, dass er eine angemessene Beleuchtung für
notwendig erachtete - sie wollte schließlich sein Gesicht erkennen
können. Während sie innerlich kochte, verharrte sie äußerlich in
widerwilligem Schweigen.
Er ließ seine Hand auf der ihren ruhen. Während
sie durch die Nacht holperten, streichelte sein Daumen sanft,
beinahe geistesabwesend über ihren Handrücken. Sie sah zu ihm auf.
Sein Blick war aus dem Fenster gerichtet, und sie war sich nicht
sicher, ob ihm seine zärtliche Geste überhaupt bewusst war, weniger
noch, ob er sie damit beruhigen wollte.
Die Berührung wirkte durchaus beruhigend, aber
sie änderte nichts an ihrer Wut.
Eher im Gegenteil.
Wie konnte er es nur wagen, sich so unsäglich
arrogant, so sicher und selbstgefällig aufzuführen, wenn sie gerade
seine geheimsten Hintergedanken enttarnt hatte? Er musste doch
sicherlich geahnt haben, dass sie sie irgendwann durchschauen
würde.
Die Kutsche bog ab, allerdings nicht in die
Green Street, sondern in eine enge Gasse, die mehrere stattliche
Häuser von der Rückseite her miteinander verband. Der Wagen blieb
ruckartig stehen. Tristan beugte sich vor, öffnete die Tür und
stieg aus.
Sie hörte, wie er mit dem Kutscher sprach, dann
wandte er sich um und streckte ihr die Hand entgegen. Sie griff
danach und stieg ebenfalls aus. Noch ehe sie sich groß umschauen
konnte, hatte er sie durch ein Gartentor geschoben.
»Wo sind wir?«
Tristan war ihr durch das Tor hindurch gefolgt
und schloss es hinter sich. Sie hörte, wie die Kutsche jenseits der
hohen Mauer davonholperte.
»In meinem Garten.« Er nickte in Richtung des
großen Hauses, das am Ende der ausgedehnten Rasenfläche hinter
Büschen und Bäumen undeutlich zu erkennen war. »Wenn wir durch den
Haupteingang spaziert wären, hätten wir uns eine plausible
Erklärung überlegen müssen.«
»Und was ist mit deinem Kutscher?«
»Was ist mit ihm?«
Leonora schnaubte. Sie spürte seine Hand auf
ihrem Rücken und ließ sich bereitwillig den Pfad hinauf zwischen
den Büschen hindurchlenken. Als sie die dichtesten Schatten hinter
sich gelassen hatten, ergriff er ihre Hand und trat neben sie. Der
schmale Weg führte sie an den Blumenrabatten vorbei, die diesen
Flügel des Gebäudes säumten; Tristan führte sie am Wintergarten und
an einem weiteren Zimmer vorüber, das nach einem Arbeitszimmer
aussah, bis sie schließlich einen länglichen Raum erreichten, den
sie als das Frühstückszimmer wiedererkannte, in welchem seine alten
Damen ihr einige Wochen zuvor Gesellschaft geleistet hatten.
Vor einer zweiflügeligen Verandatür blieb er
stehen. »Das hier hast du noch nicht gesehen.« Er legte seine
flache Handfläche gegen den Rahmen, genau an der Stelle, wo das
Schloss die beiden Türflügel verriegelte. Dann versetzte er der Tür
einen kurzen, festen Stoß, das Schloss schnappte auf, und die
Türflügel schwangen nach innen.
»Gütiger Himmel!«
»Schhhh!« Er schob sie hinein und schloss die
Türen. Das Frühstückszimmer lag in tiefem Dunkel. Zu so später
Stunde war dieser Teil des Hauses völlig verlassen. Er nahm ihre
Hand und zog sie quer durch den Raum hinüber zu den Stufen, die zum
Korridor hinaufführten. Er blieb im Halbschatten der Treppe stehen
und wandte seinen Blick nach links, wo die Eingangshalle in
goldgelbes Licht getaucht war. Leonora spähte an ihm vorbei und
konnte nirgends einen Diener oder den Butler entdecken. Er drehte
sich um und führte sie nach rechts in einen kurzen, unbeleuchteten
Korridor. Am Ende des Ganges streckte er den Arm aus, öffnete eine
Tür und stieß sie weit auf.
Leonora trat ein; er folgte ihr und schloss
geräuschlos die Tür.
»Warte hier«, raunte er ihr zu, dann trat er
rasch an ihr vorbei.
Zartes Mondlicht spiegelte sich auf der
Oberfläche eines großen Schreibtischs und beleuchtete den schweren
Lehnstuhl dahinter sowie vier weitere Stühle, die im Raum verteilt
waren. An den Wänden standen diverse Schränke und Kommoden. Dann
zog Tristan die Vorhänge zu, und jedwedes Licht schwand.
Im nächsten Moment hörte sie das kratzende
Geräusch von Zunder und sah eine Flamme aufspringen; sie erhellte
sein Gesicht und hob die strengen Konturen seiner Wangen hervor,
während er den Docht der Lampe einstellte und das Glas wieder
aufsetzte.
Warmes Licht breitete sich aus und erfüllte den
Raum.
Er sah sie an und deutete auf zwei Sessel, die
beim Kamin standen. Dort angekommen trat Tristan an ihre Seite und
nahm ihr den Mantel von den Schultern. Er legte ihn beiseite und
wandte sich dann dem Kamin zu, in dem die Kohlen noch glimmten;
Leonora ließ sich in einen der beiden Sessel sinken und
beobachtete, wie er das Feuer gekonnt wieder anfachte, bis es
angenehm flackerte.
Er richtete sich auf und sah auf sie herab. »Ich
werde mir einen Brandy genehmigen. Kann ich dir auch irgendetwas
anbieten?«
Sie beobachtete, wie er zu einem Tischchen trat,
auf dem einige Karaffen standen. Es erschien ihr eher
unwahrscheinlich, dass er in seinem Arbeitszimmer Sherry hatte.
»Für mich auch ein Glas Brandy.«
Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an, füllte
aber kommentarlos Brandy in zwei große Ballongläser; dann kehrte er
zu ihr zurück und reichte ihr ein Glas. Sie musste beide Hände
benutzen, um es zu halten.
»Also.« Er ließ sich in den anderen Sessel
sinken, streckte die Beine vor sich aus und schlug sie
übereinander, dann nippte er an seinem Getränk und heftete seine
haselnussfarbenen Augen fest auf sie. »Worum geht es hier
eigentlich?«
Der Brandy lenkte sie ab; sie stellte das Glas
vorsichtig auf den Beistelltisch neben ihrem Sessel.
»Es geht darum«, entgegnete sie ihm, völlig
gleichgültig darüber, wie giftig ihr Ton klang, »dass du heiraten
musst.«
Er hielt ihrem vorwurfsvollen Blick gelassen
stand; dann nippte er erneut - das Brandyglas schien mit seiner
großen Hand verwachsen zu sein. »Und weiter?«
»Und weiter? Du musst
heiraten, weil das in irgendeiner Weise mit deinem Erbe
zusammenhängt. Wenn du bis Juli nicht verheiratet bist, verlierst
du alles. Ist das richtig?«
»Ich verliere alle meine finanziellen Mittel,
behalte hingegen den Titel und alles, was damit
zusammenhängt.«
Sie zwang sich, dem plötzlichen Krampf in ihrer
Brust zum Trotz, weiterzuatmen. »Also musst
du heiraten. Du willst gar nicht heiraten -
weder mich noch irgendwen sonst -, sondern du hast keine andere
Wahl, und deshalb komme ich dir wie gerufen. Du suchst eine
Ehefrau, und ich werde deinen Ansprüchen zufällig gerecht. Habe ich
das so in etwa richtig verstanden?«
Er wurde mit einem Mal völlig reglos. Im
Bruchteil einer Sekunde hatte er sich von dem eleganten Gentleman,
der entspannt in seinem Sessel saß, in ein lauerndes Raubtier
verwandelt - bereit, blitzschnell zu reagieren. Das Einzige, was
sich veränderte, war seine plötzliche Anspannung, doch die Wirkung
war extrem.
Ihr wurde die Brust eng; sie konnte kaum noch
atmen.
Sie wagte es nicht, ihren Blick von seinem zu
lösen.
»Nein.« Als er ihr endlich antwortete, klang
seine Stimme tiefer, dunkler. Das Glas in seiner Hand wirkte extrem
zerbrechlich; er lockerte seinen Griff, so als wäre es ihm in
diesem Moment selbst bewusst geworden. »Es war … Es ist keineswegs so, wie du es darstellst.«
Sie schluckte und hob ihr Kinn. Mit Genugtuung
stellte sie fest, dass ihre Stimme nach wie vor ruhig und sicher
klang; hochmütig, ungläubig. Herausfordernd. »Und wie ist es nun
wirklich?«
Sein Blick war unverwandt auf sie gerichtet.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens antwortete er ihr. Dabei
lag dieser ganz besondere Ton in seiner Stimme, der sie davor
warnte, auch nur
ansatzweise in Erwägung zu ziehen, dass eines seiner Worte
womöglich nicht der absoluten, reinen Wahrheit entsprach. »Ich muss
tatsächlich heiraten, insofern hast du recht. Nicht, weil ich das
Vermögen meines Großonkels für mich selbst benötigen würde, sondern
weil ich ansonsten meinen vierzehn von mir abhängigen
Mitbewohnerinnen nicht den Lebensstandard bieten könnte, den sie
gewohnt sind.«
Er hielt kurz inne; wartete ab, bis der Sinn
seiner Worte vollständig angekommen war. »Und ja, ich muss daher
bis Ende Juni vor den Traualtar treten. Nichtsdestoweniger hatte
und habe ich nicht die geringste Absicht, mir von meinem Großonkel
oder den Matronen unserer illustren Gesellschaft meine Zukunft
vorschreiben oder mir diktieren zu lassen, wen ich zur Braut nehmen
soll. Es liegt auf der Hand, dass, gesetzt den Fall, ich würde es
so wollen, eine Heirat mit einer achtbaren Lady mühelos in weniger
als einer Woche arrangiert, unterschrieben, besiegelt und auch
vollzogen wäre.«
Er sah ihr tief in die Augen und nahm einen
weiteren Schluck Brandy. Er sprach langsam und mit Nachdruck. »Aber
bis Juni sind es noch mehrere Monate. Ich sah daher keinen Anlass
zur Eile und hatte mich auch noch nicht auf die Suche nach einer
passenden Lady begeben«, seine Stimme klang zunehmend tiefer und
bestimmter. »Dann habe ich dich getroffen, und alle derartigen
Überlegungen waren mit einem Mal hinfällig.«
Sie saßen einige Schritte voneinander entfernt,
und dennoch erwachte alles, was zwischen ihnen gewachsen war, was
zwischen ihnen existierte, mit einem Mal zum Leben - eine fühlbare
Kraft, die den Raum erfüllte und beinahe sichtbar in der Luft
flirrte.
Sie spürte es, spürte, wie es sie umfing - ein
Netz von Gefühlen, das so unbeschreiblich stark war, dass sie ganz
genau wusste, sie würde sich niemals daraus befreien können. Und er
wahrscheinlich ebenso wenig.
Sein Blick blieb hart, unverhohlen
besitzergreifend, absolut unnachgiebig. »Ich muss heiraten, und irgendwann hätte ich mich
unweigerlich
gezwungen gesehen, mir eine Ehefrau zu suchen. Aber stattdessen
habe ich dich gefunden, und die ganze Suche ist überflüssig
geworden. Ich möchte, dass du meine Frau
wirst. Und du wirst meine Frau
werden.«
Sie wollte und konnte gar nicht an seinen Worten
zweifeln; der Beweis lag direkt vor ihr - zwischen ihnen.
Die Spannung wuchs, wurde unerträglich. Sie
mussten sich irgendwann rühren; er tat dies zuerst und erhob sich
in einer weichen, elastischen Bewegung aus seinem Sessel. Er hielt
ihr die Hand hin; nach einem kurzen Zögern griff sie danach. Er zog
sie hoch.
Sein Blick ruhte auf ihr; seine Züge waren hart,
wie gemeißelt. »Begreifst du jetzt?«
Sie neigte ihren Kopf zu ihm hoch, studierte
sein Gesicht, seine Augen, seine harten, strengen Wangen, die so
wenig preisgaben. Sie atmete tief ein und konnte nicht umhin zu
fragen: »Warum? Ich weiß noch immer nicht, warum du mich heiraten
willst. Warum du mich willst - nur mich.«
Er erwiderte ihren Blick einige Zeit lang
schweigend; sie dachte schon, er würde gar nicht mehr antworten,
doch das tat er.
»Rate.«
Es war an ihr, lange und intensiv nachzudenken;
schließlich fuhr sie sich über die Lippen und murmelte: »Ich kann
nicht.« Einen Augenblick später fügte sie mit brutaler Ehrlichkeit
hinzu: »Ich wage es nicht.«