EPILOG


Die Finger der Frau schmerzen, als sie den kreisrunden Stickrahmen weglegt und ihr Werk betrachtet. Nur wenige Menschen geben sich heutzutage noch der Handarbeit hin. Es ist eine alte Tätigkeit, in Gänze ineffizient und eigentlich überflüssig. Aber das sind Gemälde und Musik auch und trotzdem liebt jedermann sie.

Die Frau betrachtet den kleinen Wal, der halb im Wasser versunken mit großen Augen auf ein Schiff zuschwimmt. Aus seinem Atemloch spritzt eine hellblaue Wasserfontäne aus vielen, winzigen Kreuzen auf den groben Stoff gestickt.

Wieder und wieder knetet sie ihre Fingergelenke und verzieht dabei das Gesicht, ob des unangenehmen Ziehens.

Das Alter ist ein fieses Ding. Es schleicht sich Jahr um Jahr näher heran und erst, wenn man es morgens kaum noch aus dem Bett schafft und Stunden braucht, um richtig in Fahrt zu kommen, bemerkt man den feindlichen Übergriff. Ein seltsames Gefühl, dem Feind im eigenen Körper zu begegnen. Noch dazu, wenn er siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen wird.

Sehnsüchtig denkt sie an ihre Jugend zurück. An die Träume, die sie vor vielen Jahren hatte, und an die Menschen, die ihr in all der Zeit begegnet sind.

Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Aber das ist in Ordnung. Ein Leben voller Abenteuer, Liebe, Freundschaft und Wagnissen liegt hinter ihr. Es gibt nicht einen Tag zu bereuen. Wer kann das schon von sich behaupten?

Hastig schüttelt sie ihre Schwermut ab und ist wieder im Hier und Jetzt.

Der unverkennbare Lärm spielender Kinder dringt durch das Fenster an ihr Ohr. Ein Blick auf den Zeitmesser über der Tür verrät ihr, dass die letzte Stunde wie im Flug vergangen ist. Gleich werden die kleinen Gäste eintreffen. Wie jeden Nachmittag um diese Zeit.

Das gestickte Kunstwerk wandert in den Handarbeitskorb und ein Blick in die Küche zeigt, dass die Kekse genau zum rechten Zeitpunkt fertig geworden sind. Das heiße Blech verströmt - einmal aus dem kleinen Ofen befreit - einen herrlichen Duft.

Als es an der Tür läutet, steht sie schon bereit und lässt die fröhliche Schar hinein.

Ihr kleines Haus bietet kaum Platz für eine anständige Teegesellschaft, aber die Kinder nehmen gerne mit dem Boden vorlieb, um ihre Geschichten zu hören. Und auch heute können sie es kaum erwarten.

Lachend und herumalbernd verteilen sich die Jungen und Mädchen auf Stühlen, Kissen und dem Teppich. Ihre kleinen Füßchen stecken in offenen Sandalen und ihre Gesichter sind gerötet vom ausgelassenen Spiel unter freiem Himmel.

Sie wartet geduldig, bis alle zur Ruhe gekommen sind, und stellt dann dieselbe Frage wie am Tag zuvor und am Tag davor und allen Tagen der letzten zehn Jahre. Sie ist eine Institution. Ein Teil der Gemeinschaft, den Eltern und Kinder schmerzlich vermissen werden, und dieser Gedanke macht sie stolz und traurig zugleich.

»Welche Geschichte möchtet ihr denn hören?«

Wilde Rufe gellen ihr entgegen. Kaum möglich, zwischen all den piepsigen Stimmen ein verständliches Wort herauszuhören. Doch dann legt sich die Aufregung und die Kleinen werden sich untereinander einig.

»Erzähl uns von Nova und Joaquim. Erzähl davon, wie sie es geschafft haben, den Souverän zu besiegen!«

Der Hanson-Junge bekommt ganz große Augen, als er den schwierigen Namen des Bösewichts ausspricht, und wieder einmal ist sie froh darüber, wie unbeschwert die Kinder aufwachsen können. Selbst eine Lappalie wie Nachnamen erscheinen ihr wie ein besonderes Privileg. Früher hatten sie nur Nummern getragen wie Blutproben und letztendlich waren sie genau das gewesen. Das Ergebnis von ein paar Forschern. Nur ein Experiment, keine richtigen Menschen mit Namen und Familien.

»Habt ihr diese Geschichte nicht schon zu oft gehört, meine Lieben?«

»Neeeeeeeeeeeeeeiiiiiin. Bitte, bitte, bitte!«, lautet die kollektive Antwort.

Sie seufzt und lässt sich in ihren Sessel fallen. Insgeheim gefällt es ihr, diese Geschichte wieder und wieder zu erzählen. So wird die Vergangenheit in den Köpfen der Kleinen weiterleben und eines Tages werden sie ihren eigenen Kindern davon berichten, wie ein Zusammenschluss von mutigen Menschen, genannt die Division, die Welt zu der machte, in welcher sie heute leben.

»Na schön. Wo waren wir denn?«

Wieder hebt der Hanson-Junge die Hand und meint aufgeregt: »In Central! Arros hat den Transporter angelassen und sie wollten das riesige Raumschiff aufhalten.«

Sofort unterbricht ihn ein kleines Mädchen mit feuerroten Haaren: »Ja! Erzähl uns von Joaquims Drift und von der Welle. Erzähl uns von der großen Welle!«

Unzählige Ärmchen fuchteln in der Luft herum und sie muss mehrmals beschwichtigend die Hände heben, damit wieder Ruhe einkehrt.

Und dann erzählt sie. Mitten in ihrem kleinen Häuschen, draußen, am Rande der Siedlung, umringt von mucksmäuschenstillen Kindern, berichtet sie von Novas Abenteuern. Davon, wie sie gemeinsam mit ihrem Joaquim das Unmögliche geschafft und den Menschen die Freiheit gebracht hat. Sie beschreibt das Feuerland, immer und immer wieder, weil die Kleinen nicht glauben können, dass es einen Ort ohne Bäume und ohne Schnee gibt. Sie erzählt von den HUBs, die von ihren Zuhörern gerne als Keller bezeichnet werden, weil Keller die einzigen Räume sind, die unter der Erde Sinn machen, und sie es sich nicht anders vorstellen können.

»Und du kanntest Präsident Sawyer wirklich persönlich?«, fragt Kelly, die schon immer ein Faible für den charismatischen Anführer der Division hatte.

»Natürlich«, erwidert die alte Dame und lächelt wissend. »Er war ein enger Freund und ein ganz besonderer Mensch.«

»Wie alt wäre er denn jetzt?«, fragt Kelly weiter.

»Ungefähr so alt wie ich, Kinder. Aber mein Alter verrate ich euch nicht. Das könnt ihr vergessen.«

Sie zwinkert belustigt, aber bei dem Gedanken an den Tod des Anführers durchzuckt sie ein feiner Schmerz. Er hatte lange durchgehalten. Länger noch als Jakob, obwohl dieser am Ende krank gewesen war. So als wollte er ganz sichergehen, dass seine Schäfchen auch wirklich behütet und glücklich leben könnten.

Ein Jahr war es nun her, dass Sawyer gegangen ist, und sie vermisst ihn oft. Spätestens im ersten Winter nach seinem Tod hatte sie beinahe täglich an ihn gedacht. Als stecke er höchstpersönlich hinter jeder Eisblume an der Fensterscheibe. Ihr einziger Trost ist, dass es schnell gegangen war. Sawyer schlief einfach ein. Friedlich und zufrieden.

Bei Jakob war es schlimm gewesen, aber Zoe hatte ihm die letzte Zeit erleichtert. Sie hatte seine Schmerzen durch magische Illusionen gelindert, bis er aufgegeben hat.

Später, Jahre danach hat sie Zoe gefragt, welche Illusionen es waren, was hatte Jakob vor seinem Tod gesehen, das ihn so sehr beruhigt hatte? Zoe konnte schon immer fühlen, was ihr Gegenüber glücklich machen würde. Und nachdem sie es mit beruhigenden Sequenzen von Wäldern und Bächen versucht hatte, war ihr eine bessere Idee gekommen, weil sie sehen konnte, dass Jakob sein Glück in einer anderen Vorstellung finden würde. Sie hatte ihn zurück auf die Erde geschickt. Zurück ins Feuerland, zusammen mit Nova, Marzellus, Nume und Mailo. Vier Freunde auf einer Reise ins Ungewisse. Das war es gewesen, was Jakob hatte von seinen Qualen ablenken können.

»Und was geschah mit den Sallows? Sind sie alle nach Salgaia gegangen?«

Die Kinder stellen, wie immer an diesem Punkt der alten Geschichte, tausend Fragen und wollen jedes noch so kleine Detail wissen.

»Nein. Es waren sogar recht wenig, gemessen an der Zahl der Gelben und Blauen. Aber ohne den Einsatz der Division hätte keiner von ihnen gehen können, also war es trotzdem ein Sieg.«

Die Geschichtsstunde neigt sich bereits dem Ende zu und wie immer hat nur eines der Kinder die ganze Zeit über geschwiegen. Es ist Susan, T.J.s Enkelin. Eine bildhübsche, aber enorm schüchterne kleine Person.

Als es Zeit wird und die Kinder jammernd und nach einer weiteren Geschichte bettelnd ihr Heim verlassen, legt sie eine Hand auf die Schulter des Mädchens und fragt: »Was ist, willst du vielleicht noch ein wenig mit mir spazieren gehen? Ich bringe dich auf dem Rückweg zu Hause vorbei.«

Das Mädchen nickt zaghaft und streckt ihre kleine Hand aus. Die alte Frau ergreift sie lächelnd und gemeinsam gehen sie hinaus auf den schmalen Weg. Unter ihren Füßen knirschen feine Kiesel und in der Luft liegt ein zarter Geruch von reifen Pfirsichen.

Sie brauchen nicht zu reden, aber nach ein paar Minuten wird Susan unruhig und man kann spüren, dass sie etwas auf dem Herzen hat.

»Frag mich ruhig«, fordert die alte Dame sie auf, ohne den Blick von dem tückisch unbefestigten Weg zu nehmen.

Das Mädchen räuspert sich und mit einer seidig weichen Kinderstimme stellt sie schließlich ihre Frage.

»Was geschah mit Nova und Joaquim?«

Ein Lächeln liegt auf den Lippen der Frau, als das Mädchen wieder schweigt, und sie nickt wohlwollend.

»Weißt du, Liebes, diese Frage stellen die anderen Kinder nie. Sie glauben, dass die Geschichten nur erfunden sind oder dass Nova und Jo nach Salgaia gegangen und schon vor langer Zeit gestorben sind. Aber so ist das nicht gewesen.«

Sie biegen ab und nehmen die Abkürzung über die Wiese, wandern vorbei an Blumen und Schmetterlingen, die im Wind tanzten.

»Das bedeutet, es ist ein trauriges Ende. Erzählst du deswegen nie davon? Weil es nicht schön ist?«

Susans Stimme wird mit jedem Wort leiser. Man kann spüren, wie ängstlich das Mädchen ist. Aber es dringt auch Neugierde an die Oberfläche. Wenn das Ende der Geschichte unspektakulär oder traurig wäre, würde sie es trotzdem wissen wollen.

»Nein, mein Herz. Ich erzähle es nie, weil ich es nicht kenne, dieses Ende. Nun ja, nicht vollständig zumindest.«

»Du kennst das Ende der Geschichte nicht? Aber du warst doch dabei, nicht wahr?«, fragt Susan jetzt beinahe kritisch.

»Ja. Ich war dort. Genau wie dein Großvater und viele andere, tapfere Menschen auch. Und ich kannte Nova besser als die meisten. Aber wie alles ausging, kann ich leider nicht sagen.«

Sie umrunden einen großen Felsen und halten sich von nun ab links. Der Pfirsichduft ist verschwunden, an seine Stelle tritt der Geruch von frischem Heu und Sommerblumen.

»Erinnerst du dich an meine Beschreibung von Joaquim?«

Susan nickt heftig.

»Er war ein Feuerlandwanderer und ein Einzelgänger!«

»Ja. Das war er wohl. Aber er war auch unsterblich in Nova verliebt. Deswegen fiel ihm seine Entscheidung auch so schwer.«

»Welche Entscheidung denn?«, fragt Susan mit weit aufgerissenen Augen. Es tut gut, ihre kindliche Neugierde zu spüren. Sie will an ein Happy End glauben und hängt gespannt an den Lippen der alten Frau.

»Er hat beschlossen, auf der Erde zu bleiben.«

»Du meinst, er wollte nicht nach Salgaia gehen?«

»Ganz genau. Und das war natürlich ein Problem, denn alle gingen dorthin. Sawyer, Anny, Zoe, Mailo und all die anderen.«

»Also wollte Nova auch herkommen, richtig? Und dann endete es doch traurig. Ich wusste es!«, grummelt Susan und verschränkt die Arme vor der Brust.

Sie treten durch ein schlichtes Tor und folgen einem wildbewucherten Weg.

»Weißt du, ich glaube, die liebe Nova wusste die ganze Zeit über nicht, ob sie nach Salgaia wollte. Sie war mit den Gedanken immer woanders. Genau wie wir anderen auch. Es gab so viel zu erleben und unzählige Dinge, die noch erkämpft werden mussten. Sie hat die Entscheidung einfach vertagt. Immer und immer wieder, vermutlich.«

Rechts und links ragen die ersten Grabsteine empor. Viele von ihnen noch neu und von der Natur unberührt. Andere stehen schon Jahrzehnte dort. Stille Zeugen der Geschichte.

»Und wie ist es ausgegangen? Sind sie doch hergekommen? Zusammen?«

Susan ist jetzt richtig aufgetaut und platzt vor Neugier.

Die beiden schlendern vorsichtig in einen der engen Querwege und die Frau lächelt beruhigend.

»Sie sind zusammengeblieben. Zusammen im Feuerland.«

»Sie sind auf der Erde geblieben? Mit den Sallows? Aber die Sonne!«

Die Frau hält inne und auch Susan bleibt wie angewurzelt stehen. Vor ihnen liegt ein ordentlich gepflegtes Grab. Der Stein trägt nur einen Namen. Keine Nummer und auch keinen Nachnamen.

»Weißt du, Liebes. Die Menschen tun eine Menge Dinge aus Gier und weil sie Macht erlangen wollen. Darum ist diese Geschichte so wichtig und ich erzähle sie auch gerne immer von Neuem. Es hat Jahrhunderte gebraucht, bis die Menschheit sich selbst durch Hass, Kriege und dem Drang immer noch mehr zu besitzen und zu beherrschen, ins Aus manövriert hat. Und dann hat es noch mal 130 Jahre gebraucht, bis eine Handvoll Menschen es geschafft hat, diesen Zustand ein für alle mal zu ändern. Es werden immer Prinzipien wie Gerechtigkeit und Freiheit sein, die die Menschen Großes vollbringen lassen. Aber eine Sache … eine Sache ist noch viel mächtiger als Hass oder Mut. Diese Sache hat Nova dabei geholfen, ihre Entscheidung zu fällen.«

Die alte Dame balanciert vorsichtig über die flachen Steine, die einen kleinen Weg auf dem üppig bepflanzten Grab markieren und erreicht den großen Stein am Ende.

Beinahe zärtlich streicht sie über die Oberfläche und fegt ein paar verirrte Blätter fort.

»Liebe. Es ist die Liebe, die Menschen über sich hinauswachsen und Unvorstellbares leisten lässt. Das war immer so und wird auch immer so sein.«

Sie fährt den eingravierten Namen mit dem Finger nach. Jeden einzelnen der fünf Buchstaben nacheinander.

Mailo.

»Und du hast keine Ahnung, wie es den beiden ergangen ist? Glaubst du, die Sonne hat die Erde verschluckt? Meinst du, Nova und Joaquim leben noch?«

»Hallo mein Lieber«, flüstert Nume und lässt ihre Hand noch ein Weilchen auf dem Stein ruhen, bevor sie sich wieder zu Susan umdreht.

»Nein. Die Sonne hat die Erde noch nicht verschluckt, Herzchen. Das können wir von hier aus feststellen. Aber selbst wenn es auf der Erde inzwischen unerträglich ist, sind die beiden vermutlich längst von uns gegangen. So wie all die anderen«, sie deutet auf das Grab. »So wie Mailo. Und so wie Sawyer. Sie sind alt geworden und jeder muss einmal gehen. Dabei ist es egal, auf welchem Planeten man lebt.«

Susan ist ganz still geworden. Sie scheint über das Schicksal der beiden Helden nachzudenken.

»Na, dann komm mit. Ich bringe dich nach Hause. Es wird Zeit«, sagt Nume und hält der Kleinen ihre Hand hin.

Sie lassen die Gräber hinter sich und wandern auf die Siedlung zu. Die beiden Sonnen stehen bereits tief und aus den Häusern dringen die allabendlichen Geräusche. Lachende Kinder, Musik und schepperndes Geschirr. Ein verrückter Geruch, zusammengesetzt aus vielen verschiedenen Speisen, hängt in der Luft.

Als sie in Susans Straße einbiegen, hält diese Nume zurück und sagt: »Weißt du, was ich glaube?«

»Nein. Was denn?«, erwidert Nume mit ruhiger Stimme.

»Ich glaube, Nova und Joaquim hatten ein schönes Leben dort auf der Erde. Und ich glaube, sie sind sehr alt geworden. Bestimmt haben sie oft an euch gedacht und sich vorgestellt, wie Salgaia ist, aber ich bin ganz sicher, dass sie ihre Entscheidung nie bereut haben.«

Die Überzeugung, mit der das kleine Mädchen die Worte klar und deutlich ausspricht, lassen Nume schmunzeln. Sie ist T.J. doch ähnlicher, als es auf den ersten Blick erscheint.

»Ja. Das glaube ich auch. Nova und Joaquim sind ganz sicher glücklich geworden. Wir alle sind es.«

 

- Ende -