3. RACHE


Während ich durch die Gänge haste und wie eine Verrückte jede Ecke und jeden infrage kommenden Raum nach Ruben durchsuche, versuche ich im Geiste die neuen Informationen mit den alten zu kombinieren.

Ruben hatte uns bereits kurz nach seiner Entführung aus dem blauen HUB von seinem Drift und seiner Zeit in HUB 1 berichtet. Wie er es geschafft hat, volle fünf Jahre lang unentdeckt dort zu leben, und sich die ganze Zeit über nur meiner Mutter anvertraut hat. Doch dann ist er aufgeflogen.

Ich erinnere mich an den Abend im CutOut. Wie wir alle gemeinsam gegessen und gelacht haben. Jos Hand auf meinem Rücken. Jakob, der auf einmal so glücklich war. Glücklich über die Anwesenheit seines verschollenen Onkels. Und an Ruben, der langsam auftaute. Damals dachte ich, er würde sich vielleicht unwohl fühlen, weil so viele neue Gesichter um ihn herum waren und seinen Erzählungen lauschten.

Was habe ich mich geirrt, ich dummes, dummes Ding!

Ruben fühlte sich nicht unwohl, weil er nervös oder schüchtern war. Er musste aufpassen, den Teil seiner Geschichte auszusparen, in welchem er meinen Vater tötet. Ihn auf die menschenunwürdigste Weise mit seinem verfluchten Pyro-Drift umbringt.

Ich mochte Pyros noch nie. Keine Ahnung wieso. Gut …, T.J. ist in Ordnung und schließlich kann man sich seinen Drift ja auch nicht aussuchen, aber Ruben! Ruben ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich.

Fieberhaft versuche ich mich an seine Worte zu erinnern. Wie hat er sich ausgedrückt, als er uns berichtete, wie sie ihn am Ende doch noch erwischt haben? Ein Feuer zu viel?

Ich koche, schäume, bebe! Mein Vater war ein Feuer zu viel?!

Irgendwie gehorchen mir meine Beine plötzlich nicht mehr. Beinahe stolpere ich durch den Eingang des Trainingsraums auf dem Fitness-Level. Der einzige Ort, an dem ich noch nicht nach dem Mörder meines Vaters gesucht habe. Er ist fast leer. Fast.

Ruben unterbricht sein Training, als er mich hereinwanken sieht. Im ersten Moment sieht es so aus, als würde er sich freuen. Wahrscheinlich denkt er, ich sei weich geworden und wolle nun doch mit ihm reden. Doch spätestens, als ich so nahe bin, dass er einen Blick in meine tränenerfüllten Augen werfen kann, trübt sich auch sein Ausdruck.

Keiner von uns sagt etwas. Von meiner Warte aus gibt es auch nichts zu bereden. Was Jakob mir erzählt hat, genügt mir. Mehr muss ich nicht wissen.

Noch während ich den langen Weg von der Tür bis zu der Trainingskonsole, an welcher Ruben sich aufhält, zurücklege, nehme ich Kontakt zu meinem Drift auf. Liebkose ihn beinahe.

Komm raus. Zeig dich. Es ist Fütterungszeit.

Und er gehorcht. Die Energie schwillt in meinem Inneren an wie ein glühender Draht, der mich auflädt, mich leuchten lässt.

Währenddessen regt Ruben sich kein Stück. Obwohl er mehr Erfahrung hat als ich und sicher auf den ersten Blick erkennt, wenn jemand gerade dabei ist, seinen Drift zu aktivieren, bleibt er ungerührt stehen. Nur seine Hände, die eben noch etwas auf den Screen vor ihm eingegeben haben, lässt er langsam sinken.

Es ist, als hätte er seit über einem Jahrzehnt auf diesen Moment gewartet. Auf den Tag der Abrechnung. Den Tag, an dem er endlich seine gerechte Strafe für den Mord an meinem Vater erhält. Dem Mann seiner besten Freundin.

Die so vertraute, zuckende, funkensprühende Kugel in meinem Inneren ist jetzt bereit und ich verschwende keine Sekunde.

Mit ausgestrecktem Arm lasse ich meinen Impuls zuerst auf die tief hängenden Lampen über Ruben los. Dann ändere ich den Winkel und setze den großen, computergesteuerten Arm in Bewegung, an welchem ein grauer Sandsack befestigt ist, der normalerweise als bewegliches Nahkampfziel herhält. Keine Ahnung, warum man es Sandsack nennt. Ich glaube nicht, dass sich wirklich Sand in der länglichen Hülle befindet.

Ruben bleibt weiter still stehen und lässt die Dinge auf sich zukommen.

Funken regnen auf ihn herab, eine der Lampen löst sich von der Decke und fällt nur wenige Meter neben ihm krachend zu Boden. Der mechanische Arm zuckt und bäumt sich auf, wechselt die Richtung und schnellt dann auf Ruben zu.

Ich feuere auf die Trainingskonsole. Sie zischt und qualmt, bevor eine Stichflamme emporschießt.

Ich bin jetzt fast bei Jakobs Onkel angelangt. Jakobs Onkel …

Plötzlich plagen mich Zweifel. Ich darf ihm nichts tun. Es würde Jakob fertigmachen.

Hin- und hergerissen bleibe ich stehen, lasse den Computer-Arm noch ein paar überflüssige Runden drehen. Ich zögere, denke nach. Doch dann tauchen plötzlich die Bilder der Beerdigung auf. Ich war noch so klein. Vielleicht fünf Jahre alt. Meine Mutter hielt mich an der Hand. Alle weinten. Nume, ihre Eltern, meine Mutter. Mein Vater war tot. Ich verstand es eigentlich gar nicht. Dachte, er käme bald wieder zurück.

Doch das tat er nie.

Ich stoße einen wilden Schrei aus, schmettere einen weiteren Impuls auf die Konsole und nehme verzückt zur Kenntnis, dass Ruben nun doch ein wenig von ihr abrückt. Dann sende ich der Sandsackhalterung eine leise Botschaft: Du bist dran!

Der riesige Arm aus Nieten, Stahlplatten und Hydraulik hebt den schweren Sandsack empor, vollzieht eine Drehung und steuert geradewegs auf die fackelnde Trainingskonsole zu.

Wenn Ruben nicht ausweicht, wird der schwingende Arm ihn samt der brennenden Konsole umreißen. Gleich. Gleich wird es geschehen.

Mit bebenden Nüstern stehe ich da und spüre den Drift bereits abklingen, während das Szenario vor meinen Augen seinen Höhepunkt erreicht.

Doch dann, im allerletzten Moment, stoppt der bewegliche Arm mitten in seiner Bewegung. Nur wenige Zentimeter, bevor er sein Ziel erreicht hat.

Ich stutze, trete irritiert einen Schritt zurück.

Ruben, der sich noch immer nicht dazu durchgerungen hat, seinem Schicksal zu entfliehen und aus der Bahn des Geschosses zu verschwinden, scheint durch mich hindurchzublicken. Oder an mir vorbei?

Ich wirbele herum. Jo und Jakob stehen im Eingang des Trainingsraums.

Jakobs Augen sind weit aufgerissen, er atmet schwer. Genau wie Jo. Offenbar sind sie hergerannt.

Jo hat beide Arme in die Luft gestreckt, was auch das Misslingen meines Anschlags erklärt. Er hat den mechanischen Arm unter Kontrolle. Zum zweiten Mal, seit wir uns kennen, will er mich mit seinem Drift davon abhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.

Ich zittere am ganzen Körper. Auf einmal fällt alles von mir ab. Die Wut. Die Trauer. Mein verbissener Wunsch nach Vergeltung löst sich in Luft auf und ich gehe frustriert in die Knie. Mit einer Hand stütze ich mich auf dem Boden ab und beginne zu schluchzen.

Wie durch einen Tunnel sehe ich Jakob auf mich zueilen. Sein Gesicht verschwimmt. Es zerfließt vor meinen Augen zu einer merkwürdigen Grimasse.

Jo bringt derweil den Trainingsarm wieder in eine ungefährlichere Position. Ich drehe mich nicht zu Ruben und dem Arm um, aber ich kann es an Jos Bewegungen erkennen.

Irgendwie bin ich dankbar, dass Jakob sich um mein Wohlergehen sorgt und nicht um das von Ruben. Es wäre nur logisch, wenn er jetzt sauer auf mich ist. Aber wie immer ist mein bester Freund ein Ausbund an Fairness, was mein schlechtes Gewissen nur noch verschlimmert.

Was habe ich da nur getan? Wäre Jo nicht dazwischengegangen … ich beiße die Zähne zusammen.

»Nova? Alles o. k.? Komm her«, sagt Jakob und geht vor mir in die Knie.

Ich lasse mich sofort in seine Arme fallen und vergieße bittere Tränen.

»Schon gut. Alles ist gut«, redet Jakob auf mich ein, doch ich fühle mich mit jeder Sekunde jämmerlicher.

Aus dem Augenwinkel sehe ich Jo unschlüssig herumstehen. Die Hände in den Hosentaschen scheint er sich am liebsten schnell aus dem Staub machen zu wollen. Ich kann das nur zu gut nachvollziehen. Die ganze Situation ist grotesk.

Rubens Verrat in der Sendestation. Seine seltsame Beziehung zu meiner Mutter. Die Tatsache, dass er Jakobs Onkel ist und ich eben im Begriff war, ihn zu attackieren. Das alles ist so irreal. Ich würde selber gerne einfach im Boden versinken.

Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ruben steht unmittelbar hinter mir. Ich habe nicht die Kraft, sie abzuschütteln. Ich lasse es zu, dass Jakob mich wieder auf die Beine zieht, und drehe mich langsam zu Ruben um. Es dauert einige Sekunden, bis ich in der Lage bin, die letzten Schluchzer abebben zu lassen, und es wage, ihm direkt in die Augen zu sehen. Der Anblick wirft mich beinahe um.

Ruben weint. Dieser gestandene Mann, der schon so viel erlebt und ertragen hat, gibt sich vor mir und seinem Neffen die Blöße. Zwar wirkt er nicht halb so aufgelöst wie ich, aber einzelne Tränen rinnen über seine Wangen.

Ich wische mir mit dem Handrücken unter den Augen entlang und erlange Stück für Stück meine Selbstbeherrschung zurück. Es kostet mich einige Überwindung, auch nur ein artikuliertes Wort herauszubringen, aber schließlich schaffe ich es zumindest in Teilen.

»Es … Ich weiß nicht, wie … Ich wollte das nicht …«

Er nickt. Nicht einmal, mehrmals. Hektisch bewegt er den Kopf und dann, völlig unerwartet, zieht er mich an sich und hält mich ganz fest.

Ein Teil von mir will sofort zurückspringen, weglaufen, schreien oder irgendetwas gegen diese plötzliche Nähe unternehmen. Doch dann lasse ich es einfach zu.

Um uns herum scheint die Welt leiser zu werden. Das Knistern der kokelnden Konsole verschwindet. Ich spüre, wie Jakob meine Hand loslässt, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte, bereit, mich von hier wegzubringen, sollte ich dies wollen. Als hätte jemand eine nicht unerhebliche Menge Wasser in meine Ohren gegossen, verstummt alles und ich schließe die Augen.

Ruben riecht seltsam. Nach Sand, Seife und etwas, das ich nicht bestimmen kann. Seine Arme schließen sich fester um mich, während er eine Hand um die Rundung meiner Schulter legt. Es wirkt ganz so, als hätte er sich diesen Moment seit Langem herbeigesehnt. Als würde er mit dieser Umarmung um Verzeihung bitten. Ich frage mich, ob die Geste nur mir oder auch Anabelle gilt? Vermutlich uns beiden.

Der Mann, dessen Arme mich gerade enger und immer enger umschließen, ist noch immer der Mörder meines Vaters. Dass er sich deswegen schlecht fühlt, ändert nichts an dieser Tatsache. Jedoch muss ich mir eingestehen, dass ich eben im Begriff war, meinen Drift genauso gnadenlos einzusetzen wie er. Nein. Schlimmer! Ich habe mit Vorsatz gehandelt. Wenn man dem, was Ruben Jakob erzählt hat, glauben kann, war der Mord an meinem Vater ein Unfall. Er hat nicht, wie ich, 30 Stockwerke durchforstet, um sein Opfer ausfindig zu machen und zu stellen.

Ich fühle mich wie Abschaum. Wie Schimmel. Wie etwas Grünlich-klebriges, das es nicht verdient hat, einen Drift zu besitzen.

Aber vor allem bringe ich es nicht weiter fertig, Ruben ernsthaft böse zu sein. Die Emotionen, welche ihm ins Gesicht geschrieben stehen, sein Verhalten, als er Jakob und mir den Hergang seines Verrats geschildert hat vor ein paar Wochen im HUB. Das Zittern, das ihn in diesem Moment durchfährt. Eine Mischung aus Erleichterung und Schuldgefühlen. Ruben ist kein böser Mensch. Und er ist Jakobs Onkel. Es ist nicht richtig, ihn für immer als miesen Typen abzustempeln. Er ist kein Kieran!

Ein letztes Mal schniefe ich. Dann winde ich mich zaghaft aus seiner Umarmung und will gerade versuchen, irgendetwas zu sagen. Eine Rechtfertigung, eine Entschuldigung? Was sagt man in solch einer Situation?

Doch ich muss mein Brainstorming vertagen, denn in diesem Augenblick summt mein Kommunikator und das kleine Display leuchtet auf. Neben mir geschieht an Jakobs Handgelenk dasselbe und auch Jo und Ruben heben automatisch ihren Arm.

Ich wische mir noch einmal über die Augen und versuche, die Nachricht an meinem Handgelenk zu entziffern. Es sind nur zwei Worte.

"Zentrale. Sofort."

Die Nachricht kommt von Sawyer. Wir schauen uns gegenseitig an und während Ruben noch versucht, die Spuren der Tränen mit ein paar hastigen Handbewegungen zu vertuschen, macht Jakob bereits Anstalten in Richtung Ausgang zu gehen.

Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich erleichtert, dass unser Anführer uns ausgerechnet jetzt zu sich ruft. So bleibt mir der überaus peinliche Moment erspart, welcher unweigerlich auf die innige Umarmung gefolgt wäre.

Ich sehe Ruben nicht mal mehr direkt an, als ich ein Stück zur Seite weiche und Jakob betreten folge.

Jo ist sofort neben mir. Ich habe das Gefühl, er möchte einen Arm um mich legen, verzichtet aber darauf. Als glaube er, ich würde in meine Einzelteile zerfallen, wenn mich noch mal jemand berührt. Ich weiß selber nicht, was mir in diesem Moment lieber wäre. Meine Ruhe haben? Nicht weiter darüber reden? Oder will ich mir Jo schnappen und mich ins Bett verkriechen? In mir herrscht das totale Chaos. Die vergangene Stunde war wie ein Trip durch eine Feuerland-Simulation auf Stufe sechs. Nur schlimmer. Ich bin vollkommen durcheinander.

Plötzlich sind wir im Aufzug. Ruben steht direkt neben mir. Es fühlt sich … nach gar nichts an. Nicht richtig. Nicht falsch. Neutral.

Wir steigen aus und gelangen zur Kommunikationszentrale. Drinnen erwarten uns Arros, Pete und Sawyer. Sawyer sieht ernst aus, Arros wütend und Pete erschrocken.

Ich verdränge meinen Wutanfall und alles, was damit zusammenhängt, und frage mich, was wohl so wichtig ist, dass wir alle antreten müssen. Was könnte passiert sein?

Arros deutet auf die Sessel und wir setzen uns alle hin. Wie Kinder im Schul-Bezirk. Gespannt und ein wenig verunsichert.

Sawyer lehnt mit verschränkten Armen an einem Serverschrank und beobachtet Arros dabei, wie er beginnt, vor uns auf und ab zu schreiten.

»Wisst ihr, dieser Tag war anstrengend. Ich glaube, ihr könnt euch vorstellen, wie müde und erledigt hier alle sind. Mich eingeschlossen.«

Mein brummiger Trainer wirft jedem von uns einen Blick zu. So als wolle er sichergehen, dass wir seinen Ausführungen auch artig folgen. Jetzt fühle ich mich wirklich wieder wie ein Schulkind.

»Ich dachte mir, Arros, dachte ich, Arros, du hast heute viel geleistet. Alles läuft prima. Aber bevor du dich jetzt mit einem Teller Eintopf befasst«, er hebt mahnend den Finger, »und Leute! Diesen Teller habe ich mir redlich verdient!«

Der Finger verschwindet und Arros setzt seinen Weg vor unseren Plätzen fort.

»Also bevor du dir jetzt endlich was zu essen gönnst, schau doch lieber noch mal auf die Bildschirme und sieh nach, ob da nicht doch noch irgendwo ein Blauer im CutOut umhergeistert. Nur zur Sicherheit. Falls wir einen übersehen haben.«

Er bleibt stehen und verschränkt nun ebenfalls die Arme vor der Brust. Dabei starrt er mir grimmig ins Gesicht.

Obwohl ich noch immer etwas aufgewühlt bin und Schwierigkeiten habe, meinen Verstand richtig zu benutzen, ahne ich, was mir blüht.

Arros redet von den Kameras. Ebenfalls ein Relikt der alten Zeit, ein Kontrollmechanismus der Erbauer, gibt es sie überall im Komplex. Schon als Jenkins, der feindliche Soldat und für kurze Zeit unser Gefangener, damals das erste Mal Freigang hatte, nutzte Arros sie, um ihn zu überwachen.

Das klägliche Häufchen Elend, das von meinem Verstand noch übrig ist, zählt eins und eins zusammen. Arros hat meine dramatische Rache-Engel-gegen-Mörder-Aktion auf den Screens der Zentrale verfolgt. Deswegen hat Sawyer uns hergerufen. Deswegen ist Arros so sauer und Pete so verängstigt.

Obwohl es im Raum keinen Spiegel gibt, bin ich mir hundertprozentig sicher, dass ich rot anlaufe. Der befriedigte Ausdruck, welcher augenblicklich über das Gesicht meines Trainers huscht, bestätigt meine Vermutung nur noch.

»Und was muss ich da sehen? Keine Blauen. Kein verliebtes Pärchen beim heimlichen Schäferstündchen. Das wäre schön gewesen … NEIN! Was ich sehen muss, sind zwei Sektionsleiter, ein Gelber und ein Pyro, die sich gegenseitig den Schädel einschlagen wollen!«

Seine Stimme wird mit jedem Wort lauter und ich zucke automatisch zusammen. Der Begriff "Moralpredigt" bekommt durch Arros' Ausbruch eine ganz neue Bedeutung.

»Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen, verdammte Scheiße noch mal? Haben wir nicht genug Probleme? Reicht euch der ganze Mist, den wir am Hals haben, etwa nicht?«

Er ringt die Hände und brüllt jetzt so laut, dass ich unwillkürlich das Bedürfnis habe, mir die Ohren zuzuhalten.

»Ich fasse es nicht! Ich erwarte augenblicklich eine Erklärung für dieses Verhalten«, er beugt sich leicht nach vorne, sodass seine Barthaare beinahe mein Gesicht berühren. »Und eines lass dir gesagt sein, junges Fräulein. Diese Erklärung muss von epischer Überzeugung sein. Umwerfend überzeugend. Reif für die Geschichtsbücher! Alles andere lasse ich nicht gelten!«

Damit endet seine Ansprache. Hinter ihm bilde ich mir ein, den Anflug eines Lächelns an Sawyer wahrzunehmen. Nur ganz kurz. Mir hingegen ist keineswegs zum Lachen zumute. Ängstlich bin ich auch nicht, aber ich schäme mich so sehr.

Ich lecke mir über die Lippen, bereit meine Geschichte vorzutragen, als Ruben sich neben mir räuspert und mir zuvorkommt.

»Arros. Das war nicht das, wonach es aussah. Nova ist zu Recht wütend auf mich. Ich nehme es ihr nicht übel. Bitte versteht, dass dies eine Sache zwischen mir und ihr ist.«

»Pah! Nichts verstehe ich. Ich will Klartext. Jetzt und hier!«

Auffordernd sieht er mich an und ignoriert Ruben gekonnt.

»Ruben hat meinen Vater getötet.«

So. Nun ist es raus. Ich habe es laut und deutlich gesagt. Dass ich Ruben nicht in Stücke gerissen habe, bedeutet nicht, dass ich ihm seine Tat innerhalb eines Augenblicks verziehen habe. Sollen es ruhig alle wissen. Mein theatralisches Schauspiel auf dem Fitness-Level rechtfertigt es zwar immer noch nicht, aber Arros hat nach einer epischen Erklärung verlangt. Nun hat er sie.

»Was?«

Nicht Arros stößt diese knappe Frage aus, sondern Pete. Danach sagt erst mal niemand mehr etwas.

»Pete, Jakob, Joaquim? Raus!«, grollt Arros.

»Aber …«, setzt Jakob an, doch Arros schmettert ihm einen wütenden Bären-Blick entgegen und er verstummt sofort wieder.

»Alle raus. Sofort!«

Die anderen schieben sich mit hängenden Köpfen in Richtung Tür und zurück bleiben nur Sawyer, Arros, Ruben und ich. Das Schulmädchengefühl nimmt exorbitante Ausmaße an. Die Tür schließt sich hinter meinen Freunden und ich nestele nervös am Saum meines Shirts.

Sawyer, von dem ich mir sicher bin, dass er die Aufzeichnung meiner kleinen Darbietung gesehen hat, dreht uns nun den Rücken zu und tippt etwas auf einer kleinen Tastatur ein.

»Ich will jetzt nur zwei Dinge hören«, sagt Arros, sichtlich bemüht, dabei halbwegs ruhig zu klingen. »A: stimmt das?«

Die Frage geht an Ruben, welcher, ohne zu zögern, nickt.

»Und B: Kann man euch zwei in einem Raum alleine lassen, ohne dass ihr euch an die Gurgel geht?«

Ich bin mir sicher, er hat keine Bedenken. Er muss gesehen haben, wie Ruben und ich uns umarmt haben. Vermutlich will er mir zu verstehen geben, dass er zu mir steht, sollte ich Angst vor Ruben haben oder nicht mit ihm allein sein wollen.

»Könnt ihr das?«, fragt er ein zweites Mal.

»Ja«, antworten Ruben und ich gleichzeitig.

»Gut.«

Arros tritt einen Schritt zurück und dreht sich zu Sawyer um. Dieser nickt nur kurz.

»Dann werdet ihr euch jetzt unterhalten. Und ich MEINE unterhalten, nicht bekriegen. Ihr werdet über alles sprechen. Und wenn ihr fertig seid, sprecht ihr noch mal drüber. Und dann noch mal. Bis die Sache klar ist!«

Er nähert sich der Tür, genau wie Sawyer. Beide gehen hinaus, doch bevor sich der Zugang wieder schließt, sagt Arros noch: »Diese Sache ist erledigt, wenn ihr hier wieder rauskommt. Was gesagt wird, bleibt in diesem Raum und nur zwischen euch.«

Damit sind Ruben und ich unter uns. Irgendwann werde ich ihn ansehen müssen, also lieber jetzt als später.

Er sieht so aus, wie ich mich fühle. Am Boden zerstört, verunsichert, müde, traurig.

Ich weiß nicht, ob Arros' Strategie die richtige für Ruben und mich ist. Wie sollen wir miteinander sprechen? Wie beginnen? Doch Jakobs Onkel überrascht mich mit seiner plötzlichen Direktheit. Ohne viel Zeit zu verschwenden, stützt er die Ellenbogen auf die Knie, verschränkt die Finger ineinander und beginnt damit, mir alles zu erzählen.

Alles.

Jedes Detail seiner Zeit im HUB 1. Jede Facette der Freundschaft zu meinen Eltern und insbesondere zu Anabelle. Wie er seinen Drift bekam, wie er sich dabei gefühlt hat und wie Anabelle ihm geholfen hat, damit umzugehen.

Und dann erzählt er mir alles über seinen letzten Tag im HUB 1. Den letzten Tag im Leben meines Vaters.