13. HELDEN UND LÜGNER


Unsere Ankunft im CutOut erzeugt weniger Aufsehen, als ich befürchtet hatte.

Kein wütender Sawyer bittet uns zu Gericht, keine besorgte Nume stürmt auf mich zu. Alles ist ganz normal. Wie an jedem anderen Tag auch.

Verwundert bahne ich mir meinen Weg über die große Ebene und halte nach meinen Freunden Ausschau. Ich hatte ein Begrüßungskomitee aus beleidigten, neugierigen Mitbewohnern erwartet. Eine beste Freundin, die mich ausquetschen will und Jo verflucht. Aber niemand scheint sich um unsere 24 Stunden verzögerte Ankunft zu scheren.

Seltsam.

Jo ist direkt in seine Wohneinheit und unter die Dusche verschwunden. Froh darüber, nicht sofort Rede und Antwort stehen zu müssen, nutzt er diese Gelegenheit, unbeachtet in den CutOut zu gelangen. Es wird noch früh genug zu dem unausweichlichen Gespräch mit Sawyer kommen.

Ich lasse meinen Blick schweifen und entdecke Nume schließlich an einem der Tische. Gemeinsam mit Mailo, Jakob und ein paar anderen CutOut-Bewohnern trinkt sie Tee, lacht und gestikuliert.

Der vertraute Anblick stimmt mich fröhlich. Endlich wieder hier.

Ich schlendere auf die kleine Gruppe zu und wappne mich innerlich für den Schwall aus Fragen und Vorwürfen. Doch als ich sie beinahe erreicht habe, fällt mir plötzlich auf, dass ich die Leute bei Nume und Mailo gar nicht kenne. Sind etwa schon wieder Neue angekommen? Eigentlich kaum verwunderlich. Immerhin ist alles in Aufruhr. Selbst wenn viele der HUBs bereits befreit sind, werden uns in der nächsten Zeit immer mehr Flüchtlinge erreichen.

Als Nume mich sieht, springt sie auf und strahlt über das ganze Gesicht. Winkend läuft sie auf mich zu.

Erleichtert über die offen zur Schau gestellte Freude beschleunige ich meine Schritte ebenfalls.

Wir fallen uns in die Arme und lachen ausgelassen.

»Da bist du ja endlich!«, ruft Nume und drückt mich ganz fest.

»Ja, sorry. Wir waren noch …«

»Egal. Komm! Komm mit!«, sagt sie aufgeregt und zieht mich zum Tisch, wo inzwischen alle aufgestanden sind, um mich zu begrüßen.

Etwas irritiert schleiche ich hinter Nume her und mustere die Neuankömmlinge. Und dann stockt mir der Atem.

Ich bleibe unvermittelt stehen und fasse mir an den Mund.

»Nova«, sagt die zierliche, blonde Frau, die wie eine ältere Version von Nume aussieht.

»Was …?«, stottere ich.

»Komm her«, sagt die Frau und überwindet den letzten Abstand zwischen uns.

Tränen bahnen sich ihren Weg und rinnen mir über das Gesicht. Dabei lache ich und falle Numes Mutter schluchzend in die Arme. Während sie mich viel kräftiger, als ihre schmale Statur erwarten lässt, umarmt, werfe ich einen Blick über ihre Schulter und erkenne den Rest der kleinen Gemeinschaft.

Es sind tatsächlich die Eltern von Nume, Jakob und Mailo.

So lange habe ich sie nicht gesehen. Es fällt mir schwer, ihre Namen aus meinem Gedächtnis auszugraben und den Gesichtern vor mir zuzuordnen.

Inzwischen haben sich alle um mich herum versammelt. Wir fallen uns gegenseitig in die Arme, lachen, weinen. Es ist so unwirklich.

Ich werfe Nume einen fragenden Blick zu. Eigentlich ist es mir egal, wie sie hierher gelangt sind, Hauptsache sie sind da!

»Ruben«, sagt Nume und lächelt gerührt.

»Was? Wie?«, frage ich verwirrt.

»Er ist vor ein paar Tagen einfach losgezogen und hat sie geholt«, erklärt mir Mailo.

Ich starre ihn fassungslos an. Kann das sein? Ist das möglich?

»Er ist ganz allein los und hat die sechs hergeholt? Wie soll das gehen?«, frage ich kritisch.

»Nicht allein«, berichtet Nume, »er hat ein paar Männer aus Arros‘ Truppe mitgenommen. Alles Freiwillige. Pete bekam zuvor die Meldung rein, dass es in HUB 1 zu Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern und dem Rat gekommen ist. Da hat Ruben nicht lang gezögert und ist hin.«

Ich staune nicht schlecht. Gemeinsam mit Numes Mutter wandere ich zum Tisch und wir setzen uns alle, noch immer ziemlich aufgelöst.

Ich muss aussehen und riechen wie ein wildes Tier, aber es ist mir ganz egal.

»Und was ist dann passiert? Im HUB meine ich?«

Dieses Mal antwortet mir Mailos Vater und ich bekomme eine Gänsehaut, weil die vertraute Stimme in mir einen wahren Sturm aus Erinnerungen auslöst.

»Ruben traf mit seinen Leuten ziemlich genau in dem Moment ein, als ein paar von uns sich bereits mit der dreißigsten Etage anlegten. Er hatte oben ein paar der verbliebenen Soldaten ausgeschaltet und ihr hättet sehen müssen, wie er durch die Reihen gefegt ist. Innerhalb von einer viertel Stunde waren die Ratsmitglieder so verängstigt, dass sie sich freiwillig ergeben haben.«

Nun mischt sich auch Jakobs Vater ein und fuchtelt dabei wild mit den Händen.

»Ich dachte, ich breche zusammen, als mein Bruder plötzlich Feuerstöße von sich gegeben hat, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich dachte, er wäre längst umgekommen. Auch wenn eure Botschaft relativ deutlich gemacht hat, dass Außeneinsätze nicht existieren, und ich natürlich Hoffnung geschöpft habe - DAS war definitiv überraschend. Ich traute mich kaum, ihn zu umarmen, als alles vorbei war.«

Ich lache und weine zugleich über die dramatische Beschreibung. Nur zu gut kann ich mir vorstellen, wie Ruben dem Hass von dreizehn Jahren Luft gemacht und einige der Soldaten und Ratsmitglieder gegrillt hat.

»Wo ist er jetzt?«, frage ich und stelle im selben Augenblick erstaunt fest, dass ich mich um ihn sorge.

Sollte seine Befreiungsaktion meine Verbitterung in Sachen Ruben etwa gelindert haben?

»Er ist bei Arros. Hilft beim Training, aber wollte bald herkommen«, erwidert Nume freudig.

»Wow …«, sage ich.

»Ja, nicht wahr?«, gurrt Nume. Sie ist total aufgekratzt und glücklich.

Auf einmal will ich unbedingt zu Ruben. Ich weiß nicht wieso, aber ich kenne kein Halten mehr.

»Ich glaube, ich muss kurz …«, beginne ich entschuldigend und deute auf meinen verschmutzten Anzug und mein Gesicht. »Ich gehe schnell duschen und komme dann wieder, o. k.? Sicher gibt es noch viel mehr zu erzählen und ich kann es kaum abwarten, aber ich muss jetzt einfach diese Klamotten loswerden.«

Numes Mutter nickt eifrig und macht eine beschwichtigende Geste mit den Händen.

»Um Gottes willen, Kind, ja! Geh nur und leg dich vielleicht noch ein paar Stunden hin. Du musst ja völlig fertig sein. Nume sagte, du und dein Joaquim wart noch im Einsatz dort draußen?«

Ich wundere mich darüber, wie gut informiert sie ist, und frage mich außerdem, was genau Jo den anderen aufgetischt hat, um sich auf dem Rückweg mit dem Humvee abzusetzen. Doch das muss warten.

Ich verabschiede mich schnell und laufe zu den Aufzügen. Mehrmals betätige ich den Sensor und verlagere ungeduldig mein Gewicht von einem Bein auf das andere.

Eine kurze Fahrstuhlfahrt später bin ich endlich am Trainingsraum angelangt, stürme hinein.

Um den Nahkampfring haben sich mehrere Teilnehmer aufgebaut und feuern die beiden Kämpfer laut an.

Einer von ihnen ist Ruben.

Ich nähere mich eilig und bleibe dann mit verschränkten Armen am Rand des Spektakels stehen.

Natürlich dominiert Jakobs Onkel den Kampf. Sein Gegenüber hat es nicht leicht. Immer wieder weicht er nur leidlich geschickt aus und steckt innerhalb von nur einer Minute gleich mehrere Schläge und Tritte ein.

Als die beiden die Positionen tauschen, entdeckt Ruben mich. Dadurch, für einen kurzen Moment abgelenkt, fängt er sich prompt einen Hieb ins Gesicht ein. Er taumelt rückwärts, wedelt mit den Armen und schafft es nur um ein Haar, nicht zu Boden zu gehen.

Meine Anwesenheit nimmt ihm offenbar die Lust an der Prügelei und so schnellt er auf seinen Kontrahenten zu, holt dabei enorm aus und streckt ihn mit nur einem gezielten Schlag nieder. Vermutlich hätte er dies die ganze Zeit über schon tun können, hat seinem Gegner aber eine Chance lassen wollen.

»Nova!«, sagt er, während er aus dem Ring heraustritt und sich das Gesicht mit einem Tuch abwischt, welches Arros ihm zugeworfen hat.

Die anderen kümmern sich derweil um Rubens benebelt wirkendes Opfer.

»Hi«, sage ich und packe ihn am Ellenbogen.

Ich ziehe ihn weg vom Rest der Gruppe, fort, in eine ruhige Ecke nahe dem Eingang.

»Geht es dir gut? Gab es draußen Probleme?«, will Ruben wissen und ich schüttele schnell den Kopf.

»Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich bin gerade erst zurück.«

»Das kann ich sehen«, erwidert er und mustert meine staubige Erscheinung belustigt.

Wie immer, seit ich die Sache über ihn und meinen Vater erfahren habe, herrscht zwischen uns eine merkwürdige Stimmung. Einerseits sind wir uns sehr nahe, haben ähnlich schlimme Erfahrungen gemacht und dieselben Menschen geliebt, andererseits trennt uns die Tatsache, dass Ruben meinen Vater auf dem Gewissen hat. Und wie immer versuche ich, dieses Wissen aus meinem Bewusstsein zu verdrängen, um eine halbwegs anständige Unterhaltung mit ihm führen zu können.

Mein Blick schweift automatisch zu dem erstarrten, mechanischen Arm, an dessen Ende der schwere Sandsack baumelt. Schnell schüttele ich das Bild unseres beinahe tödlichen Zusammenstoßes ab und widme mich wieder meinem Vorhaben.

»Ruben, hör zu. Ich wollte nur … ich meine, ich wollte mich bei dir bedanken. Ich habe keine Ahnung, wie du es geschafft hast, aber ich bin dir so dankbar! So unendlich dankbar!«, ich kralle meine Finger in seinen Unterarm, um meine Worte noch zu unterstreichen.

Er sieht erleichtert aus und auch ein wenig stolz.

»Also hast du die anderen bereits getroffen?«

Ich nicke mit zusammengepressten Lippen. Noch immer droht mich die Freude über die Rettung der Eltern meiner besten und engsten Freunde zu überwältigen. Ich könnte auf der Stelle erneut vor lauter Glück in Tränen ausbrechen.

»Wirklich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie unglaublich dankbar ich dir bin. Ruben … du -«

Er hebt zögernd eine Hand, um sie mir auf die Schulter zu legen, zieht sie jedoch schnell wieder zurück. Er traut sich nicht, mich zu berühren. Seit unserer Umarmung, direkt nach meinem Anschlag auf ihn hier in diesem Raum, haben wir uns nicht mehr auf diese Weise genähert. Doch jetzt, in diesem Moment, greife ich intuitiv nach seiner Hand und drücke sie zärtlich.

»Danke.«

 

Zwei CutOut-Duschen später sitze ich wieder auf der großen Ebene. Auch Jo hat die Neuigkeit inzwischen erfahren und unterhält sich angeregt mit Mailos Vater.

Ich für meinen Teil bin furchtbar müde und habe Mühe, nicht an Ort und Stelle einzuschlafen. Doch von Nume weiß ich, dass heute Abend noch eine Sitzung des Forums geplant ist. Sawyer hat extra auf mich und Jo gewartet, daher klammere ich mich tapfer an meinen Ersatzkaffee und halte durch.

Ich würde gerne vorher noch mit Jo sprechen, ihn fragen, wie er es angehen will. Wie er den anderen von seinen geheimnisvollen Freunden berichten will, aber irgendwie will sich keine Gelegenheit ergeben.

 

Und so sitze ich kurze Zeit später, noch immer müde, mit den anderen in der Kommunikationszentrale und lausche Sawyers Ausführungen.

»Ich hätte nicht erwartet, dass es so schnell geht«, sagt dieser gerade, »aber wir haben Nachricht von Anny. Sie konnte herausfinden, wie viele der Schiffe bereits gelbe Passagiere beherbergen.«

Schlagartig bin ich wieder wach.

»Erzähl!«, fordere ich unseren Anführer auf.

Sawyer wirkt nicht besonders glücklich, daher wappne ich mich für schlechte Nachrichten. Wieso müssen es immer schlechte Nachrichten sein, verdammt?

»Anny sagt, sie müssen bereits vor Wochen, wenn nicht sogar vor Monaten, heimlich mit dem Abtransport der Bewohner begonnen haben. Es sieht übel aus. Wenn die Daten, die Anny sichten konnte, korrekt sind, dann sind sogar schon einige Schiffe fort.«

Nume keucht erschrocken auf.

»Du meinst, auf dem Weg nach Salgaia?«

»Genau«, erwidert Sawyer geknickt.

»Dann müssen wir jetzt schnell etwas unternehmen!«, wettert Arros und beginnt wieder einmal unruhig vor uns auf und ab zu laufen.

Von Nume weiß ich, dass alle Mitglieder des Forums bereits auf dem neusten Stand sind. Sie kennen das Ergebnis unserer Späher-Aktion bei den Werften und wissen auch, dass wir es nicht geschafft haben, einen genaueren Blick auf den seltsamen Sitz der Regierung zu werfen.

Im Prinzip muss Sawyer nur noch das Zeichen zum Angriff geben und wir könnten uns auf den Weg machen.

Doch Sawyer sieht nicht sonderlich motiviert aus.

»Es wurde bereits damit begonnen, die befreiten Gelben mit SOLAR SUITS und anderem Equipment zu versorgen, aber es geht nur langsam voran und sie haben einfach keinerlei Feuerlanderfahrung«, er seufzt. »Wir könnten die angeschlossenen blauen HUBs mit einbeziehen und so einen Angriff auf die Werften planen, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wenn wir mit einer derart großen Gruppe losziehen, haben wir in null Komma nichts so ziemlich jeden Soldaten am Hals, den die Regierung in der Nähe hat.«

Nume schüttelt heftig den Kopf.

»Aber wir müssen etwas tun! Oder willst du einfach abwarten, bis sie alle Gelben fortgeschafft haben? Das darf nicht passieren. Wir müssen jetzt einschreiten!«

Ich wundere mich kein bisschen über die sturen Ansichten meiner besten Freundin. Genau wie ich will sie die Sache endlich beenden. Endlich Erfolg haben. Doch Sawyer scheint nicht wirklich überzeugt.

»Ich fürchte, wenn wir auf diese Weise zuschlagen, verlieren wir mehr, als wir gewinnen. Und erreichen tun wir vielleicht überhaupt nichts, Nume«, er steht auf und wandert nun gemeinsam mit Arros durch den Raum. »Und wir dürfen nicht vergessen, dass der Souverän die Grauen zum Kampf eingeteilt hat. Sobald wir dort auftauchen, stehen wir einer übermächtigen Anzahl von ihnen gegenüber. Du hast die Lager nicht gesehen. Es sind so viele, Nume. Selbst wenn wir eine Chance hätten, würden wir niemals bis zum Souverän in seinem Wasser-Palast vordringen können. Das wird so nicht funktionieren.«

Selbst Nume weiß darauf nichts mehr zu erwidern. Alle schweigen und grübeln vor sich hin. Wieder einmal stehen wir vor einem offenbar unlösbaren Problem und das, obwohl wir so nah an der Lösung sind.

Neben mir räuspert sich Jo.

»Ähm … ich glaube, eine Möglichkeit gäbe es da schon«, er sieht mich kurz an und lächelt matt. »Dazu müsste ich allerdings erst mal ein paar Dinge erklären.«

 

Eine Stunde später finde ich mich zusammen mit Nume und Mailo in meiner Wohneinheit wieder und werde mit Fragen bombardiert. Numes Stimme überschlägt sich beinahe, während sie auf mich einredet. Es wundert mich kein bisschen. In der Sitzung hat sie tapfer an sich gehalten und Jo seine ganze Geschichte erzählen lassen. Genau wie Sawyer, Arros und die anderen hat Nume bloß mit offenem Mund dagesessen und jedes Detail aus Jos Erzählung in sich aufgesogen.

Wie er die Sallows gefunden und lieben gelernt hat. Wie er es über all die Jahre geheim gehalten hat. Und natürlich die famose Übereinkunft mit Alvo, dieses verlockende Angebot, uns beim Sturm auf die Werften zu unterstützen.

Auch wenn Nume nach der sechzigminütigen Rede eigentlich mit allen Informationen versorgt ist, schmettert sie nun eine Frage nach der anderen in die Stille meiner kleinen Behausung, während Mailo bloß nachdenklich auf meinem Bett sitzt und das Geplapper ausblendet. Offenbar hat er Übung darin.

Jo ist bei Sawyer und Arros geblieben. Ich hoffe, die beiden sind nicht sauer und es geht nur um Taktik und derlei Dinge. Armer Jo. Solange hat er sein Geheimnis gehütet und nun ist es plötzlich der Mittelpunkt unserer Strategie.

»Kannst du mir mal sagen, wie lange du schon davon weißt?«, zetert Nume weiter.

Ich hebe unterwürfig die Hände.

»Nicht lange. Ein paar Wochen vielleicht. Glaub mir, für mich war das auch ziemlich schockierend!«

Ich kann förmlich dabei zusehen, wie sich in Numes Kopf die Puzzleteile zusammenfügen.

»Deswegen!«, quietscht sie triumphierend. »Deswegen habt ihr euch gestritten! Ist doch so, oder?«

»Ja natürlich!«, erwidere ich so gefasst wie möglich. Die dunklen Gefühle, welche das Thema in mir heraufkochen lässt, sind noch allzu stark. Auch wenn ich Jo inzwischen verstehe, seine Sache sogar unterstütze, bin ich noch immer ein wenig verletzt.

»Und du hast mir nichts davon erzählt!«, sagt Nume vorwurfsvoll.

»Das konnte ich nicht, Nume. Bitte versteh doch, es war Jo so wichtig. Ich musste versprechen, nichts zu sagen. Immerhin hat er das Wissen um die Sallo… die Grauen mehrere Jahre verborgen. Da konnte ich ja nun schlecht losziehen und es dem halben CutOut erzählen. Streit hin oder her, ich hatte es versprochen.«

Sie gibt sich geschlagen und wirft sich zu Mailo aufs Bett.

»Schon gut, schon gut. Ist klar. Aber was bedeutet das jetzt für uns? Bilden wir jetzt eine Allianz aus Grauen und Division-Leuten? Geht das überhaupt?«

Sie beugt sich gespannt vor und starrt mich mit diesen Nume-typischen blitzenden Augen an.

»Sprechen sie unsere Sprache? Wie leben sie? Gibt es dort, wo sie sind Anbauflächen? Wie ernähren sie sich?«

Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen.

»Oh Nume, bleib locker!«, ich lache laut auf. »Ich bin hundemüde und kann beim besten Willen nicht alle deine Fragen beantworten.«

Seufzend lehne ich mich zurück und versuche Ordnung in meinen Kopf zu bringen.

»Also sie sprechen eigentlich wie wir. Etwas minimalistischer vielleicht. Einfacher eben. Vermutlich hat sich ihr "Slang" über die Jahrzehnte so entwickelt, denn sie haben keinen Schul-Bezirk oder digitale Daten wie wir. Und sie leben im Feuerland. Sannah hat mir erzählt, dass es ganz verschiedene Orte sind. Unter den Städten, in den Bergen, manchmal auch in alten Minen. Ganz unterschiedlich. Und ich habe keinen blassen Schimmer, wovon sie sich ernähren. Als wir da waren, gab es abends einen komischen Brei. Gut möglich, dass da Getreide drin war, aber was weiß ich schon über so was. Es könnte alles gewesen sein und ich glaube, so genau will ich das lieber gar nicht wissen. Es schmeckte ganz o. k. und ich war hinterher satt.«

Meine Freundin fuchtelt mit den Händen.

»Aber wie sehen sie aus? Groß? Klein? Sind Kinder da gewesen?«

»Ja. Es gab Kinder und auch ältere Menschen. Sie sind wie wir, nur irgendwie rauer. Sie sind ziemlich lebendig. Ich will es nicht wild nennen. Sie sind auf jeden Fall hart im Nehmen, aber auch herzlich und sehr eng miteinander verbunden.«

»Und du glaubst, dieser Alvo meint das ernst? Meinst du echt, sie werden an unserer Seite kämpfen?«

Sofort erinnere ich mich an Grimms misstrauischen Blick, als ich ihm meinen Drift vorführen musste.

»Nein. Nicht an unserer Seite. Für sie sind wir genau wie die Blauen. Sie machen da keinen Unterschied. Aber sie werden alles tun, um ihre Freunde zu befreien. Somit haben wir die Möglichkeit, uns auf die Werften und den Souverän zu konzentrieren.«

Ich gähne.

»Nume, nimm es mir nicht übel, aber ich bin echt müde. Lass uns morgen weiterreden, ja?«

Sie sieht nicht aus, als würde sie sich damit abfinden, aber Mailo ist nachsichtiger und legt ihr zärtlich eine Hand auf die Schulter.

»Komm schon. Wir sollten alle eine Nacht drüber schlafen. Und Nova sieht aus wie ein Geist. Gönn deiner Freundin eine Verschnaufpause.«

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu und verabschiede die beiden dann zügig.

Endlich allein. Endlich in einem Bett.

Mir bleibt keine Zeit mehr, über den Tag, die Sitzung oder über Jo nachzudenken. Ich schlafe sofort ein.