2. SÄUBERUNG


Ich helfe Arros und Gibbs dabei, die letzten drei Soldaten auf der großen Ebene zu verschnüren. Die Übernahme des CutOuts ist vollzogen. Wir sind wieder Herr über unser Hauptquartier.

Nachdem Sawyer die Sequenz in der Kommunikationszentrale eingeleitet hat, wurde diese abgeriegelt und im kompletten CutOut ein Gas freigesetzt, welches ausnahmslos alle betäubt. Durch die Isolierung der Kommunikationszentrale geschah mir, Jo und den anderen nichts und die knapp 70 herannahenden Division-Mitglieder, die Arros zuvor aktiviert hatte, warteten geduldig vor der großen Schleuse, bis sich das Gas verflüchtigt hatte.

Dass dieser fiese Sicherheitsmechanismus überhaupt existiert und wir ihn für die Eroberung des CutOuts nutzen konnten, haben wir den Erbauern des Komplexes zu verdanken.

Der CutOut war von jeher nicht als gewöhnlicher HUB konzipiert. Diejenigen, die ihn ins Leben gerufen haben, hielten nicht viel von Rettung. Sie wollten mit dem Verkauf von Lebensraum Geld verdienen. Da mir noch immer schleierhaft ist, was ein paar Fetzen Papier für einen Wert haben sollen, kann ich diese Haltung kein bisschen nachvollziehen. Genauso wenig, wie ich es verstehe, weshalb sich eine Gruppe von Menschen mitten in einer weltweiten Krise zusammentut und Profit aus dem Leid anderer schlagen sollte.

Umso schöner ist es, dass der CutOut inzwischen die Heimat für Freiheitskämpfer ist. Ein Musterbeispiel an Ironie und in meinen Augen: ausgleichende Gerechtigkeit.

Eigentlich wollten Arros und Pete die Gastanks schon im letzten Jahr demontieren, aber jetzt sind wir alle froh, dass sie nie dazu gekommen sind. Was auf den ersten Blick wie ein grausames Instrument zur Kontrolle der "Insassen" erschien, hat uns heute - grob ausgedrückt - den Arsch gerettet.

Einziger Nachteil dieser Aktion: Auch Nume und mit ihr alle anderen Bewohner des CutOuts liegen nun bewusstlos am Boden. Doch dieser Preis ist gering, um im Gegenzug wieder in unsere Zentrale einziehen zu können. Noch einmal werden wir sie uns nicht wegnehmen lassen!

»Haben Sawyer und Joaquim bereits alles vorbereitet?«, fragt Gibbs mich nun.

»Ich glaube, sie müssten inzwischen so weit sein«, erwidere ich und versuche mir eine verirrte Strähne aus der Stirn zu streichen.

Vor ein paar Tagen wollte ich mir die Haare abschneiden. Sie behindern mich im Kampf und überhaupt, sehne ich mich nach einer Veränderung. Die Revolution, mit all ihren Umwälzungen und neuen Erkenntnissen löst in mir diesen Drang nach etwas Neuem aus. Als ich Jo von meinem Vorhaben erzählt habe, riss er schockiert die Augen auf. Zwar formulierte er keine Einwände - niemals würde er mir vorschreiben, wie ich auszusehen habe -, aber sein Blick allein genügte schon. Als hätte ich statt von einer neuen Frisur, über die Abtrennung eines Körperteils gesprochen.

Jetzt gerade bereue ich es ein wenig, nicht doch zur Schere gegriffen zu haben. Ich schnappe mir eines der Kunststoffbänder, die wir zum Fesseln der Soldaten benutzen, und binde mir einen improvisierten Zopf. Es ist ja nicht so, als würde ich meine inzwischen bis zur Taille reichenden Haare nicht mögen, aber feuerland- und kampftauglich sind sie nicht gerade. Vielleicht übergehe ich Jos Meinung doch noch und trenne mich von ein paar Zentimetern?

Jo und Sawyer stoßen zu uns und verkünden, dass der "Kerker" nun bereit sei. Eigentlich handelt es sich dabei um eine Art Lagerhalle in den Tiefen des CutOuts auf der Maschinen-Ebene. Ursprünglich zur Lagerung von Bauteilen und anderen technischen Utensilien gedacht, bieten die langen Reihen mannshoher Drahtkörbe einen idealen Aufbewahrungsort für ehemalige Anhänger eines diktatorischen Regimes.

»Wo ist der Hover-Buggy?«, frage ich Jo und er beantwortet meine Frage mit einem kurzen Kopfnicken nach rechts.

Ich sehe Zoe und T.J. mit zwei der schwebenden Buggys herannahen und beginne damit, einen der Soldaten mühsam auf die Seite zu drehen, damit wir ihn auf das Transportmittel wuchten können.

Das letzte Mal, als ich so ein Ding zu Gesicht bekommen habe, mussten Jakob und ich uns in zwei Kisten quetschen, um wieder einmal aus einem blauen HUB zu fliehen. Ich frage mich, wie oft ein Mensch solch eine Kamikaze-Aktion noch durchziehen kann, ohne draufzugehen. Und mit "einem Menschen" meine ich mich!

Jo legt mir eine Hand auf die Schulter und sagt: »Lass mich das machen.«

Ich trete dankbar zurück und beobachte ihn dabei, wie er einen Soldaten nach dem anderen auf der breiten Ablagefläche des Hover-Buggys platziert. Wie so oft ist sein Drift enorm praktisch. Und wie so oft schaue ich ihm fasziniert zu, registriere, wie sich diese kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen bildet. Wie immer, wenn er sich konzentriert. Seine Lippen öffnen sich dann stets ein kleines Stück. Bei diesem Anblick überkommt mich meist das Bedürfnis, ihn mit Haut und Haaren aufzufressen. Ich könnte stundenlang dabei zusehen. Es ist, als wenn er einen Moment lang vergisst seine Maske aufzusetzen und stattdessen einfach nur ein Typ mit verzückend magischen Fähigkeiten ist. Nicht der kampftaugliche, mittlerweile ziemlich abgestumpfte und schweigsame Feuerland-Wanderer.

Merdock kommt dazu und unterstützt meinen Freund. Da die beiden ein identischer Drift verbindet, ist die Räumung der großen Ebene schnell erledigt.

Danach arbeiten wir uns durch den Rest des CutOuts. Ebene für Ebene durchkämmen wir unser Hauptquartier und "säubern" es.

Zum Schluss bleiben nur noch die bewusstlosen Mitglieder der Division, die sich tatsächlich alle auf der großen Ebene befinden. Nur zwei liegen auf der Medi-Station. Vermutlich weil sie im Chaos der feindlichen Übernahme vor ein paar Wochen schwerere Verletzungen davongetragen haben.

»Ich bin total alle!«, sage ich und lasse mich gegen Jo fallen, der wiederum gespielt schwach tut und einfach nachgibt.

Übereinander landen wir auf einer der gepolsterten Bänke, die unweit der Aufzüge stehen und lachen ausgelassen. Wir haben es geschafft. Der CutOut ist unser!

»Na, ihr habt wohl Spaß?«, merkt Arros grinsend an, als er unser kindisches Verhalten aus sicherer Entfernung beobachtet.

»Wieso?«, ruft Jo ihm zu, »willst du dich dazulegen?«

Ich pikse Jo meinen Finger in die Rippen und er zuckt erschrocken zusammen.

»Willst du Krieg, du Biest?«

»Als hätten wir den nicht längst«, sagt Jakob, der das Schauspiel nun neben Arros beobachtet.

Zwar lächelt er, aber ich weiß, dass er es kaum erwarten kann, bis Nume endlich aufwacht. Dumm nur, dass Mailo das Vorrecht der ersten Umarmung meiner besten Freundin hat. Trotzdem ist Jakob sichtlich erleichtert, seine geheime "Geliebte" in Sicherheit zu wissen. Wie er sich mit der stummen Rolle als heimlicher Verehrer zufriedengeben kann, verstehe ich noch immer nicht. Ich würde so etwas nie aushalten. Immer zu wissen, dass sie mit einem anderen glücklich ist. Nicht einen Tag könnte ich damit leben. Aber Jakob hat Übung darin. Ihm ist nur wichtig, dass Nume heil und gesund im CutOut ihr Gemüse anbauen kann. Dass sie dabei mit Mailo zusammen ist, scheint er weiter heldenhaft zu ertragen.

Während Jo sich in meinem Nacken festbeißt und ich ihn halbherzig davon abhalte, betritt Sawyer die große Ebene. Ein Blick auf uns und er wechselt die Richtung. Offenbar macht er nie Pause.

Arros und Jakob wenden sich nun ebenfalls ab und gesellen sich zu Sawyer und den noch immer bewusstlosen Bewohnern des CutOuts.

»Ich glaube, ich gehe mal nachsehen, ob meine Wohneinheit noch existiert«, sage ich und schiebe Jo, dessen Arme und Beine inzwischen völlig mit meinen verkeilt sind, von mir weg.

»Alles klar. Ich sehe mal, ob ich den anderen noch irgendwo behilflich sein kann. Kommst du wieder her? Es wird sicher später irgendwas zu essen geben«, er grinst breit. »Endlich wieder richtige Nahrung! Das allein war schon Grund genug hier einzufallen.«

Ich verdrehe die Augen und verunstalte seine Haare mit einer Hand. Dann mache ich mich auf den Weg zu meiner alten Behausung.

 

Es ist seltsam, wieder hier zu sein. Seit unserem Aufbruch zur Sendestation sind Wochen vergangen und die ganze Welt steht Kopf. Trotzdem sieht meine Wohneinheit aus, als wäre ich nur kurz beim Training gewesen.

Auf dem Bett liegt ein Shirt. Neben der Tür lehnt meine Tasche und im Bad stoße ich auf meine Bürste. Sie liegt da, wo sie seit eineinhalb Jahren liegt, und scheint zu sagen: Hey! Wo bist du gewesen?

Ich betrachte mich im Spiegel und beginne mit einer kleinen Wäsche. Spritze mir Wasser ins Gesicht und über die Unterarme. Das tut gut. Ich bin wieder zu Hause.

Mit einem Seufzer lasse ich mich aufs Bett fallen und schließe die Augen.

Was wird als Nächstes geschehen? Ich weiß, dass unsere Späher morgen aufbrechen und die geflüchteten CutOut-Bewohner suchen werden. Viele sind es nicht, die während des Übergriffs der blauen Soldaten fliehen konnten, aber sie verstecken sich irgendwo da draußen und unsere Späher werden sie finden.

Ich weiß auch, dass wir uns neben all unseren Strategien und revolutionären Plänen endlich um die Eltern von Nume, Jakob und Mailo kümmern müssen.

Und dann ist da noch die Sonne. Die immer häufiger auftretenden Hitzepeaks sind nicht gerade hilfreich, wenn man vorhat, knapp zwei Millionen Gelbe in das Feuerland hinauszuschicken.

Was wir brauchen, ist ein wenig Glück. Hilfe vom guten, alten Kumpel Schicksal.

Ich rappele mich hoch und beschließe zu den anderen zurückzugehen. Ich freue mich auf Nume und habe Hunger. Von meinem Bett aus bekomme ich offenbar keinen direkten Draht zum Schicksal.

 

Auf dem Weg zu den Aufzügen kommt mir Ruben entgegen. Schnell senke ich den Blick.

Seit er uns in der Sendestation so mies verraten hat, meide ich ihn, wo ich nur kann. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ihn einfach in dem feindlichen HUB gelassen. Zusammen mit all den blauen Soldaten. Seinesgleichen, in meinen Augen. Aber es ging nicht nach mir und irgendwie kann ich durchaus verstehen, dass Jakob seinen Onkel nicht zurücklassen wollte. Und wenn ich noch einen Schritt weitergehe und ganz ehrlich zu mir bin, wollte Ruben mich und Jakob ja wirklich bloß retten. Er wusste von Kieran. Ihm war klar, dass wir geradewegs in eine Falle tappten. Seine Methode war irritierend dämlich, aber er wollte nur das Beste für seinen Neffen und die Tochter seiner alten Freundin Anabelle.

Das Bild meiner Mutter blitzt vor mir auf. Noch ein Grund, sich nicht die Haare abzuschneiden. Ich verdanke sie ihr. Die lange, dunkelbraune Mähne hat ihren Ursprung eindeutig in den Genen meiner Mutter. Mein Vater hatte blondes Haar. Wie immer, wenn ich an die beiden denke, frage ich mich, welches meiner Elternteile wohl das Drift-Gen in sich trug. Wem habe ich diesen elektromagnetischen Impuls zu verdanken? Oder hatten sie es beide und die "Mischung" ist verantwortlich für meine verrückten Fähigkeiten?

Ich werde es wohl nie erfahren.

Als Jakobs Onkel und ich uns auf einer Höhe des Gangs befinden, streckt er vorsichtig den Arm vor und will mich auf diese Weise zum Anhalten zwingen, doch ich weiche aus, ohne aufzublicken.

»Nova.«

Ich gehe weiter.

»Nova, warte doch bitte«, er bleibt stehen. »Lass uns kurz reden.«

Ich bin am Aufzug, betätige den Sensor.

Stille.

Erst als die Türen des Fahrstuhls sich öffnen und ich mich in Richtung Gang drehen muss, wage ich es, zu ihm hinüberzusehen. Aber der Gang ist leer. Ruben hat seinen halbseidenen Versuch aufgegeben. Gut so.

 

Auf der großen Ebene herrscht jetzt völliges Chaos. Etwa die Hälfte der bewusstlosen Menschen ist wach und alle sind damit beschäftigt, sich in die Arme zu fallen und sich gegenseitig über das Erlebte zu berichten.

Ich bahne mir einen Weg zu Mailo und Nume. Sie muss gerade erst wach geworden sein. Ihr Blick wechselt hektisch zwischen Mailo und den anderen Menschen, die sich um sie herum tummeln.

Ein freudiges Gefühl durchzuckt mich. Nume geht es gut. Wieder eine Sache auf meiner Dinge-die-ich-unbedingt-bewältigen-muss-Liste, welche ich nun getrost abhaken kann.

Kurz bevor ich sie und Mailo erreiche, halte ich inne. Irgendwie möchte ich nicht stören. Sie ist sicher durcheinander und Mailo ist ja bei ihr.

Ich scanne den Raum automatisch nach Jakob ab. Sicher hat er die ganze Zeit irgendwo ausgeharrt und darauf gewartet, dass Nume endlich aufwacht.

Ich entdecke ihn nur wenige Meter entfernt, halb hinter einer weißen Säule versteckt. Als ich ihn erreiche, tut er ganz lässig und schaut nicht länger in Numes Richtung.

»Alles in Ordnung?«, frage ich freundschaftlich.

»Jup.«

Wir schweigen eine Weile und beobachten das Treiben.

»Warst du in deiner Wohneinheit? Alles noch da?«

Ich nicke und beobachte dabei fasziniert, wie Sawyer einige Tücher vereist, um sie den Erwachenden auf die Stirn zu legen. Offenbar verursacht die Betäubung Kopfschmerzen.

»Sah aus, als wäre ich nie weg gewesen«, ich zögere. »Auf dem Rückweg bin ich Ruben begegnet.«

»Oh.«

»Ich weiß nicht, Jakob. Irgendwie kann ich den Mann nicht mehr sehen. Ich bin so wütend auf ihn. Keine Ahnung, ob das besser wird …«

»Habt ihr … geredet?«, fragt er mich und schaut dabei auffällig nervös auf seine Füße.

»Er hat es versucht, aber ich wüsste nicht, was es nach allem noch zu reden gibt«, ich halte inne. Die Körperhaltung meines Freundes sendet mir kleine Warnhinweise. Irgendwas stimmt nicht. »Jakob? Was ist?«

»Nichts. Gar nichts. Hast ja recht.«

Jetzt tut er doch tatsächlich so, als würde er etwas auf seinem Kommunikator suchen. Meint er das ernst? Seit ich denken kann, sind Jakob und ich beste Freunde gewesen. Jede noch so kleine Geste an ihm ist mir vertraut. Und jetzt, in diesem Moment, schreit jeder Muskel, jedes Haar an seinem Körper "Ich verheimliche dir etwas"!

»Hallo?«, sage ich und wedele mit einer Hand vor seiner Nase herum. »Gibt es etwas, das ich wissen müsste? Über Ruben, meine ich?«

Er wird rot. Was geht hier vor?

»Jakob!«

»Ich glaube nicht, dass ich es dir erzählen sollte. Das ist Rubens Sache. Also ich meine, das ist etwas zwischen ihm und dir.«

»Bitte was?«, fahre ich ihn an und gebe dabei einen kehligen Laut von mir. »Nun red schon!«

»Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen, aber ich glaube nicht, dass es ihm recht wäre, und irgendwie hat sich die Gelegenheit auch nie ergeben …«

Ich platze vor Neugier und beginne jetzt sogar ein wenig sauer zu werden.

»Du meinst in all den Wochen, die wir gerade gemeinsam im Feuerland verbracht haben, hattest du nie die Möglichkeit ein paar Worte mit mir zu wechseln?«

Ich stemme meine Hände in die Hüfte und starre ihn wütend an.

»Ach Nova! Das geht mich im Grunde gar nichts an und vermutlich dachte Ruben, ich würde es vergessen.«

»Jakob«, presse ich leise hervor, »rede!«

Er verdreht die Augen, packt mich am Arm und zieht mich in eines der Treppenhäuser. Genau wie im HUB 1 hält sich hier praktisch nie jemand auf und es bietet sich daher für geheime Treffen geradezu an.

Nachdem sich der Zugang hinter uns geschlossen hat, setzt Jakob sich auf die unteren Stufen der Treppe und kratzt sich am Kinn. Ich bleibe halb verärgert, halb beunruhigt stehen.

»Als wir in Rubens HUB waren, nachdem Kieran diese Sache in der Sendestation durchgezogen hat«, beginnt er und vermeidet dabei zu sagen "nachdem Kieran Marzellus und die anderen kaltblütig ermordet hat", »da wollten sie uns doch das Gedächtnis löschen.«

Ich kann mich gut an die wenigen Tage im HUB erinnern. Rubens schockierendes Geständnis in dem schmucklosen Raum. Ein großer Tisch zwischen mir, Jakob und ihm. Dann das heimliche Treffen mit Daniel, die Flucht, bevor sie uns "löschen" konnten.

»Und?«

»An dem einen Tag sollte ich mit ihm gehen, weißt du noch?«

»Sicher«, erwidere ich ungeduldig, »du warst danach ziemlich fertig.«

Ich sehe Jakobs Gesicht wieder vor mir. Die roten Augen und das matte Lächeln, während er mir eine Räuberleiter macht, damit ich zu Daniel gehen kann.

Er zögert wieder.

»Was hat er dir damals erzählt?«, frage ich so versöhnlich wie möglich.

»Ich glaube, er wollte sich alles von der Seele reden. Ich meine, er dachte, ich würde mich schon am nächsten Tag an nichts mehr erinnern. Also hat er die Karten auf den Tisch gelegt.«

»Weiter …?«, fordere ich Jakob auf.

»Er versicherte mir, dass er wirklich nur unser Bestes wollte. Dass er alles tun würde, um dich und mich vor den Blauen zu schützen. Und dann hat er hat mir von seiner Zeit in HUB 1 erzählt. Wie er seinen Drift bekam und es verheimlichen musste. Und von deiner Mutter. Weil sie ihm dabei geholfen hat.«

Ich horche auf. Auf einmal kann ich mir denken, worum es geht. Dass Ruben in meiner Mutter mehr als nur eine gute Freundin sah, habe ich bereits vermutet.

»Jedenfalls war das damals wohl alles etwas komplizierter, als wir dachten. Genaugenommen … Nova, was ich dir jetzt erzähle, wird nicht einfach für dich sein. Bitte versprich mir, dass du nicht sofort zu Ruben rennst und ihn schlachtest.«

Ein Kribbeln zieht sich über meinen Rücken und meine Arme. Eine leise Stimme in meinem Kopf will plötzlich gar nicht mehr wissen, was Ruben Jakob erzählt hat.

»Ich verspreche es«, höre ich mich halbwegs ehrlich klingend sagen.

»Ruben war in deine Mutter verliebt. Und sie wusste es. Aber da gab es eben noch deinen Vater. Die drei sind zusammen aufgewachsen. Waren beste Freunde. So wie du, ich und Nume.«

Er blinzelt kurz, als er den Namen meiner besten Freundin ausspricht.

»Anabelle hat sich gegen Ruben und für deinen Vater entschieden. Aber sie und Ruben blieben eng befreundet. Was auch der Grund war, warum er ihr die Sache mit dem Drift beichtete. Sie half ihm über die erste Zeit. Er hatte Angst, war verwirrt. Na ja, du kennst das ja«, fügt er achselzuckend hinzu.

Und wie ich es kenne. Plötzlich einen Drift zu haben, ist wie mit einem Mal drei Beine zu besitzen. Es überfordert einen auf vielerlei Ebenen.

Jakob fährt sich nervös durch das Haar und sucht scheinbar nach den richtigen Worten.

»Wie du weißt, hat Ruben es geschafft, mehrere Jahre unentdeckt im HUB zu leben. Nie zum Außeneinsatz geholt zu werden. Anabelle und er hüteten das Geheimnis und so schien es, als würde alles gut ausgehen. Doch dann stritten sich dein Vater und Ruben.«

Wieder zögert er, während ich vor Aufregung fast platze. Irgendwo in meinem Inneren tut es ein leises "Knack". Ein winziger Riss entsteht, nur kenne ich die Ursache noch nicht.

»Ruben war so sauer, dass er sich für einen kurzen Moment nicht unter Kontrolle hatte. Sein Drift …«

Ich schlucke.

»Dein Vater bekam ganz schön was ab und auf der Medi-Station konnten sie nicht mehr viel für ihn tun.«

Er verstummt. Wartet, ob ich die Informationen verstehe. Offenbar will oder kann er nicht noch mehr ins Detail gehen.

»Du willst sagen, Ruben ist schuld am Tod meines Vaters?«, hauche ich.

Er nickt vorsichtig.

Der Riss wird größer, breiter, länger. Er teilt mich in zwei Hälften.

»Es war ein Unfall, Nova. Gleich danach haben sie ihn geholt und in den blauen HUB geschickt.«

Ich höre seine Worte kaum noch. Mein Kopf ist erfüllt von einem tosenden Sturm. In meinen Ohren rauscht es.

Ruben hat meinen Vater umgebracht. Ruben HAT meinen Vater umgebracht.

Ich schließe kurz die Augen. Versuche den Riss notdürftig zu kitten. Dann sehe ich Jakob an. Ist er fertig? Kommt jetzt noch irgendwas oder war dies der letzte Punkt auf Rubens Liste der grauenvollen Taten?

Jakob blickt unsicher drein und macht Anstalten aufzustehen.

Und dann bin ich auch schon weg. Durch den Zugang, auf die große Ebene, in Richtung der Aufzüge.

Auf der Suche nach dem Mörder meines Vaters. Auf der Suche nach Ruben, um ihn zu schlachten.