9. GRAUES HANDWERK


Es vergehen drei nervenaufreibende Wochen, in denen ich mich so elend fühle, dass ich an manchen Tagen nicht einmal aufstehen möchte.

Die Vorbereitungen unseres Spähtrips laufen auf Hochtouren. Trotzdem dauert es lange, bis wir endlich aufbrechen können. Geplant ist die Einschätzung der Lage bei den Werften, von welchen Anny berichtet hat, und natürlich ein Abstecher zum Regierungssitz des Souveräns.

Wie immer kann ich es kaum erwarten endlich loszuziehen. Doch dieses Mal treibt mich, zu meinem eigenen Erschrecken, nicht mein Engagement oder der Freiheitskämpfer in mir an - es ist der Wunsch nach Ablenkung.

Ablenkung von Jo und der Tatsache, dass wir es innerhalb nur eines Monats geschafft haben, unsere auf Vertrauen und Zuneigung basierende Beziehung vollständig aus den Angeln zu heben. Zwar reden wir inzwischen wieder mehr als einen Satz am Tag miteinander, doch beschränken sich die Inhalte unserer Unterhaltung weiterhin ausschließlich auf Themen, die unmittelbar mit der Division zu tun haben. Verliebte Stunden zu zweit, endlose Gespräche oder zufällige Berührungen gibt es nicht mehr.

Wenn man es genau nimmt, bin ich nicht einmal mehr sicher, ob wir noch ein Paar sind.

Nume sagt, ich durchlaufe gerade die verschiedenen Stufen von Liebeskummer.

Ich habe ihr schließlich gestanden, dass Jo und ich uns gestritten haben und ich sauer auf ihn bin. Obwohl sie anfangs weiter gebohrt hat, konnte ich sie am Ende überzeugen, dass der Grund mir peinlich und auch völlig nebensächlich wäre. Diese unvollständigen Informationen machen sie zwar nicht glücklich, reichen aber augenscheinlich aus, um meinen Zustand zu analysieren.

Nachdem ich also die ersten beiden Stufen "Wut" und "Angst" hinter mir gelassen habe, bewege ich mich mittlerweile auf dem dünnen Eis der "Leugnung".

An manchen Tage läuft das Leugnen richtig gut! Ich vergesse die ganze Misere beinahe und kann mich wieder auf mein Training, auf die Leute im CutOut und auf unsere Pläne konzentrieren.

An anderen Tagen - und heute ist so ein Tag - geht es mir erbärmlich.

Ich gehe Jo wo ich nur kann aus dem Weg und verkrieche mich immer öfter in meine Wohneinheit. Essen interessiert mich auch nicht mehr sonderlich und das Training, welches anfangs noch einen guten Ausgleich bot, macht nun auch keinen Spaß mehr. Nicht einmal Bobby möchte ich noch quälen, dabei setzt er weiterhin alles daran, mich zu reizen.

Also beschäftige ich mich die meiste Zeit damit, die bevorstehende "Reise" vorzubereiten. Ich tausche mich mit Arros und Pete aus, checke das Equipment. Ich diskutiere mit Sawyer über die Herangehensweise und ignoriere dabei den aufkeimenden Neid, wenn ich mal wieder zusehen muss, wie Anny und er sich wieder näherkommen. Natürlich gönne ich es ihnen. Es tut nur so schrecklich weh, ihre Unbekümmertheit täglich vor Augen zu haben.

Und dann habe ich die Zeit genutzt, um Jakob endlich alles über meine Unterhaltung mit Ruben zu erzählen.

Mein Leben lang war es so, dass ich eine Sache erst richtig verwinden, verstehen und verarbeiten konnte, wenn ich mit Jakob darüber geredet habe. Und auch bei der ganzen Geschichte mit Ruben verhält es sich so.

Jakob ist zudem mehr als interessiert an meinem Bericht. Immerhin geht es um seinen Onkel und es hilft auch ihm, seine Hintergründe zu verstehen. Seine zunächst verräterisch und später nur noch naiv wirkende Vorgehensweise besser einordnen zu können.

Auch ich muss mir inzwischen eingestehen, dass meine Wut und insbesondere die Rachegelüste gegenüber Ruben längst nur noch ein blasser Abglanz der ersten Emotionen sind. Ich gebe mir Mühe, mich in diesen Mann hineinzuversetzen und versuche zu fühlen, was er fühlt. Oder gefühlt hat. Tatsächlich rede ich mit Jakobs Onkel mittlerweile mehr als mit Jo. Ein weiterer Grund zu verzweifeln …

Doch die verrückteste Folge meiner Berichterstattung Jakob gegenüber war seine unmittelbare Reaktion darauf. Nachdem er alles über meine Mutter und Ruben erfahren hat, die ganze rührende Geschichte, ohne Happy End und ohne Zukunft, ging er sofort zu Nume.

Ich weiß nicht, ob es die Erkenntnis war, dass es eines Tages zu spät sein könnte, oder die Tatsache, dass man an Rubens Beispiel nur zu deutlich sehen kann, wie verheerend eine unerwiderte Liebe sein kann, aber Jakob kannte plötzlich kein Halten mehr.

Ich habe keine Ahnung, wie lange das Gespräch zwischen Nume und ihm gedauert hat und meine beste Freundin hat es bisher mit keinem Wort erwähnt, doch egal, was dabei herausgekommen ist, es hat Jakob gutgetan.

Obwohl Nume und Mailo noch immer ein Paar sind und sich auch sonst rein gar nichts geändert hat, scheint er erleichtert. Da ich weder ihn noch Nume dazu drängen will, mir das Ergebnis ihrer Unterredung mitzuteilen, tappe ich weiter im Dunkeln. Allerdings habe ich derzeit genug an meinen eigenen amourösen Problemen zu knabbern und bin daher ohnehin bedient.

Im Leben der Menschen scheint es sich immer nur um die Dinge zu drehen, die sie nicht haben können. Freiheit, Liebe … 24 °C Außentemperatur. Mein Inneres und die Welt da draußen versinken im Chaos und wieder einmal habe ich das Gefühl nur untätig daneben zu stehen.

Umso mehr bin ich erleichtert, als sich unser kleiner Konvoi aus zwei Humvees, einem Pick-up und Zoes ATV endlich durch das Feuerland wälzt und ich den CutOut ein paar Tage hinter mir lassen kann. In den letzten Wochen kam er mir wie ein riesiger Irrgarten vor, in dem ich immer aufpassen musste, den richtigen Weg zu wählen, um nicht aus Versehen auf Jo zu treffen.

Einziger Haken an unserem Ausflug: Ich bin Jo hier draußen noch näher.

Obwohl er bei Sawyer und Anny im Wagen sitzt und ich bei Arros und Mailo, kann ich seine Anwesenheit praktisch körperlich wahrnehmen. Und auch die anderen haben längst gemerkt, dass etwas nicht stimmt, halten aber brav die Klappe. Zum Glück! Ich wüsste auch nicht, wie ich Jos Geheimnis Arros oder Sawyer gegenüber kaschieren könnte, sollte einer von ihnen mich in die Mangel nehmen. Nume konnte ich nur so einfach abspeisen, weil sie meine beste Freundin ist und mir meinen Willen gelassen hat.

 

Nach ein paar Hundert Kilometern fühle ich mich wieder wie die alte Nova. Das Feuerland empfängt mich mit seiner vertrauten "Wärme" und ich genieße jeden Sonnenstrahl, jede vorüberziehende Ruine und durchstreife bei jeder Rast die nähere Umgebung.

Nur am Rande stelle ich halb traurig, halb froh fest, dass Jo mich die ganze Zeit über im Auge behält.

Ich nutze die Zeit, um nachzudenken, besonders über Salgaia. Unser Streit hat mir diese ganze Planeten-wechsel-Sache wieder mehr vor Augen geführt. Zwar habe ich keine Ahnung, ob ich und die anderen Mitglieder der Division jemals dort hingelangen werden, doch versuche ich es mir zumindest einmal vorzustellen.

Von Sawyer weiß ich, dass "Die rettende Erde" zwei Sonnen hat. Ich persönlich finde es fast schon grotesk, vor einer sterbenden Sonne auf einen Planeten zu flüchten, der gleich zwei dieser Exemplare hat. Doch vermutlich sind es freundliche Sonnen, die noch ein langes Leben vor sich haben.

Über die verdammten Neo-HUBs denke ich kaum nach. Sie werden nicht zum Einsatz kommen. Punkt! Dafür stelle ich mir einen Urwald vor. Flüsse, Bäume, Vögel und Sand, der nicht trocken, sondern klumpig und feucht ist, weil das Meerwasser ihn berührt hat. Ich weiß von Arros, dass unsere Reise uns dieses Mal bis zum Ozean führen wird, aber ich glaube nicht, dass er vergleichbar ist mit den blauen Wassermassen, die uns auf Salgaia erwarten werden. Das Wasser auf der Erde hat bereits begonnen sich zurückzuziehen, zu verdampfen. Noch nicht so, wie es in einigen Jahren der Fall sein wird, aber es ist dabei, von der Erdoberfläche zu verschwinden. So wie vor ihm die Unzahl an Pflanzen und Tieren.

Nicht so auf Salgaia. Dort wird es sicher eine reiche Vielfalt an Spezies geben. Reptilien, Säugetiere, vielleicht sogar Wesen, die es auf der Erde auch vor der Katastrophe nicht gegeben hat? Es übersteigt meine Vorstellungskraft.

In meiner ersten Zeit als angehende Späherin habe ich hin und wieder ein wenig Wasser auf den Boden tropfen lassen, um mir einen Strand besser vorstellen zu können. Trotzdem ist es schwer, zu glauben, dass wir in naher Zukunft einen Fuß auf grünes Gras und fruchtbare Erde setzen werden. Es scheint eher wie ein Wunschtraum, eine Hoffnung, die einfach nur die Angst vor der Sonne vertreiben soll.

 

Nach drei Tagen ist unser Ziel in greifbarer Nähe. Wir bereiten uns vor, räumen Ausrüstung hin und her, teilen Rationen zu, halten immer wieder Kriegsrat, um alles noch mal durchzugehen.

Einmal stolpere ich über eine herumliegende Munitionskiste und Jo bremst meinen Fall. Die Erinnerung an unsere erste Begegnung in der verlassenen Stadt blitzt schmerzlich auf und ich bringe nur mit Mühe ein zaghaftes "Danke" heraus. Natürlich ohne ihn dabei anzusehen.

Und dann ist es so weit. Wir lassen die Fahrzeuge zurück und gehen zu Fuß weiter.

Der Weg ist lang und weil wir nicht im CutOut sind, kann Arros die Hitzepeaks nicht vorhersagen. Zum Glück werden wir auf unserem Marsch nur einmal von einer dieser Erscheinungen überrascht und stehen es geduldig durch. Der Peak dauert dieses Mal beinahe eine halbe Stunde und bringt die meisten von uns dazu, sich augenblicklich hinzuhocken. So als wäre die gewaltige Hitze ein schweres Gewicht, das auf unser aller Schultern lastet.

Ich werfe Jo während des Phänomens verstohlene Blicke zu. Er hat denselben, beunruhigten Ausdruck im Gesicht wie alle Mitglieder unserer Gruppe. Als er den Kopf wendet, um mich anzusehen, schaue ich schnell auf den Boden.

 

Dann sind wir da.

Ich hatte ein weitläufiges Industriegebiet erwartet oder zumindest das, was ich mir unter einem solchen vorstelle. Riesige Maschinen, richtige Straßen, die extra für den Transport der Rohstoffe gebaut wurden. Doch was wir aus sicherer Entfernung betrachten, ist noch viel verstörender.

Es sind die Lager.

Zwar gibt es durchaus Maschinen, Transportfahrzeuge und Straßen, aber diese erscheinen neben dem Meer an baufälligen, kleinen Häuschen und improvisierten Behausungen aus Planen, Brettern und Plastik total nebensächlich.

»Meine Güte …«, entfährt es Sawyer.

Ich bemerke, wie Anny schuldbewusst den Blick senkt. Obwohl sie ja nichts dafür kann, wie die Menschen dort unten leben, ist es ihr unangenehm, davon gewusst und nichts unternommen zu haben.

Und der Anblick kann einen wirklich zum Nachdenken bringen. Bisher hatte ich die Grauen als unseren Feind oder einfach nur als die vage Vorstellung von seltsamen Menschen gesehen, doch die unzähligen Zelte, Baracken und Menschen unter uns, machen es in diesem Moment zu einer grausamen Wirklichkeit.

Die Grauen sind definitiv schlimmer dran als die Gelben!

»Ich hatte mir das nicht so … groß vorgestellt«, sagt Arros sichtlich überrascht.

»Ich auch nicht«, stimme ich sofort zu. »Es sind so viele!«

Gleichermaßen beeindruckt und schockiert, lasse ich meinen Blick über die Behausungen der Grauen schweifen. Um tatsächlich Menschen zwischen den klapprigen Quartieren ausmachen zu können, sind wir zu weit entfernt. Aber auch ohne, dass ich ihre Gesichter sehen kann, tun sie mir leid.

Mitten im Feuerland zu leben, ohne es durchstreifen zu können … das ist für mich einfach unvorstellbar!

Neben mir rückt Jo plötzlich ein Stück näher und in diesem Moment, völlig eingenommen von dem Anblick der Lager, kann ich auf einmal nicht länger sauer auf ihn sein. Ich gestatte meinem verletzten Stolz eine Auszeit und rücke ebenfalls ein kleines Stückchen näher an ihn heran.

Er berührt mit einem Finger meine Hand. Nur ganz sachte. Es wirkt beinahe zufällig.

»Schau mal, da«, sagt er leise und deutet mit der anderen Hand auf den Horizont.

Dankbar und erleichtert über diese ersten und endlich wieder ein wenig liebevoll klingenden Worte seit Langem folge ich seiner Aufforderung und lasse meinen Blick über die Lager hinweg in Richtung untergehender Sonne schweifen.

Mir bleibt beinahe die Luft weg. Vor lauter Abscheu über die Zustände unter uns habe ich den Rest des Landstrichs gar nicht weiter beachtet.

Vor uns, nicht unweit der grauen Lager, erstreckt sich der Ozean, oder das, was von hier aus davon zu sehen ist. Man kann genau erkennen, dass das Wasser früher einmal viel näher an der überdimensionalen Baustelle gewesen sein muss. Beinahe direkt vor dem kilometerlangen Zaun, der die einzelnen Lagergruppierungen umgibt.

»Oh!«, entfährt es mir und automatisch ergreife ich Jos Hand nun vollständig und drücke zu.

Sofort umschließt er meine Finger und reibt zärtlich mit dem Daumen über meinen Handballen.

Hin- und hergerissen zwischen dem Feuerwerk, welches diese so arg vermisste Berührung in mir auslöst, und dem Anblick der weit entfernten Wassermassen verliere ich die Kontrolle. Neben mir hebt Arros irritiert den ausgeschalteten ChatSpotter in die Höhe, weil dieser plötzlich krächzende und rauschende Geräusche von sich gibt.

Schnell weise ich meinen Drift wieder in seine Schranken und reiße mich zusammen. Ich werfe Arros einen reuevollen Blick zu, doch er bemerkt es gar nicht. Genau wie alle anderen starrt er schon wieder in die Ferne.

Dafür spüre ich nun Jos Blick wie tausend kleine Stiche auf mir. Sein Mund hat einen strengen Zug angenommen und er hält meine Hand so fest, dass es schon ein bisschen wehtut. In seinen Augen lese ich eine Bitte. Er will wissen, ob ich es jetzt verstehen kann. Ob ich IHN jetzt verstehe.

Ich bin nicht sicher.

Natürlich tun mir die Grauen leid und sicher ist es für Jo noch tausendmal schlimmer, weil es für ihn ja anscheinend ein Familienersatz oder zumindest sehr enge Freunde sind, doch rechtfertigt das seine Entscheidungen? Kann ich deshalb besser damit leben, dass er mich so lange belogen hat? Dass er mich gehen lassen will, mich aufgibt?

Unter schwerster Anstrengung drehe ich den Kopf weg und starre wieder auf die Lager. Im Gegensatz zu Jo trage ich meine Schutzbrille noch, aber auch wenn er meine Augen sehen könnte, wäre mein Blick nicht so deutlich wie meine Körperhaltung. Ich lockere den Griff in seiner Hand und starre weiter geradeaus. Ich muss gar nichts sagen. Meine Unsicherheit und mein ramponiertes Herz siegen über mein Mitleid.

Sofort nimmt er die Hand weg, lässt seinen Blick aber noch ein paar Sekunden auf mir ruhen. Dann tritt er ein paar Schritte zurück und sagt: »Kommt Leute. Gehen wir etwas näher ran und sehen mal, wie die Werften so sind.«

Tränen steigen mir in die Augen. Ich hab's vermasselt. Jetzt wäre der Moment gewesen, um das Ruder rumzureißen. Wir hätten uns wieder näherkommen können, doch ich bin zu stur.

Erneut muss ich meinen Drift zügeln. Ich wünschte, er wäre wieder so stumm wie in der Nacht mit Jo. Automatisch ausgeschaltet, bis … zum Ende. Es macht mich traurig, an den Moment zu denken, als Jo und ich gemeinsam auf einer Woge des vollkommenen Glücks dahinglitten und nur am Rande bemerkten, wie plötzlich diverse Gegenstände im Raum zu schweben begannen und der Leuchtstreifen über meinem Bett bedenklich flimmerte.

Plötzlich sehne ich mich nach einer Gedächtnislöschung! Wo sind diese verdammten Blauen, wenn man sie mal braucht?

Aufgebracht mustere ich das bunte Treiben unter mir weiter.

Neben den chaotisch wirkenden Lagern befinden sich mehrere gewölbte Bauten, bei denen es sich offensichtlich um die oberirdischen Hangars handelt. Laut Anny befinden sich hier nur noch die Raumschiffe, an welchen noch kleinere Arbeiten erledigt werden müssen. Der Rest liegt weit draußen auf dem Ozean vor Anker. Wie U-Boote, hat Anny gesagt, doch ich habe keine Ahnung, was U-Boote sind. Trotzdem kann ich mir denken, dass es wohl keinen sinnvolleren "Parkplatz" für Raumschiffe geben könnte. Sie treiben in Reih und Glied nebeneinander, so lange bis jemand das Startsignal gibt und sie ihre Reise antreten können.

Ich kann von meiner Position aus auch die Zugänge zu den unterirdischen Werften sehen. Alles ist riesenhaft und gewaltig. Eine ganze Stadt aus Maschinen, Türmen, Toren, Grauen und Zäunen. Der Anblick lässt mich ernstlich an meinem Verstand zweifeln. Niemals hätte ich geglaubt, dass es solch einen Ort geben könnte, geschweige denn, dass ich ihn einmal sehen würde.

Ich bin sprachlos. Wir alle sind es.

 

Zwei Stunden später ist es bereits fast dunkel und ich finde mich, zusammen mit Sawyer, Mailo und Jo, inmitten einer der Werften wieder.

Schnell hat sich herausgestellt, dass es verblüffend einfach ist, mit Annys Hilfe hineinzugelangen. Immerhin ist dies ihr Arbeitsplatz. Sie kann sich frei bewegen und zieht keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich.

Die meisten Soldaten befinden sich innerhalb und rundherum um die Lager der Grauen. Von Anny wissen wir, dass nur noch an drei Schiffen aktiv gearbeitet wird, während die anderen bereits auf einen baldigen Start vorbereitet werden. Was das genau bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht muss so ein Schiff erst warmlaufen oder mit irgendwas beladen werden? Braucht man wohl einen großen Nahrungsmittelvorrat, wenn der Großteil der Passagiere sich die ganze Reise über im Kryo-Schlaf befindet?

Mit Annys Zugangskarte passieren wir gleich vier kleinere Schleusen, wobei diese sich vollkommen von den Zugängen innerhalb der HUBs unterscheiden. Alles ist ebenso riesig und beeindruckend wie ein HUB auch, aber die Architektur ist nicht vergleichbar.

Wir begeben uns tiefer in das Gewirr aus Gängen und Räumen, um eine der unterirdischen Werften zu erforschen.

Während Mailo sich selbst, mich, Jo und Sawyer für andere Menschen unsichtbar werden lässt, bewegen wir uns langsam durch den Irrgarten aus grauen Gängen, weitläufigen Labors und dann wiederum über schmale Laufstege und durch den überdimensionalen Hangar.

Alles ist irgendwie offen und transparent. Offenbar sind diese Werften Laboratorien und Baustellen zugleich.

Anny kennt sich bestens aus. Zielsicher führt sie uns herum und pflanzt zwischendurch immer wieder kleine Erklärungen in unsere Köpfe.

"Diese Tanks gehören zur Kryonik."

"Da drüben stellen sie die magnetischen Teile her."

"Passt auf! Auf der rechten Seite ist das Geländer locker."

Wir folgen ihr schweigsam und nehmen die neuen Eindrücke in uns auf.

Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, dass ich einmal eine persönliche Führung durch eine interstellare Werft bekommen würde, wäre ich aus dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen. Das alles ist selbst für jemanden, der sich tagtäglich mit den Machenschaften der Regierung beschäftigt und einigermaßen abgestumpft ist, noch extrem aufregend.

Als wir uns in einer schlecht einsehbaren Kurve befinden, gönnt Mailo seinem Drift eine kurze Pause und wir anderen lassen die neuen Eindrücke erst einmal sacken.

Ich nähere mich Anny und frage leise: »Können wir in eines der Schiffe rein?«

Sie überlegt kurz, nickt dann aber mehrmals.

»Könnten wir versuchen. Wir schauen mal bei Nummer 176. An dem wird zur Zeit kaum gearbeitet«, flüstert sie.

Auf dem Weg zu 176 passieren wir eine kleine Gruppe Grauer, die im Halbkreis sitzen und essen. Jo scheint einen Moment lang zu vergessen, dass er so tun muss, als hätte er in seinem Leben noch keinen Grauen gesehen, denn er ist der Einzige von uns, der nicht erstaunt langsamer wird, um diese unbekannten Menschen zu beobachten. Wir anderen heften unsere Blicke an die Gruppe und versuchen Wortfetzen ihres Gesprächs zu belauschen. Doch als sie Anny sehen, verstummen sie sofort. Sie wiederum würdigt die Männer keines Blickes. Offenbar ist das so üblich.

Oberflächlich betrachtet, sind diese Leute wie wir. Aber beim zweiten Hinsehen erkenne ich wettergegerbte Haut, ähnlich wie bei Jackson, nur dass er neben ihnen trotz des etwa gleichen Alters deutlich jünger wirken würde. Noch nie habe ich so braune Haut gesehen. Nicht einmal bei den Spähern.

Die Männer sind irgendwie grobschlächtig und wild. Fast ein wenig beängstigend. Ihre Stimmen klingen rau und tief. Im Vorbeigehen kann ich einen von ihnen lachen sehen und starre erschrocken auf die einzigen beiden Zähne, die durch das Verziehen der Lippen entblößt werden.

Graue, die sich verletzt haben, müssen auf eine Medi-Station in einem blauen HUB. Das wusste ich. Nicht klar war mir, dass es natürlich auch sonst keine medizinische Versorgung gibt. Doch die Narben auf ihren Armen, die schlechten Zähne und der Schmutzfilm, der ihre Körper ziert, lassen darauf schließen. Es gibt hier kein Fress-Level, kein Museum und keinen Info-Kanal. Diese Leute leben nur, um ihr Pensum zu erfüllen.

Schockiert folge ich Anny weiter durch die Endlosigkeit des Hangars und führe mir vor Augen, wie ich Jo entgeistert angesehen und gefragt habe, ob er uns für Sklaven hält. Zwar hatte er meine Vermutung damals in dem Raum unter dem alten Einkaufszentrum bestätigt, doch wird mir erst jetzt klar, dass es nicht stimmt. Wir Commons sind keine Sklaven. Die Grauen sind es!

Vor einem seltsamen Gefährt, welches aber weder Räder noch eine nennenswerte Karosserie besitzt, machen wir halt. Ein wenig erinnert es mich an einen Hover-Buggy.

Anny hält übertrieben inne und steigt langsam auf die Ladefläche, welche von einem stabil wirkenden Geländer umgeben ist. Wir anderen machen es schnell nach, damit kein potenzieller Zuschauer bemerkt, dass mehr als eine Person aufsteigt.

Und schon hat Anny ein paar Schalter umgelegt, etwas auf den dreckverschmierten Screen vor sich eingegeben und das klobige Beförderungsmittel steigt surrend empor.

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien. Diesen Start habe ich nicht erwartet. Auch Sawyer und Mailo klammern sich erschrocken an das schmutzige Geländer.

Wir fliegen eine Weile am Heck des Raumschiffs entlang. Von hier oben erscheint es noch viel größer als vom Boden aus. Ich habe den Koloss nicht einmal richtig wahrgenommen, so beschäftigt war ich mit den Grauen und mit dem Unsichtbarsein.

Jetzt bemerke ich, wie gewaltig es eigentlich ist. Natürlich ist das nur logisch, immerhin muss es 5000 Menschen Platz bieten und sicher noch ein paar mehr Dingen. Bauteile vielleicht oder Fahrzeugen?

Wir nähern uns einer etwa zehn mal zehn Meter großen Luke, die von Weitem winzig, aus der Nähe allerdings bizarr groß wirkt. Anny steuert den "Buggy" hinein und folgt einer roten Linie, die vom Zugang bis zu einer relativ großen Halle im Inneren des Schiffes führt. Hier befinden sich weitere Gefährte, manche sind beladen, andere scheinen nur geparkt zu sein.

Ich staune nicht schlecht, als wir uns weiter durch den Bauch des Raumschiffes bewegen und immer öfter einen Blick in kleine und große Räume werfen, die eher wie riesenhafte Tanks oder Kammern aussehen. In einigen von ihnen liegen dicke Kabelstränge und Bauteile herum, aber alles in allem wirkt das Innere dieser Raumfähre komplett und bereit, seine Reise anzutreten. Nur die Passagiere fehlen noch.

Zumindest dachte ich das.

Als wir einem breiten, röhrenförmigen Gang um eine Kurve folgen, schnappe ich nach Luft. Automatisch legen wir alle den Kopf in den Nacken und blicken überwältigt nach oben. Wir befinden uns in einer riesenhaften, senkrechten Röhre, deren Durchmesser dem eines HUB-Levels gleichkommt und an dessen gewölbten Wänden sich Tausende, kleine Kammern befinden. In der Mitte ragt ein dünner Turm empor, welcher wie eine Art Wartungssäule aussieht und in regelmäßigen Abständen durch einzelne Stege mit den Wänden der Röhre verbunden ist. Erst jetzt bemerke ich, dass sich an jeder Reihe Kammern, eine schmale Galerie entlangzieht, die wiederum in die Stege des Turms übergeht.

Wir folgen einem der Stege in die Mitte der Kuppel und halten nahe des Turms an.

Wofür die unzähligen Kammern da sind, kann sich jeder von uns denken. Was aber unerwartet kommt, ist die Erkenntnis, dass einige von ihnen bereits "bewohnt" sind.

"Oh nein" höre ich Anny in meinem Kopf sagen und weiß sofort, dass die anderen es auch gehört haben.

Sie beginnen mit der Einquartierung der Gelben.

Sie werden nicht warten, bis die Schlacht geschlagen ist.

Sie werden den Planeten verlassen.