8. BLAUE, GELBE, GRAUE


Ich betrachte die Metallstreben über mir. Um meinen Verstand mit etwas wunderbar Sinnfreiem, Banalem zu beschäftigen, frage ich mich, wer sie wohl dort oben angebracht hat? Die Erbauer? Arros? Sie sind ziemlich weit oben. An einigen sind Seile zum Hochklettern befestigt. Wie es wohl wäre, an ihnen empor, bis zu der Metallkonstruktion hinaufzuklettern? Ich könnte es probieren. Vielleicht falle ich runter und breche mir das Genick? Besser als hier nur herumzuliegen. Besser als nachzudenken. Besser als nichts.

»Was tust du hier?«

Ich wende den Kopf leicht nach links und sehe Nume mit erstaunter Miene über mir stehen. Von hier unten sieht sie riesig aus. Riesig und sauer.

Es wundert mich nicht, dass ihre Frage ein wenig vorwurfsvoll klingt. Ich mache mich rar in letzter Zeit.

»Ich bewundere die Architektur.«

»Aha.«

Ich drehe meinen Kopf wieder weg und starre weiter an die Decke. Eigentlich bin ich hergekommen, um an meiner Rechten zu arbeiten. Zumindest war das der Plan. Aber dann erschien es mir sinnvoller, mich in die Mitte des Nahkampfrings zu legen und vor mich hin zu grübeln.

»Und? Bist du dann jetzt damit fertig? Können wir gehen?«

Überhaupt grübele ich gerne und viel in den letzten Tagen. So viele Gedanken und Fragen. Ein wunderbar einseitiger, nie enden wollender, innerer Monolog.

Wie ich diesen Zustand hasse!

Aber ich kann mich niemandem anvertrauen. Nicht einmal Nume.

Plötzlich fällt mir auf, dass Nume eigentlich noch nie hier war. Das Fitness-Level und sie sind sich so fremd wie ich und ihre Agrar-Ebene. Sie hat mich offenbar gesucht. Das ist ungewöhnlich.

»Wohin gehen?«, frage ich matt.

»Die Sitzung, Nova! Wir verpassen das Treffen …«

Ich stöhne auf. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

»Ist die heute?«

»Nein, ist sie nicht! Ich stelle nur so zum Spaß den ganzen CutOut auf den Kopf, um dich zu finden! Komm jetzt!«

Ich wälze mich auf die Seite und stütze mich mit dem Ellenbogen ab. Das Gewicht meines Kopfes ist erschreckend. Lieber würde ich einfach liegen bleiben.

»Ich weiß nicht …«, nörgele ich.

Nume setzt ein beleidigtes Gesicht auf.

»Was weißt du nicht? Ob du hingehen sollst? Jetzt hör aber auf! Natürlich musst du!«

Sie stürzt auf mich zu und packt meine Hand. In Folge dieser groben Geste rutscht mein Kopf ab und prallt hart auf den Boden. Nun hänge ich wie ein nasser Sack, mit ausgestrecktem Arm an ihrer Hand.

»Schon gut!«, fluche ich, als sie damit beginnt, wie wild an mir zu zerren, und mich ein ganzes Stück über den Boden schleift.

»Gut! Ich habe auch überhaupt keine Lust dein Kindermädchen zu spielen!«, giftet sie mich an, aber ich merke sofort, dass sie eher besorgt als böse ist. Hinter jedem ihrer bissigen Worte steckt eine stille Frage. Sie will mehr über meinen Zustand erfahren und vor allem über dessen Ursache.

Ich rappele mich auf und folge meiner Freundin mit hängenden Schultern zu den Aufzügen.

»Es ist in Ordnung, wenn du mir nicht sagen willst, was zwischen dir und Joaquim vorgefallen ist. Und DAS etwas passiert ist, sieht ein Blinder, also leugne es nicht!«, plappert sie, während wir Stockwerk um Stockwerk in die Höhe schießen. »Obwohl ich als deine beste Freundin natürlich ein Anrecht auf sämtliche Informationen habe und schwer enttäuscht bin, weil du mich so grausam ausschließt, ist es o. k., wenn du ein bisschen für dich sein willst. Aber eine Woche, Nova? Das ist doch sonst nicht deine Art …«

Sie schaut mich mitleidig an. Aber sie weiß ja auch nicht, dass mein "Freund" uns alle belogen hat und bereits an unserer Trennung arbeitet. Nur dass er dabei nicht wie andere Typen eine kurze Nachricht über den Kommunikator schickt oder sich irgendeiner Ausrede bedient - nein! Er hat vor, gleich ein paar Lichtjahre zwischen uns zu bringen!

Und als wäre das nicht schlimm genug, macht er auch keine Anstalten, mich zu besänftigen.

Seit unserer folgenschweren Unterhaltung im Feuerland, reden wir kaum noch. Er war nicht eine Nacht bei mir und wir beschränken uns auf das Nötigste. Kurze Blicke, Gerede über die Ausrüstung, die Hitzepeaks. Nichts, was auch nur ein wenig mit seinen dramatischen Geständnissen zu tun hat.

»Jetzt mal ehrlich, Nova! Was ist da passiert zwischen euch? Seit Joaquim wieder da ist, benehmt ihr euch wie zwei Zombies. Du kannst es mir doch sagen. Dazu bin ich doch da.«

Wenn sie wüsste, wie gerne ich darüber reden würde. Aber ich musste ja dieses dämliche Versprechen abgeben! Es ist zum Verzweifeln!

»Hey«, sagt Jakob, der auf einmal neben uns auftaucht, als wir den Fahrstuhl verlassen. »Zoe sagt, heute ist eine Sitzung? Sehen wir uns danach?«

Nume zuckt mit den Achseln und meint: »Weiß noch nicht. Ich hab noch ne Menge auf dem Agrar-Level zu tun. Vielleicht später?«

Ich nicke zustimmend und lächele Jakob an.

»Du verbringst ne Menge Zeit mit Zoe, oder?«

Ganz automatisch wirft er Nume einen Blick zu und läuft rot an.

»Keine Ahnung was du meinst. Dann bis später, ja?«

Er zieht den Kopf ein und saust davon.

Nume und ich passieren die Galerie und steuern auf die Kommunikationszentrale zu. Vor ihr steht - natürlich - Jo.

Ich senke sofort den Blick und mache mich unsichtbar. Nume verstummt. Sollte sie erwartet haben, dass ich ihr irgendwas erzähle, ist der Moment definitiv vorüber. Solange Jo in Hörweite ist, bin ich nicht mal in der Lage zu sprechen. Selbst wenn es nur um Schutzbrillen oder Klopapier ginge.

Wir passieren Jo am Eingang der Zentrale und ich nehme dankbar zu Kenntnis, dass Nume ihm einen bitterbösen Blick zuwirft. Obwohl die keinen blassen Schimmer hat, was zwischen uns vorgefallen ist, stellt sie sich automatisch auf meine Seite. Ich verkneife mir ein Lächeln. So schwer ist das nicht, denn in Jos Nähe ist jede positive Gefühlsregung seit Tagen nicht mehr möglich.

Da ich ihm nicht ins Gesicht schauen mag, kann ich nicht einschätzen, ob er mich ansieht oder mich gleichermaßen ignoriert. Ich fühle mich erbärmlich. Niemals hätte ich gedacht, dass es überhaupt möglich wäre, NICHT mehr mit Jo zu reden. Mit ihm herumzuwitzeln, ihn zu berühren. Das ist einfach unvorstellbar und doch so schnell geschehen. Von einem Tag auf den anderen waren wir Fremde füreinander. Einfach so.

»Setzt euch, es geht gleich los«, sagt Sawyer und deutet auf die Sessel.

Erst beim zweiten Hinschauen bemerke ich die blonde Schönheit neben ihm. Wer sie ist, kann ich mir denken. Trotzdem bin ich enorm überrascht, sie so schnell hier im CutOut zu sehen zu bekommen.

Anny.

»Ist das …?«, flüstert Nume mir zu und ich nicke verhalten.

»Wow!«, entfährt es ihr, glücklicherweise ziemlich leise.

Ich setze mich hin und taxiere Anny unauffällig. Doch da alle im Raum dies tun, dürfte sie sich ohnehin schon extrem beobachtet fühlen.

Nume hat recht. "Wow" beschreibt es ganz treffend. Anny ist groß, schlank, blond, hat kristallklare, blaue Augen und selbst wenn sie eine andere, langweiligere Farbe hätten, wäre ihr Blick dennoch überwältigend fesselnd. Sie strahlt eine Ruhe und Freundlichkeit aus, die in einem augenblicklich den Wunsch nach einer Umarmung oder einer ähnlich vertrauten Berührung aufkeimen lässt. Und obwohl ich diesen Effekt soeben an mir selber festgestellt habe, macht es mich rasend, dass Jo sie ebenso fasziniert anhimmelt wie wir anderen.

Meine Finger krallen sich in die Armlehnen meines fluffigen Sektionsleiter-Sessels. Seltsamerweise bin ich kein Stück sauer auf Anny. Obwohl meine Eifersucht praktisch dreidimensional im Raum schwebt, kann sie ja nichts dafür, dass sie eine Augenweide mit überdurchschnittlich sympathischer Aura ist.

Ich wende den Blick ab und versuche beide, sowohl Anny als auch meinen Freund von nun ab zu ignorieren. Das ist sicherer für uns alle.

»Ich glaube, wir sind dann komplett«, stellt Pete fest und die Sitzung beginnt.

Obwohl es gänzlich überflüssig ist, stellt Sawyer uns Anny vor. Während er noch einmal die Fakten aufzählt und erklärt, was Annys Funktion innerhalb des Forscherteams rund um die Raumschiffe ist, bleibt sie kerzengerade stehen und blickt zaghaft lächelnd in die Runde.

Sawyer hingegen ist alles andere als zaghaft. Er wirkt geradezu ungestüm. Er stößt versehentlich mit dem Fuß gegen Stuhlbeine, beginnt zwischendurch zu stottern, und fährt sich immer wieder mit der Hand durch die Haare. Hierbei fällt mir auf einmal ein Muttermal an seiner rechten Hand auf. Es ist eigentlich ziemlich unübersehbar, aber zuvor war es mir nie aufgefallen. Allerdings achtet man bei Sawyers charismatischer Erscheinung auch meist auf die Augen und seine Mimik, nicht auf die Hände.

Weil er so wild herummacht, kann ich es nicht genau erkennen, aber auf den ersten Blick sieht es ein wenig aus wie eine Spinne mit vielen Beinen, oder eine Sonne, wie sie ein kleines Kind malen würde.

»Ähm, Anny? Willst du ein paar Worte sagen?«, fragt Sawyer zögerlich, als er mit seiner kleinen Ansprache fertig ist.

Sie nickt und tritt einen Schritt vor. Sawyer setzt sich erleichtert hin und schluckt mehrmals. Obwohl er ziemlich fröhlich auf mich wirkt, scheint ihn das ganze Anny-Thema weiterhin aufzuwühlen.

»Wie gesagt. Mein Name ist Anny«, beginnt die Elfe und alle hängen an ihren Lippen, so als hätte sie gesagt: "Ich schenke euch ewiges Leben."

Wieder blicke ich verstohlen zu Jo hinüber und versuche herauszufinden, ob seine Zunge bereits aus seinem Mund hängt. Erleichtert stelle ich fest, dass dies nicht der Fall ist. Er sieht sogar plötzlich ziemlich abwesend aus.

»Ich denke, Sawyer hat euch bereits erzählt, dass ich mich glücklicherweise in einem der HUBs befand, die in jüngster Zeit von der Division übernommen wurden, und so Kontakt zu ihm aufnehmen konnte. Später bin ich dann mit einer kleinen Gruppe Forscher geflüchtet, um den Anschein zu wahren, dass ich noch immer auf der Seite der Regierung stehe.«

»Wieso sollten wir dir das glauben?«, wirft Nume ein und ich muss mich schwer zusammenreißen, um nicht loszuprusten.

»Bitte?«, erwidert Anny überrascht.

»Na ja, woher sollen wir wissen, dass du nicht tatsächlich noch für sie arbeitest und uns nur ausspionieren sollst?«, hakt Nume weiter nach.

»Wir haben da in jüngster Zeit ein paar ganz miese Erfahrungen gemacht«, fügt Arros erklärend hinzu und wendet sich dann direkt an Nume, »aber ich habe es ja bereits gesagt, für Anny lege ich meine Hand ins Feuer. Sie ist auf unserer Seite. Punkt!«

Anny legt ihm dankbar eine Hand auf den Unterarm und lächelt meinen Trainer an.

Wieder durchzuckt mich Eifersucht. Irgendwie gefällt es mir nicht, dass Arros Anny schon so lange kennt und sie offenbar mehr als nur gern hat. Doch dann erkenne ich, wie albern das ist. Wieso sollte Arros sie denn auch nicht gerne haben? Anny scheint wirklich nett zu sein und Arros ist ein gutmütiger Kerl, auch wenn er das nicht oft heraushängen lässt.

»Danke Arros. Aber ich verstehe, ähm …«, sie starrt Nume hilfesuchend an.

»Nume!«, sagt meine Freundin kurz angebunden.

»Also ich verstehe Numes Bedenken durchaus. Kaum einer von euch kennt mich. Daher ist es nur logisch, dass ihr vorsichtig seid.«

Die anderen nicken wohlwollend, als würde die Tatsache, dass Anny Verständnis zeigt, schon genügen, um alle Bedenken wegzufegen.

»Ich kann euch kaum einen Beweis für meine Loyalität liefern, daher befinden wir uns in einer schwierigen Situation. Aber wenn ihr gewillt seid, mir ein Stück weit zu vertrauen, werde ich euch nicht enttäuschen. Und … nach allem, was ich von Sawyer weiß, habt ihr ansonsten nicht viele Alternativen«, fügt sie kleinlaut hinzu.

Nachdem erst mal niemand weiter etwas einzuwenden hat, holt Anny tief Luft und fährt mit ihrer ursprünglichen Rede fort.

»Ich arbeite jetzt sein einigen Jahren mit am Projekt Salgaia. Es ist und war das bedeutendste Vorhaben, das die Menschheit jemals auf die Beine gestellt hat. Ein Jahrhundert Forschung, Entwicklung und Wissen stecken darin. Und nun sieht es ganz so aus, als wären wir am Ziel angelangt.«

Ihrer Stimme entnehme ich einen gefährlichen Stolz. Sie steht zu 100 Prozent hinter dem Projekt. Wie kann sie ihre Leute verraten, wenn sie ihre Arbeit so liebt?

»Ich weiß nicht, wie viel Sawyer euch von mir erzählt hat«, sie wirft ihm einen schüchternen Blick zu und er wird sofort knallrot, »aber ich war vom Gedanken der Division nie sonderlich überzeugt.«

Nume zieht scharf die Luft ein und Pratap beugt sich gespannt ein Stückchen nach vorne.

»Versteht mich nicht falsch«, fügt sie schnell hinzu, »ich befürworte die Verhaltensweise der Regierung in der Sache der gelben HUBs keinesfalls. Nicht ein bisschen! Aber ich neige dazu, stets den friedlichen, wenn man so will, den einfachen Weg zu wählen, und habe mich daher bisher aus diesen politischen Dingen rausgehalten. Für mich ist es wichtig, den Menschen eine Zukunft zu bieten. Und hier auf der Erde existiert diese nicht.«

»Und darum sorgst du lieber dafür, dass man uns Gelbe auch auf Salgaia in Käfige sperrt?«, fragt Nume herausfordernd.

Arros will schon wieder dazwischengehen, aber Anny hebt sofort eine Hand. Offenbar will sie keinen Personenschutz.

»Ich wusste es nicht. Ich habe nichts mit dem Aufbau der Infrastruktur auf Salgaia zu tun. Mein Bereich sind die Schiffe. Die Navigation, genauer gesagt. Das klingt jetzt sicher wie eine Ausrede und ich gebe zu, ich hätte mir denken können, dass die Commons auch auf dem neuen Planeten wieder den Kürzeren ziehen«, sie seufzt frustriert, »aber wie gesagt, ich habe mich nie mit derlei Dingen beschäftigt. Das ist nichts, worauf ich stolz bin«, wieder ein Seitenblick zu Sawyer, »aber so war es nun einmal. Ich bitte euch trotzdem, mir zu vertrauen. Ich habe gesehen, wie es da draußen zugeht. Ich habe Dinge gesehen …«, sie schluckt. »Ich möchte unbedingt, dass die Division diese Auseinandersetzung gewinnt!«, schließt sie energischer, als ich es ihr zugetraut hätte.

Alles an dieser Frau strahlt Zuversicht und Ehrlichkeit aus. Nur ein emotional verkrüppelter Mensch würde ihr misstrauen. Und ganz offensichtlich sitzt genauso ein Mensch direkt neben mir.

»Was weißt du über die Grauen?«, fragt Jo tonlos.

Jeder im Raum würde ihn für direkt halten, ein wenig unhöflich vielleicht. Doch keiner von ihnen würde bemerken, wie sehr Jo diese Frage auf der Seele brennt.

»Sie haben die Schiffe gebaut. Nach unserer Anleitung natürlich«, beantwortet Anny die Frage ehrlich.

Der Unterkiefer meines Freundes ist angespannt und er scheint sich redlich bemühen zu müssen, um weitere Worte herauszubringen.

»Aber was sind sie? Ich meine, woher stammen sie?«, hakt er weiter nach.

Er will sie dazu bringen, zuzugeben, dass die Regierung die Grauen genauso unterdrückt wie die Gelben, ohne dabei preiszugeben, dass er es längst weiß.

Gespannt starre ich Anny an. Was weiß sie? Was wird sie zugeben?

»Es sind Menschen. Sie … sie arbeiten, ich meine, sie leben …«, sie gerät ins Schlingern. Beinahe hätte ich Jo anerkennend auf die Schulter geklopft. Dieses manipulative Geschick kenne ich von ihm gar nicht.

»Sie leben nicht in HUBs, so wie der Rest von uns. Es gibt Lager, nahe der Werften.«

Nume macht große Augen.

»Lager? Werften? Oberirdisch, oder was? Dann haben diese Grauen also doch einen Drift?«

Meine Freundin schmettert die Fragen nur so heraus, während ich bemerke, wie Jo sich zurücklehnt. Er hat sein Ziel erreicht. Anny wird uns alles über die Grauen erzählen und er musste nichts weiter tun, als es ein bisschen anzufeuern.

»Nein, nein. Sie haben keine Fähigkeiten. Sie sind einfach, wie soll ich das beschreiben? Sie haben sich an die Witterung gewöhnt.«

»Und wie genau ist das geschehen? Hat die Regierung sie dahin gehend modifiziert? Ich meine, sind sie ein weiteres Genexperiment?«, fragt Pratap neugierig.

Als Mediziner sind Annys Ausführungen für ihn natürlich außerordentlich interessant.

»Nun, sie leben schon eine ganze Weile an der Erdoberfläche. Seit mehreren Generationen.«

Wieder ist es Nume, die das Offensichtliche anspricht.

»Warte. Du meinst, sie kommen nicht aus den HUBs und sind auch nicht erst nach dessen Erbauung "kreiert" worden?«

Anny wirkt beunruhigt.

»Nein. Sie waren wohl schon immer da draußen. Schon seit damals …«

»Du meinst, es sind die Nachfahren der Menschen, von denen wir denken … ähm, ich meine, dachten, dass die längst ausgestorben sind? Überlebende der Krise? Ist das überhaupt möglich?«, fragt Pratap sichtlich aufgeregt.

»Pah!«, macht Arros. »Als wäre es das erste Mal, dass eine Behauptung der Regierung sich als unwahr herausstellt. Ich für meinen Fall würde es sofort glauben«, er hält kurz inne, »aber Anny? Bist du dir da sicher? Diese Leute sollen wirklich ein ganzes Jahrhundert im Feuerland gelebt haben und niemand hat sie bemerkt? Ich meine, die Transporte, die Späher … Ist das sicher?«

Ich werfe Jo einen verstohlenen Blick zu, aber in seinem Gesicht ist keine Regung zu sehen.

»Ja. Das ist definitiv möglich. Natürlich leben sie ganz anders als wir und sie wissen kaum etwas über die HUBs. Ich kann mir vorstellen, wie das alles für euch klingen muss. Bevor ich mich der Forschung angeschlossen habe, wusste ich ja selber nichts über die Grauen. Aber wenn man es von außen betrachtet, ist es nicht so verrückt, wie es scheint.«

Nume hat sich von ihrem ersten Schock erholt und setzt nun eifrig nach.

»Und dann haben sich diese Leute eines Tages einfach dazu entschlossen, bei 'nem blauen HUB vorbeizuschauen und ihre Arbeitskraft anzubieten? Das klingt für mich stark nach Unterdrückung. Ich meine, wir dachten ja auch unser Leben lang, dass wir nur für unseren eigenen HUB arbeiten. Dabei ging der Großteil unserer Produktion direkt an die Blauen.«

Anny fühlt sich merklich unwohl. Ihre Vorstellung ist zu einem Verhör mutiert.

»Wir - ich meine, die Regierung hat diese speziellen Menschen für die Arbeit an den Raumschiffen ausgewählt, weil sie sich perfekt eigneten. Das alles ist schon seit Jahrzehnten so. Länger, eigentlich. Ich meine, ich habe keinen großen Einblick in diese Vorgänge. Ich kam ja erst viel später dazu und vor mir gab es so viele wie mich.«

Sie hält inne und starrt auf ihre Hände.

»Aber ja«, fügt sie leise hinzu, »natürlich hast du recht, Nume. Die Grauen sind sicher nicht freiwillig dort. Die Lager sind stark bewacht und hin und wieder soll es vorkommen, dass einer ausbricht oder einen Aufstand anzettelt. Ich weiß nicht, was dann mit den Betreffenden geschieht, das übersteigt meine Sicherheitsstufe, aber ich denke, man kann davon ausgehen, dass sie nicht nur eine Abmahnung erhalten.«

Sie sieht nun so betrübt aus, dass ich automatisch Mitleid bekomme. Nume geht es scheinbar ähnlich, denn sie stellt keine weiteren Fragen und blickt auf den Boden.

Ich weiß nicht, wieso die Worte meinen Mund verlassen, aber irgendwie tun sie es.

»Anny? Die Grauen … sie werden nicht mit nach Salgaia kommen, richtig?«

Neben mir versteift Jo sich unmerklich. Entweder macht ihn das Thema so wütend, dass er sich schwer zusammenreißen muss, oder er hätte nicht erwartet, dass mich das Schicksal der Grauen tangiert.

»Ich kann das unmöglich beantworten. Davon weiß ich nichts. Meine Zuständigkeit reicht nicht über die Navigation hinaus, aber ich kann natürlich Vermutungen anstellen. Man braucht sich ja nur die Anzahl der HUBs und die Zahl der Grauen vor Augen zu führen und bekommt eine ungefähre Ahnung, wie viele Schiffe vonnöten wären, um sie zu transportieren«, sie sieht mich an und zuckt ganz sacht mit den Schultern. »Es sind etwa ein Drittel zu wenig, würde ich schätzen …«

Ich spüre, wie sich eine Haarsträhne hinter meinem Ohr bewegt, dabei weht hier kein Lüftchen. War das Jo? Will er mir damit etwas sagen? Ist es eine zutrauliche, dankbare Geste oder nur ein Versehen, weil er so aufgewühlt ist? Es wäre ja nicht das erste Mal.

Sawyer tritt hinter Anny und hebt beschwichtigend die Hände.

»Ich würde sagen, wir haben Anny fürs Erste genug ausgequetscht. Dass die Grauen nicht besser dran sind als die Commons, hatten wir uns ja bereits ausgemalt. Aber solange dieses Regime an der Macht ist, können wir rein gar nichts für sie tun. Wir sollten also alle weiteren Pläne und Feststellungen in diese Richtung auf später vertagen und uns erst mal Annys Wissen um diese Werften und den Souverän zunutze machen.«

Arros nickt heftig und damit ist das Thema "Graue" vom Tisch.

 

In den folgenden vier Stunden erzählt uns Anny alles, was sie weiß. Und das ist erstaunlich viel! Sie kennt den Ort, den die Regierung als "Central" bezeichnet und der wohl so etwas wie der offizielle Amtssitz des Souveräns und aller Regenten ist. Sie weiß auch, an welchen Tagen der Souverän sich bei den Werften blicken lässt, die sich sowohl über- als auch unterirdisch befinden. Und sie kennt mindestens drei andere Forscher, die uns behilflich sein könnten und dafür bereitwillig ihre Vorgesetzten hintergehen würden.

Alles in allem ist diese Anny also tatsächlich extrem hilfreich. Sogar Sawyer scheint sich gegen Ende der Sitzung ein wenig zu entspannen und ihre Anwesenheit nicht länger als eine emotionale Mutprobe zu empfinden.

Dafür wird es zu meiner. Jo und ich haben das ganze Treffen über kein Wort gewechselt und als ich die Kommunikationszentrale gemeinsam mit Nume verlasse, bleibt er noch eine Weile sitzen, obwohl es nichts mehr zu besprechen gibt und alle anderen ebenfalls im Aufbruch sind. Ich bin mir absolut sicher, dass er nur nicht mit mir zusammen rausgehen will, um ein weiteres, peinliches Schweigen zu verhindern.

Und auch Nume hat es augenscheinlich aufgegeben, mir weitere Informationen über Jo und mein Befinden zu entlocken. Sie verabschiedet sich gleich vor der Tür und meint, sie müsse noch etwas arbeiten. Also stehe ich plötzlich alleine da.

Ich beschließe mein Vorhaben, noch etwas zu trainieren, nun doch in die Tat umzusetzen, und bewege mich auf die Aufzüge zu. Als ich den Sensor betätige, habe ich plötzlich ein ganz seltsames Gefühl. Nur einen Augenblick lang und dann höre ich plötzlich Annys Stimme hinter mir.

»Können wir reden?«

Überrascht drehe ich mich um, kann sie aber nirgendwo entdecken. Stattdessen stehe ich nun beinahe Nase an Nase mit Jenkins.

»Sorry«, sagt dieser und tritt einen Schritt zurück, »ich dachte, du wolltest einsteigen?«

Er deutet auf die sperrangelweit geöffneten Fahrstuhltüren und lässt mir den Vortritt.

Schon erklingt wieder Annys Stimme.

»Nur ganz kurz? Wir treffen uns bei der Galerie.«

Und da entdecke ich sie. Sawyers ehemalige Freundin steht noch immer neben ihm. Zwanzig Meter von mir entfernt, kann ich die beiden durch die geöffnete Tür der Zentrale sehen. Ich bin vollkommen verwirrt und schlingere zur Seite, um Jenkins endlich durchzulassen. Dieser sagt nichts weiter, hält mich jedoch mit absoluter Sicherheit für geisteskrank.

Die Fahrstuhltüren schließen sich, während Anny und ich weiter Blickkontakt halten. Sie muss selbst auf die Entfernung meinen irritierten Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn in meinem Kopf höre ich nun: »Das ist mein Drift. Du weißt schon, Telepathie und so.«

Und dann geht mir endlich ein Licht auf. Natürlich! Ihr Drift! Das hätte ich mir denken können. Beinahe lache ich laut auf. Auch nach zwei Jahren in dieser "blauen Welt" habe ich noch immer kein Gespür für so was.

Ich nicke ihr bestätigend zu, weil ich nicht davon ausgehe, dass sie ebenfalls Gedankenlesen kann und mache mich auf den Weg zur Galerie. Vor lauter Drift-Faszination habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht, was sie wohl von mir will. Immerhin kennen wir uns nicht einmal. Sofort packt mich die Neugierde.

 

Keine fünf Minuten später steht Anny neben mir und lächelt mich strahlend an.

»Hi«, sagt sie ein wenig schüchtern.

»Hi«, erwidere ich ebenso zurückhaltend.

Ich kann mir noch immer keinen Reim darauf machen, worum es in unserem verdächtig heimlich anmutenden Gespräch gehen soll.

»Danke, dass du kurz Zeit hast«, beginnt sie und das Lächeln verschwindet nicht eine Sekunde aus ihrem Gesicht. »Ich wollte dich etwas fragen. Ich weiß nur nicht so recht, wie.«

»Schieß los«, fordere ich sie freundlich auf.

»Es geht um Sawyer.«

Sie senkt den Blick und wirkt plötzlich mindestens fünf Jahre jünger. So als wäre sie wieder ein Mädchen, das mit einer Kameradin aus dem Schul-Bezirk tuschelt.

»Arros hat mir seit ich hier bin so viel von dir erzählt«, erklärt sie. »Er ist total vernarrt in dich und da ich ja hier niemanden kenne und Arros nicht der richtige Ansprechpartner in dieser Sache ist, dachte ich … vielleicht bist du es?«

Nun bin ich wirklich neugierig. Anny kennt Arros schon ewig. Zumindest kannten sie sich einmal sehr gut. Was könnte sie von mir wollen? Sie weiß im Grunde nichts über mich.

»Wenn ich helfen kann, dann gerne«, biete ich an.

Sie sammelt sich kurz und knetet dabei unruhig ihre Finger. Sie ist ernsthaft nervös!

Ich komme mir plötzlich ganz erfahren und selbstsicher vor. Als würde jede ihrer unsicheren Gesten mich nur noch gelassener machen.

»Gott, ich weiß gar nicht, wie ich es formulieren soll. Das klingt sicher total banal oder vielleicht sogar ein wenig verrückt.«

»Ist schon gut«, sage ich schnell, »es bleibt einfach unter uns.«

»Ich würde gerne wissen, wie Sawyer über mich denkt.« Sie zögert kurz und fügt dann hinzu: »Ich meine, wie er über mich und ihn denkt …«

Nun bin ich wirklich überrascht. Nach allem, was Anny auf sich genommen hat, um zu uns in den CutOut zu gelangen, und bei allem, was noch vor uns liegt - mitten in diesem Chaos aus Krieg, Intrigen und Zukunftsvisionen will sie tatsächlich wissen, ob Sawyer noch verliebt in sie ist? Kann das sein?

Unwillkürlich denke ich an Jo. Die Welle an aufwühlenden Emotionen, die umgehend über mich hereinbricht, lässt mich die Fragestellung sofort zu einer Feststellung umformen. Natürlich kann es sein! Wenn Anny und Sawyer wirklich so verliebt waren, wie Arros es mir und den anderen beschrieben hat, dann hat die lange Zeit der Trennung nichts daran ändern können. Vielleicht hat sie es sogar noch intensiviert? Immerhin bin ich mir absolut sicher, dass Sawyer noch immer Gefühle für Anny hat und bei ihr scheint es sich ebenso zu verhalten.

Allein die Vorstellung, jahrelang in einen Menschen verliebt zu sein, niemand anderem sein Herz öffnen zu können und sich jetzt wiederzusehen - das ist ein emotionales Minenfeld! Plötzlich habe ich großes Mitleid mit den beiden. Also wähle ich meine Worte mit Bedacht.

»Anny … ich kann nicht für Sawyer sprechen. Niemand weiß so recht, was in diesem Mann vorgeht, aber wenn du mich um ein Gefühl, eine Einschätzung aus der Sicht einer Frau bittest -«

»Ja!«, unterbricht sie mich. »Genau das will ich. Nur einen Richtwert, verstehst du? Ich habe einfach keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Er spricht kaum mit mir und ich habe ihm so sehr wehgetan, damals …«

Ich bringe es nicht über mich, noch weiter um den heißen Brei herumzureden. Möglicherweise irre ich mich, aber das muss ich riskieren. Anny tut mir leid und ich glaube nicht, dass ich mit meiner Einschätzung falsch liege.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nie aufgehört hat, an dich zu denken. Mehr als das wahrscheinlich. Niemand hat ihn je mit einer anderen gesehen. Zumindest soweit ich weiß. Und ich spüre, wie sehr ihn deine Anwesenheit durcheinanderbringt. So verhält er sich sonst nie.«

Annys Augen werden immer größer. Hoffnung zeichnet sich darin ab.

»Anny. Ich glaube Sawyers Gefühle zu dir haben sich nicht ein bisschen verändert, seit du … ich meine, seit ihr damals auseinandergegangen seid.«

Sie kneift kurz die Augen zusammen, als meine Worte sie daran erinnern, wie sie Sawyer eiskalt den Rücken zugekehrt hat, als dieser sich vor Jahren hinter die Division gestellt hat. Doch schnell verschwindet der erschrockene Ausdruck wieder und an dessen Stelle sehe ich nun reine Verzückung aufblitzen.

»Danke! Oh danke, Nova! Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich mich das macht!«

Sie breitet die Arme aus und packt mich. Die Umarmung kommt völlig unerwartet und ich muss mich zusammenreißen, um nicht erschrocken zurückzuspringen. Ich kann nur hoffen, dass ich mich nicht irre. Es würde Anny das Herz brechen.