14. BESTIMMUNG


»Bist du sicher?«

Ich verspüre keine Lust, Mailos Frage ein weiteres Mal zu bejahen und werfe ihm lediglich einen genervten Blick zu.

Natürlich kann ich seine Skepsis durchaus nachvollziehen. Wir stehen nun schon geschlagene zwei Stunden neben unseren Autos und starren in die Ferne. Kein Wunder also, dass er allmählich am Plan zweifelt.

»Mal im Ernst, Nova. Die kommen nicht.«

Ich stöhne auf und wende mich mit verschränkten Armen ab.

»Wenn Jo sagt, dass wir uns hier mit ihnen treffen, dann meint er das auch so. Immerhin reden wir hier nicht von zwei oder drei Leuten, sondern von einer ganzen Horde Sallows. Die bewegen sich nicht mit Überschall von A nach B!«, konstatiere ich lustlos.

»Aber zwei Stunden?«, fragt Mailo hartnäckig und raubt mir auch das letzte bisschen Geduld.

Leider trifft er mit seiner Fragerei einen wunden Punkt. Mittlerweile frage ich mich nämlich auch, wo unsere Verstärkung bleibt.

»Sie werden schon noch kommen!«

Damit beende ich die Unterhaltung und schlendere zu Zoe und T.J. rüber. Zwar sehen auch diese beiden etwas verunsichert aus, aber wenigstens lachen sie dabei.

»Na? Lässt dein Liebster uns hängen?«, fragt T.J. dreist, als ich mich nähere.

Anstatt zu antworten, verdrehe ich nur die Augen.

»Hör auf, T.J.! Der wird schon noch auftauchen. Kein Grund Nova zu ärgern«, tadelt Zoe und knufft den Fiesling in die Seite.

Ich will gerade ein paar dankbare Worte in ihre Richtung zwitschern, als die beiden Division-Anführer ihre Kabbelei schlagartig unterbrechen und wie erstarrt in meine Richtung schauen.

»Was?«, frage ich irritiert.

Zoe hebt den Arm und deutet auf einen Punkt hinter mir.

Ich drehe mich blitzschnell um.

Am Horizont sind Menschen zu sehen. Eine kleine Gruppe von vielleicht zehn Personen.

Schnell eile ich zurück zu Mailo und Arros, die die Spitze unserer Mannschaft bilden.

»Und das ist alles?«, fragt Mailo Arros, gerade als ich sie erreiche.

»Unsinn!«, antworte ich anstelle meines Trainers. »Da kommen sicher noch mehr.«

Nun kann ich Jo unter den schnell näher kommenden Leuten ausmachen und atme erleichtert aus.

Obwohl ich Mailo gerade das Gegenteil versprochen habe, beschleicht mich plötzlich ein ungutes Gefühl. Was, wenn Alvo in letzter Sekunde einen Rückzieher gemacht hat? Was, wenn der Rest nicht kommt? Dann sähen wir ganz schon alt aus.

Als Jo uns erreicht, lässt er seine Gefolgschaft zunächst stehen und geht direkt auf mich zu. Völlig unerwartet streckt er eine Hand aus, zieht mich an sich und dann küsst er mich hungrig.

Überrumpelt und erstaunt verspüre ich eine Sekunde lang den Drang ihn wegzustoßen. Ich bin nicht sicher, ob dies hier der richtige Moment ist, um sich seinen Gefühlen hinzugeben. Doch dann bemerke ich die Energie, welche sich hinter seinem ziemlich leidenschaftlichen Kuss verbirgt.

Er ist motiviert. Kampfbereit. Bis zur Oberkante voll Testosteron.

Das Treffen mit Alvo scheint demnach gut verlaufen zu sein.

Nur mit Mühe winde ich mich schließlich aus seinem Griff und fahre mir beschämt über die Lippen.

Die anderen schauen rücksichtsvoll zu Boden und warten, bis Jo diese vorrangige Angelegenheit für beendet erklärt.

»Alle bereit?«, fragt er in Richtung Arros, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Bilde ich mir das ein oder würde er gerade lieber mit mir hinter dem nächsten Felsen verschwinden, als um unsere Freiheit zu kämpfen?

»Äh, ja. Bereit«, erwidert Arros halb belustigt, halb wütend. »Aber, korrigiere mich, falls ich mich irre. Sollten da nicht noch ein paar mehr kommen?«

Er deutet zaghaft in Richtung der Sallows, die noch immer hinter Jo ausharren und uns mit Argusaugen beobachten.

»Ach das …«, meint Jo, dreht sich zu Alvo, welchen ich erst jetzt bemerke, und hebt eine Augenbraue.

Alvo lässt seinen Blick noch einmal schweifen, scheint zumindest so tun zu wollen, als würde er die Zügel in der Hand halten, und nickt Jo schließlich knapp zu. Dann zieht er ein kleines Teil aus einer Falte seines langen Hemdes hervor und führt es an den Mund. Es sieht aus, als wäre es aus Knochen oder blank poliertem Holz. Als er es an die Lippen setzt und kräftig hineinbläst, gibt es einen seltsamen, dumpfen Ton von sich.

Gespannt beobachte ich ihn dabei. Kein Wunder, dass Jo sich so animalisch aufführt. Der bloße Anblick dieser zum Krieg gerüsteten Sallows mit ihren Messern, Kopftüchern, Lederriemen und grimmigen Mienen lässt mich schon ganz unruhig werden. Und mein Freund war nun beinahe eine Woche bei ihnen. Hat mit ihnen gegessen, geredet, alles vorbereitet.

Ganz offensichtlich ist er in diesem Moment mehr Sallow als Joaquim.

Mailo hat neben mir inzwischen unbeeindruckt die Arme vor der Brust verschränkt und beäugt das Szenario kritisch. Numes Freund scheint nicht mehr daran zu glauben, heute noch weitere Sallows zu Gesicht zu bekommen.

Doch dann … kommen sie.

Weit hinten, auf dem Kamm eines flach abfallenden Hügels, tauchen nacheinander schemenhafte Umrisse auf. Erst nur ein paar. Dann immer mehr. Nach und nach erscheinen an zwei Dritteln des Horizonts, die flackernde Sonne im Rücken, unzählige, schwarze Umrisse. Krieger, so weit das Auge reicht.

Obwohl ich um ihre große Anzahl wusste und ja sogar schon einmal bei ihnen zu Gast war, keuche ich beeindruckt auf.

Und auch Mailo klappt der Unterkiefer herunter.

Nur Jo grinst lässig und legt den Kopf schief.

»Wollen wir dann?«, fragt er ungerührt und blickt Arros frech an.

Dieser kann seinen Blick gar nicht mehr von der entfernt ausharrenden Menge an Kämpfern abwenden und nickt nur langsam.

»Sie werden zu Fuß gehen. Also können wir es ebenfalls entspannt angehen«, erklärt Jo. »Unterwegs werden weitere zu uns stoßen. Bis wir die Werften erreicht haben, sind wir vollzählig.«

Mailo dreht seinen Kopf mit einem Ruck zu Jo.

»Noch mehr? Da kommen noch mehr? Echt jetzt?«

Jo lacht amüsiert. Dabei nimmt er mich bereits am Arm und schiebt mich zu einem der Humvees.

»Ja. Da kommen noch mehr. Das war ja immerhin der Plan, oder nicht?«

 

Wir fahren und fahren.

Immer wieder tauchen weitere Sallows wie aus dem Nichts auf. Mal sind es nur vierzig oder fünfzig, dann gibt es wieder Gruppen, die so groß sind, dass ich die Anzahl ihrer Mitglieder nur erahnen kann.

Unsere Wagenkolonne zieht an ihnen vorüber und doch fühle ich mich mit diesen fremden Fußsoldaten verbunden. Ich bin so beeindruckt, so fassungslos, dass ich immer wieder Fehler beim Fahren mache.

»Halt dich links«, meint Jo einmal und als ich das Steuer rumreiße, um zu reagieren, sagt er nur lachend: »Das andere links!«

Und da lachen wir beide.

Es ist seltsam. Da gab es diesen schrecklichen Streit und in Folge dessen, diese bitteren Aussichten und doch … fühle ich mich in Jos Gegenwart wohler als jemals zuvor. Vielleicht, weil jetzt nichts mehr zwischen uns steht. Auch wenn er sein großes Geheimnis erst kürzlich gelüftet hat, so wusste ich doch immer, dass dort etwas ist. Schon die ganze Zeit über waren da diese Vorahnungen, die bösen Mutmaßungen.

Ich hätte mir zwar niemals erträumt, dass Jo heimlich mit Grauen befreundet wäre, doch nagten stets Zweifel an mir. Ich hatte zuweilen Angst, er würde mir und meinen Freunden irgendwann den Rücken kehren, ich wusste nur nicht wieso.

Doch nun ist alles anders. Klarer, ehrlicher. Auch wenn wir mal wieder im Begriff sind, uns Hals über Kopf in ein irrsinniges Unterfangen zu stürzen, bin ich glücklich.

Ich fühle mich stark, bereit und hellwach.

»Was ist?«, fragt Jo verwundert, als er mein gedankenverlorenes Lächeln bemerkt.

»Nichts. Ich bin nur gut drauf«, erwidere ich aufrichtig.

Er lächelt erstaunt zurück und gibt einen kehligen Laut von sich.

»Du meinst, es gefällt dir, mit mir und Tausenden Wahnsinnigen ins Verderben zu rennen? Kann es sein, dass dir das liegt? Dass du diese Art Unternehmung ganz gerne hast?«

»Was meinst du?«, frage ich gespielt unschuldig.

»Na, dass du Spaß daran hast, dich in total waghalsige, wenig erfolgversprechende, kamikazemäßige Selbstmordoperationen zu stürzen. Du willst immer mehr davon, oder?«

Ich drehe mich zu ihm um und schaue ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

»Unbedingt!«

Wieder lacht er, nur dieses Mal klingt es nicht ganz so entspannt.

»Du weißt, dass Maja dabei ist, oder?«

Ich stutze.

»Sie ist hier? Sie ist mitgekommen?«

»Ja.«

»Wieso weißt du das, obwohl ich mit den anderen zusammen aufgebrochen bin und du nicht?«

»Sie war bei der ersten Gruppe. Bei Sawyer. Und Alex ist auch dabei. Alle sind dabei, Nova.«

Die Art, wie er dies sagt, entbehrt nicht eines leicht belehrenden Tonfalls.

»Ich verstehe schon«, sage ich schnell und richte meinen Blick wieder auf den Pick-up vor uns. »Du willst, dass ich die ganze Sache nicht so leicht nehme. Du musst dir keine Sorgen machen, Jo. Ich weiß, wie gefährlich es ist.«

»Tatsächlich?«, fragt er vorsichtig. »Immerhin rede ich hier mit der Frau, die die unschöne Angewohnheit hat, HUBs im Alleingang zu stürmen, sich mit fiesen Verrätern anzulegen und ihren Kopf durchzusetzen, sei es auch noch so halsbrecherisch.«

Ich ramme einen anderen Gang rein.

»Gerade du solltest froh sein, dass diese Frau es so handhabt. Immerhin hat es dir schon zweimal die Haut gerettet.«

»Trotzdem sehe ich nicht gerne dabei zu, wie du dich in Gefahr begibst.«

»Das wird sich in den nächsten Tagen wohl nicht verhindern lassen«, erwidere ich emotionslos.

»Ich weiß«, meint er, »und ich weiß auch, dass ich dich von nichts abbringen kann. Trotzdem ist es nicht zu viel verlangt, wenn ich dich bitte aufzupassen. Kannst du das für mich tun? Einfach auf dich achten?«

Er sagt es leicht übertrieben, als solle es witzig klingen, aber es ist todernst und ich bin mir darüber im Klaren.

»Wir werden beide aufpassen und alles wird gut gehen«, sage ich entschlossen.

 

Nach drei nervigen Tagen ohne Checkpoint, ohne Dusche und ohne leidlich bequeme Liegestätte erreichen wir einen HUB, um eine längere Rast einzulegen und uns zu sammeln. Der Komplex war einer der ersten, die von der Division befreit wurden und ist eine willkommene Abwechslung zum Feuerland mit seinen faden Essensrationen und den unsicheren Nachtlagern.

Von den zuständigen Division-Mitgliedern im HUB erfahren wir, dass Sawyer und der Rest der ersten Gruppe bereits vor zwei Tagen aufgebrochen ist. Es verläuft also alles nach Plan.

Morgen Abend wird Sawyer uns eine Nachricht zukommen lassen. Entweder harren wir dann weiter aus, weil Anny die Anwesenheit des Souveräns nicht bestätigen kann oder wir ziehen ins Gefecht.

Wir bekommen Wohneinheiten zugeteilt und richten uns vorübergehend ein.

»Duschen?«, fragt Jo mich, als ich mich in einer Ecke des Zimmers vorsichtig aus meinen Kleidern schäle. Den SOLAR SUIT habe ich zwar dabei, aber in den letzten Tagen war ich genau wie Jo in normaler Kleidung unterwegs.

»Oja. Duschen!«, erwidere ich voller Vorfreude.

Gemeinsam quetschen wir uns in die kleine Kammer und genießen das lang ersehnte Wasser. Wir befinden uns in einem gelben HUB und der Waschraum ist daher eher spartanisch funktional eingerichtet. Die Duschkabine ist erschreckend beengt. So hatte ich das gar nicht in Erinnerung.

Die erste Dosis nutzen wir, um Sand und Dreck loszuwerden. Nachdem der Recycler grünes Licht gibt, verwenden wir die zweite Ladung Wasser für eine ausgiebige Wäsche. Meine Lebensgeister erwachen und lassen die Torturen der Anreise schnell in Vergessenheit geraten.

Die dritte Wassereinheit dient nur noch der Kulisse. Fast schäme ich mich ein wenig, weil wir so verschwenderisch mit dem lebenswichtigen Element umgehen, doch möchte ich den wunderbaren Moment nicht zerstören. Also entschuldige ich mich im Geiste kurz bei meinem Vater, der beim Anblick dieses Szenarios sicher aus vielerlei Gründen mahnend den Finger heben würde, und gebe mich wieder meiner Glückseligkeit hin.

Jo und ich mutieren zu einem Bündel aus ineinander verkeilten Armen und Beinen. Lachend und herumalbernd liebkosen wir uns und als das Wasser endgültig versiegt, wandern wir zum Bett und lassen unserer Leidenschaft freie Hand.

 

Ich war noch nie auf dem dreißigsten Level eines gelben HUBs. Eigentlich ist es total unspannend. Vielleicht nicht ganz so modern ausgestattet wie der CutOut oder ein blauer HUB, aber insgesamt ziemlich austauschbar.

Es gibt ein großes Steuerpult, einen klimatisierten Raum, mit ein paar Servern, kleine Lichter blinken hier und da - also eigentlich alles wie gehabt.

»Hallo zusammen!«, schallt es jetzt von links und ich beende meine kleine Inspektion, um mich auf Sawyer und Anny zu konzentrieren.

Die beiden erscheinen in diesem Moment vor unseren Augen, flach und durchscheinend, in Form zweier Hologramme.

Jo, Arros, Mailo, Zoe, noch ein paar andere Division-Anführer und ich erwidern Sawyers Gruß und beäugen sein Hologramm neugierig.

Unser Anführer hat sich ein provisorisches Lager unweit der Werften errichtet und will uns heute, zusammen mit Anny, auf den aktuellen Stand bringen. Je nachdem, wie die Lage vor Ort ist, werden wir entweder schleunigst aufbrechen und zu ihnen aufschließen oder aber die nächste, passende Gelegenheit abwarten müssen.

»Wie ist die Lage bei euch? Hat alles geklappt?«

Sawyers Frage geht natürlich direkt an Jo. Dieser räuspert sich und verkündet beinahe stolz: »Wir konnten alle Stämme kontaktieren. Alvo hat sein Versprechen gehalten und das bedeutet, wir sind bereit.«

»Großartig«, sagt das Hologramm und obwohl die Verbindung relativ mies ist, ist das breite Grinsen auf dem Gesicht unseres Anführers unübersehbar, »sind denn alle gut untergekommen? Kommt ihr so weit klar?«

»Die Sallows haben sich in der Nähe des HUBs niedergelassen. Manche auch etwas weiter entfernt, aber wir können jederzeit alle zusammentrommeln und losmarschieren«, berichtet Arros.

»Perfekt! Dann tut das. Hier stehen die Zeichen ebenfalls gut. Laut unseren Informationen wird der Souverän übermorgen eintreffen und mindestens zwei Tage in Central verweilen. Wir haben also ein ideales Zeitfenster und können wie geplant fortfahren.«

Sawyer wirkt geradezu übertrieben optimistisch, was mich ein wenig wundert. Sonst geht er die Dinge immer eher sorgsam und wohlüberlegt an. Nun scheint es so, als wäre unser Vorhaben für ihn eine Lappalie, die es zu erledigen gilt.

»Hey Sawyer?«, fragt Zoe hämisch grinsend, »was ist denn mit dir los? Warum so happy?«

Ich bin also nicht die Einzige, der Sawyers überschwängliches Benehmen auffällt.

Doch nicht unser Anführer erwidert etwas auf die neugierige Frage, sondern Anny.

»Achtet gar nicht auf ihn. Ich glaube, euer Frontmann hat einen mittelschweren Gottkomplex!«

Amüsiert hebt Zoe eine Augenbraue und stichelt weiter: »Wie darf man das verstehen? Mehr Infos bitte, Anny!«

»Ach nein, hört auf damit!«, mischt sich Sawyer ein. Das Hologramm ist wie immer eine grelle Mischung aus bläulich weißen Farbtönen, aber ich könnte schwören, dass Sawyer sich schämt, dass er in diesem Moment rot anläuft.

»Der liebe Sawyer bildet sich momentan ein bisschen zu viel auf seine Blutlinie ein«, berichtet Anny, ihren Freund einfach ignorierend, und macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Versteh ich nicht«, meint Zoe ratlos.

»Na ja, einer meiner Kollegen hier, einer von denen, die mit uns zusammenarbeiten, für die Division meine ich, der hat da etwas herausgefunden, und nun glaubt Sawyer, das Schicksal halte seine schützende Hand über unsere Mission.«

Jetzt bin auch ich ziemlich interessiert an der scheinbar lustigen Entdeckung.

»Was hat er denn herausgefunden?«, frage ich und trete ein Stückchen näher an Annys Hologramm heran.

»Wie es scheint, ist Sawyer ein direkter Nachfahre vom werten Herrn Bezier. Also ist er jetzt zu einhundert Prozent davon überzeugt, der geborene Befreier zu sein. Unser Ritter in der genetisch glänzenden Rüstung, sozusagen.«

Ich verstehe nur noch Bahnhof. Genau wie Zoe und Arros neben mir.

»Wie jetzt?«, fragt Jo misstrauisch. »Ich dachte, wir Blauen sind alle nur das Ergebnis von ein paar gut gemixten Genen. Ich meine, wir haben keine Eltern, keine Familien - wie kann Sawyer da ein Nachfahre von Alois Bezier sein?«

»Müssen wir das jetzt und hier so ausführlich diskutieren?«, geht Sawyer dazwischen, aber Anny beachtet ihn gar nicht und plappert weiter.

»Das stimmt auch, Joaquim. Nur scheint es so, als hätte Alois Bezier wohl sein Vorrecht als Erschaffer unserer Welt, und damit meine ich die HUBs, die Raumschiffe und das alles, genutzt und ein Andenken hinterlassen. Offenbar dachte der Mann sich, es könne nicht schaden, auch sein eigenes Erbmaterial einfließen zu lassen.«

»Aber dann gibt es doch sicher unzählige Menschen, die zumindest in Teilen von ihm abstammen?«, wirft Zoe ein und fügt dann schnell hinzu, »sorry Sawyer, natürlich bist du trotzdem einzigartig. So war es nicht gemeint.«

Sie grinst belustigt und klimpert mit den Wimpern.

»Nein«, meint Anny sofort, »tatsächlich wurde Beziers Erbmaterial noch nie "verwendet". Ganz offenbar ist Sawyer der erste, in einem HUB lebende Mensch, der, zumindest was die Gene angeht, nach dem Abbild unseres großen Weltveränderers Alois Bezier geschaffen wurde.«

Sie seufzt und zuckt mit den Schultern.

»Tja. Und nun bildet sich der Kerl hier ganz schön was darauf ein, fürchte ich.«

»Jetzt mach mal halblang!«, verteidigt Sawyer sich eilig, »ich bilde mir nichts ein. Ich sage ja nur, dass es ein Zeichen sein könnte. Immerhin war ich gar nicht als Anführer der Division vorgesehen. Das war alles, nun ja, Fügung! So kann man es doch nennen, oder etwa nicht? Und ist es nicht ziemlich verrückt, dass ausgerechnet der Anführer der Widerstandsbewegung ein Nachfahre des Mannes ist, der uns allen ein besseres Leben bringen wollte? Der uns retten wollte? Ich finde, das ist mehr als ein Wink des Schicksals. Das ist ein Bombardement von Hinweisen!«

Er hält inne und starrt aus seinem flimmernden Hologramm heraus in die Runde.

»Und jetzt hört auf, euch über mich lustig zu machen, und nennt mir lieber ein paar Eckdaten, damit wir einen Zeitplan aufsetzen können!«

»Hey warte mal«, sagt Zoe, immer noch ziemlich belustigt. »Wie seid ihr überhaupt darauf gekommen? Ich meine, kann ich das auch machen? Sehen, woher ich komme?«

Die Frage ist berechtigt. Immerhin weiß keiner der Blauen, woher sein Erbmaterial stammt.

Von Pratap weiß ich, dass alle Frauen innerhalb der blauen HUBs steril sind und keine Kinder bekommen können. Allerdings nur durch die Zugabe von Hormonen, was ich als ungemein beruhigend empfinde. Kaum vorstellbar, dass diese Frauen niemals Kinder bekommen können. Pratap hat mir versichert, dass die meisten von ihnen nach dem Absetzen der Hormone die gleiche Chance auf eine Familie hätten wie wir Gelben.

»Ach, das war reiner Zufall«, winkt Anny ab. »Sawyer wollte die Gerätschaften hier im Alleingang aufbauen und da hat er sich böse geschnitten. Alles war voller Blut, das reinste Massaker und da mussten wir wohl oder übel einen Abstecher zum nächsten blauen HUB machen und ihn auf die Medi-Station bringen. Hat nicht lang gedauert und zum Glück gab es einen Befreiten in der Nähe.« Sie zuckt mit den Schultern und meint: »Na und da auf Medi-Stationen grundsätzlich jedes noch so winzige Detail in den Krankenakten vermerkt wird und der liebe Sawyer hier neugierig, wie er nun mal ist, seine eigene Akte durchgeblättert hat, sind wir auf den Vermerk gestoßen. Normalerweise stehen da nur Nummern, also zur Identifizierung des eingesetzten Genmaterials, damit man später die Zusammenhänge zwischen Drift und "Gen-Mixtur" nachvollziehen kann, aber bei ihm stand eine Nummer und neben der zweiten ein ziemlich auffälliger Hinweis auf den Gen-Geber. Tja, und das war eben Bezier. Danach kannte Sawyer kein Halten mehr und wollte alles wissen. Zum Glück waren die Mediziner geduldig und kooperativ, so haben wir innerhalb einer Stunde alles erfahren. Sonst säßen wir sicher jetzt noch da fest.«

»Du meinst, Sawyer ist so was wie der Sohn von diesem Bezier?«, frage ich beeindruckt.

»Wenn du so willst - ja«, erwidert Anny ungerührt. Als Forscherin betrachtet sie die ganze Angelegenheit eher nüchtern.

»Hallo?«, fährt Sawyer dazwischen. Er muss sich wie ein kleiner Junge vorkommen, über den die Erwachsenen reden, als wäre er gar nicht anwesend. »Können wir jetzt endlich mal weitermachen?«

»Klar«, meint Arros. »Dann bringen wir dich mal auf den neusten Stand, Bezier junior!« Er lacht grollend und reibt sich die Hände.

Wir anderen fallen mit ein und einen Moment ist die ganze Anspannung vollkommen vergessen und ein Stück Normalität kehrt zurück.

»Pete und ich konnten die Hitzepeak-Vorhersage optimieren. Wenn alles beim Plan bleibt, dürften uns in den nächsten Tagen keine Temperaturschwankungen überraschen«, erklärt Arros.

»Perfekt. Weiter?«, erwidert Sawyer.

Arros und Zoe geben unsere geschätzten Ankunftszeiten durch und beraten sich über Koordinaten und andere strategische Dinge, während ich mich zu Jo hinüberbeuge und ihm zuflüstere: »Was meinte Sawyer damit, dass er gar nicht Anführer werden sollte? Weißt du das?«

Er nickt und rückt ein Stück näher an mich heran. Sein Unterarm berührt meinen und eine angenehme Gänsehaut macht sich bei mir breit.

»Eigentlich sollte Arros seinen Vorgänger ablösen, als dieser allmählich zu alt für den Job wurde, aber er hat Sawyer den Vortritt gelassen.«

Ich reiße erstaunt die Augen auf.

»Wieso hat er das getan?«

»Keine Ahnung«, erwidert Jo und dann zuckt sein Mundwinkel ein wenig, als er hinzufügt: »Vielleicht hat Sawyer ja recht? Vielleicht war es Schicksal und Arros hatte gar keine andere Wahl?«

Er sieht mich an und macht ein komisches Geräusch, das wohl wie ein Geist oder sonst etwas Übernatürliches klingen soll.

»Ach hör auf!«, sage ich und schubse ihn sanft zur Seite.

Wir kichern über diese mystische Theorie und können erst wieder aufhören, als Arros sich missbilligend räuspert und uns so ein Zeichen gibt, die Spielstunde auf später zu vertagen.