PROLOG


Leicht angewidert starrte Alois Bezier sein Spiegelbild an. Seit einigen Wochen tat er dies jeden Abend. Eine neue und beunruhigende Angewohnheit, die weniger mit Eitelkeit, als mit nackter Angst zu tun hatte.

Alles hatte mit dem grauen Haar begonnen. Es war plötzlich aufgetaucht. Über Nacht. Ohne Vorwarnung. Dabei sollte man meinen, Alter wäre spürbar. So wie Magenscherzen oder Pickel. Man müsste es doch bemerken, wenn man welkt?

Aber so war es nicht.

Das graue Haar erschien auf der Bildfläche und mit ihm die Erkenntnis, dass die Zeit lief. Dieses Gefühl war neu. Diese Angst, nicht alles erledigen zu können, nicht lang genug zu leben, um alles unter Dach und Fach zu bringen.

Der Typ im Spiegel wirkte gehässig, beinahe schadenfroh. Als würde er sagen: Selbst schuld! Den Mist hast du dir ganz alleine eingebrockt, Kumpel.

Alois Bezier wollte sich abwenden, aber so einfach war das gar nicht. Er steckte schon zu tief drin. Und dieser Mistkerl hatte recht. Er war selbst schuld daran.

Um seinem hinterlistigen Alter Ego nicht länger in die Augen blicken zu müssen, begann er damit, seine Falten zu zählen. Wenn auch frustrierend, so war diese Tätigkeit zumindest weniger beängstigend, als sich weiter regungslos, wie ein Geisteskranker, anzustarren. Bei Falte sechzehn hielt er inne und stöhnte leise auf. Was tat er hier eigentlich? Was war nur aus ihm geworden? Waren er und der Mann im Spiegel überhaupt noch eins? Ein und dieselbe Person? Waren sie noch ein Team?

Plötzlich sehnte er sich nach der unbekümmerten Zeit, welche - gefühlt - noch gar nicht so lang zurücklag.

Eine Zeit, in der er Jachten gechartert und vollbusige Unterwäsche-Models verführt oder schlicht gekauft hatte. Eine Zeit, in der ein Bungee-Jump für ihn die größte Herausforderung und sein Leben unendlich schienen. Wo waren sie hin, diese unbekümmerten Tage? Was war geschehen, dass er hier und heute mit Mitte vierzig vor dem Spiegel stand und versuchte in seine Seele zu blicken?

Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Wie es den Unterwäsche-Models wohl ging? Wo waren sie jetzt? Gab es noch einen Markt für frivole Unterwäsche? Wohl eher nicht.

Wieder dieser Blick aus dem Spiegel. Es reichte!

Genervt drehte er sich um und ging entschlossen in sein Schlafzimmer hinüber. In Panik zu verfallen war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Es waren Entscheidungen zu treffen. Wichtige Entscheidungen. Abartig, endgültige Entscheidungen. Die Leute verließen sich auf ihn. Und selbst wenn nicht. Er hatte seinen Weg gewählt und jetzt gab es kein Zurück mehr. Sollte der Kerl im Spiegel sich doch weiter über ihn lustig machen. Für so was hatte er keine Zeit.

Wie, um sich zu beweisen, dass er noch sportlich und agil war, machte er einen gewagten Satz und ließ sich auf das große Bett fallen. Dann griff er nach der Aktenmappe und schlug sie auf.

Er blätterte eine Weile darin herum. Alle paar Seiten nickte er wohlwollend, zufrieden darüber, dass man seine Anweisungen so artig in die Tat umsetzte. Doch dann stutzte er. Was war das? Animierte Wände? Wer hatte sich denn diesen Schwachsinn ausgedacht? Das sollten Human Rescue Brigs werden und keine Vergnügungsparks!

Er untersuchte die Signatur. Eine Frau namens Jenna hatte die Entwürfe gemacht.

Typisch. Frauen!

Er grunzte belustigt und nahm sich vor, sie morgen feuern zu lassen. Bob sollte das für ihn erledigen. Der war besser in so was.

Auf den nächsten Seiten folgten Skizzen. Er blätterte entnervt weiter, versuchte das Ende des lächerlichen Abschnitts zu finden, doch je mehr Abbildungen durch seine Finger glitten, desto langsamer wurden seine Bewegungen. Die Frau hatte ohne Frage Talent. Das war nicht zu leugnen. Er ertappte sich bei einem Lächeln, als er die Zeichnung einer idyllisch wirkenden Insel aufschlug. Vielleicht … Na ja, vielleicht war die Idee gar nicht so abwegig. Es könnte der Sache dienlich sein.

Jenna … Hatte er sie schon mal gesehen? In letzter Zeit kamen mehr und mehr Leute dazu. Seit die Regierung ihre Finger im Spiel hatte, war alles total aus dem Ruder gelaufen. Er hatte es aufgegeben, sich die Namen der einzelnen Mitarbeiter zu merken. Anfangs, weil es einfach zu viele wurden, später aus Selbstschutz. Wozu sich mit Menschen anfreunden, mit ihnen reden und mehr über ihren Hintergrund in Erfahrung bringen, wenn sie doch alle schon tot waren?

Gut, nicht alle waren so mies dran. Aber die meisten. Es war besser so. Sollte Bob oder sonst wer sich um das Betriebsklima kümmern. Er würde hübsch Abstand halten. Sein eigenes Ding durchziehen. Er musste ohnehin den Kopf frei haben. Dieses ganze zwischenmenschliche Getue wurde sowieso total überbewertet und störte nur.

Zufrieden über seine Einschätzung der Lage goss er sich einen Single Malt ein, der so alt war, dass die Zweifingerbreit im Glas sicher mehr kosteten, als ein in die Jahre gekommener Minivan.

Früher hatte er die goldene Flüssigkeit erst noch ein wenig hin und her geschwenkt, ihre öligen Eigenschaften bewundert, sich über Eichenfässer und Aromen Gedanken gemacht. Er war im Geiste über die wilde Küste der schottischen Insel Skye geflogen, hatte an Rob Roy und familienbetriebene Destillen gedacht.

Jetzt stürzte er das Zeug einfach schnell herunter und ließ das Glas zurück auf seinen Nachttisch gleiten.

Nichts war mehr von Bedeutung. Keine Jachten, keine Models und auch nicht der vierundsechziger Bowmore, ob nun ölig oder nicht. Die einzige Sache, das Einzige, was wirklich noch etwas zu bedeuten hatte, waren die HUBs. Seine HUBs. Seine Bestimmung in dieser Welt.

Er hievte sich vom Bett hoch und trat an die große Fensterfront.

Whiskey war eine Sache. Er konnte gut ohne ihn leben. Genauso wie er ohne schnelle Autos, Swimmingpools und Schokoriegel auskommen konnte. Was ihm allerdings wirklich fehlen, ja was er geradezu schmerzhaft vermissen würde, war der Himmel.

Sein Gesicht war jetzt so nah an der Scheibe, dass sein Atem den Bereich vor seiner Nase milchig werden ließ. Durch den weichgezeichneten Fleck konnte er die Sonne sehen. Eben im Begriff unterzugehen, sendete sie ihre letzten, warmen Strahlen.

Dieses Miststück.

Er hauchte gegen das Glas, dieses Mal mit Absicht und begann damit, die Sonne mit dem Finger nachzuzeichnen. Eine kleine Kugel und dann ein paar dünne Striche ringsherum. Die feuchte Zeichnung sah nun beinahe so aus wie das unschöne Muttermal an seiner rechten Hand. Rundlich, mit ein paar filigranen Ausläufern darum. Er wollte es schon tausend Mal entfernen lassen, aber jetzt war das auch egal. Ziemlich viel Dinge waren ihm gleichgültig geworden in letzter Zeit.

Die transparente Sonne verschwand jetzt vor seinen Augen. Ein vergängliches Kunstwerk. Dafür erschien ihr Vorbild wieder am Horizont hinter der Scheibe. Auch wenn dieser lodernde Ball sein Erzfeind war, so würde er das Licht vermissen. Das Licht und die Wärme. Nicht diese Hitze, von der die Wissenschaftler in den Talkshows immer sprachen, sondern das sanfte, warme Streicheln des Windes. So eines, wie man es im Gesicht spürt, wenn man im Park unter Bäumen hindurchgeht und alle paar Meter treffen einen die Strahlen durch das Blattwerk. Diese Wärme würde er vermissen.

Manchmal redete er sich ein, dass es ja nicht endgültig wäre. Sicher, er müsste wie all die anderen, auserkorenen Mitglieder seines Teams in den HUB. Aber wenn erst mal das Schlimmste vorüber wäre, könnte man sich ja mal wieder draußen blicken lassen. Dieser kleinen Notlüge bediente er sich immer häufiger, seitdem der große Tag näher und näher rückte. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es Bockmist war. Ungefähr so, als redete man sich ein, eine Wurzelbehandlung unter Betäubung wäre gar nicht so schlimm. Man wusste die ganze Zeit über, dass es nicht stimmt. Spätestens, wenn der Zahnarzt einem den ersten Span aus thermoplastischem Guttapercha in den Kiefer rammte, wusste man es. Trotzdem log man sich die Sache schön, einfach um weniger Angst davor zu haben.

Mit seinem Einzug in den HUB verhielt es sich genauso.

Die erste Phase würde die schrecklichste sein. Sie würden hinuntergehen, in diesen Käfig, den sie sich gebaut hatten, und ihn abriegeln. Es würde nicht lange dauern, bis der Rest der Welt es endlich geschnallt hätte. Die Menschen würden kommen. In Scharen. Unzählige. Und sie würden alles dafür tun, um in einen der HUBs zu gelangen.

Die Prognosen fielen unterschiedlich aus. Einige im Team glaubten, es würde nur ein paar Monate dauern, bis die Menschen aufgeben und sich an andere Orte zurückziehen würden. Doch auch das war nur lauwarmes Gerede. Eine weitere Art, sich die Sache schönzureden. Sie alle wussten, wie es tatsächlich ablaufen würde. Und er wusste es erst recht.

Jahre. Es würden Jahre in Land gehen, bis die Sache ausgestanden wäre. Vielleicht Jahrzehnte. So schnell starben Menschen nicht. Und aufgeben würden sie ebenfalls nicht.

Alois Bezier wusste: Wenn er in einen HUB ginge, wäre es für immer. Ein Danach würde es für ihn nicht mehr geben. Er würde es nicht mehr erleben. Dafür vielleicht die Menschen, die nach ihm kamen. Die neuen Menschen. Unschuldig, behütet, in Sicherheit.

Sein Kommunikator gab einen leisen Ton von sich. Er mochte dieses kleine Spielzeug. Es handelte sich um einen Prototypen, funktionierte aber tadellos.

Er drehte dem Fenster und dem Miststück den Rücken zu und griff nach dem kleinen Gerät. Die Nachricht kam von Sheila. Ohne seine Assistentin wäre er völlig hilflos. Sie konnte seine Gedanken lesen. Zumindest kam es ihm manchmal so vor. Ohne ihr organisatorisches Talent würde er jedes Meeting verpassen und kein Projekt zum Abschluss bringen.

Jetzt erinnerte sie ihn an den Termin in der molekularen Genetik. Das war heute, richtig.

Er seufzte. Es war ein wenig eitel, sein Genmaterial mit in den Pool zu werfen. Natürlich war es das. Aber so war er nun mal. Der Playboy mochte längst durch den Weltverbesserer verdrängt worden sein, aber er wollte nicht einfach aufhören zu existieren. Wenn sein Werk vollendet und den Menschen eine Möglichkeit zu überleben gegeben wäre, sollte ein Teil von ihm bleiben. Ein Fragment des großen Alois Bezier, der vollbusige Mädchen gevögelt und der Menschheit die Rettung gebracht hatte.