12. AN EINEM STRANG


Viel später am Abend sitze ich gemeinsam mit Jo an einem großen Feuer und fühle mich bereits, als hätte ich mein ganzes Leben in dieser kleinen Gemeinschaft verbracht. Wobei das Dorf gar nicht so klein ist. Im Schätzen war ich schon immer schlecht, aber wenn man Jo glauben kann, sind allein die Bewohner des Bergs mehr als nur eine Handvoll. Von Sannah weiß ich, dass es sich nicht um die einzige Gruppe handelt. Dort draußen im Feuerland gibt es noch viele Sallows und alle leben frei.

Als wir das Lager erreichten, hatte ich Angst, war misstrauisch und verunsichert. Jetzt verhält es sich genau andersherum. Ich bedauere es, dass wir schon bald wieder fort müssen. Am liebsten würde ich noch länger bleiben, mindestens eine Woche. Doch dafür ist keine Zeit. Die Erkenntnisse, welche wir durch unseren Abstecher zu den Werften gewonnen haben, bedürfen unserer vollen Aufmerksamkeit. So vieles muss geplant, durchdacht und berücksichtigt werden. Ich habe Jo noch immer nicht gefragt, was er den anderen gesagt hat. Schließlich dürfte ihnen inzwischen aufgefallen sein, dass wir nicht in den CutOut zurückgekehrt sind. Vermutlich hat er ihnen irgendeine Lüge aufgetischt. Rückblickend muss ich mich wundern, dass ich Mailos Bitte, bei Jo mitzufahren, nicht hinterfragt habe. Ganz sicher hat mein Freund ihn dazu verleitet. Immerhin war es Jo auf der Hinfahrt ja auch völlig egal, in welchem Auto ich sitze.

Vom Anblick der fremdartigen Menschen, die um das Feuer herumsitzen, fasziniert, bemerke ich erst ziemlich spät, dass Jo plötzlich nicht mehr neben mir ist. Er hat die Feuerstelle umrundet und sich zu Sannah gesetzt. Die beiden unterhalten sich leise und wirken dabei sehr vertraut.

Noch vor wenigen Stunden hätte mich dieser Anblick wütend oder gar neidisch gemacht. Jetzt genieße ich es. Ich verstehe, wieso mein Freund so sehr um das Wohlergehen dieser Menschen besorgt ist. Nein, mehr als das! Ich bin es inzwischen ebenso. Nur können wir rein gar nichts tun, um ihnen zu helfen. Und um ehrlich zu sein, weiß ich auch gar nicht wirklich, ob sie Hilfe brauchen. Vermutlich würde es Jo gerne sehen, dass seine Freunde mit nach Salgaia kommen. Aber ist das wirklich die Lösung?

Ich versuche mir meine Sitznachbarn in einem Raumschiff vorzustellen. Undenkbar.

Sie sind so eng mit der Natur, mit dem Feuerland verwoben, ein anderer Ort existiert für sie nicht. Vermutlich ist das auch der Grund, warum Jo hierbleiben möchte. Selbst wenn es genügend Schiffe gäbe, es wäre der falsche Weg. Und er sieht sich offenbar selbst als Sallow. Als Teil ihrer Gemeinschaft, ihrer Familie.

Plötzlich ist Jo wieder neben mir und tippt mir auf die Schulter.

»Können wir kurz reden?«, fragt er und ich bin schneller auf den Beinen, als es meinem Gleichgewicht guttut. Das Schwimmen war ungewohnt und kräftezehrend. Meine Glieder sind schlapp und ich fühle mich angenehm müde und pudelwohl.

»Klar«, sage ich und folge ihm durch die, in das Licht des großen Feuers getauchte, Höhle.

Er führt mich hinauf und zuerst denke ich, dass wir wieder zu Alvo gehen, doch der sitzt am Feuer. Ich habe ihn dort gesehen.

Wir wandern immer weiter, höher, zwängen uns durch kleine Gänge und erklimmen kantige Stufen. Hin und wieder muss Jo mich festhalten, weil ich stolpere oder langsamer werde, weil ich die Hand nicht mehr vor Augen sehen kann. Ich genieße es jedes Mal, wenn seine Finger sich um meinen Arm schließen.

Dann erreichen wir das Ende eines kleinen Tunnels. Erst als wir hinaustreten, erkenne ich, dass wir uns unter freiem Himmel befinden. Wir stehen auf einem kleinen Felsvorsprung und Jo hält inne, den Blick auf die weite Ebene unter uns gerichtet. Wir müssen sehr hoch sein. Der Ausblick ist selbst bei Nacht atemberaubend.

In der Ferne kann ich mehrere Dünen ausmachen. Ihre Formation lässt darauf schließen, dass darunter Häuser aus der alten Zeit begraben liegen. Aber auch die unmittelbare Umgebung ist sagenhaft schön. Das Areal, welches den See und den Zugang zu den Höhlen umgibt, ist felsig und rau. Vereinzelt sehe ich kleine Gebüsche. Genau wie auf der Insel im See scheint hier noch das eine oder andere Gewächs der Sonne zu trotzen.

»Wow!«, sage ich und stelle mich direkt neben ihn.

»Ich komme gerne her, wenn ich hier bin«, erklärt er.

»Kann ich verstehen.«

Er deutet auf ein paar kleinere Felsen zu unserer Linken und sagt: »Dort können wir uns hinsetzen. Dann muss man nicht die ganze Zeit darauf achten, ob man zu nah am Abgrund ist.«

Ich kraxele hinter meinem Freund her und sichere mir meinen Platz.

Die Luft ist wunderbar hier oben. Eine zaghafte Brise umspült meine nackten Beine. Sannah hat mir ein langes Hemd geliehen. Es fühlt sich gut an auf der Haut. Ich kann verstehen, wieso die Sallows sich so kleiden.

»Worüber möchtest du mit mir reden?«, frage ich auf die Gefahr hin, dass es erneut zu einer unschönen Wendung kommen könnte. Das letzte Mal, dass Jo und ich uns nachts unter freiem Himmel unterhalten haben, endete übel.

»Ich habe mit Alvo geredet. Ihm alles erzählt. Von den Werften und den Lagern meine ich.«

»Oh!«, sage ich erstaunt.

»Er war nicht begeistert, wie du dir vorstellen kannst.«

Ich nicke verständnisvoll und angele nach Jos Hand. Langsam streichele ich mit meinem Daumen über seinen Handrücken und warte darauf, dass er mehr erzählt.

»Jedenfalls sieht Alvo sich nun ein wenig im Zugzwang. Bisher wussten er und die anderen Stämme nicht, wohin die Blauen ihre eingefangenen Sallows verschleppt haben. Nun schon.«

Ich überlege kurz.

»Du meinst, er will sie befreien?«

»Nicht ganz.«

Jo reibt sich das Kinn.

»Ich konnte ihn überreden, einen Deal zu machen.«

»Einen Deal?«, frage ich gespannt.

»Ja. Ich muss natürlich noch mit Sawyer reden und überhaupt, es ist alles noch relativ unklar, aber wir haben ein paar Rahmenbedingungen abgesteckt.«

»Erzähl!«, fordere ich ihn auf.

»Der Plan könnte lauten: Alvo und seine Leute mischen die Soldaten an den Werften auf, befreien die Grauen und wir nutzen das Chaos, um die Sache mit dem Souverän durchzuziehen.«

»Das ist doch gut, oder? Ich meine, das würde bedeuten, wir arbeiten zusammen. Hand in Hand!«

Er nickt zustimmend, schaut aber wie immer etwas misstrauisch drein.

»Schon, nur will ich Alvo nicht übervorteilen. Ich bin nicht sicher, ob die Befreiung seiner Leute genug ist, verstehst du?«

Ich lasse seine Hand los.

»Du meinst, weil wir am Ende alle 'nen Abflug machen und die Sallows zurückbleiben?«

»Genau.«

»Aber wenn er es doch tun will? Was danach ist, können wir immer noch sehen. Wer weiß schon, wie sich die Sache entwickelt, wenn wir erst mal an einem Strang ziehen«, spekuliere ich hoffnungsvoll.

Er lacht kurz auf. Es klingt verbittert.

»Oh, ich kann mir schon denken, wie sich die Sache entwickeln würde. Wenn erst alle Gelben von den Schiffen wissen und jedermann an Bord dieser Schiffe will, was ja auch ihr gutes Recht ist«, fügt er beschwichtigend hinzu, »dann könnte es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Gelben, den restlichen Blauen und den Sallows kommen. Und wir würden mittendrin stecken, Nova.«

Er dreht sein Gesicht zu mir und schaut mich zärtlich an.

»Für welche Seite würdest du kämpfen? Und ich meine das ganz ernst. Jetzt, wo du sie kennengelernt hast, wen würdest du nach Salgaia schicken, wen zurücklassen? Mailos Eltern? Oder Numes? Sannah?«

Ich begreife, worauf er hinauswill und finde keine Worte. Gleichzeitig pocht die Erinnerung an die sich noch immer in Gefangenschaft befindlichen Eltern meiner Freunde auf mein Gewissen.

»Ich … ich denke, ich würde …«

Er verzieht den Mund zu einem lustlosen Lächeln.

»Ganz genau.«

Ich habe keine Ahnung, was ich darauf noch erwidern soll. Und Jo ist das klar. Er wendet den Blick ab.

Es stimmt schon. Es hat sich einiges geändert, seit ich mich mit eigenen Augen von den Lebensumständen in den Lagern der Grauen bei den Werften überzeugen konnte. Und erst recht, seit ich diese Gemeinschaft mit all ihren Eigenheiten und liebenswerten Mitgliedern kennenlernen durfte. Wenn es auch nur ein Tag war, so hat sich meine Ansicht in puncto Graue um 180 Grad gedreht. Dennoch … die wesentliche Fragestellung, die eine Sache, die nur Jo und mich betrifft, ist nach wie vor ungeklärt. Sie treibt einen Keil zwischen uns, selbst wenn ich seine Beweggründe inzwischen besser nachvollziehen kann.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, spricht er das heikle Thema plötzlich an.

»Ich weiß, das alles macht es für dich nicht einfacher, Nova. Ich kann selbst nicht sagen, wie es weitergehen soll. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre falsch zu gehen. So vieles hält mich hier. Ich kann verstehen, wenn du wütend bist.«

»Ich bin nicht wütend«, sage ich versöhnlich. Zu präsent sind die kostbaren Momente zu zweit draußen auf dem See noch. Mir steht der Sinn nicht mehr nach Streit. Das ist reine Zeitverschwendung. Erst recht in Anbetracht der jüngsten Erkenntnisse.

»Natürlich bist du das«, erwidert er schnell.

»Na schön, ja. Ich bin wütend. Oder ich war es«, ich zögere, »aber das liegt nicht daran, dass du diese Menschen hier so sehr in Schutz nimmst, ja nicht mal daran, dass du so lange gelogen hast. Ich verstehe es inzwischen. Wirklich!«

»Es ist, weil ich bleiben will, richtig?«, fragt er zaghaft.

»Nein … Ich meine, schon. Aber nicht ausschließlich deswegen«, ich atme tief ein. »Es ist, weil es dir so völlig egal ist, was das für uns bedeuten würde.«

Nun ist es raus. Ich wundere mich darüber, wie schwer ich die Worte über die Lippen bekomme. Die ganze Zeit über ging es mir eigentlich nur darum. Um die grauenvolle Tatsache, dass Jo ohne mich leben kann - es sogar unbedingt möchte.

Er steht ruckartig auf, dreht sich aber gleichzeitig herum und geht in die Hocke. Gefährlich nahe am Abgrund kniet er nun vor mir und ergreift meine Hände.

»Nova. So ist das nicht. Glaub mir, ich kann mir nicht mal vorstellen, ohne dich zu sein. Wirklich nicht.«

Er umschließt meine Finger fester und sieht mich flehend an.

»Begreife doch«, fährt er fort und ich bilde mir ein, ein Zittern in seiner Stimme zu vernehmen, »wenn ich mit dir gehe, würde ich dir irgendwann die Schuld dafür geben. Vielleicht nicht bewusst, nicht absichtlich, aber es würde geschehen. Denn du wärst der einzige Grund, der einzige auf der ganzen Welt, der mich dazu bringen würde, hier wegzugehen.«

Seine Stimme wird nun lauter, drängender.

»Ich will hier nicht weg. Nichts, verstehst du, NICHTS zieht mich nach Salgaia. Ich kann mir nicht vorstellen, dort zu leben, woanders zu sein als hier.«

Er hält inne. Ich bin froh darüber, denn seine Worte schmerzen und ich brauche eine Verschnaufpause. Schon fühle ich, wie sich die verhassten Tränen wieder einen Weg emporbahnen. Auch Jo wirkt jetzt enorm aufgewühlt. Es fällt ihm sichtlich nicht leicht, das Thema erneut anzuschneiden.

Ganz leise fährt er fort: »Die Alternative ist aber noch schlimmer. Wenn ich fragen würde … Wenn ich von dir verlangen würde, mit mir zu bleiben?«, er senkt den Blick und wirkt plötzlich sehr ängstlich auf mich. »Wenn ich das tun würde, wäre es noch viel schlimmer für uns beide. Ich brächte dich damit in eine unmögliche Situation. Was, wenn du mit mir hierbliebest? Wenn du all deine Freunde verlieren und zusammen mit mir ganz allein auf diesem zum Tode verurteilten Planeten ausharren müsstest? Du wärst bestimmt furchtbar unglücklich deswegen und es wäre meine Schuld.«

»Aber wenn du mit nach Salgaia kommst, wäre es ebenso«, erwidere ich kleinlaut.

Er nickt hektisch.

»Das meine ich damit. Es ist unser Dilemma. Wie man es auch angeht, die Gefahr, dass einer von uns seine Entscheidung bereuen könnte, ist groß. Und hinzukommt, dass ich nicht weiß, wie es mit der guten alten Erde weitergeht. Was, wenn das Ende näher ist, als wir vermuten? Wenn es in ein paar Jahren nicht mehr möglich ist, hier zu leben? Ich will das für dich nicht!«

»Aber du selber riskierst es, ohne mit der Wimper zu zucken?«, frage ich barsch.

»Wie gesagt, ich kann nicht anders. Es fühlt sich falsch an, zu gehen.«

Plötzlich bin ich gar nicht mehr so traurig. Auch nicht mehr böse. Ich bin sogar froh darüber, dass Jo so offen mit mir darüber redet. Zwar hat er mich nicht direkt gefragt, ob ich mit ihm hierbleiben würde, aber vermutlich läuft es darauf hinaus. Allein die Tatsache, dass er mir seinen inneren Zwist so ehrlich beschreibt, genügt, um mich zu beschwichtigen.

Das Problem ist nur: Ich habe keine Ahnung, wie ich zu der Sache stehe.

Ich weiß, dass ich Jo nicht verlieren will.

Ich weiß, dass ich meine Freunde nicht verlieren will.

Was ich aber in diesem Moment überhaupt nicht weiß - und vermutlich auch in absehbarer Zeit nicht wissen werde -, ist, wo ich eigentlich lieber leben möchte. Hier? Oder auf einem fremden Planeten. Ob nun mit oder ohne Jo, dieser Frage habe ich mich nie richtig gestellt. Vielleicht, weil Salgaia so wenig greifbar, so irreal ist?

Für Jo ist die Sache klar. Er hat eine sehr, sehr lange Pro-Liste, was das Leben auf der Erde betrifft. Und auf der Contra-Seite stehe nur ich.

»Du musst dazu jetzt nichts sagen. Ich wollte nur, dass du weißt, wie ich darüber denke. Was ich empfinde. Wir sollten ohnehin keine Pläne schmieden, solange alles noch so … offen ist. Wer weiß schon, wie es mit uns, der Division, den Grauen und der ganzen Situation weitergeht? Vielleicht endet es anders, als wir erwarten? Vielleicht haben wir gar keinen Einfluss.«

Er redet sich richtig in Rage. So als hätte er zu viel gesagt und würde nun versuchen, seine Ausführungen abzumildern.

»Schon gut«, sage ich und löse meine Hand aus seinem Griff. Dann fahre ich mit gespreizten Fingern durch sein Haar und versuche dabei so aufrichtig wie möglich zu lächeln. »Ich verstehe schon. Wir müssen jetzt keine Entscheidungen fällen.«

»O. k.«, sagt er erleichtert.

»Ja, es ist o. k.«, sage ich.

 

Nachdem Jo wieder seinen Platz an meiner Seite eingenommen hat, bleiben wir noch lange auf dem Felsvorsprung sitzen und reden leise. Und obwohl zwischen uns alles gut ist und es sich schon beinahe wieder so vertraut anfühlt wie vor unserem schrecklichen Streit, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Ein emotionales Echo.

Früher oder später muss einer von uns eine Entscheidung treffen. Diese Aussicht gefällt mir gar nicht. Für mich war eigentlich immer klar, dass wir zusammengehören. Niemals hätte ich diese Hürde kommen sehen.

»Wie lange werden wir hierbleiben?«, frage ich etwas später.

»Wir fahren noch heute. Ich glaube, länger sollten wir Sawyers Geduld nicht strapazieren, zumal ich ihm ja auch noch meinen Vorschlag unterbreiten muss. Ergo: Meine Lügerei beichten muss …«, sagt Jo ernst.

»Er wird es verstehen. Er ist der Anführer der Division, Jo. Wenn jemand weiß, wie wichtig es ist, seine eigenen Leute zu schützen, dann er!«

Ich halte inne.

»Und du willst das wirklich durchziehen? Ich meine, ihm sagen, dass die Sallows mit uns zu den Werften gehen würden?«

Er lacht auf.

»Ich dachte, das ist genau das, was du von mir wolltest? Die Wahrheit sagen, die Grauen mit uns verbünden. Waren das nicht explizit deine Wünsche?«

»Schon. Nur will ich nicht, dass du dich damit schlecht fühlst oder es für mich tust. Du solltest dir sicher sein.«

Er zieht mich an seine Schulter und seine große Hand umschließt dabei zärtlich meinen Arm.

»Keine Sorge. Ich bin mir sicher. Alvo will es so und fürs Erste haben wir ja alles etwas davon. Was danach kommt, werden wir sehen.«

»In Ordnung«, erwidere ich und kuschele mich noch dichter an ihn heran.

 

Dann sind wir wieder im Humvee. Nur Jo, ich und die Schwärze des Feuerlands. Auf dem Weg zurück in den CutOut. Im Gepäck haben wir ganz neue Erfahrungen, neues Wissen und ein einmaliges Angebot an die Division.

Ich bin sehr gespannt, wie Sawyer auf Jos Neuigkeiten reagieren wird. Vermutlich zunächst leicht gekränkt, aber letztendlich profitiert er davon. Er wird sicher auf das Angebot eingehen.

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, meinen Arm während der Fahrt immer ein wenig aus dem Fenster zu halten. Der Fahrtwind ist so angenehm und vermittelt mir stets ein wunderbares Gefühl von Freiheit. Manchmal bemerke ich diese Handlung schon gar nicht mehr. Es ist wie der inzwischen automatische Griff zum Schalthebel beim Fahren eines Fahrzeugs. Die Hand streckt sich von ganz allein aus dem Fenster, streicht an der staubigen Oberfläche der Karosserie entlang und dann spreizen sich meine Finger und befühlen das Feuerland.

Jo und ich hätten uns nicht streiten dürfen. Natürlich möchte er hierbleiben. Ich hätte es wissen müssen. Wenn jemand wie ich, der sein Leben lang unter der Erde eingesperrt war, der diese Regierung hasst und eigentlich nichts lieber tun sollte, als auf schnellstem Wege nach Salgaia zu reisen, das Feuerland bereits so sehr in sein Herz geschlossen hat. Wenn selbst ich es nach so kurzer Zeit so sehr lieben gelernt habe, dann ist es mehr als logisch, dass Jo nicht fortgehen will.

Es ist Jo.

Schon an meinem ersten Tag mit ihm, vor nunmehr fast zwei Jahren, liebte er das Feuerland mehr als alles andere. So ist er und auch ein paar Raumschiffe und die Aussicht auf grüne Wiesen und Temperaturen für Weicheier werden daran nichts ändern.

»Hey«, sagt Jo in die Stille der nächtlichen Fahrt hinein, »pass auf. Ich hab was Neues drauf!«

»Hmm?«, mache ich und verstehe nicht, was er meint.

Die Hände weiter am Lenkrad und ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, setzt mein Freund seinen Drift-Blick auf.

Gespannt lehne ich mich ein Stückchen vor, unsicher darüber, was er vorhat.

»Was tust du?«, frage ich neugierig.

Doch kaum habe ich die Worte ausgesprochen, spüre ich es. Ich kenne dieses Gefühl. Manchmal habe ich es während der Simulationen im Training. Wenn das Auge etwas sieht, der Körper aber etwas anderes wahrnimmt. Eine falsche Entfernung oder Abmessung, die das Gehirn nicht so recht zuordnen kann und Warnsignale schickt. Eben, wenn etwas irgendwie nicht stimmt.

In den Simulationen kann man das gut ignorieren, weil man daran gewöhnt ist. Es sind kleine Fehler im Programm. Winzige Abweichungen.

Doch hier, in diesem Humvee, draußen in der Nacht, brauche ich ein paar Sekunden, um zu verstehen, was vor sich geht.

Selbstzufrieden wirft Jo mir einen Seitenblick zu. Prahlerisch verzieht er den Mund zu einem breiten Grinsen.

Er hat den Humvee, samt uns beiden, emporgehoben. Während der Fahrt!

Nun nimmt er den Fuß vom Gas und das Motorengeräusch wird leiser. Wie einer der Hover-Gleiter, mit dem Anny uns in das Raumschiff gebracht hat, schweben wir dahin.

Ich bin schwer beeindruckt.

»Wie machst du das?«, frage ich verblüfft.

»Ich hab auch ein bisschen trainiert. Du lernst nicht als Einzige dazu«, gibt Jo stolz zurück.

Mit einem leichten Ruck steigen wir noch weiter empor und ich halte mich automatisch ein wenig energischer an meinem Sitz fest.

»Wie lange kannst du das so anhalten lassen?«, frage ich verzückt.

Ich bin ernsthaft überrascht. Seine Fähigkeit scheint plötzlich so viel stärker als gewöhnlich.

»Keine Ewigkeit, aber für ein paar kleine Stunts reicht es schon.«

Mit diesen Worten schießt der Humvee vorwärts und obwohl er längst nicht mehr durch den Brennstoff, sondern bloß noch durch Jos Gedankenkraft angetrieben wird, beschleunigt das Gefährt seinen Flug immer weiter.

Und dann scheint Jo all seine Konzentration aufzuwenden und wir drehen uns urplötzlich um unsere eigene Achse.

Ich kreische auf. Erst ängstlich, dann euphorisch.

Juchzend und lachend gebe ich mich dem Spaß hin und genieße seine Darbietung.

Inmitten des nächtlichen Feuerlands fliegt ein militärisches Fahrzeug mit zwei Insassen, denen es an Zauberkraft nicht mangelt, durch die Lüfte.

Was hätte der liebe Alois Bezier wohl dazu gesagt? Hätte er dies für seine Schützlinge gewollt? Oder hätte auch er sich diese Entwicklung nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen können?

Mutig halte ich erneut meine Hand aus dem Fenster und als Jo einen doppelten Looping wagt, schwinden mir beinahe die Sinne.

Genauso ein Gefühl hatte ich bitter nötig. Ein kleiner Ausflug ins Glück, eine Dosis Übermut. Zusammen mit den Stunden im See, den neuen Eindrücken und unserer Unterhaltung ergibt es ein vollständiges Bild. Eine unausgesprochene Garantie dafür, dass Jo und ich einen Weg finden werden. Ich habe keine Ahnung, wie der aussehen wird, aber ich zweifle in diesem Augenblick, schwebend, lachend - knapp vier Meter über dem sandigen Boden - kein bisschen daran, dass wir alles schaffen können.