6. ENTFLAMMT


Als ich gerade weit aushole, um einen dritten Impuls auf einen bis zur Unkenntlichkeit verrosteten Minivan vor mir zu schleudern, höre ich ein lautes Rufen hinter mir.

»Nova? Was treibst du denn hier? Komm mal wieder runter!«

Es ist Sawyer. Ich ignoriere sein Gebrüll und fahre mit meinem Wutausbruch fort. Ich bin gerade so schön in Fahrt!

Der Wagen vibriert und bäumt sich unter meinem Angriff auf. Staub und Sand wirbeln durch die Luft. Ich fühle mich mächtig und stark. Trotzdem bin ich kein Stück befriedigt. Meinen Drift auf Gegenstände zu feuern, genügt einfach nicht, um das immer größer werdende Loch in meinem Herzen zu stopfen. Ich brauche eine bessere Ablenkung.

»Wieso?«, entgegne ich, ohne Sawyer dabei anzusehen, »du wolltest doch heute trainieren? Ich mach mich eben schon mal warm.«

Er hat mich inzwischen erreicht und stemmt die Hände in die Hüften, als er neben mir stehen bleibt, um das sinnlose Gewaltschauspiel zu beobachten. Ich kann seine Missbilligung förmlich spüren, auch ohne ihn direkt anzusehen.

»Das ist kein Training, das ist reine Kraftverschwendung. Und wenn du vorhast, diesen Stil beizubehalten, ist es für mich auch noch Zeitverschwendung. Weißt du, ich -«

Ich drehe mich erbost um und gifte ihn an: »Jaaaa, ich weiß! Du hast Besseres zu tun. Genauso wie Jo … offenbar!«

Damit wende ich mich wieder meinem Hassobjekt zu und feuere weiter blindlings drauf los. Wenn Sawyer mich nicht verstehen will, ist Training vielleicht heute eine ganz dumme Idee. Ich bin sozial inkompatibel, ja geradezu streitsüchtig. Ich brauche ein Ventil für meine Wut. Oder ist es Angst?

»Daher weht der Wind also?«

Sawyer legt mir eine Hand auf die Schulter und versucht freundschaftlich auf mich einzureden.

»Jetzt hör doch mal auf damit. Komm. Reden wir darüber.«

Ich will eigentlich nicht reden. Aber meinen Drift weiter ohne Sinn und Verstand auf das Feuerland loszulassen, bringt Jo auch nicht wieder zurück.

Es sind nun bereits zwei Tage vergangen, seit die anderen Späher wieder da sind. Ich habe Jackson ausgequetscht, ihn richtig in die Mangel genommen, aber er wollte oder konnte mir einfach nicht sagen, wieso Jo an der Oberfläche geblieben ist. Angeblich wollte er noch einen Checkpoint ausspähen. Zumindest hat er es Jackson so verkauft. Ich würde gerne wissen, ob Jackson wirklich nur diese Informationen hat oder meinen Freund aus irgendeinem Grund deckt? Aber was sollte Jo ganz allein da draußen zu tun haben? So etwas ist noch nie vorgekommen.

»Was gibt's da zu reden? Mein Freund will mich um meinen Verstand bringen. Das ist doch offensichtlich!«

»Joaquim hat sicher seine Gründe. Es wird sich alles klären, du wirst schon sehen.«

Ich stehe noch immer mit dem Rücken zu Sawyer. Und ich bin noch immer stinksauer. Seine Versuche meine Aggression zu beschwichtigen, machen mich nur noch unruhiger.

»Bist du jetzt Experte auf dem Gebiet?«, frage ich gereizt.

»Ich sage ja nur, dass du dich nicht so aufregen solltest. Am Ende wird Joaquim dir alles erklären und du hast dich völlig umsonst aufgeregt. Ihr solltet in einem Team spielen und euch vertrauen.«

»So wie du Anny vertraust?«

Noch während ich die Worte ausspreche, bereue ich es bereits.

Sawyer erwidert nichts. Dafür verschwindet die Hand von meiner Schulter.

Großartig! Nicht nur, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo sich mein Freund in diesem Moment aufhält oder ob er überhaupt noch lebt, jetzt zettele ich auch noch einen Streit mit dem Oberhaupt der Division an. Vor lauter Wut könnte ich meinen Drift schon wieder abfeuern, aber ich halte an mich.

»Tut mir leid. Das geht mich nichts an«, sage ich kleinlaut und drehe mich zu Sawyer um. Ich fürchte mich vor seinem Blick, aber er sieht gar nicht böse aus. Eher traurig.

Plötzlich habe ich das Gefühl, wir sollten uns eher umeinander kümmern, als meinen doofen Drift zu trainieren und zu streiten.

»Was weißt du über Anny?«, fragt er mich nun.

Während er Anstalten macht, sich in Bewegung zu setzen, überlege ich fieberhaft, wie viel ich preisgeben soll.

Vorsichtig folge ich Sawyer und wir schlendern durch die grau-braune Einöde. Der CutOut ist nur wenige hundert Meter entfernt und doch würde ein ungeübtes Auge seine Zugänge nicht ausmachen können. Feuerland bleibt Feuerland. Ob nun nahe beim CutOut oder kilometerweit davon entfernt.

Ich beschließe, ehrlich zu sein.

»Ihr wart ein Paar, so viel weiß ich. Und dass sie dich praktisch zwingen wollte, der Division den Rücken zu kehren.«

Er nickt sachte und starrt auf die sanft geschwungenen Hügel vor uns. Dünen, die früher einmal Gebäude waren. Von ihnen sieht man nur noch hier und da eine Ecke oder einen Giebel aufblitzen.

»Sie war nicht gerade angetan von meinen Visionen.«

»Wieso taucht sie so plötzlich auf der Bildfläche auf, Sawyer? Hast du sie kontaktiert oder sie dich?«

»Sie war es.«

Wir erreichen eine Gruppe alter, knochiger Baumstämme, die nur noch wie leere Hüllen aussehen. Wie absichtlich platziert, liegen sie im Halbkreis da. Sie wirken einladend wie eine natürliche Sofaecke.

Sawyer lässt sich auf einem von ihnen nieder und ich mache es ihm nach. Mich wundert, dass er gar nicht überrascht ist über mein Wissen um Anny und ihn. Ob Arros ihm gestanden hat, dass er uns die Geschichte erzählt hat?

»Du musst wissen, Anny war nicht wirklich gegen die Division. Sie hatte einfach Angst um mich. Es ist wie bei dir und Joaquim. Du möchtest ja auch nicht, dass er in Gefahr ist.«

»Schon«, gebe ich zu, »aber ich möchte auch nicht, dass dieses System weiter Millionen von Menschen unterdrückt!«

»Damals war uns das ganze Ausmaß ihrer Taten ja noch gar nicht bewusst. Trotzdem war es riskant. Und Anny hatte solche Angst. Sie ist nicht wie du, Nova.«

Ich hebe eine Augenbraue.

»Wie bin ich denn?«

»Furchtlos. Bereit Risiken einzugehen und du hast genau das richtige Maß an Gewissenlosigkeit, um auch schwierige Entscheidungen treffen zu können.«

»Ich bin in deinen Augen also skrupellos?«, frage ich leicht schockiert über seine Beschreibung meiner Person.

»Nein. Natürlich nicht. Ich meine damit: Du stehst für deine Prinzipien ein, auch wenn das bedeutet, dass du Enttäuschungen oder Ängste in Kauf nehmen musst. Anny hingegen … Sie wollte einfach ihr Leben leben. Zwar teilte sie meine Überzeugungen und je mehr Dinge ans Licht kamen, desto mehr verstand sie meine Intentionen, aber es genügte einfach nicht, um sie mit an Bord zu holen. Und irgendwann wurde es ihr einfach zu viel.«

Ich lausche seinen Worten gespannt, versuche mir diese Anny vorzustellen.

»Was hat sich geändert? Ich meine, wieso hat sie dich kontaktiert, wenn ihr doch alles egal ist?«

»Die Welt.«

»Hmm?«

»Die Welt hat sich geändert. Und auch Anny muss sich nun entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Genau wie alle, die nicht schon von vorneherein der Division angehörten.«

»Und sie will jetzt also mit uns an einem Strang ziehen?«

»Ich denke ja.«

Vor unseren Füßen gräbt sich plötzlich ein kleiner Käfer aus dem Sand. Seine flinken Bewegungen faszinieren mich. Man sieht selten etwas Lebendiges im Feuerland. Eine Weile beobachten Sawyer und ich das glänzende Tierchen und sagen nichts.

»Sie war auf der Durchreise, in einem HUB, der dann wohl während ihres Aufenthalts von uns eingenommen wurde. Also von blauen Sympathisanten, meine ich. So hat sie Kontakt aufnehmen können. Die Botschaft erreichte mich sofort. Du kannst dir vorstellen, wie verrückt das für mich war? Wir hatten uns seit …«, er überlegt kurz, »ach keine Ahnung wie lange es her ist, dass wir uns gesprochen haben. Jahre.«

»Aber du bist dir sicher, dass man ihr trauen kann?«, frage ich vorsichtig.

»Ganz sicher. Wie gesagt, sie war nie gegen die Division, nur gegen Gewalt«, er zögert, »und ein wenig egoistisch war sie wohl auch.«

Es muss ihm sehr schwerfallen, so über Anny zu reden. Trotzdem verstehe ich die Anschuldigung. Auch wenn man mich offensichtlich als gewissenlos bezeichnen kann, stelle ich das Wohl der unzähligen Gelben über mein eigenes. Das war vom ersten Moment an so. Gleich als Marzellus, Jakob, Nume und ich das ganze Ausmaß der Misere begriffen hatten, stellten wir uns auf die Seite der Division und das nicht bloß, weil wir auf ihren Schutz angewiesen waren.

Sawyer macht nicht länger den Eindruck, als wolle er weiter über Anny sprechen, also wechsele ich gekonnt das Thema.

»Gibt's was Neues über die Temperaturschwankungen?«

Erfreut hebt er den Kopf und bekommt gleich einen ganz anderen Gesichtsausdruck. Mit den allgemeinen Problemen des Widerstands lässt es sich ganz hervorragend von verflossener oder im Feuerland verschollener Liebe ablenken.

»Ja, tatsächlich! Arros und Pete konnten die gesammelten Daten analysieren. Diese Hitzepeaks haben ihre Ursache in Sonneneruptionen. Offenbar besteht da ein enger Zusammenhang. Noch ein paar Tage und wir können sie vielleicht sogar auf die Stunde genau vorhersagen.«

»Das ist ja großartig!«, erwidere ich erfreut.

»Zumindest wäre dann eine hinderliche Tatsache aus der Welt. Wenn wir die Ausschläge vorhersagen können, wird es leichter, sein Angriffe zu planen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn wir ein paar Hunderttausend Gelbe im Feuerland hätten und alle brächen unter einer gewaltigen Hitzewelle zusammen.«

»Glaubst du denn wirklich, dass wir geschlossen in den Kampf ziehen müssen? Also dass es dazu kommen wird?«

»Ich hoffe es nicht, Nova. Ich setze alle meine Hoffnungen auf Anny beziehungsweise auf den Plan, die Sache im Keim zu ersticken.«

»Hoffentlich klappt es«, sage ich.

»Wir werden einfach alles versuchen, damit es das tut«, sagt Sawyer mit Nachdruck.

Ich seufze.

»Zumindest die von uns, die anwesend sind!«

Er lacht auf. »Du bist echt richtig sauer auf Joaquim, nicht wahr?«

Ich will gerade etwas Bissiges erwidern, als sich hinter uns jemand räuspert. Erschrocken springen Sawyer und ich auf. Ich habe niemanden kommen hören und man sollte meinen, in der Stille des Feuerlands ist es nicht möglich, sich an zwei Leute einfach so heranzuschleichen.

»Dann bekomme ich jetzt wohl Ärger?«, sagt Jo und setzt ein unsicheres, schiefes Grinsen auf.

Mir klappt die Kinnlade runter. Klar! Es gibt nur einen, der es fertigbringt, sich so leise zu bewegen, dass weder Sawyer noch ich ihn bemerken konnten.

Erleichterung und Wut ringen in meinem Inneren. Wie er so dasteht. Staubig und mit diesem reuevollen Blick. Findet er das witzig oder fühlt er sich tatsächlich schuldig? Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, so sehr regt seine plötzliche Anwesenheit mich auf.

»Dann … ähm, mache ich mich wieder an die Arbeit«, sagt Sawyer, der sich merklich unwohl fühlt. Wahrscheinlich will er nicht zwischen die Fronten geraten. Ein guter Plan.

Weder Jo noch ich erwidern etwas auf seine Ansage und so schlurft unser Anführer in Richtung CutOut. Erst als er schon so weit entfernt ist, dass man ihn mit bloßem Auge kaum noch erkennen kann, bricht Jo das Schweigen.

»Kann ich irgendetwas tun, um meine Strafe ein wenig abzumildern?«

Ich habe es inzwischen geschafft, meinen Mund wieder zu schließen, aber Herr über meine Emotionen bin ich noch lange nicht. So vieles geht mir durch den Kopf. Fragen, Anschuldigungen, Ängste.

Ich achte sonst peinlich genau darauf, mich vor Jo nicht wie eine aufgebrachte Göre zu benehmen, und ich werde auch jetzt nicht damit aufhören.

Dem Anschein nach gelassen, verschränke ich die Arme vor der Brust und starre ihm kühl entgegen. Jetzt bloß nicht ausrasten!

»Mich würde nur interessieren, wieso du erst einen auf liebevollen Freund machst, mir anbietest zu bleiben, und dann einfach nicht mehr wiederkommst!«

Verdammt! Das kam nun doch zickiger rüber, als geplant. Ich werfe alle Vorsicht über Bord und beschließe meine Gefühle offen zu zeigen. Aber zunächst will ich hören, was er zu sagen hat.

Er macht einen Schritt in meine Richtung, doch ich weiche sofort zurück. Wenn er mich jetzt berührt, wird die Erleichterung darüber, dass er lebendig und gesund vor mir steht, überwiegen und ich kann ihm nicht länger böse sein. Doch ich WILL böse sein. Also halte ich Abstand.

»Nova …«

»Ich höre!«

»Das war vielleicht keine gute Idee. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Tja, das ist dann wohl ziemlich nach hinten losgegangen!«

Plötzlich will ich gar nicht mehr wissen, wo er die letzten zwei Tage lang war. Ich will auch nicht mehr reden oder mich vertragen. Ich will nur noch weg. Meine größte Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein, war unbegründet. Der Mann steht ohne einen Kratzer vor mir. Gut! Ich kann also verschwinden.

Damit drehe ich mich um und steuere den CutOut an.

»Nova!« Jo setzt sich ebenfalls in Bewegung und folgt mir, »warte doch.«

Ich denke gar nicht daran und beschleunige meine Schritte nur noch. Er ist jetzt neben mir und redet weiter auf mich ein. Soll er doch. Ich will es nicht hören.

»Ich weiß, du bist sauer. Natürlich bist du das.«

Ich gehe jetzt so schnell, dass jede ernsthafte Unterhaltung bei diesem Tempo lächerlich wirkt. Jo begreift das auch und macht Anstalten mich mit seinem Drift zu verlangsamen. Wahrscheinlich ist es nur ein Reflex. So ist das eben mit dem Drift. Man wendet ihn in ganz alltäglichen Situationen an, ohne wirklich darüber nachzudenken. Doch mein Freund sollte inzwischen wissen, wie empfindlich ich auf diese Maßnahme reagiere. Also wirbele ich herum und schleudere ihm den finstersten, eindeutigsten und mahnendsten Blick entgegen, welchen ich zustande bringe.

»Wage es nicht!«, zische ich und hebe dabei meinen Arm auf Brusthöhe.

Zwar scheint er nicht davon auszugehen, dass ich meinen Drift tatsächlich benutzen werde, aber trotzdem hebt Jo ergeben beide Hände in die Luft, um mir zu signalisieren, dass er seine Fähigkeiten ebenfalls schlummern lassen wird.

»Schon gut, schon gut. Ich will ja nur, dass du dich beruhigst und mit dir reden.«

Ich lasse den Arm sinken und setze meinen Weg fort. Jo bleibt zunächst stehen, trabt dann aber erneut hinter mir her, den ganzen langen Weg, bis wir den CutOut erreichen. Und er bleibt weiter in meiner Nähe, als ich den langen Gang passiere, in den Fahrstuhl steige und wir uns plötzlich mitten auf der großen Ebene befinden.

Ich ignoriere ihn die ganze Zeit über. Er wiederum hat es offenbar aufgegeben, mich zum Reden zwingen zu wollen. Die ganze Situation ist verrückt. Er trottet mir hinterher, als hätte ich ihn an einer unsichtbaren Leine.

Wir erreichen meine Wohneinheit, doch bevor ich den Sensor betätigen und die Tür öffnen kann, legt Jo mir eine Hand auf die Schulter und will mich zaghaft dazu bringen, mich zu ihm umzudrehen.

Ich atme langsam aus und folge der Aufforderung. Nun sehen wir uns endlich richtig an.

Mein Blick wandert an ihm herunter. Er macht den Eindruck, als hätte er in den vergangenen Tagen auf einem Müllberg übernachtet. Seine Kleidung ist sandig, seine Haare sind ein wenig zerzaust und ich kann überall an ihm Überbleibsel des Feuerlands entdecken. Staub und kleine, vertrocknete Plastikfetzen an seinen Schuhen. Ein sandiger Streifen zieht sich quer über seine rechte Wange. Ich widerstehe der Versuchung, mich in seine Arme zu werfen. Ich widerstehe so ziemlich JEDER Versuchung. Was ist nur los mit mir? In meinem Inneren schlagen die Gefühle Purzelbäume.

»Hast du eigentlich eine Ahnung, wie ich mich fühle, wenn du so was machst?«, presse ich hervor. Ich kann nicht verhindern, dass meine Unterlippe zu zittern beginnt. Ich habe völlig die Kontrolle verloren und bin froh, zumindest diesen einen Satz verständlich herauszubekommen.

»Doch, ich meine, es tut mir so leid. Wirklich!«

Er hebt eine Hand und will mir die einzelne Träne, welche sich überraschenderweise ihren Weg über mein Gesicht bahnt, wegwischen, doch ich zucke reflexartig zurück.

Irgendwie fällt mir nichts mehr ein, was ich ihm sagen könnte. Auf einmal will ich gar nicht mehr böse auf ihn sein. Ich bin völlig durcheinander.

»Nova …«

»Nein!«, schreie ich. Wieso schreie ich? Wenn mich jemand hört? Wie peinlich! Doch die Worte bahnen sich grausam eigenwillig ihren Weg. »Jo, du verstehst es nicht, oder?«

Ich atme jetzt heftig und auch Jo sieht aus, als würde sein Puls gleich einen Salto machen.

»Ich LIEBE dich, Jo! Hörst du? Ich liebe dich. Und ich habe das nicht verdient!«

Die Worte fließen nur so aus meinem Mund und obwohl ich weitersprechen möchte, bringe ich nur noch ein ersticktes Keuchen zustande. Vielleicht ist das auch besser so.

In diesem Moment tut Jo einen schnellen Schritt auf mich zu und packt mich mit einer Hand im Genick. Ich rudere kurz mit den Armen, will mich aus seinem Griff lösen, aber er ist so viel stärker und offenbar nicht mehr zu bremsen.

Er zieht mein Gesicht näher zu sich heran und küsst mich auf eine Weise, die mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig fremd war. Hungrig geradezu.

In meinem Kopf explodiert etwas und ich weiß intuitiv, dass es nicht mein Drift ist. Er ist verstummt, so als hätte es ihn nie gegeben. Ich mobilisiere meine letzten Kraftreserven, um mich aus seiner immer enger werdenden Umarmung zu lösen, doch es hilft nichts. Er ist zu allem entschlossen.

Nach einem weiteren, atemberaubenden Kuss packt er meine Hand und legt meinen Daumen auf den Sensor. Die Tür gleitet leise auf und wir stolpern in den Raum.

Ich fühle mich wie eine Stoffpuppe, die er jederzeit in die Ecke schleudern kann, sollte er sie leid sein. Ich will etwas sagen, etwas unternehmen, aber mein Körper gehorcht mir nicht länger.

Nachdem Jo mich angehoben und direkt vor dem Bett wieder abgesetzt hat, begreife ich auch warum. Mein Körper gehört ihm! Jeder Quadratzentimeter, jedes Haar, jeder Faser meines Selbst gehört Joaquim. ICH gehöre Joaquim!

Ich vergesse meine Wut, meine Angst und alles andere auch.

Ich vergesse, was vergessen ist!

Wie in Trance kralle ich mich in die Falten seines Hemds und versuche verzweifelt, die Knöpfe aufzubekommen. Doch meine Finger fühlen sich taub und unbeweglich an. Die Aufgabe scheint unlösbar. Doch da kommt er mir zur Hilfe und reißt sich das hinderliche Stück Stoff einfach runter, um es, ohne den Blick von mir abzuwenden, in die Ecke meiner Wohneinheit zu feuern.

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Stück für Stück entledigen wir uns unserer Kleider, bis ich nur noch in Unterwäsche und Jo barfuß, nur noch mit seiner staubigen Hose bekleidet, vor mir steht.

Jetzt passiert irgendetwas. Als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt, stagniert die leidenschaftlich aufgeladene Situation und Jos, eben noch wilder, Blick wird weich.

»Unglaublich«, flüstert er.

Unsicherheit überkommt mich. Jo hat mich bereits unbekleidet gesehen. Trotzdem fühle ich mich jetzt, in diesem Moment, noch leidlich verhüllt durch meine schwarze, uniforme CutOut-Unterwäsche, unendlich verletzlich und splitterfasernackt. Entblößt geradezu!

»Ich …«, beginne ich stotternd.

»Schsch«, macht er und schnellt nach vorn, um mir einen Finger auf die Lippen zu legen.

Überrumpelt mache ich ganz große Augen und wage es kaum mehr zu blinzeln.

»Nova. Weißt du eigentlich wie unglaublich schön du bist?«

Mir stockt der Atem. Dieser kleine Satz fegt alle Selbstzweifel hinfort und ich kann gar nicht anders, als zu lächeln.

Das Wort "schön" blinkt und flackert vor mir auf wie die Anzeigen an den Server-Racks in der Kommunikationszentrale.

Schön.

Ich habe mich nie für hässlich gehalten, auch nicht für hübsch. Ich bin einfach Nova. Sehe aus, wie Nova eben aussieht. Und natürlich muss Jo mich hübsch finden. Er ist mein Freund, mein Vertrauter, meine perfekte Ergänzung. Aber wie seine wunderschönen Lippen diese Worte formen, sie mir wie ein Gedicht ins Ohr schweben lassen … es muss die Wahrheit sein! In seinen Augen bin ich schön. Und er wiederum ist für mich der schönste Mensch auf der Welt - nein, im ganzen Universum.

Er deutet mein Zögern offensichtlich als ein Zeichen der Unsicherheit und rückt wieder ein Stückchen von mir ab. Fast wirkt er ein wenig unbeholfen. So schnell wir uns in diese Situation gebracht haben, so rasend wendet sich das Blatt nun.

Sichtlich beunruhigt beginnt er ein paar verstümmelte Worte herauszupressen.

»Wir müssen nicht … Ich meine, wenn du noch nicht -«

Dieses Mal bin ich es, die auf ihn zuschnellt, ihm die Arme um den Hals schlingt und seinen Mund mit einem langen Kuss verschließt. Sein Versuch, mir eine Wahl zu lassen, in allen Ehren, für mich gibt es jetzt kein Halten mehr!

Wie konnte ich nur je daran zweifeln, dass es gefährlich oder verfrüht sein könnte, diesen Schritt zu tun, frage ich mich, während er mich sanft auf das Bett legt.

Wie konnte ich nur glauben, dass ich noch Zeit bräuchte, denke ich, als er meinen Hals und meine Schulter mit Küssen übersät.

Obwohl meine Emotionen hochkochen und ich bereits vollends die Kontrolle über meinen Körper verloren habe, bleibt mein Drift stumm. Ich hinterfrage es nicht weiter. Es fühlt sich richtig an. Richtig und gut!

Eine starke Hand schiebt sich derweil meinen Rücken hinauf und hebt meinen Oberkörper leicht an. Ich seufze auf. Und dann klinkt sich mein Verstand endgültig aus. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich brauche nur noch Jo.