15. TAG X


Obwohl ich die Lager der Grauen ja bereits kennenlernen durfte, schockiert mich ihr Anblick erneut. So viele Menschen, so viele Kinder, Familien. Es ist bizarr.

Auf einmal bin ich nicht nur froh, dass Alvo und seine Sallows uns bei der Eroberung des Regierungssitzes unterstützen, sondern vor allem darüber, dass diese armen Seelen endlich befreit werden. Kaum vorstellbar, dass manche von ihnen bereits in der dritten oder vierten Generation dort unten leben!

Ich wende mich ab und mustere unsere eigenen Reihen. Schulter an Schulter haben sich etwa hundert Division-Mitglieder auf der Anhöhe versammelt und blicken gespannt auf unser Ziel hinab.

Dann entdecke ich Maja. Sie ist tatsächlich hier!

Schnell mache ich mich auf den Weg. Ich muss sie unbedingt noch mal sprechen. Wer weiß, ob wir dazu später noch die Gelegenheit haben …

»Hey!«, sagt sie, als ich neben ihr auftauche. »Siehst du, ich bin jetzt auch eine Feuerlandwanderin.«

Stolz drückt sie den Rücken durch und grinst mich an.

»Ja, das bist du wohl«, erwidere ich fast ein wenig traurig.

Natürlich liest sie prompt meine Gedanken und sagt in leicht genervtem Tonfall: »Ich bin nicht zu jung. Echt nicht! Und ich habe trainiert!«

Ich streiche ihre eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr und lächele versöhnlich.

»Pass nur gut auf dich auf, ja?«

»Ja.«

Dann sehe ich Jo aus dem Augenwinkel auf Sawyer zusteuern, der zusammen mit Anny und Arros an der Spitze unserer kleinen Armee steht. Offenbar wird es nun ernst.

Ich will mich gerade von Maja verabschieden, als ich bemerke, wie sie mich eindringlich mustert.

»Was ist? Alles in Ordnung?«, frage ich besorgt.

»Hmm, ja«, sagt sie und zieht die Wörter dabei merkwürdig in die Länge. Dann schüttelt sie den Kopf, so als würde sie einen unschönen Gedanken verscheuchen wollen. »Pass du auch auf dich auf, und auf deinen Freund.«

Sie deutet auf Jo und presst die Lippen kurz zusammen.

»Werd ich tun. Mach's gut, Maja, und viel Glück!«

Damit ziehe ich mich zurück. Ich weiß, dass sie meine Gedanken gelesen hat. Aus irgendeinem Grund will ich aber gar nicht wissen, was sie "gelesen" hat. Es ist seltsam mit Maja. Sie blättert durch unsere Emotionen wie andere durch alte Bücher. Und obwohl man seine eigenen Gedanken doch kennen müsste, liest dieses Mädchen irgendwie immer zwischen den Zeilen. Ich habe stets ein wenig Angst vor ihren Schlussfolgerungen.

Ich erreiche Jo und die anderen. Es ist nicht nötig, zu fragen, wie es jetzt weitergeht. Unten beginnt bereits die erste Phase.

Mein Herzschlag beschleunigt sich, während ich dabei zusehe, wie die Sallows ihren Teil der Abmachung einhalten und die Lager stürmen.

Wie Ameisen überfluten sie die äußeren Barrikaden und arbeiten sich zügig vorwärts. Zunächst scheint es, als wären die blauen Soldaten, welche sich nur vereinzelt am Zaun aufhalten, so überrumpelt, dass Alvos Männer leichtes Spiel haben. Doch schon nach wenigen Minuten bricht die Hölle los. Maschinengewehrsalven fegen durch die Menge und aus verschiedenen Richtungen tauchen immer mehr Soldaten auf.

Ich kann kaum noch hinsehen und Jos Gesichtsausdruck ist mehr als erschüttert. Für ihn muss es besonders schlimm sein.

Ich beiße die Zähne zusammen.

Was hatte ich erwartet? Dass die Blauen sich einfach ergeben und alle grauen Gefangenen freilassen?

»Wir müssen los«, verkündet Sawyer monoton.

Offenbar ist seine Alois-Bezier-Euphorie abgeklungen. Das Schauspiel unter uns würde allerdings bei jedem den Glauben an das Schicksal ins Wanken bringen.

Arros gibt unseren Leuten ein Zeichen und wir machen uns an den Abstieg. Auf der meerabgewandten Seite schlängeln wir uns einen schmalen Pass hinab.

Mit jedem Meter, den wir uns den immer lauter werdenden Kämpfen nähern, steigt Nervosität in mir auf.

»Hier entlang«, ruft Anny und winkt uns zu sich.

Wir verschwinden durch einen runden Zugang und befinden uns plötzlich in einem langen, heruntergekommenen Tunnel. Das Ganze wirkt auf mich wie ein altes, modriges Abwasserrohr.

Mein schlechtes Gewissen meldet sich. Wir werden unter den Lagern hindurch, bis zum Wasser, vordringen. Lieber würde ich den Sallows helfen, aber so war es nicht abgestimmt. Angespannt folge ich Sawyer, Anny und den anderen weiter vorwärts.

Viel zu schnell erreichen wir das Ende des Tunnels und harren eine Weile aus. Anny und ein Mann mittleren Alters, der wohl einer ihrer Forscherkollegen sein muss, gehen vor.

»Hey du«, erklingt Jos Stimme plötzlich an meinem Ohr.

»Hey.«

»Alles in Ordnung?«

»Ich bin nur nervös«, gebe ich kleinlaut zu.

»Ich auch. Ist irgendwie ganz schön heftig, oder? Ich meine, eigentlich läuft ja alles wie gedacht … aber es ist kein schöner Anblick.«

»Nein. Ist es nicht«, stimme ich ihm zu.

Ein Auge auf den Tunnelausgang geheftet, schlinge ich meine Arme um seine Taille. Ich kann seinen Herzschlag spüren. In puncto Taktung nehmen seiner und meiner sich nichts.

»Hey!«, entfährt es mir lauter als geplant. »Du wolltest mir doch noch erzählen, was für einen Drift der Souverän hat. Daran musste ich immer wieder denken, aber irgendwie hab ich ständig vergessen, dich danach zu fragen. Sag schon, was kann der Mann?«

Jo blickt kurz nach rechts. Scheinbar will er abschätzen, ob wir genügend Zeit für einen kleinen Plausch haben, doch bei Sawyer und Anny tut sich noch nichts.

»Das ist ziemlich verrückt. Ich glaube kaum, dass jemand außer ihm einen vergleichbaren Drift hat. Zumindest kenne ich keinen.«

»Nun mach es nicht so spannend!«

»Also sein Drift ist eher wir ein Direkt-Link. Eine Verknüpfung sozusagen.«

Ich starre ihn verständnislos an.

»Hä?«

»Na ja, er kann die Fähigkeiten von anderen Personen adaptieren. Dazu muss er sie nur berühren. Er selbst hat eigentlich keinen Drift. Jedenfalls keinen, der irgendwelche Kunststückchen kann.«

Ich bin ehrlich erstaunt über diese Offenbarung. Irgendwie hatte ich mir den Drift des Souveräns krasser vorgestellt.

»Aber in dem HUB, als wir euch befreit haben, da hat er doch …«

Jo nickt ruckartig.

»Ja, er hat den Drift eines seiner Bodyguards benutzt. Der war ziemlich eindrucksvoll, ich weiß.«

Ich erinnere mich, wie die beiden Division-Mitglieder das Regierungsoberhaupt attackieren wollten und unter seinem Drift vor Schmerz erstarrt sind. Wie sie sich wanden und ihre Gesichter verzogen. Und wie sie anschließend kaltblütig ermordet wurden.

Und dann erinnere ich mich, wie die Hand des Souveräns die ganze Zeit über auf der Schulter des Soldaten gelegen hatte. Als würde er ihn motivieren wollen, dabei lieh er sich in Wirklichkeit seine Fähigkeiten.

»Du meinst, er kann praktisch jeden Drift ausüben?«

»Sofern er einen in Reichweite hat, ja. Und er kann ihn verstärken. Ich weiß nicht genau, wie weit das geht, aber es heißt, er kann mindestens das doppelte Potenzial des jeweiligen Drifts nutzen.«

Ich merke, wie Jo immer wieder zu Sawyer hinüberschaut. Sein Oberkörper ist angespannt, genau wie sein Gesicht.

Ich lege ihm eine Hand auf die Brust.

»Es wird alles gut ausgehen. Wir haben es ja schon beinahe geschafft, sind so weit gekommen …«

Meine Worte sind aufrichtig gemeint, aber sie klingen hohl und unecht.

Er erwidert nichts. Stattdessen schiebt er mich sachte von sich. Offenbar hat Sawyer das Zeichen gegeben.

Es geht los.

 

Die kurze Strecke vom Ausgang des Tunnels bis hin zu dem länglichen, überdachten Etwas, in welchem sich die Wasserfahrzeuge befinden, nehme ich kaum wahr.

Alles zieht an mir vorüber. Fast unbehelligt gelangen wir an unser Ziel. Nur zweimal müssen wir uns gegen Soldaten verteidigen, dann sitzen wir auch schon in den seltsamen Booten und bewegen uns erschreckend schnell vorwärts.

Anny hat ganze Arbeit geleistet. Sie hat nicht nur in Erfahrung gebracht, wann sich der Souverän in Central aufhält, sie hat auch dafür gesorgt, dass ein paar der wachhabenden Soldaten von den Wasserfahrzeugen abkommandiert und zum Einsatz in den Werften berufen wurden.

Etwa die Hälfte unserer Truppe bleibt zurück und hält die Stellung. Keiner soll uns folgen können. So lange es möglich ist, werden unsere Leute die Soldaten davon abhalten, unsere Mission, von der Landseite aus, zu stören. Obwohl uns bisher noch niemand bemerkt haben dürfte. Zu sehr sind alle mit dem Sturm auf die Lager beschäftigt.

Ich war noch nie in einem Boot.

Einen Moment befürchte ich, mir wird schlecht, aber das Gefühl legt sich rasch wieder. Scheinbar reine Gewöhnungssache.

Nachdem ich mich mit der neuen Situation angefreundet habe, wage ich einen Blick in Richtung der Lager. Von hier draußen wirkt es, als würde die gesamte Küstenlinie von merkwürdigen Krabbeltieren befallen. Unzählige Menschen, Soldaten, Maschinen und Fahrzeuge tummeln sich vor unseren Augen. Doch wir sind bereits so weit hinausgefahren, dass es kaum mehr möglich ist, die Grauen von den Soldaten zu unterscheiden, geschweige denn herauszufinden, wer den Kürzeren zieht. Der Anblick gleicht einer sich windenden, staubigen Masse aus undefinierbaren Kleinteilen.

Ich empfinde tiefes Mitgefühl mit Jo, der sich neben mir am äußeren Rand des schwimmenden Vehikels festkrallt und das Geschehen besorgt beobachtet.

Das Auf und Ab unserer Fahrt beruhigt mich nach ein paar Minuten. Vermutlich wäre Fischer ein schöner Beruf gewesen, hätte man in der alten Zeit gelebt. Oder Meeresbiologe? Im Feuerland stößt man nur noch selten auf etwas Lebendiges. Die Vorstellung, dass hier, unter meinen Füßen, unzählige Lebewesen umherschwimmen, fasziniert mich. Aber vielleicht tun sie das ja auch gar nicht mehr?

»Haltet euch bereit!«, ruft Sawyer uns zu und gibt auch den anderen Booten via Kommunikator ein Zeichen.

Wie ein Geschwader aus riesenhaften Wasserwesen gleiten wir auf Central zu. Gelegentliche Wellen lassen die Boote kleine Hüpfer machen. Die Fahrt erinnert mich an meinen Ritt auf Zoes ATV. Wäre unsere Mission nicht so gefährlich, hätte ich vielleicht sogar Spaß an diesem Abenteuer.

Erst jetzt bemerke ich, wie riesig Central ist. Vom Land aus wirkte es relativ kompakt und ein wenig unscheinbar. Doch Anny hat recht. Was wir sehen, ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Der Großteil der Station muss sich unterhalb der Wasseroberfläche befinden.

Ich überschlage die Menschen in den anderen Booten. Wir sind etwa vierzig. Obwohl Anny uns versichert hat, dass es einen Zugang gibt, durch den wir eindringen können, nagen Zweifel an mir. Überhaupt, erscheint mir die ganze Aktion ziemlich übereilt. Doch wir haben keine andere Wahl.

Noch während Jo und ich von unserem Ausflug zu den Sallows zurückgekehrten, hatte Anny schlechte Neuigkeiten für die Division.

Sie informierte Sawyer darüber, dass die Regierung tatsächlich bereits damit begonnen hat, die Gelben an Bord der Schiffe zu transportieren. Und nicht nur zu Testzwecken. Der Vorgang war bereits in vollem Gange!

Natürlich haben wir keinen Zweifel an der Richtigkeit der Daten. Immerhin gibt es noch unzählige, gelbe HUBs, die nicht befreit sind und sich noch immer unter der Herrschaft dieser sogenannten Regierung befinden. Kein Wunder also, dass es ihnen gelungen ist, den Abtransport trotz der andauernden Kämpfe zu initialisieren. Vermutlich haben sie damit schon lange vor den Auseinandersetzungen begonnen, vielleicht sogar vor der Ausstrahlung unserer Botschaft?

Somit blieb uns keine andere Wahl, als schnell zu handeln. Und genau das ist es, was wir hier gerade tun.

Wieder einmal schnell reagieren.

Ein Selbstmordkommando mitten ins Herz der Regierung.

 

Erstaunlich einfach gelangen wir in das Innere der Station. An einer länglichen Öffnung halten die Boote eines nach dem anderen und wir springen hinüber auf den stumpfsalzigen Boden des Anlegers. Dieser Teil der Station muss erst später ergänzt worden sein. Früher, so weiß ich, war der Regierungssitz vollständig unter Wasser. Man konnte nur unterhalb der Wasseroberfläche andocken.

Ich ducke mich gerade rechtzeitig, um einer verirrten Kugel auszuweichen. Die fünf Soldaten vor uns werden von Sawyer, T.J. und Ruben überwältigt, bevor sie jemanden von uns verletzen können.

Beinahe routiniert arbeiten wir uns weiter vor.

Ich versuche in Annys Nähe zu bleiben, um sie im Ernstfall schützen zu können. Sawyer hat offenbar denselben Gedanken und so nehmen wir seine Freundin in die Mitte, während wir langsam weitergehen.

Bisher ist kein Alarm losgegangen und keine weiteren Soldaten sind aufgetaucht. Doch ich mache mir nichts vor. Das hier wird kein Spaziergang.

»In Ordnung«, sagt Sawyer und beginnt damit, uns in kleinere Gruppen aufzuteilen. »Arros. Du und deine Jungs suchen die Steuerzentrale dieses Ungetüms.«

Sofort scharen sich zehn Männer um Arros. Dieser geht auf Sawyer zu, ergreift seine Hand und sagt in seiner typisch brummigen Tonlage: »Wir sehen uns, wenn es erledigt ist, alter Freund!«

Sawyer nickt wohlwollend. In seinen Augen sehe ich gleich tausend Emotionen, aber vor allem tief empfundenen Respekt für seinen Freund.

»Wir sehen uns, wenn es erledigt ist«, wiederholt er die Worte meines Trainers.

Dann verschwindet die erste Gruppe im Laufschritt.

Sawyer dreht sich zu den anderen um und gibt weitere Anweisungen.

»T.J., Gibbs? Ihr kümmert euch um unsere Rückzugsmöglichkeit, falls die ganze Aktion schiefläuft. Behaltet den Zugang im Auge, verteidigt ihn, wenn nötig.«

»Geht klar«, erwidert T.J. und gibt Jenkins und ein paar weiteren Männern ein Zeichen. Sie und Gibbs folgen ihm in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

Zurück bleiben Jo, Mailo, Zoe, Ruben, Anny, Sawyer und noch vier weitere Division-Anhänger mit starkem Drift. Paul und Mick haben beide telepathische Fähigkeiten und können andere Menschen zu Dingen zwingen, ohne sie auch nur zu berühren. Die anderen beiden kenne ich nicht, aber an Land, kurz bevor wir die Boote bestiegen haben, konnte ich beobachten, wie der Größere von ihnen so etwas wie einen Stromstoß abgegeben hat. Vermutlich ähnelt sein Drift also meinem.

»Nun ist es an uns, die Sache durchzuziehen«, sagt Sawyer und lässt seinen Blick über die kleine Runde schweifen. »Bereit?«

Wir halten seinem Blick stand und machen ernste Gesichter. Sicher, wir haben alle Angst. Aber ich glaube nicht, dass es auf dem Erdball jemals eine Gruppe Menschen gegeben hat, die motivierter war.

»Bereit!«, erwidern wir im Kollektiv und ich erschrecke mich über den Widerhall unserer Stimmen.

Dann machen wir uns auf den Weg, um dem Souverän einen Besuch abzustatten.