20. FREI


Es vergehen sechs Wochen, bis das neue Zeitalter tatsächlich anbricht.

Sechs Wochen, in denen ich Zeuge werde, wie die Welt sich ein für alle mal verändert, ihre alten Regeln und Lügen verbannt und ein fragiles, neues Gerüst aus Gesetzen und Ideen errichtet.

Für die meisten Menschen sind sechs Wochen eine lange Zeit. Gemessen an den jahrzehntelangen Bemühungen der Division ist es nur ein kurzer Moment. Ein Augenzwinkern.

Alles ist im Umbruch. Alte Konventionen werden über Bord geworfen und die unterschiedlichsten Menschen treffen aufeinander. Alles ist neu und aufregend und jeder Tag ist erfüllt von Erleichterung und gespannter Erwartung.

Es werden Treffen abgehalten, Vertreter gewählt, Entscheidungen getroffen und wieder verworfen. Es gibt Kundgebungen, der Info-Kanal sendet ununterbrochen. Berichte über Neuerungen, Abstimmungen und Pläne. Die Wahrheit schwappt über die HUBs im ganzen Land, als hätte jemand einen Eimer Wasser vom Durchmesser eines Planeten umgekippt. Die Division hat alle Hände voll zu tun, damit kein Chaos ausbricht und Tausende Gelbe und Blaue sich über das ganze Land verstreuen. Alle sind angehalten, sich vorerst in ihrem eigenen HUB aufzuhalten, von kleineren Ausflügen mal abgesehen. Und von diesen Ausflügen gibt es zahlreiche! Tausende Menschen machen sich auf den Weg zu den HUBs in ihrer unmittelbaren Umgebung. Nicht, weil sie dort jemanden kennen, sondern einfach, weil sie es erst dann glauben können, wenn sie es mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Andere Menschen haben überlebt. Es gibt mehr als nur einen HUB.

Was für mich seit zwei Jahren eine Tatsache ist, scheint für sie noch immer wie ein Märchen zu sein. Obwohl ich einmal in genau derselben Situation war, habe ich beinahe vergessen, wie es sich anfühlt, diese Wahrheit zu erkennen und vor allem auch zu begreifen.

Alles steht Kopf und trotzdem sind alle fröhlich. Jede Hürde wird genommen und jedes Problem gewissenhaft diskutiert. Unsere Welt wandelt sich und mitten drin verharre ich mit angehaltenem Atem, nicht ahnend, wie meine eigene unmittelbare Zukunft aussieht.

Die der restlichen Menschen kenne ich dafür umso besser.

Wie bereits unzählige Male zuvor, ist alles anders gekommen, als wir es uns ausgemalt haben. Wieder einmal hat das Schicksal seine eigene Richtung gewählt und wir schauen mit offenen Mündern zu.

Knapp zwei Wochen nachdem wir den Souverän und sein Gefolge ins Jenseits befördert haben, waren alle erforderlichen Informationen zu Anzahl und Beschaffenheit der verbliebenen Raumschiffe aufgedeckt. Die Zeit, all die Menschen auf ihre Umsiedlung vorzubereiten, war gekommen. Nur dass sie es miterleben und genießen könnten. Keine Geheimnisse mehr. Keine Lügen.

Und dann … kam wieder einmal alles anders.

Einen Tag vor der Ausstrahlung einer Sendung zum offiziellen Ablauf der Transporte über den Info-Kanal hatte jemand eine ziemlich verrückte Idee.

Und mit jemand meine ich mich.

Und verrückt war sie deshalb, weil ich sie einfach nur so leichthin ausgeplaudert hatte. Mitten in einer Sitzung des Forums und ohne groß darüber nachzudenken.

Rückblickend weiß ich nicht, wie ich darauf gekommen bin. Vielleicht weil Jo so gequält dreinschaute, als Sawyer uns die Zahlen der auf der Erde lebenden Gelben und Blauen vorbetete und welche Gruppen auf welche Schiffe verteilt werden sollten.

Oder vielleicht lag es auch daran, dass mir Sannah, Grimm und all die anderen Sallows nicht aus dem Kopf gehen wollten, obwohl ich sie kaum kenne, und niemand außer Jo nach dem Geschehen an den Werften noch Kontakt zu ihnen pflegte.

Möglicherweise lag es auch daran, dass ich jede noch so kleine Lösung für Jo und mein noch immer vorhandenes Problem in Betracht ziehen wollte.

Jedenfalls platzte ich, als Sawyer berichtete, dass es vereinzelt Menschen gäbe, die die Erde nicht verlassen wollten, mit meinem Vorschlag heraus: »Wieso veranstalten wir dann nicht eine Art Lotterie, an der auch die Sallows und die Grauen teilnehmen können?«

Ich hielt es einfach für Irrsinn, halbbesetzte Schiffe nach Salgaia zu schicken, wenn es doch genügend Menschen gab, die ebenfalls eine Chance auf ein neues Leben verdienten.

Der Satz war so unschuldig und spontan aus meinem Mund geronnen, als wäre es irgendeine banale Floskel. Nichts, worüber ich mir groß Gedanken gemacht hatte. Doch die Folgen waren enorm.

Wie gewöhnlich sorgte Numes verbissener Gerechtigkeitssinn für eine Ausweitung meiner These, bis hin zu einer endlosen Diskussion über die Folgen eines solchen Vorhabens.

Es war eine Überlegung wert, die Sallows miteinzubeziehen. Für jeden Insassen eines HUBs könnte ein Grauer nachrücken. Es wäre eine Option. Eine unausgegorene und unerwartete Option, aber es wäre eine. Allerdings könnte das Unterfangen auch zu Problemen führen. Was, wenn alle Sallows auf einmal nach Salgaia wollten? Das war definitiv nicht machbar, also wäre es ziemlich riskant, sie miteinzubeziehen.

Schlussendlich einigten wir uns darauf, dass Jo sich mit Alvo treffen und sich inoffiziell mit ihm beraten sollte. Einfach mal herausfinden, wie die Sallows zum Thema Salgaia standen. Nach wie vor hatten diese Menschen kaum eine Vorstellung von den HUBs und Blauen oder Gelben. Für sie waren wir alle gleich. Und auch wenn wir beim Angriff auf die Werften zusammen gehandelt hatten, verband uns doch nichts miteinander.

Das Ergebnis der Unterredung zwischen Jo und Alvo war überraschend und fügte sich bizarr exakt in die weitere Planung der Umsiedlung.

Alvo ließ tagelang Abstimmungen in allen Dörfern abhalten und trug die Ergebnisse gewissenhaft zusammen, um sie dann an Jo weiterzugeben. Dieser kehrte zurück zur Division und verkündete das Resultat. Dabei haftete ein breites Grinsen auf seinem Gesicht, das auch am nächsten Tag und am Tag darauf nicht verschwinden wollte.

Die Sallows und auch die inzwischen wieder mit ihnen vereinten Grauen wollten größtenteils auf der Erde bleiben. Ich hatte so was vermutet. Diese Menschen waren viel enger mit dem Planeten verbunden als wir. Aber sie waren sich allesamt einig, dass diese Entscheidung nur die Älteren unter ihnen betreffen dürfe. Jedes Kind unter siebzehn Jahren und jeder, der sich dazu entschließen sollte, die Reise zur rettenden Erde anzutreten, würde gehen. Sollte es zu einer Auslosung kommen, würden die Jüngeren natürlich bevorzugt werden.

Von außen betrachtet, erschien diese Neuigkeit ein wenig grausam. Es würden Tausende Familien entzweit werden. Eltern müssten ihre Kinder in fremde Obhut geben und sie Lichtjahre durch das Universum schicken. Aber sie ermöglichten ihnen damit eine Zukunft. Eine Aussicht auf ein neues Leben, in einer anderen Welt. An einem Ort, wo es Nahrung, Möglichkeiten und eine Lebensqualität gäbe, wie keiner der Sallows oder sogar der Blauen sie je kennengelernt hatte. Es war eine durchdachte und richtige Entscheidung.

Und sie deckte sich beinahe haargenau mit den technischen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung standen.

Es wurden neue Pläne geschmiedet, Abmachungen und Pakte getroffen. Meine ursprünglich im Streit dahingesagten Worte, man könne ja einfach noch mehr Schiffe bauen, wurden plötzlich zu einer brauchbaren Möglichkeit. Natürlich mussten die Grauen dazu wieder zurück in die Werften. Doch dieses Mal taten sie es freiwillig. Und sie hatten Hilfe. Blaue, Gelbe, Graue und Sallows arbeiteten gemeinsam eine Strategie aus, wie man innerhalb der nächsten zwei Jahre die überraschend überschaubare Anzahl an fehlenden Schiffen bauen könnte, um allen Menschen, die die Umsiedlung mitmachen wollten, eine Reise zu ermöglichen. Natürlich ging diese unvorhergesehene Rechnung nur auf, weil sich so viele der HUB-Bewohner und Sallows dazu entschlossen, hierzubleiben. Eine Lotterie war gar nicht mehr nötig und in spätestens 26 Monaten würden die letzten Menschen nach Salgaia aufbrechen. Danach gäbe es auf der Erde nur noch den kümmerlichen Rest einer Zivilisation, die schon vor über einem Jahrhundert das Handtuch geworfen hatte, und eine neue Gemeinschaft von Menschen, die auf dem neuen Planeten eine Heimat finden würden.

Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, zusammen mit Jo zwischen der Division und den Sallows zu vermitteln und wie immer, wenn viel zu tun und zu entscheiden war, blendete ich alles andere aus und konzentrierte mich ganz auf meinen Anteil am Geschehen.

Ich unternahm Spähertrips mit Jo und Jackson, besuchte andere HUBs, brachte Menschen von A nach B oder fuhr mit Sawyer zu den Werften.

Die ersten, freien Wahlen standen an und niemanden überraschte es, dass unser Sawyer, mit seinem Bezier-Blut in den Adern und den wertvollen Erfahrungen als Anführer der Division, der erste Vertreter dieser neuen Regierung wurde. Es wurde ein altes Wort ausgegraben, weil keiner einen weiteren Souverän haben wollte.

Sawyer wurde also ein Präsident.

Allerdings behielten sich die neuen Mitglieder des großen Rats vor, die Wahlen auf Salgaia erneut zur Abstimmung zu stellen, da der Großteil der Gelben bereits unter der vorigen Regierung dorthin transportiert wurde.

Überhaupt war dieser Teil der Reise heikel, da niemand genau abschätzen konnte, wie der Empfang vor Ort ausfallen würde. Wir hatten keine Möglichkeit, mit den anderen Schiffen oder gar mit Salgaia direkt Kontakt aufzunehmen und so bereiteten sich die ehemaligen Mitglieder der Division und neuen "Soldaten" dieses noch völlig unerprobten Systems auf das Schlimmste vor.

Es wurden Notfallpläne geschmiedet und auf jedem Schiff, das die Erde verließ, waren immer mindestens ein Viertel der Passagiere Soldaten und je zwei Mitglieder des neuen Rats an Bord.

Keiner ging von ernsthaftem Widerstand aus, zumal die Führungsriege ja niemals auf Salgaia angekommen war, aber eine größere Auseinandersetzung auf der rettenden Erde sollte unbedingt vermieden werden.

 

Und dann kam der Tag, an dem Nume, Mailo und all meine anderen Freunde ihre Zuteilung erhielten. Plötzlich gab es da ein Dokument, gut lesbar und erstaunlich emotionslos formuliert. Als wäre es schon immer der Plan gewesen, dabei hätten wir ein solches Dokument niemals erhalten, wären wir in HUB 1 geblieben. Die Ziffern und Anweisungen prangten dort schwarz auf weiß.

Das war vor zwei Tagen.

Und nun sitze ich da. Ich starre auf mein mobiles Terminal und versuche die Worte einzuordnen, die dort stehen.

Meine eigene Zuteilung.

Das Ziel unserer Bemühungen. Endlich zum Greifen nahe.

Aber ich fühle keine Erleichterung. Keine Freude.

Hätten sie mir ein Dokument geschickt, dass mich wieder in einen gelben HUB verbannen und für immer einkerkern würde, es wäre dasselbe Gefühl.

Was soll ich nur tun?

Ich muss schon ewig hier sitzen, denn die Ränder des Terminals haben Abdrücke in meinen Handflächen hinterlassen. Als ich mir frustriert an die Stirn fasse, entdecke ich sie. Es ist alles so verdammt beängstigend! Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Der Display neben meiner Tür gibt einen leisen Ton von sich und das rote Licht daneben flackert leicht.

Ein ungutes Gefühl hangelt sich durch meine Eingeweide, als ich mich vorsichtig vom Bett hochklaube und die paar Schritte zum Eingang schleiche. Ich bete, dass es Nume ist.

Es ist Jo. Natürlich.

Ich überlege ernsthaft, den Anruf nicht entgegenzunehmen, wundere mich aber sogleich über mein unsinniges Verhalten. Als könnte ich vor dieser Unterhaltung weglaufen!

Ich lege meinen Daumen auf den Sensor und atme tief durch.

Sein Gesicht erscheint vor mir und ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, weiß ich, was geschehen ist.

»Hi«, sage ich so lässig wie möglich.

»Hey. Ähm …«, meint er und sein Blick schweift unsicher umher, »ich habe meine Zuteilung erhalten.«

»Ich auch«, gebe ich ehrlich zurück.

Dann ein kurzes Schweigen.

»Alles in Ordnung?«, frage ich, einfach, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

»Und bei dir?«, erhalte ich prompt die Gegenfrage.

Ich zucke mit den Schultern und lächele halbherzig.

»Ich wollte einen Fensterplatz, aber das hat wohl nicht geklappt. Beim nächsten Mal buche ich woanders.«

Meine Worte sollen scherzhaft klingen, aber das geht nach hinten los.

»Sollen wir uns treffen?«, lautet die wenig amüsierte Antwort.

»O. k.«

 

Eine halbe Stunde später bin ich da, wo Jo und ich schon immer alle wichtigen Dinge besprochen haben. Zu meinem Unbehagen sind es in letzter Zeit leider zunehmend unerfreuliche Themen. Vorbei sind die romantischen Stunden unter der Nachtsonne.

Ich bin allein. Er muss irgendwo aufgehalten worden sein. Das passiert ständig.

Die Leute im CutOut feiern Jo, als wäre er ein Held aus einer der alten Sagen. Wie das fleischgewordene Äquivalent des kleinen Mannes, der sich in dem Buch, das unsere Vorväter "Bibel" nannten, dem großen Ungetüm stellt und es besiegt. Seine mutige Idee, unseren Drift gegen das manövrierende Raumschiff einzusetzen, hat schneller die Runde gemacht, als es eine Sendung auf dem Info-Kanal getan hätte.

Seither schafft es Jo im CutOut kaum zwei Meter weit, ohne angehalten und ausgefragt zu werden. Er tut so, als würde es ihn nerven, aber ich sehe, dass er es nur zu gern über sich ergehen lässt. Gut so. Ohne seinen unglaublich waghalsigen Einfall wäre alles anders gekommen.

Ich scharre mit der Spitze meines Stiefels im Sand. Die Sonne geht bereits unter und mein Körper wirft einen langen Schatten. Obwohl es bei der Hitze unangenehm ist, öffne ich meine Haare und stecke das elastische Haarband in meine Tasche. Sofort kriecht die Wärme in meinen Nacken, aber, wenn ich mich im richtigen Winkel hinstelle, flattern meine Haare im Wind und dieses Gefühl liebe ich.

Ich schließe die Augen und erlaube der Sonne, mir ohne schützende Brille ins Gesicht zu scheinen.

Wieder einmal frage ich mich, ob ich wirklich zu den Menschen gehöre, die vor diesem glühenden Etwas fliehen wollen. Oder bin ich so wie die alten Sallows? Die lieber den Rest ihres Lebens auf ihrem Heimatplaneten verbringen wollen, als irgendwo im All einen Neuanfang zu starten?

Welcher Typ Mensch bin ich?

Diese Frage habe ich mir in den letzten sechs Wochen und auch schon davor immer und immer wieder gestellt.

Ich finde keine Antwort.

Dabei habe ich Übung in schwierigen Entscheidungen. Als die Frage lautete Flucht, ja oder nein? War die Antwort: ja. Sich der Division anschließen? Ja. Meine Freunde aus den Fängen der Soldaten befreien, auch wenn es mich mein Leben kosten könnte? Ja.

Wieso ist es bloß so unglaublich schwer, eine Antwort auf die wichtigste Frage zu finden? DIE Frage aller Fragen.

Salgaia, ja oder nein?

Weil diese Fragestellung noch eine andere impliziert.

Joaquim …, ja oder nein?

Ein Geräusch hinter mir reißt mich aus meinen Gedanken.

Jo schlendert mit kurzen, unsicheren Schritten auf mich zu. Er muss absichtlich laut gewesen sein. Normalerweise bemerke ich ihn erst, wenn er direkt neben mir steht.

»Na du?«, sage ich und setze eine übertrieben fröhliche Miene auf. Wieso versuche ich verzweifelt gute Laune zu heucheln? Das bringt uns auch nicht weiter!

Er erwidert nichts, nickt mir bloß verhalten zu und bleibt erst ganz kurz vor mir stehen.

Ohne Umschweife und immer noch schweigend hebt er die Hand und schiebt sie seitlich an meinem Ohr vorbei an meinen Nacken. Diese Geste ist mir so vertraut wie kaum etwas zwischen uns. Und wie kaum etwas werde ich sie vermissen.

Wir blicken uns lange an.

Aus dem Augenwinkel sehe ich ein altes Stück Kunststofffolie im Wind flattern. Es war vielleicht einmal eine Markise oder irgendeine bunte Plane. Jetzt ist es eine graue Fahne, die mit ihren ausgefransten Ausläufern ein leise knatterndes Geräusch verursacht und genauso zum typischen Feuerland-Stillleben gehört wie die vereinzelten Autowracks und die undefinierbaren Schutthaufen um uns herum.

»Wollen wir uns setzen?«, frage ich Jo nach einer Weile.

»Sicher.«

Wir schlendern zu unserem Lieblingsplatz und lassen uns nieder.

»Ich hab etwas für dich«, meint Jo und kramt in seiner Hemdtasche herum.

Der Gegenstand ist klein und unter den letzten Sonnenstrahlen blinkt etwas auf, als er ihn auf seiner flachen Hand platziert.

»Was ist das?«, frage ich neugierig und erleichtert, dass unsere Unterhaltung noch ein paar Minuten vertagt scheint.

»Ein Medaillon«, sagt er und fügt schnell hinzu: »Schmuck.«

»Schmuck?«, frage ich mit großen Augen.

Er rückt ein Stückchen näher an mich heran und lässt mich einen genaueren Blick auf das kleine Etwas werfen. Sein Duft kitzelt in meiner Nase und lässt mir die Knie weich werden.

Der kleine Gegenstand ist glänzend Silber, wie Stahl, nur schöner. Älter.

Ein kleines Oval, verziert mit einem filigranen Muster. Erst beim zweiten Hinsehen bemerke ich, dass es die Buchstaben J und N sind, nur ineinanderverschlungen und ganz verschnörkelt.

»Wie hast du …?«, frage ich und strecke vorsichtig meine Hand aus. Ich wage es kaum, das Geschenk zu berühren. So als hätte ich Angst, es zu beschädigen.

»Ich habe es schon sehr lange«, er macht eine wegwerfende Handbewegung, weil ihm der Vergleich in Anbetracht des offensichtlichen Alters des Gegenstands scheinbar idiotisch vorkommt. »Nun ja, ziemlich lange jedenfalls. Es stammt aus der Stadt. Pete hat es graviert.«

Plötzlich ist die Stille gebrochen und Jo kommt richtig in Fahrt. Er redet immer weiter, als hätte dieser kleine Gegenstand einen zarten Spalt in die unsichtbare Mauer zwischen uns gerissen.

»Weißt du noch, damals? Als ich euch gefunden habe und wir zum Einkaufszentrum gegangen sind, um dort zu übernachten?«

»Natürlich«, sage ich schnell, aber es war keine ernst gemeinte Frage von ihm. Es ist Teil seiner Erzählung. Nur ein formales Nachhaken.

»Ich habe das Medaillon dort gefunden. Vor einem der Geschäfte, ganz kurz bevor du gestolpert bist«, er hält kurz inne. »Ich wollte es Sannah mitbringen, sie liebt die Dinge aus der alten Zeit, aber dann ist so viel geschehen und alles hat sich verändert.«

Er sieht mich an, als wäre ich aus Butter und könnte jeden Moment zerfließen.

»DU hast mich verändert.«

Ich stelle mir Sannah vor und befinde, dass der Anhänger ihr tatsächlich sehr gut stehen würde. Aber Jo hat sich dazu entschlossen, ihn mir zu schenken.

Mir war vorher schon warm, aber jetzt steigt mir glühende Hitze ins Gesicht. Würde ich den Unterschied nicht kennen, könnte man es für einen Hitzepeak halten, aber ich weiß, dass es nur meine eigene Unsicherheit ist. Wie Jo mich ansieht … das lässt mein Herz unregelmäßiger schlagen und macht das Atmen zur Qual. Ich lausche nur noch auf seine Stimme. Den Rest der Welt blende ich aus.

Nur zu gut erinnere ich mich an unseren Gang durch die Stadt. Er hatte sich immer wieder gebückt und irgendwelche Sachen vom Boden aufgehoben, nur um sie dann wieder fortzuwerfen.

Eines hat er anscheinend mitgenommen.

»Ich hatte es die ganze Zeit, aber irgendwie ist so viel geschehen, so viel Chaos, unsere Botschaft und dann unser Streit und die Sallows, Central, der Souverän …«

»Ja«, sage ich und lächele, »es war viel los, seit wir uns über den Weg gelaufen sind«, ich halte inne und wähle die Worte mit Bedacht. »Jo, weißt du, ich habe mich oft gefragt, ob du es je bereut hast, uns mitgenommen zu haben. Ich meine … für dich hat sich danach so vieles verändert und du hättest uns schließlich nicht helfen müssen.«

Ich wage es kaum, ihm nach dieser Frage in die Augen zu sehen. Zu groß ist die Angst, er könnte ertappt zu Boden blicken, doch er starrt mich nur ausdruckslos an.

Einen unangenehm langen Moment sagt keiner von uns ein Wort, bis er ein keuchendes Lachen ausstößt.

»Das hast du dich gefragt? Wirklich?«

Er fährt sich mit der Hand über das Gesicht und dann durch die Haare. Immer wieder lacht er kurz auf und schüttelt dann den Kopf, als könne er es nicht fassen. Hat er wirklich gedacht, dass ich seine Hilfe die ganze Zeit über als selbstverständlich angesehen habe?

»Nova! Wenn es etwas gibt, das ich wirklich überhaupt nicht bereue, dann das! Bist du denn völlig verrückt, so etwas von mir zu denken? Und dann auch noch all die Zeit über. Warum hast du nie einen Ton gesagt?«

Ich lächele verhalten und spiele unsicher mit den Fingern an den aufgesetzten Taschen meiner Hose herum.

»Ich dachte sogar eine Zeit lang, du würdest zurück in deinen alten HUB gehen oder einfach im Feuerland leben wollen.«

Seine Augen sind jetzt so weit aufgerissen, dass ich fürchte, er schafft es nie wieder, sie zu schließen. Doch dann wird seine Miene ernst und er legt eine Hand auf meine, in der anderen noch immer sein kostbares Geschenk. Ein Schaudern durchfährt mich.

Ihm ist das Lachen vergangen. Dafür scheint er jetzt nach den richtigen Worten zu suchen.

»Nichts, was ich jemals getan habe oder je tun werde, war so wichtig, wie euch damals zu helfen.« Er senkt den Blick. »Zugegeben. Ich fand es zunächst nur lustig. Spannend irgendwie. Da waren plötzlich diese vier Gelben, die nicht wussten, was Diesel ist, und mir tausend Fragen gestellt haben. Ich fand es aufregend und ein wenig abenteuerlich. Aber dann … ich meine, als wir uns besser kennengelernt haben, da fühlte es sich bloß noch richtig an. Richtig und gut.«

Er lässt meine Hand los und kratzt sich am Kinn.

»Unglaublich«, sagt er noch einmal leise und schüttelt erneut den Kopf.

Seine Reaktion auf meine freundliche Anschuldigung zeigt mir nur allzu deutlich, wie ehrlich er es meint. Ich bin unsagbar erleichtert und auch ein wenig beschämt, weil ich ihn mit meinen düsteren Gedanken konfrontiert habe.

Jo macht eine wegwerfende Handbewegung und widmet sich wieder dem kleinen Anhänger in meiner Hand.

»Mach es auf!«, sagt er und lächelt dabei geheimnisvoll.

Ich zögere kurz. Ganz langsam greife ich nach dem Medaillon und eine kurze Kette gleitet über meinen Handrücken. Das Material fühlt sich glatt und seltsam an. Ungewohnt.

»Wie …?«, frage ich unsicher und er zeigt mir eine kleine, kaum sichtbare Rille, in die ich meinen Fingernagel hineindrücken und den Anhänger aufspringen lassen kann.

Es fühlt sich an, als würden meine Augen mir aus dem Kopf fallen, so erstaunt bin ich über den Inhalt seines Geschenks.

»Das … wie?«, mein Blick wechselt hektisch zwischen dem Medaillon und Jo, der sichtbar zufrieden lächelt und den Moment genießt. »Wie hast du das geschafft?«

In meinen Händen halte ich den offenen Anhänger und in ihm … befindet sich ein Bild, eine Momentaufnahme von Jo und mir. Als hätte jemand einen winzigen Pinsel genommen und uns hineingemalt. Aber bei genauerer Betrachtung erkenne ich, dass das Bild auf andere Weise entstanden und in das Medaillon gelangt ist.

»Marzellus«, sagt Jo leise. Sein Lächeln wird etwas schmaler. »Er hat mir dabei geholfen.«

Er verlagert sein Gewicht leicht und stützt sich auf einem Arm ab.

»Früher gab es das oft, dass Menschen Fotos von ihren Liebsten bei sich trugen«, erklärt er fasziniert.

»Fotos?«

»Ja. Fotografien. Bilder«, umschreibt er und sieht mich glücklich an. »Marzellus ist … war eben ein Genie. Er hat solch ein Foto von uns gemacht. Mit einer alten Kamera, die auf eine extrem instabil wirkende Speicherkarte schrieb und überhaupt ziemlich funktionsuntüchtig wirkte.«

»Aber Bilder sind verboten!«, sage ich, obwohl der Einwand völlig hirnrissig ist. Wenn Marzellus und Jo sich bereits kannten, als das Foto entstanden ist, waren wir längst Teil der Division und kannten keine Verbote mehr. »Aber wieso habe ich das nicht bemerkt?«, frage ich schnell.

Er zuckt mit den Schultern.

»Ich glaube, das ist ganz normal. Wenn man nicht weiß, dass man fotografiert wird, kriegt man es nicht mit. Und so ist es ja auch viel schöner, nicht wahr?«

Er sieht mich erwartungsvoll an und plötzlich wird mir klar, dass ich mein Abschiedsgeschenk in den Händen halte. Eine Möglichkeit, Jo immer bei mir zu haben, weil uns Lichtjahre trennen werden.

Beinahe hätte ich es angewidert von mir geworfen, doch ich kann mich gerade noch zurückhalten. Dafür muss Jo mein Mienenspiel bemerkt haben.

»Gefällt es dir nicht?«

Ich weiß nicht, was ich erwidern soll, also spare ich mir die Worte und lehne mich zu ihm herüber.

Der Kuss ist unschuldig, beinahe ein bisschen unbeholfen. Es fühlt sich ein wenig so an wie damals, als wir das erste Mal zusammen hier gesessen haben.

Vor meinem inneren Auge läuft eine Endlosschleife meiner eigenen, mentalen Fotografien ab.

Joaquim. In der Hand einen Apfel macht er sich über Jakob und Marzellus lustig, weil sie ihn mit einer Waffe bedrohen und wir uns in der alten Stadt verlaufen haben.

Das Kleid, aus dem wunderbar hauchfeinen Material, welches Joaquim die Sprache verschlägt und dessen Rock er in schwindelerregender Höhe zum Flattern bringt, während unter uns 2000 Blaue ein Fest feiern.

Acht Soldaten, die mich und Nume bedrohen und von Jo in Schach gehalten werden.

Jo, der mit gefesselten Händen auf der Ladefläche eines Trucks steht und mich ansieht.

Sein Blick. Dieser Blick, der mir in jeder brenzligen Situation immer Hoffnung und Kraft geschenkt hat. Egal wie schlecht es um ihn stand, er dachte immer bloß an mich und mein Schicksal.

Ich presse meine Stirn gegen seine und atme unregelmäßig ein und aus.

»Deine Zuteilung …«, beginne ich leise, »ich nehme an, da wird sich ein weiterer Sallow über seinen Platz im Raumschiff freuen, richtig?«

Ich sage es im Scherz. Natürlich besteht keine Notwendigkeit für Jo, seinen Platz herzugeben, nur damit einer der Grauen mit nach Salgaia kann. Es werden weitere Schiffe gebaut und als Teil der jüngeren Generation hätten Jo und ich ohnehin ein Vorrecht auf unsere Mitfahrgelegenheit. Allerdings bin ich mir sicher, dass ihm die Vorstellung, einem Sallow die Reise zu ermöglichen, gefallen würde.

Obwohl ich weiß, dass sich für Jo nichts geändert hat, dass er noch immer auf der Erde bleiben will, muss ich es aus seinem Mund hören. Ein allerletztes Mal.

Eine Träne läuft mir über die Wange, als er seinen Kopf ein Stück zurücknimmt und mir in die Augen sieht.

»Ja.«

Ich lache merkwürdig heiser auf und zwinkere weitere Tränen weg, weil ich Jo nicht verschwommen sehen will.

»Das dachte ich mir«, sage ich mit zitternder Stimme.

Da sitzen wir nun. Zwei Menschen, die in den letzten zwei Jahren alles dafür getan haben, damit die Bewohner dieses todgeweihten Planeten in eine bessere Welt aufbrechen können, und ausgerechnet dieses Unterfangen ist zu unserem Dilemma geworden.

Die Sonne ist jetzt nur noch ein magisches Glühen am Horizont. Der Himmel hat sich verändert. Anstelle von Orange und Beige vermengen sich Rot und Violett miteinander und tunken alles in ein unwirkliches Licht.

Ich fingere ungeschickt an dem Verschluss der Kette herum, bis Jo sie mir abnimmt, um sie mir um den Hals zu legen. Dann betrachtet er das Ergebnis. Um seinen Mund herum sehe ich einen ernsten Zug, aber seine Augen lächeln.

Wieder erscheinen blitzartig Bilder vor mir. All die Erlebnisse, die gemeinsamen Momente und Versprechungen.

Wie in einem dicken Buch blättert mein Verstand durch die bunten Seiten und macht eine Bestandsaufnahme.

Und dann bleibe ich an einer Erinnerung hängen.

Jo und ich liegen auf einer felsigen Insel, mitten in einem See im Niemandsland. Nass und müde halten wir uns in den Armen und schauen in den Himmel.

Zwei Menschen im Feuerland.

Glücklich.

»Wann startet dein Schiff?«, fragt Jo und das Bild löst sich vor meinen Augen in Rauch auf. »Ich meine, was stand in der Benachrichtigung?«

Es scheint ihm alles abzuverlangen, die Worte an einem Stück herauszubringen. Ich merke sofort, dass er nur versucht, gefasst zu wirken, um mich nicht noch mehr zu verunsichern.

Das Bild vom See mag verschwunden sein, aber es hinterlässt ein Gefühl in mir. Tief in meinem Herzen verankert, wird es mich immer begleiten. Mein Leben lang, bis ich sterbe.

Das Gefühl absoluten Glücks, hervorgerufen durch nur einen Menschen.

Und da bekomme ich endlich meine Antwort auf die eine, elementare Frage. Und mit ihr die plötzliche Offenbarung, dass Maja sie vor mir gekannt hat.

Oben, über den Lagern voller kämpfender Sallows und Soldaten, hatte sie mich bereits durchschaut, aber erst jetzt kann ich ihren irritierten Blick deuten.

»In zwei Wochen«, sage ich.

»Oh«, meint Jo immer noch beherrscht, aber ich kann sehen, dass der kurze Zeitraum ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt.

»Jo?«, frage ich und umfasse seine Hand mit zitternden Fingern.

Er öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch seine Stimme bricht und er nickt bloß kurz.

In seinen Augen sehe ich wilde Panik, obwohl er seine Gefühle so vehement vor mir zu verstecken versucht.

»Meinst du, wir finden noch einen Sallow, der gerne nach Salgaia möchte?«