10. STELLDICHEIN


»Anny?«, fragt Jo mit gerunzelter Stirn.

»Hmm?«

»Bist du dir sicher, dass es das ist?«

Genau wie ich, Sawyer, Mailo und Arros blickt Jo misstrauisch in Richtung der weit entfernten, äußerst unbewohnt und verfallen wirkenden Überreste des angeblichen Regierungssitzes, draußen im Wasser.

Das soll "Central" sein?

Laut Anny hält sich unser Souverän die meiste Zeit seines Lebens dort auf.

»Sicher. Es mag vielleicht nicht so aussehen, aber das liegt nur an dem Rückgang des Wassers.«

Sie deutet mit dem Finger auf die gewaltigen, von Seetang und Muscheln übersäten Rohre zu unserer Rechten.

»Die da gehören zur Entsalzungsanlage. Seht ihr? Führt alles kilometerweit nach draußen. Und die Station, also der Regierungssitz, war früher komplett unter Wasser. Was ihr seht, sind nur Teile davon. Das meiste befindet sich noch unterhalb der Wasseroberfläche.«

»Und wie bitte gelangt man da rein?«, fragt Arros kritisch.

Keiner von uns kann sich vorstellen, dass Menschen unter Wasser leben. Und vor allem glaubt niemand, der Souverän wäre wirklich dort.

Ich für meinen Teil hatte mir einen HUB vorgestellt, nur ohne Wohneinheiten und Unterhaltungslevel. Voller Menschen in diesen typisch verrückten Anzügen, wie sie die Blauen eben tragen, und großen Sitzungssälen. Das verwittert aussehende, marode Konstrukt aus kleinen Kuppeln, Nieten und Luken scheint mir eher ein übertrieben großer Beobachtungsposten für längst ausgestorbene Unterwasserlebewesen zu sein.

»Da gibt es Schleusen, unterhalb«, erklärt Anny, »aber die haben auch kleine Transportgleiter, mit denen man von oben anlegen kann. Kommt immer darauf an, was man transportiert oder wie schnell es gehen soll.«

»Aha«, grunzt Arros.

»Da werden wir heute nicht reinkommen«, stellt Jo fest und wendet sich zu den Lagern, hinter uns.

»Das bedeutet, wir werden diesen Teil des Plans mehr oder weniger spontan regeln, wenn es so weit ist?«, fragt Mailo ein wenig beunruhigt.

»Ich fürchte ja«, sagt Sawyer.

»Wieso lebt der Mann unter Wasser?«, frage ich Anny.

»Ich weiß es nicht. Vermutlich war die Station ursprünglich nicht als Regierungssitz gedacht, bot sich aber an. Auch bei 50 °C ist es auf dem Meeresgrund kühl und man bleibt unsichtbar. Ganz sicher hatten die da draußen es nie mit Eindringlingen zu tun, als die Krise auf ihrem Höhepunkt war. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob das Ding schon bewohnt war, als das alles begann. Vielleicht ist die Regierung erst später dorthin gewechselt?«

»Kann schon sein«, erwidere ich nachdenklich.

Eine Weile starre ich noch aufs Wasser hinaus und schwanke zwischen Faszination und Unbehagen. Wir haben in den letzten Tagen enorm viel über die Zustände rund um die Werften erfahren. Alles ist so groß und aufregend, gleichzeitig aber auch unmenschlich und beängstigend.

Besonders herb sind die Bedingungen, unter denen die Grauen hier existieren.

In einer Nacht haben Jo, Sawyer und ich uns ganz dicht an einen der Zäune herangeschlichen. Ich konnte die Menschen dahinter eine ganze Zeit lang beobachten und es war einfach nur traurig.

Sie tragen dreckige, einfache Kleidung, die zwar eindeutig aus HUB-Produktion stammt, aber ganz offenbar so lange getragen wird, bis sie vor Dreck und Rissen kaum noch als solche zu erkennen ist. Genauso schlimm sind die Baracken. Einige wirken beinahe baugleich. Als hätten die Blauen anfangs eine Art kleines Dorf aus Fertighütten errichtet. Doch dann müssen sie damit aufgehört oder den Dingen einfach ihren Lauf gelassen haben. Zwischen den klapprigen Behausungen finden sich immer wieder Schlafstätten aus Planen, Mulden im Boden, mit Decken und Müll ausgekleidet, und wackelige Häuschen aus den Überresten der alten Welt.

Noch immer habe ich die Grauen nur wenig reden hören. Sie scheinen sich oft mit Gesten und Geräuschen zu verständigen. Wenn man es eine Zeit lang beobachtet, kommt es einem schnell vertraut und verständlich vor. Auch erkenne ich viel von Jo in diesen Menschen wieder. Oder vielleicht verhält es sich eher andersherum? Die Art, wie sie einander begegnen, sich berühren oder ihre Umgebung im Auge behalten. Das alles sind Verhaltensweisen, die Jo als Feuerland-Späher ebenfalls an den Tag legt. Er muss eine Menge Zeit mit ihnen verbracht haben. Wahrscheinlich mehr, als ich mir vorstellen will.

»Was jetzt?«, fragt Mailo in die Runde.

»Wir gehen zurück und überlegen uns was«, bestimmt Sawyer.

Also treten wir den Rückzug an und ich bete, dass wir bald an einem Checkpoint halten und duschen können. Ich fühle mich wie ein schmieriges, klebriges Etwas, das nur noch durch meinen SOLAR SUIT und mein Kopftuch zusammengehalten wird.

 

Wenig später befinden wir uns wieder oberhalb der Werften und leeren ein paar Wasserrationen, bevor wir den Fußmarsch zu den Fahrzeugen in Angriff nehmen.

Ich habe es aufgegeben, Jo heimlich mit Blicken zu taxieren. Er muss so enttäuscht von mir sein, dass er seit dem kurzen Moment vor einigen Tagen kein Wort mehr mit mir gesprochen oder mich auch nur angesehen hat.

Ich habe mich schon fast ein bisschen an das dumpfe Gefühl in meiner Brust gewöhnt. Vielleicht schaffe ich es, ihn ganz aus meinen Gedanken zu vertreiben, bis das alles hier sein Ende nimmt? Bis wir nach Salgaia gehen oder im Kampf fallen. Letztere Option erscheint mir neuerdings ziemlich verlockend.

Plötzlich schallt ein ohrenbetäubender Lärm unter uns los. Es klingt wie ein Alarm und der Widerhall geht mir durch Mark und Bein. Selbst von hier oben klingt es, als stände man mitten in den Lagern, wo die Menschen jetzt aufgeregt durcheinanderrennen.

»Was ist das?«, frage ich erschrocken.

»Keine Ahnung«, erwidert Sawyer und starrt neugierig nach unten.

Die Menschen strömen nun in langen Schlangen in die unterirdischen Werften. Neben den breiten Reihen sind Soldaten postiert. Sie überwachen das seltsame Prozedere.

»Glaubt ihr, es hat mit den Kämpfen zu tun?«, fragt Mailo und schaut sich dabei wachsam um, so als erwarte er eine Horde Gelber am Horizont.

»Dann würden sie die Leute da unten wohl eher direkt ins Gefecht werfen, als sie unter die Erde zu treiben«, meint Jo grimmig.

»Nein«, sagt Anny und schüttelt den Kopf, »sie bringen die Menschen rein, weil es gleich ziemlich heiß werden wird.«

 

Eine Stunde später sind alle Grauen von der Erdoberfläche verschwunden und das ganze Gelände wirkt wie ausgestorben. Die Planen der Lager wehen im Wind, ein paar Soldaten hängen in der Nähe der Zugänge rum und unterhalten sich. Aus der Ferne kann ich einen von ihnen eine Zigarette rauchen sehen. Ich habe schon von Tabak gehört. Von Jackson und Arros, aber noch nie habe ich gesehen, wie sich jemand so ein Stückchen gerollte Pflanze anzündet und den Rauch genüsslich inhaliert. Das kann nicht schmecken! Vermutlich ist es eher eine Art Mutprobe unter den Soldaten. Zumal ich mir lieber nicht vorstellen möchte, woher der Tabak kommt oder wie alt er ist.

Es ist jetzt so still, dass ich mir einbilde, das Wasser in der Ferne branden zu hören. Kein Alarm und keine Motoren stören die Ruhe des Feuerlands, während wir weiter über dem Schauspiel ausharren und gespannt auf das warten, was als Nächstes kommt.

Es kündigt sich zaghaft an. Wie ein Knistern im Kopf, eine leichte Berührung im Nacken. Dann die plötzliche Unruhe, die einen befällt, wenn etwas Großes herannaht. Und zum Schluss, das Gefühl zu ersticken.

»Oh!«, keucht Anny.

Und auch ich muss mich stark konzentrieren, um dem Hitzepeak die Stirn zu bieten. Mein Schädel fühlt sich an, als würde er jede Sekunde bersten. Nur mühsam kann ich der Versuchung widerstehen, mir eine der kostbaren Wasserrationen über den Kopf zu schütten.

Neben mir atmet Mailo flach und hat die Augen geschlossen.

Nach fünf Minuten haben wir uns ein wenig an die neuen Temperaturen gewöhnt, mussten uns aber hinlegen, weil Stehen oder Sitzen einfach unnötig anstrengend wäre.

»Wann ist das endlich vorbei?«, seufzt Anny.

»Kann man schwer sagen«, meint Sawyer und wischt sich den Schweiß von der Oberlippe.

»Ich wäre jetzt gerne beim Souverän. Der hat's bestimmt wunderbar kühl in seinem Wasser-Bunker«, scherzt Arros.

Sein Bart ist patschnass und er wirkt, als bekäme er gleich eine Herzattacke.

Ich habe das Gefühl, mein eigener Herzschlag ist nur noch halb so schnell wie gewöhnlich. Am liebsten würde ich einfach einschlafen. Dann müsste ich auch Jo nicht mehr spüren, der ganz nah bei mir liegt. Genau wie ich hat er seine Brille umgebunden und eine Hand auf die Stirn gelegt. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glauben, unsere kleine Gruppe mache ein Mittagsschläfchen unter der Sonne.

Nach weiteren zwanzig Minuten ist es vorbei.

Ich checke meinen Kommunikator und überprüfe die Temperatur. Angenehme 62 °C.

»Meine Fresse!«, flucht Arros. »Das war echt übel.«

Geschlaucht und ziemlich müde verabschieden wir uns von Anny, die hierbleiben wird. Sie ist nun unser Spion und wahrt daher den Schein.

»Versuch herauszufinden, wie viele der Gelben sie bereits an Bord der Schiffe gebracht haben«, bittet Sawyer sie zum Abschied. Dann zögert er kurz.

Anny muss seine Körpersprache ebenso gedeutet haben wie ich. Sie wagt sich ein Stück vor und umarmt ihn vorsichtig.

Während Arros und die anderen sich bereits umdrehen und auf den Weg machen, genieße ich die unschuldige Geste zwischen Sawyer und seiner großen Liebe noch ein wenig. Ich freue mich so sehr für die beiden. Hoffentlich gelingt es Anny unentdeckt und vor allem unversehrt zu bleiben. Wenn alles vorüber ist, könnten sie einen Neuanfang wagen.

Schließlich folgen Sawyer und ich den anderen und während unter uns eine Lawine aus grauen Arbeitern zurück in die Lager drängt, verschwinden wir klammheimlich zurück ins Feuerland.

 

Ich bin enorm erleichtert, als ich endlich die kleine Gruppe Häuser ausmache, zwischen denen wir unsere Wagen versteckt haben. Der ganze Trip war abgesehen von der körperlichen Herausforderung, sich mehrere Tage und Nächte zwischen blauen Soldaten und grauen Gefangenen zu verstecken, auch durch die emotionalen Eindrücke abartig frustrierend. Zwar hatte Jo mir bei unserem Streit unter der Nachtsonne mehr als deutlich zu verstehen gegeben, wie arm dran diese Menschen sind, doch war der Anblick der Lager tausendfach überzeugender. Ich für meinen Teil bin erst einmal nur froh, in den sicheren CutOut zurückkehren zu können.

»Nova? Ich fahre bei Arros mit und Gibbs bei Sawyer, ist das o. k. für dich?«, fragt Mailo mich im Vorbeigehen und offenbart mir so, dass ich anscheinend bei meinem Freund mitfahren kann. Mein Inneres möchte antworten: "Nein! Das ist nicht o. k., du Trottel!", aber ich reiße mich zusammen und schlurfe zum Humvee.

Jo sitzt bereits am Steuer. Das wird eine sehr lange, schweigsame Fahrt werden …

 

Die Rückreise gestaltet sich problemlos. Es gibt keine weiteren Hitzepeaks, keine feindlichen Soldaten, keine Erdbeben. Nur Stille. Quälende, zermürbende, irremachende Stille.

Nach zwei Tagen habe ich sogar vergessen, wie Jos Stimme klingt. Er ist nun bloß noch ein Pilot. Jemand, der den Humvee steuert und hin und wieder hustet. Er könnte auf meinem Schoß sitzen und wäre trotzdem kilometerweit entfernt. Der Knoten in meinem Inneren zurrt sich so fest, dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich ertrage diese Situation nicht länger und bei der nächsten Rast werde ich mir ein anderes Fahrzeug suchen. Es reicht!

 

Als wir eine breite Düne hinaufgerumpelt sind, halten die anderen beiden Wagen sich ein Stück weiter links und rollen den Kamm hinab. Jo fährt geradeaus weiter.

Selbst als die Düne schon mehrere Hundert Meter hinter uns liegt, reiht er sich nicht wieder in die Kolonne ein.

Ich muss mich mehrmals räuspern, weil ich meine Stimmbänder ewig nicht benutzt habe.

»Willst du ihnen nicht folgen?«

Er schüttelt nur den Kopf und hält die Arme weiter starr am Lenkrad.

»Ähm … o. k.«, sage ich nur, obwohl ich nicht sicher bin, ob alles o. k. ist.

Doch als die anderen Fahrzeuge nach einiger Zeit am Horizont verschwinden, kann ich nicht mehr an mich halten.

»Jo! Wohin bitte fahren wir?«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und gaffe ihn an.

»Ich möchte dir etwas zeigen.«

Er klingt ganz ruhig, sieht mich aber weiterhin nicht an.

»Und was soll das sein?«, erwidere nur noch minimal zickig.

»Kannst du es dir nicht denken?«

Ich überlege kurz.

»Deine Freunde? Willst du mit mir zu deinen Leuten fahren? Ist das nicht gefährlich?«

Er erhöht die Geschwindigkeit und schließt die Hände fester um das Steuer.

»Ich würde sagen, das liegt ganz an dir. Solange du ihnen nicht versprichst, dass wir noch ein paar Hundert Schiffe bauen oder sie "Graue" nennst, sollte alles glattgehen.«

Der Sarkasmus in seiner Stimme ist unüberhörbar.

»Und wie soll ich sie nennen?«

»Sie selber nennen sich "Sallows"«, sagt er leise.

»Sallows?«, wiederhole ich.

»Ja. Farblose. Unklassifizierte.«

Ich nicke, weil ich den Namen passend finde. Natürlich kann Jo das nicht sehen.

»Wann werden wir da sein?«

»Es ist nicht mehr weit.«

Plötzlich bin ich schrecklich aufgeregt. Es fühlt sich ein bisschen wie damals an, als Jenny, ein Mädchen aus unserem Schul-Bezirk, ihren Geburtstag feierte und Nume eingeladen war. Meine beste Freundin wollte unbedingt, dass ich mitkomme, aber ich fühlte mich die ganze Zeit über unwohl, weil ich nicht dazugehörte.

Heute verhält es sich ähnlich. Man hat mich nicht eingeladen, ich gehöre nicht dazu.

Ich bin furchtbar nervös und hoffe, dass es noch eine Weile dauern wird, bis wir Jos Freunde erreichen. Ich brauche noch ein paar Minuten, um meine Gedanken zu ordnen.

Bekommen tue ich zwanzig Minuten, dann hält der Humvee und Jo steigt aus.

Ich kann weit und breit keine Menschenseele ausmachen, krieche aber ebenfalls langsam aus dem Fahrzeug.

»Und? Was jetzt?«, frage ich so entspannt wie möglich.

»Wir warten.«

»Worauf?«

»Auf das Empfangskomitee.«

Mit diesen spärlichen Informationen muss ich mich zufriedengeben.

Jo lehnt gelangweilt am Humvee und schnitzt mit seinem Messer an einer alten Wurzel herum. Allmählich glaube ich, dass er mich nur ärgern will. Niemals werden wir hier draußen auf die Grauen treffen. Das kann nicht sein.

Und es kann doch.

Als ich längst aufgehört habe, meine Umgebung immer wieder neugierig zu überprüfen, erscheinen in der Ferne plötzlich zwei Gestalten. Als sie näher kommen, erkenne ich, dass es ein Mann und eine Frau sind. Beide tragen lange, dünne Hemden, die beinahe bis zu den Knöcheln reichen. Das Feuerland-Äquivalent zum SOLAR SUIT offenbar.

Je näher sie kommen, desto nervöser werde ich und trete automatisch dichter an Jo heran. Streit hin oder her, er wird nicht zulassen, dass mir etwas passiert.

Er steckt sein Messer weg und stellt sich gerade hin. Als die beiden uns schließlich erreichen, wirkt Jo wie ausgewechselt. Der miesgelaunte Ausdruck ist aus seinem Gesicht gewichen und er lächelt aufrichtig in Richtung des großen Mannes vor ihm.

»Grimm! Wie geht es dir?«, sagt Jo und hält dem Mann seine Hand hin. Doch sie fassen sich nicht zur Begrüßung an den Händen, sondern umschließen ihre Handgelenke gegenseitig.

Arros hat mir einmal gesagt, dass dies der ideale Griff sei, um jemanden zum Beispiel vor einem Absturz in die Tiefe zu sichern. Bei Jo und dem Typen, der offenbar "Grimm" heißt, wirkt es unglaublich vertraut und nicht annähernd so oberflächlich wie ein gewöhnlicher Händedruck.

Ich meinerseits weiß nicht wohin mit meinen Händen. Das mulmige Gefühl in meiner Magengegend lässt mich sicher kein bisschen vertrauenswürdig wirken. Trotzdem lächelt die Frau mich zaghaft an und ich erwidere die Geste. Ich nehme an, Lachen ist in jeder Gesellschaftsform eine gute Sache.

»Joaquim. Hast lang nicht Halt gemacht bei uns. Bist beschäftigt mit den Fliegern, hm?«

Grimms Stimme klingt ebenso rau, wie die der Grauen im Lager, und er spricht seltsam abgehackt und kurz angebunden. Obwohl ich jedes Wort verstehe, klingt es wie eine fremde Sprache. Wie die unkomplizierte, schnelle Form unserer Ausdrucksweise.

»Ja. Wir haben viel herausgefunden und waren gerade in der Nähe«, erwidert Jo und dann berührt er mich, zu meinem positiven Erstaunen, am Arm. »Das hier ist Nova. Sie ist meine Freundin und möchte euch gerne kennenlernen. Glaubst du, es wäre Alvo recht?«

Ich weiß weder wer Alvo ist, noch bin ich mir absolut sicher, ob ich ihn kennenlernen will, und Grimm scheint ähnlich zu empfinden.

»Weiß nich, Joaquim. Is ‘ne heikle Sache, die du da machen willst. Könnte ihn wütend machen.«

Grimm dreht sich zu seiner Begleiterin um und sie beide blicken sich lange an. Obwohl kein Wort gesprochen wird, nickt die Frau schließlich und streckt ihre Hand vor. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass diese Geste mir gilt.

Schüchtern greife ich nach ihr und versuche mich an dieser neuen, seltsamen Form der Begrüßung. Meine Finger schließen sich zaghaft um ihr dünnes Handgelenk, doch als sie den Druck leicht verstärkt, packe ich ebenfalls beherzt zu und es fühlt sich sogar richtig gut an. Wie ein Versprechen. Ich blicke ihr ins Gesicht und stelle fest, dass sie rote Haare unter ihrem Kopftuch versteckt. Ein paar Strähnen hängen gewellt heraus und glühen im Sonnenlicht wie Feuer.

»Sei nich gemein, Grimm«, sagt sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Haben doch schon viel von Nova gehört. Is sicher ein guter Mensch. Keine verrückte Farbige.«

Auch sie spricht mit fremden Zungen, scheint mich aber wie selbstverständlich vor Grimm in Schutz zu nehmen. Was sie wohl meint, wenn sie sagt, sie hätten schon von mir gehört? Erzählt Jo seinen Freunden von uns. Wie wir leben und dass er und ich ein Paar sind?

Auf einmal habe ich gar keine Angst mehr und bin bloß noch neugierig.

Grimm grunzt unbeeindruckt und wedelt dann mit dem Arm vor mir rum.

»Sie soll zeigen, was sie hat. Wir müssen es sehen, dann entscheiden.«

Verunsichert lasse ich die Hand der Frau los und schaue Jo fragend an.

»Sie möchten gerne sehen, was für einen Drift du hast«, erklärt er mir, »dann entscheidet Grimm, ob du gefährlich bist für das Dorf.«

Ich reiße die Augen auf und starre ihn fassungslos an. Sobald Grimm meinen Impuls live erlebt hat, wird er mich nicht mehr mitnehmen. Mein Drift ist mehr als gefährlich. Doch dann sehe ich, wie Jo eine kaum merkliche Geste mit seiner Hand macht. Beschwichtigend hebt und senkt er sie zweimal und ich verstehe. Ich soll die harmlose Version meines Drifts vorführen. Das könnte klappen.

Also trete ich ein paar Schritte vom Humvee zurück und richte meine Hand auf die Fahrerkabine. Grimm weicht leicht beunruhigt nach hinten und zieht seine Freundin dabei mit sich. Nur Jo bleibt unbeeindruckt stehen. Offenbar will er zeigen, wie ungefährlich meine Fähigkeiten sind.

Ich mobilisiere vorsichtig meinen Drift und achte darauf, dabei möglichst freundlich und wenig kämpferisch zu wirken. Dann lasse ich den winzigen Impuls auf das Fahrzeug los und der Motor springt augenblicklich an. Zwar erschreckt das laute Geräusch Grimm ein wenig, doch scheint er zu wissen, dass ein Humvee keine Wunderwaffe, sondern nur ein harmloses Vehikel ist.

Ich schaue den Wüstenmann an und lächele unsicher. Dann wiederhole ich meine Geste und lasse den Motor absaufen.

»Is sicher nich unpraktisch«, kommentiert Grimm meine Show und nickt dann wohlwollend. »Gut. Kann mitkommen. Aber lass mich erst mit Alvo reden, dann kannst du sie zeigen.«

Damit bin ich eingeladen und fühle mich sofort erleichtert.

»Ich bin Sannah«, sagt die Frau nun und nickt mir noch einmal freundlich zu, bevor sie sich umdreht und gemeinsam mit Grimm in dieselbe Richtung verschwindet, aus der sie gekommen sind.

Als sie außer Hörweite sind, drehe ich mich zu Jo um.

»Was nun?«

»Jetzt fahren wir zu ihrem Dorf.«

»Du wusstest die ganze Zeit, wo sie leben?«, frage ich verwundert. »Warum dann diese Empfangskomitee-Sache?«

Er zuckt mit den Schultern.

»Es wäre unhöflich gewesen, dich einfach dorthin zu bringen. Sie hätten es mir übel genommen. So konnten sie selber entscheiden.«

Ich starre den beiden mit gemischten Gefühlen hinterher.

»Und wenn sie sich anders entschieden hätten?«

»Dann hätte ich dich ziemlich schnell hier weggebracht.«

Diese äußerst beängstigende Ansage lasse ich unkommentiert und folge Jo zum Humvee.

»Wir fahren nur ein Stück, verstecken den Wagen und gehen den Rest zu Fuß«, erklärt er.

 

Nach einer Weile habe ich meine Gedanken geordnet und unzählige Frage. Ich versuche mich auf das Wichtigste zu beschränken.

»Wo leben sie?«

»Nicht weit von hier«, sagt Jo und lenkt den Humvee um einen verrosteten Sattelschlepper herum, »in einem kleinen Tal. Dort gibt es sogar noch einen See. Er ist nicht groß, aber wirklich schön. Wird durch eine unterirdische Quelle gespeist. Ziemlich warm, aber trotzdem ‘ne nette Freizeitbeschäftigung. Und es gibt dort Höhlen. Ideal, um unentdeckt zu bleiben, und auch kühler als draußen.«

Ich staune nicht schlecht. Dies waren die ersten zusammenhängenden Sätze, die Jo seit Wochen an mich gerichtet hat.

»Und kennst du Sannah gut?«, frage ich weiter.

Sofort sehe ich den liebevollen Ausdruck in seinem Gesicht, als ihr Name fällt. Sie muss ihm viel bedeuten.

»Ja. Sie war eine der ersten, die ich damals kennengelernt habe. Für mich ist sie … so was wie eine Mutter. Vermutlich weil sie mich auch dann noch mag, wenn ich etwas Dummes mache. Sie ist sehr gutmütig, weißt du.«

»Ich finde sie nett«, erwidere ich zustimmend und es ist nicht gelogen. Sannah ist die Art Mensch, den man sofort ins Herz schließt. Eine ältere und ruhigere Version von Nume.

»Aber Grimm ist ein wenig gruselig.«

Jo lacht.

Jo lacht!

»Nein, nein. Er ist nur vorsichtig. Das lernt man hier draußen schnell. Er will seine Leute schützen. Ist doch verständlich. Mach dir keine Sorgen. Grimm ist eigentlich ein lieber Kerl. Etwas ruppig vielleicht, aber o. k. im Grunde.«

Ich schaffe es kaum, Jo zuzuhören. Viel zu groß ist meine Freude über diese unerwartete Unterhaltung. Mit einem Schlag ist das Leben in unsere Beziehung zurückgekehrt. Eben noch hätte ich gewettet, er würde mich ohne schlechtes Gewissen in der Wüste verdursten lassen und plötzlich ist er wieder mein Jo! Auch wenn sich eigentlich nichts geändert hat und weiterhin keine gescheite Lösung für unsere Probleme in Sicht ist, bin ich so glücklich über die Worte, die er an mich richtet.

»Und dieser Alvo? Ist er ihr Anführer?«

»Ja.«

»Ist der auch eigentlich ein lieber Kerl?«

»Hin und wieder«, sagt Jo knapp. »Er trägt die Verantwortung, daher muss er sich an gewisse Regeln halten, damit niemand in Gefahr gerät. Ein wenig wie bei Sawyer und der Division.«

»Verstehe«, sage ich und versuche mir Alvo vorzustellen, aber er hat immer nur Sawyers Gesicht, also werde ich warten müssen, bis ich ihn kennenlerne. Ein wenig fürchte ich mich davor, aber jetzt, wo Jo wieder mehr als zwei Wörter redet, fühle ich mich gleich besser. Ich bin sehr gespannt auf das Dorf und den See und Alvo.

Und dann fällt mir plötzlich auf, dass Jo ein großes Risiko mit mir eingeht. Die Sallows hätten mich nie zu sich eingeladen und wenn ich mich dumm anstelle, könnte es auch für Jo nach hinten losgehen. Sicher sind nicht alle so liebenswert wie Sannah.

Jo will mir offenbar zeigen, wie wichtig ihm die ganze Sache ist, nur was bezweckt er damit? Am Ende läuft es auf dasselbe hinaus. Er will hierbleiben und die Sallows weiterhin vor der Division verbergen. Vielleicht hofft er darauf, dass ich ihm die Lügerei nicht mehr so übel nehme, wenn ich diese Menschen erst kennengelernt habe.

Ich horche in mich hinein, kann aber keinen Anhaltspunkt finden. Ich weiß nicht, ob ich ihm sein hinterhältiges Verhalten verzeihen kann. Inzwischen habe ich mir längst eingestanden, dass ich nicht wegen der Lüge an sich böse bin, sondern viel eher deswegen, weil er mich nicht ins Vertrauen gezogen hat. Niemals hätte ich seine Freunde verraten. Er hätte es mir sagen können, aber er wollte es nicht.

Was sagt das über uns aus?