16. AUGE IN AUGE


Ein Blick in Jos Gesicht spiegelt meine eigenen Gefühle nur zu genau wider.

Mit jedem Gang, den wir hinter uns lassen, mit jeder Ebene, jedem leeren Raum und jeder Kammer wird es immer deutlicher.

Hier ist niemand.

Oder jemand will, dass wir so weit kommen.

»Das ist nicht gut«, flüstert Jo immer wieder und steigert mein ungutes Gefühl damit ins Unermessliche.

»Wir können nicht mehr zurück«, zische ich.

»Ich weiß«, lautet die verbitterte Antwort.

Wir sind eben dabei, eine weitere Kurve hinter uns zu lassen. Immer tiefer und tiefer dringen wir in das gewaltige Monstrum ein, welches derzeit ganz offensichtlich wenig frequentiert wird. Kein Regent, kein Prätor und erst recht kein Souverän kreuzt unseren Weg.

Anny muss sich geirrt haben.

Doch Sawyers Freundin führt uns weiter und weiter durch das Labyrinth. Sie scheint keinen Zweifel am Plan zu haben.

Und dann, als ich es kaum noch aushalte und doch am liebsten umkehren möchte, erreichen wir unser Ziel.

Zwei sperrangelweit geöffnete Türen, die irgendwie gar nicht ins Bild passen, weil es ansonsten nur Schleusen und Luken gibt, markieren den Eingang eines runden Sitzungssaals.

In dessen Mitte … steht er.

Eigentlich perfekt. Kein Mensch in Sicht. Eine ideale Angriffssituation. Niemand, der uns aufhalten kann.

Eindeutig eine Falle.

Trotzdem passieren wir einer nach dem anderen den Durchgang und stehen jetzt bloß noch knapp zehn Meter von dem Mann entfernt, der das Schicksal unserer Welt in Händen hält.

Und wir sind hier, um ihm diese Aufgabe abzunehmen!

Jo schnappt nach Luft, als sich die Türen hinter uns schließen. Instinktiv packt er mich und schiebt mich hinter sich.

Die anderen taxieren hektisch die leeren Ränge des Saals. Doch nirgends ist eine Bewegung auszumachen. Alle Sitzreihen wirken unberührt, als hätte hier noch nie eine Versammlung stattgefunden. Dabei haben wir erwartet, so ziemlich jeden hochrangigen Angehörigen des Systems anzutreffen. Oder zumindest ein paar davon.

Aber nur er ist hier.

Im Gesicht unseres Widersachers kann ich keine Emotion ablesen. Er steht einfach da und starrt uns abwartend an.

Von der Situation völlig überrumpelt, bleibt unsere kleine Gemeinschaft wie angewurzelt stehen.

Anny beäugt die verschlossenen Türen leicht verängstigt. Ob sie es jetzt bereut, sich am Ende doch noch der Division angeschlossen zu haben?

»Willkommen.«

Seine Stimme hallt uns entgegen. Ich kämpfe gegen die Angst an und frage mich unwillkürlich, wieso ein einzelner Mann in mir so eine Furcht auslöst. Immerhin hat er ohne einen Blauen in Griffnähe nicht mal einen Drift!

»Ich würde sagen, es wird auch Zeit, dass wir uns kennenlernen.«

Er macht einen Schritt auf uns zu, dann noch einen und noch einen. Es dauert nicht lange, und er steht direkt vor Sawyer.

Vor mir ist Jo bereit, seinen Drift einzusetzen. Ich spüre seine Energie mit jeder Faser meines Körpers.

Indessen streckt der Souverän seine Hand aus. Scheinbar will er Sawyer begrüßen!

Die beiden Anführer stehen sich sekundenlang reglos gegenüber. Als Sawyer keine Anstalten macht, die ausgestreckte Hand seines Gegenübers zu ergreifen, tritt dieser noch ein Stück näher heran und legt Sawyer seine Hand einfach auf die Schulter.

Unser Anführer weicht nicht einmal zurück, will keine Schwäche zeigen, obwohl ihm die Berührung des Mannes unangenehm sein muss.

Der Souverän schließt die Augen und lächelt dann beinahe genüsslich.

»Ah! Interessant«, sagt er so leise, dass ich es von meiner Position aus kaum verstehen kann.

Dann öffnet er die Augen wieder und starrt Sawyer regungslos an.

Ich bemerke es zunächst nicht, doch nach ein paar Sekunden spüre ich die Kälte. Diese erklärt sich durch die schnell wachsende Eisschicht, welche sich rund um Sawyer und den Souverän ausbreitet. Wie ein lebendiges Etwas kriechen die eisigen Fühler weiter und weiter, bis sie schließlich einen enormen Radius erreicht haben.

»Nicht schlecht«, stellt Sawyers Parasit fest und tritt wieder ein Stück zurück.

Ich kann sehen, wie Sawyer seine Schultern anspannt, als würde er jeden Moment einen Angriff des Mannes vor ihm erwarten. Doch nichts dergleichen geschieht.

Stattdessen mustert der dunkelhaarige Herrscher uns einen nach dem anderen. Während er dies tut, beginnt er mit einer kleinen Rede. Seine Stimme klingt merkwürdig ruhig, obwohl er die Worte hier und da ungewöhnlich betont. Ich habe noch nie jemanden so reden hören. Er klingt wie das genaue Gegenteil der Sallows.

»Nun, Sawyer. Dein Drift ist stark. Du siehst mich beeindruckt. Doch gestatte mir die Anmerkung«, er beginnt nun langsam, und ohne den Blick von unserer Truppe abzuwenden, nach links zu wandern, »ich hatte mir, wenn ich ehrlich bin, etwas mehr erwartet. Als einziger und direkter Nachfahre des großen Alois Bezier hatte ich an etwas Gigantisches, etwas episch Umwerfendes gedacht. DIE Fähigkeit unter den Fähigkeiten.«

Er ist inzwischen bei Jo und mir angekommen und scheint seinen Rundgang an dieser Stelle beenden zu wollen.

»Eine Fähigkeit, die außergewöhnlich ist. Einmalig, um genau zu sein.«

Ganz sachte neigt er den Kopf und blickt mir, an Jos Ohr vorbei, nun direkt ins Gesicht.

»Ob ich diese Fähigkeit wohl bei dir finde, junge Dame?«

Ich halte erschrocken den Atem an. Erwartet er etwa, dass ich darauf etwas erwidere?

Plötzlich macht Jo einen Schritt nach vorn. Er wird dem Ganzen jetzt ein Ende setzen. Die Hand leicht angehoben, ist er bereit, den Souverän mit seinem Drift quer durch den Saal zu schleudern. Doch dieser hebt tadelnd den Finger und schüttelt den Kopf.

»Na, na, na. Jetzt nichts Unüberlegtes tun, mein Lieber.«

Er wendet sich ruckartig ab und wirft gespielt erbost die Hände in die Luft.

»Eigentlich wollte ich auf diese kleine Machtdemonstration ja verzichten, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht das Gefühl, dass ich von euch die erforderliche Kooperation erwarten darf, also …«

Vor uns schnellt ein riesenhaftes Hologramm empor. Seine Ausmaße sind ungewohnt ausladend. Die freie Fläche an der gewölbten Wand des Sitzungssaals, welche etwa ein Drittel des Raumumfangs ausmacht, ist nun ein gigantischer Bildschirm.

Ein kurzes Flimmern, dann erscheint die Ansicht eines kleinen Raumes, der mich stark an die Zelle im HUB 1 erinnert.

In seiner Mitte sitzt Kieran.

Ich werfe Mailo und Ruben verwirrte Blicke zu. Was zum Teufel soll das werden? Zwar hatte ich mich in den vergangenen Wochen oftmals gefragt, was wohl mit dem verräterischen Mistkerl geschehen ist, doch kann ich beim besten Willen keinen Sinn in der Darbietung des Souveräns erkennen.

»Das«, fährt dieser fort, »ist ein alter Bekannter von euch, nicht wahr?« Er deutet auf das Hologramm, wo Kieran geknickt auf einem Stuhl kauert und schwer atmend abwartet.

»Dieser junge Mann hat während seiner kurzen Karriere innerhalb einer angesehenen Abteilung dieser Regierung eine ganze Menge Fehler begangen. Angefangen bei dem missglückten Versuch, eure groteske Botschaft im Keim zu ersticken, hat er sich immer tiefer und tiefer in eine aussichtslose Situation manövriert.«

Der Souverän dreht sich schwungvoll um und kehrt dem Hologramm den Rücken zu.

»Zugegeben. Ich hätte nicht so viel Vertrauen in ihn setzen sollen, aber ich hielt es damals für eine gute Idee, ein aufstrebendes, ambitioniertes Talent wie ihn auf diese unscheinbare Revolte anzusetzen. Aber so unscheinbar war sie ja gar nicht, richtig?«

Er sieht Sawyer beinahe anerkennend ins Gesicht.

»Wie dem auch sei«, sagt der beängstigend gefasste Mann und schreitet erneut auf und ab. »Kieran hat uns sehr enttäuscht. Er hat nicht nur versagt, er hat das ganze System in Gefahr gebracht.«

Die Hände andächtig gefaltet, schaut der Souverän uns an, während hinter ihm ein Soldat an Kieran herantritt.

»Lasst mich euch demonstrieren, was wir mit Menschen anstellen, die das System gefährden.«

In diesem Moment bäumt Kieran sich auf und schreit wie ein Verrückter. Der Soldat scheint seinen Drift an ihm auszutesten. Es ist derselbe wie im HUB. Der gleiche Drift, womöglich sogar derselbe Soldat. Er lässt Kieran unter einer Salve von Schmerzattacken zucken und zittern.

Anny, die bisher kaum eine ernsthafte Auseinandersetzung miterlebt hat, schnappt erschrocken nach Luft. Und auch ich muss zugeben, dass ich plötzlich Mitleid mit Kieran habe. Natürlich kann ich ihm sein Verhalten uns gegenüber nicht verzeihen, aber ich hatte mehr als einmal die Gelegenheit, ihn über die Klinge springen zu lassen, und habe es nicht getan. Was dort vor unseren Augen geschieht, ist mehr als grausam. Selbst als Zuschauer hält man es kaum aus.

Kierans Schreie hallen uns entgegen. Immer wieder pausiert der Soldat, um dann noch brachialer mit der Folter weiterzumachen.

Ich habe das Gefühl, die Aufzeichnung dauert ewig, dabei können es nur wenige Minuten sein. Erst als Kieran keine Regung mehr zeigt, tritt der Soldat zufrieden zurück, lässt von ihm ab.

Seine Augen sind offen, doch sie blicken nur starr ins Leere. Eine dünne Spur aus Blut rinnt aus seinem Mundwinkel.

Ein ungutes Gefühl überkommt mich. So als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Kieran ist tot.

Ich sollte erleichtert, vielleicht sogar erfreut sein. Aber ich bin es nicht.

Einmal mehr begreife ich, wozu dieser Mensch, der nun mit wachem Blick vor uns ausharrt, fähig ist. Er ist ein Monster, eine widerliche Kreatur und wir müssen ihn vernichten!

Von einer Welle aus Abscheu und Wut überschwemmt, stürze ich mich auf ihn. Jo stoße ich dabei einfach zu Seite und mobilisiere meinen Drift, noch bevor ich den Arm heben kann, um ihn gegen den Souverän einzusetzen.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr, aber in Fahrt, wie ich nun mal bin, beachte ich sie gar nicht.

Kurz bevor ich nahe genug bin, um ihn meine geballte Kraft spüren zu lassen, geschehen auf einmal zwei Dinge, die ich so nicht einkalkuliert hatte.

Ruben ist plötzlich direkt vor mir. Wütend über die Einmischung will ich ihn ebenfalls zur Seite stoßen, doch dann erkenne ich, wieso er sich mir in den Weg gestellt hat.

Über uns in den oberen Sitzreihen haben sich mehrere Soldaten postiert. Meine Attacke muss sie auf den Plan gerufen haben. Die Läufe ihrer Waffen sind allesamt auf mich beziehungsweise inzwischen auf Ruben gerichtet, der sich heldenhaft in die Schussbahn geworfen hat.

Im letzten Moment lasse ich meine Hand sinken und signalisiere so, dass ich aufgebe.

Eine angespannte Stille macht sich breit, während ich nur einen halben Meter von Ruben entfernt ausharre. Direkt hinter ihm steht noch immer der Souverän. Er ist nicht einen Zentimeter zurückgewichen, so sicher ist er sich, dass seine Anhänger ihn vor jedweder Attacke schützen werden.

Ich atme hektisch ein und aus. Ruben starrt mich erleichtert an. Kein Schuss ist gefallen. Die Soldaten sind in Wartstellung.

Ich erwidere Rubens Blick. Ein Lächeln bringe ich nicht zustande, aber ich weiß, dass er spüren kann, wie dankbar ich ihm bin, mich von meinem unüberlegten Vorhaben abgehalten zu haben.

In diesem Moment legt sich eine Hand auf Rubens Schulter. Sein Blick wird ernst und ich trete sofort einen Schritt zurück.

Ruben öffnet den Mund, doch dann hält er inne und reißt erschrocken die Augen auf.

Über seine Schulter hinweg kann ich eine Hälfte des Gesichts des Souveräns erspähen. Es ist leicht nach unten geneigt. In seinem Blick erkenne ich einen irritierend befriedigten Ausdruck.

Und dann schlagen plötzlich Flammen empor. Sie scheinen von überall zu kommen und hüllen Ruben innerhalb weniger Sekunden fast vollständig ein.

Als sie bis zu seinem Kopf vordringen, zieht der Souverän seine Hand weg und entfernt sich gemächlich von seinem Opfer.

Entsetzt weiche ich weiter zurück und pralle mit dem Rücken gegen Jo, der mich praktisch auffängt.

Vor unseren Augen geht Ruben immer noch brennend in die Knie.

Dieser Blick.

Als das Feuer seinen Kopf verschluckt, kippt er vornüber. Sein Körper schlägt mit einem leisen, seltsam knisternden Geräusch auf dem Boden auf.

Sawyer stürzt auf ihn zu, bereit, seinen Eis-Drift einzusetzen und das Schlimmste zu verhindern, aber die Soldaten heben sofort ihre Waffen und Anny packt ihn geistesgegenwärtig am Arm. Er will sich wehren, versucht sie abzuschütteln, aber ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. Sie muss ihm einen flehenden Gedanken in den Kopf gepflanzt haben, denn schließlich gibt er auf und bleibt mit hängenden Armen an ihrer Seite stehen.

Ich unterdrücke ein Schluchzen. Es ist eher ein Krächzen. Der Anblick von Rubens lichterloh brennendem Körper vertreibt jedes Gefühl aus meinen Gliedmaßen. Ich sehe es, verstehe, was da gerade geschieht, aber es dringt nicht zu mir durch.

Die Hilflosigkeit, mit der wir diesem grausamen Menschen vor uns ausgeliefert sind, macht mich rasend. Ich kann einfach nicht fassen, dass wir rein gar nichts gegen ihn unternehmen können!

»So«, dringt die Stimme des Monsters an mein Ohr. »Nachdem wir das nun geklärt haben, bräuchte ich bloß noch ein kleines Andenken und dann wird es Zeit für mich.«

Er tritt vor, umrundet dabei mit gerümpfter Nase Rubens Leichnam und tritt gemächlich auf Jo und mich zu.

Beinahe sofort richten sich alle meine Nackenhaare auf und auch Jo spannt jeden Muskel an.

Hinter dem Souverän tritt ein weiterer Mann in den Saal. Es ist ein Soldat und ich erkenne ihn sofort. Es ist derselbe, der Kieran gefoltert hat. Sein Drift jagt mir eine Heidenangst ein. Hoffentlich ist er nicht gekommen, um ihn dem Souverän zur Verfügung zu stellen.

Dieser wartet geduldig, bis der Mann bei uns angekommen ist, und lauscht den leisen Worten seines Gehilfen.

»Wir sind dann so weit.«

Ohne den Blick von mir und Jo abzuwenden, nickt der Souverän kurz und kommt sogleich einen weiteren Schritt näher heran.

Jo verstärkt seinen Griff um mich und scheint ziemlich alarmiert. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie auch Sawyer und die anderen unruhig werden.

Was hat dieser Typ jetzt wieder vor?

Beinahe zaghaft streckt er einen Arm aus und legt seine Hand auf mein Handgelenk. Ich will diesen Mann nicht in meiner Nähe haben, seine Hände nicht auf mir spüren.

Doch wir haben keine Wahl. Im Moment sind wir unterlegen.

Ich zucke ein wenig zurück, bleibe aber standhaft. Sawyer hat es auch ertragen.

»Mein Gott. Das fühlt sich fantastisch an. Du bist etwas ganz Besonderes, meine Liebe.«

»Darf ich?«, fragt er unpassend höflich.

Ich kann mir denken, was er von mir möchte, und schüttele den Kopf. Doch er ist schon dabei, in mich hineinzufühlen. Ich kann seine unsichtbaren Tentakel spüren, wie sie mein Inneres erkunden und sich zu der kraftvollen Kugel in meiner Mitte vortasten.

Ob es sich für Ruben genauso angefühlt hat?

Jo zieht mich noch etwas fester an sich, doch er kann nichts weiter tun.

Und dann sehe ich das erste Mal, wie jemand anderes als ich einen Impuls loslässt.

Die Hand sanft auf meinem Handgelenk ruhend streckt der Souverän die andere in die Höhe und schleudert die geballte Energie von sich weg. Die Art, wie er es macht, lässt mich fast ein wenig neidisch werden. Es wirkt so elegant. Als wäre es nicht sein erstes Mal, sondern eine routinierte, tausendfach wiederholte Geste.

Trotz seines offenkundigen Interesses an meinem besonderen Drift scheint er sich enorm zurückzuhalten. Vielleicht stimmt es? Vielleicht kann er meinen Impuls verdoppeln, traut sich aber hier in dieser Blechbüchse nicht?

Ich halte die Luft an und bete, dass es bald aufhört.

Und tatsächlich lässt er von mir ab und lächelt bewundernd.

»Danke. Das war fantastisch! Geradezu unbeschreiblich! Ich danke dir.«

»Dürfte ich dir die junge Dame entführen?«, fragt er an Jo gerichtet und fügt hämisch grinsend hinzu: »Ich würde ja gerne sagen, es sei nur für kurze Zeit … aber das wäre dann wohl gelogen.«

Jo senkt den Kopf und knurrt mehr, als er spricht: »Vergiss es.«

»Das dachte ich mir«, erwidert der Souverän ungerührt und macht dann eine flinke Bewegung mit der rechten Hand.

Über uns reagieren die Soldaten sofort und richten ihre Gewehre nun deutlich angriffslustiger auf unsere kleine Gruppe.

Indessen tritt auch der Neuankömmling näher an Jo und mich heran, damit sein Anführer ihn in Reichweite hat. Genau so etwas habe ich befürchtet!

Aber der Souverän macht sich gar nicht erst die Mühe, den Soldaten zu berühren und seinen Drift zu stehlen. Er lässt den Mann die Arbeit für sich tun.

Schockiert weiche ich ein Stück zur Seite, als Jo sich plötzlich aufbäumt und einen Schrei ausstößt, wie ich ihn bei ihm noch nie vernommen habe.

Der Souverän geht indessen zu Anny und legt ihr die Hand auf. Dabei sieht er sie verächtlich an. In seinen Augen ist sie eine Verräterin und ihr Leben nicht mehr wert als das von Kieran.

Sawyer zuckt zusammen, als der Mann seine Freundin berührt. Aber genau wie Jo bleibt er vorerst standhaft und unternimmt nichts weiter.

Der Souverän schaut Anny kurz an und nickt dann.

»Das war dann alles.«

Mit angstverzerrtem Gesicht stürze ich wieder zu Jo. Meine Hände wollen ihn berühren, aber irgendwie fürchte ich, das könnte ihm noch mehr Schmerzen zufügen.

Während der Soldat seine Arbeit gelassen fortführt, nähert sich der Souverän mir von der Seite. Ich bemerke es erst, als er bereits eine Hand an meinem Ellenbogen hat.

Jo fällt derweil auf die Knie und muss sich merklich zusammenreißen, um nicht weitere Schreie von sich zu geben.

Ich sehe Sawyer einen Schritt in unsere Richtung machen, aber es folgt sogleich ein Warnschuss zu seinen Füßen. Die Soldaten in den oberen Rängen sind bereit, jeden von uns abzuknallen, sollten wir uns widersetzen.

»Es wird Zeit, meine Liebe«, sagt der Souverän mit ruhiger Stimme und deutet in Richtung der großen Türen. »Hier entlang bitte.«

Offenbar will er sich meinen Drift nicht entgehen lassen und mich mitnehmen.

Ich kann meinen Blick nicht von Jo loseisen, der jetzt keuchend und mit geschlossenen Augen versucht, dem Schmerz zu entkommen.

Da hört der Soldat auf und geht in Wartestellung.

Jo atmet noch ein paar mal tief durch und öffnet dann die Augen. In seinem Blick sehe ich blanken Hass.

In diesem Moment beginnt der Souverän damit, mich in Richtung Ausgang zu zerren, und ich wehre mich mit Händen und Füßen. Um keinen Preis werde ich mit diesem Menschen mitgehen! Eher lasse ich mich hier auf der Stelle von den Soldaten erschießen.

»Wir können das auf die sanfte oder auf die harte Tour machen«, droht er mir unbeeindruckt und zieht mich weiter von Jo weg.

Ich würde gerne etwas erwidern, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein. Stattdessen werfe ich den Kopf zur Seite und versuche den Blickkontakt mit Jo wiederherzustellen.

Dieser hat mühsam ein Bein angewinkelt und ist im Begriff, seine Position zu festigen. Ich kenn diese Körperhaltung. Er wird seinen Drift einsetzen.

Ein Teil von mir will schreien, dem Ganzen ein Ende setzen, bevor nach Ruben noch einer von uns dran glauben muss, aber ich kann nur wie erstarrt dabei zusehen, wie uns die Situation entgleitet.

Mit einem markerschütternden Geräusch, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt, bäumt Jo sich auf und reißt die Hände hoch. Der Souverän wird ein paar Meter nach hinten geschleudert und ich mit ihm. Erst kurz bevor wir gegen die gewölbte Wand prallen, lässt er meinen Arm los und ich kommen ungeschickt auf allen vieren auf.

Unsicher werfe ich die Haare zurück, um einen Blick hinter mich werfen zu können, und sehe, wie Jo auf mich zueilt. Doch auf halbem Weg wird er von einer erneuten Schmerzattacke gepackt und dieses Mal fällt er praktisch sofort vornüber. Zuckend und brüllend windet er sich unter dem Einfluss des unmenschlichen Drifts, bis er sich schlapp auf den Rücken dreht und mich nun kopfüber anstarrt.

Seine Augen sind glasig und seine Lider flattern wild.

Hinter mir hat sich der Souverän wieder aufgerappelt und packt mich erneut. Dieses Mal allerdings um Längen grober. Ich werde hochgerissen und wieder in Richtung der Türen befördert. Stolpernd und zeternd wehre ich mich, versuche dabei immer wieder mich zu Jo umzudrehen.

Ich fange einen letzten klaren Blick von ihm auf, bevor sich seine Augen endgültig schließen.

Aus der Entfernung lässt es sich schwer deuten, ob er nur bewusstlos ist oder ob der Soldat mit ihm das Gleiche wie mit Kieran gemacht hat.

Ich bete, wimmere, hoffe, dass es nicht so ist. Und dann sind wir auch schon durch die Tür, lassen den Saal hinter uns und weitere Soldaten tauchen auf, um den Souverän zu begleiten. Wohin, kann ich nicht sagen. Und es ist mir auch egal. Ich habe das Gefühl, aufgeben zu müssen. Als gäbe es nichts mehr, wofür sich zu kämpfen lohnt.