CYNTHIA WARD

 

Ich kenne Cynthia Ward nicht persönlich, obwohl wir doch nur etwa fünfzig Kilometer voneinander entfernt wohnen … ich in Berkeley und sie in der weiter südlich gelegenen Kleinstadt Mountain View im Silicon Valley. So weiß ich von ihr bloß das Wenige, was ihre kurze Vita preisgibt. Demnach ist dies ihre erste professionelle Veröffentlichung. (Sie schreibt, sie habe im vorvorigen Winter an Marvel Comics eine Story-Idee verkauft, »glaube jedoch nicht, daß das zählt«. Leider nicht.) Cynthia ist neunundzwanzig Jahre alt, hat Englisch studiert und ist in der Textverarbeitung tätig. Sie und ihr Mann haben eine Maine-Waschbärkatze, die aus Kalifornien gebürtig ist, sind aber selbst aus Maine. So eine Maine coon cat ist die größte Katze, die ich jemals außerhalb eines Zookäfigs zu Gesicht bekommen habe.

Grundlage ihrer Story, schrieb mir Cynthia, sei das Faktum, daß Knochen von Menschen und Tieren nicht bloß versteinern, sondern auch »opalisieren« können, Jetzt frage ich mich, ob diese Story durch so ein Wissenschaftsfragment schon zu Science-fiction wird. Nun, für mich liest sie sich gar nicht so. Was ich als Kompliment anmerke. – MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

CYNTHIA WARD

 

Der Opalschädel

 

Die Flammen folgten ihr dichtauf. Sie zuckten, leckten nach ihr wie von dämonischer Gier getrieben. Und Nelerissa Grassamen, in wilder Flucht vor ihnen auf dem immer wieder strauchelnden Pferd, hätte schwören mögen, daß sie es auch wirklich auf sie abgesehen hatten.

Die glutheiße Luft versengte ihr die Lungen, als sie Atem holte, um sich diese und jene Närrin zu schelten. Wie hatte sie auch nur daran denken können, diese Goldene Steppe mitten im Hochsommer zu durchqueren! Schon der Name der weiten Ebene sagte ja jedem, wie kurz die Zeit war, in der hier das Gras grünte, und wie rasch es von der Sonne hellgolden gedörrt, goldbraun geröstet und endlich dunkelbraun gebrannt wurde. Diese Steppe wurde zur Trockenzeit so zundertrocken, daß sich dann selbst die barbarischen Reiterhorden nicht mehr hineinwagten. Aber sie war hier, weil der Mann, den man »Degen« nannte, sicher auch von diesem Opalschädel Wind bekommen hatte. Und weil er wohl keinerlei Bedenken hätte, sich im heißesten Sommer in die Goldene Steppe zu wagen, konnte sie sich doch auch keine leisten. Ihr Ruf stand schließlich auf dem Spiel!

Als der Karawanenführer angeordnet hatte, die Handelsstraße, die allen Schleifen des sommers wie winters Wasser führenden Julu-kela folgt, zu verlassen und quer durch die Steppe zu ziehen, war ihr das leichtsinnig erschienen, da überall in der Ferne schon Feuer brannten, die mit ihrem gelbbraunen Rauch die Sonne verdunkelten, und weil die Luft mit trockenem Grasstaub geschwängert war.  

Aber sie hatte nichts gesagt.  Denn wenn sie quer durchs Gelände zogen, könnte sie ihren Vorsprung gegenüber Degen vergrößern oder, wenn er bereits vor ihr aus Areherna aufgebrochen wäre, ihn vielleicht doch noch überholen.

Aber nun, nur noch drei Tagesritte von den Westbergen entfernt,
hatte so ein Idiot von einem Wachposten beim Haschischrauchen
das ausgedörrte Gras am Lagerrand in Brand gesetzt. Natürlich
hatten die Flammen rasend schnell um sich gegriffen und sogar die
Wagen erfaßt. Die Wächter hatten auf Geheiß der Händler ver-
sucht, Wagen und Waren zu retten. Aber Nelerissa hatte sie bei
dem aussichtslosen Versuch, mit ihrem bißchen Trinkwasser all
die lodernden Planen und Planken zu löschen, nicht auch noch
unterstützen wollen - war auf den besten Hengst gesprungen und
in Richtung auf den Großen Fluß losgeprescht.
  Das Feuer hatte sich, vom Nordwind angetrieben, zuerst nach Süden bewegt. Aber dann hatte der Wind sich gelegt, und nun breitete es sich in alle Himmelsrichtungen aus. So kam es ihr wenigstens vor! Seit dem Ausbruch des Feuers waren erst fünfzehn Minuten verstrichen. Aber ihr war, als ob sie bereits seit Stunden auf der Flucht sei. Sie taumelte im Sattel, war schweißüberströmt und außer Atem. Der Rauch stieg senkrecht zum Himmel, aber zugleich rieselte feinste Asche herab, von der ihr bereits die Kehle brannte und die Augen tränten. Die Arme schmerzten ihr und waren völlig verkrampft, so fest umklammerte sie den Hals ihres Pferdes, fürchtete sie doch, sich mit ihren Zügeln nicht im Sattel halten zu können. Und ihr Hengst zitterte wie nach einem schar-
fen Tagesritt.

Rings um sie flohen abertausend wilde Tiere in dieselbe Richtung
wie sie, hin zum Julukela. Die meisten sah sie gar nicht, sah nur die
Wogen und Wellen, die sie im hüfthohen Gras warfen. Aber hier
und da gewahrte sie einen Springbock neben einem Wolf oder
einen Bison neben einem Panther - die aber einander nicht
beachteten … Selbst ihr Hengst schien diese Raubtiere nicht mehr
zu fürchten. Ja, sie hatte gehört, daß die Raubtiere und Beutetiere
friedlich nebeneinander vor Steppenbränden fliehen, aber nie ge-
dacht, daß sie das einmal mit eigenen Augen sehen würde.
  Nun ging die Steppe in Savanne über. Bald trennten Nelerissa nur
noch Meter von dem riesigen Kiefern- und Eichenwald, der sich
bis zum Fluß und weiter bis hoch in die Ausläufer der schon so
nahen Westberge dehnte und dazu bestimmt schien, wenigstens einen Teil des Gebirgswassers zurückzuhalten. Aber der Brand
hatte sie zur Rechten um hundert Meter überholt! Schon loderten
vier oder fünf Kiefern wie ölgetränkte Fackeln auf - in sonnenver-
branntem Gras breitet sich Feuer rasend und sprunghaft aus, in
staubtrockenem Wald aber auf noch unberechenbarere, gefähr-
lichere Weise.

Das Gebirge wirkte verlockend nahe. Aber Nelerissa, als ein Kind
der Nordberge, ließ sich nicht zu dem Versuch verleiten, dessen
Ausläufer in einem Gewaltritt zu erreichen. Denn sie wußte wohl,
daß sie in Wirklichkeit sehr weit weg waren.

So hielt sie ihr Pferd im Zwielicht dieser Mittagsstunde jäh an, sprang aus dem Sattel und zog ihren schärfsten Dolch, schnitt von ihrem Cape einen breiten Streifen und verband damit ihrem Hengst Kopf und Augen, so wie der Karawanenführer ihr es zu Beginn ihrer Reise geraten hatte. Dann zog sie sich ihre Sonnenkapuze über den Kopf, um sich gegen die unmittel-barere Hitze zu schützen, ergriff die Zügel und führte ihr Pferd in den Wald hinein.

Da schnaubte der Hengst vor Angst, und seine Ohren zuckten.
  Auch Nelerissa fürchtete sich. Sie sah das Feuer nun nicht mehr, hörte es aber so deutlich wie ihr Pferd, hörte das Brüllen des Brandes, das Krachen der Bäume, die er in unersättlicher Gier verzehrte.

Sie kam viel zu langsam voran. Die Sicht war schlecht: Der Rauch,
das Geäst und das Nadel- und Laubdach hielten das Licht der Sonne und des Feuers ab. Der Boden war holprig, von Unkraut überwuchert und voll tückischer Fußangeln aus Fallholz und Schlangenwurzeln. Die Kiefern und Eichen standen so dicht wie in Reih und Glied angetretene Soldaten; und die Zweige der Bäume und Büsche rissen wie mit Fingern an Nelerissa.
  Ein Sturm erhob sich. Unheimliches, waberndes Licht breitete sich
jäh aus. Das Brüllen des Feuers wurde zum Höllenlärm, den nur
der Knall vor Hitze berstender Bäume übertönte. Zu ihrer Rechten
sah Nelerissa schon Flammen um die nahen Stämme züngeln und
über den Baumkronen ein wogendes Feuermeer branden.
  Feuersturm!

Da barst über ihr mit Donnerknall eine brennende Kiefer und warf einen wahren Funkenregen über sie. Sie konnte ihren Kopf noch mit den Armen, dem Cape schützen. Ihr Pferd aber traf die Glut an der Stirn, dicht über der Augenbinde. Da wieherte es wild und bäumte sich, daß es ihr die Zügel aus der Hand riß, ja, ihr fast den Arm ausgekugelt hätte, und stürmte dann geradewegs auf die Feuerwand zu.

Nelerissa wollte ihm nach, es aufhalten. Aber das Feuer hüllte es in durchsichtig orangefarbene Schleier ein, und es schrie so gellend wie eine Frau in den kaiserlichen Folterkammern … Schon leckten die Flammen auch nach ihr, brannte ihr Gesicht wie Feuer, und da wich sie zurück. 
  Dem Pferd war nicht mehr zu helfen! Sie machte kehrt, bedeckte Mund und Nase mit einem Zipfel ihres Capes und lief los, rannte um ihr Leben.

Äste schlugen ihr ins Gesicht, Asche drang ihr in die Kehle, und glühend-heiße Luft versengte ihr Stirn und Brauen. Aber sie scherte sich nicht darum und lief und lief. Solche Hitze hatte sie selbst in ihrer Jugendzeit am Rand der Steppe nie erlebt. Es war wie in einem Brennofen!

Sie stolperte über eine Wurzel und begrub im Fallen eine hüfthohe Jung-kiefer unter sich. Das ranke Bäumchen bog sich bis zum Boden unter ihrer Last und stach sie mit spitzen Nadeln durch Tuch und Haut. Vom Sturz betäubt, verharrte sie noch reglos, spürte aber, wie sich ihr ein Stück Glut durch Umhang und Hemd in die Schulter fraß. Da fuhr sie hoch, schlug die Glut jäh aus und rieb sich die Brandwunde - und sah zu ihrem Schreck, daß an den Stämmen ringsum Flammen herabschössen, sich wie rasend im Unterholz ausbreiteten und drohten, sie in einem tödlichen Feuerring einzuschließen.

»Schützt mich, o Götter!« schrie sie und sprang in die Feuerwand.

Am Kopf wurde ihr schrecklich heiß, und sie roch den Gestank von brennendem Haar.

Sie landete auf Pflaster! Nur ihre dicken Stiefelsohlen dämpften den harten Aufprall, und sie stolperte, fing sich aber, rappelte sich hoch und taumelte keuchend quer über die uralte Flußstraße, auf die sie da unverhofft gestoßen war. Die Luft war so mit Asche und
Rauch durchsetzt, daß sie fast blind dahinstolperte und nicht ein-
mal ihre Stiefelspitzen, geschweige denn die Straßendecke sah.
  Plötzlich trat sie ins Leere. Sie hatte kein Pflaster und keinen Bo-
den mehr unter den Füßen, stürzte die steile Böschung hinab und
landete, mit dem Gesicht nach unten, im weichen, wäßrigen
Schlamm des Flußufers. Und nun wälzte und wälzte sie sich, um
die Flammen in ihrem Haar, auf ihrem Umhang zu ersticken, und
ließ sich nicht davon schrecken, daß diese Schlammbrühe so kalt
wie Schmelzwasser war.

Erschöpft, aber erleichtert hob sie dann den Kopf und spuckte und
würgte all den übelriechenden Moder aus, der ihr in Mund und
Hals geraten war. Aber ihre Kapuze war weg, ihr Kopf kahlge-
brannt! Und die versengte, hauchzarte Kopfhaut brannte unter
ihrer tastenden Hand wie höllisches Feuer.

Sie sah sich um. Weit reichte ihr Blick nicht in dieser mit Rauch
und Asche geschwängerten Luft - zwei Fuß bloß, nicht weiter.
  Aber im Waberlicht des Feuers sah sie statt braunem Gras grüne
Binsen. Den Göttern sei Dank - sie hatte das Ufer des Julukela
erreicht!

Aber sie durfte hier nicht liegenbleiben, mußte sofort ins tiefe
Wasser. Dort wäre sie sicher, wenn es denn bei solch einem Feuer
überhaupt einen sicheren Ort gäbe.

Auf Händen und Füßen kroch sie voran. Aber das Ufer fiel so steil
ab, daß sie in den Fluß rutschte. So hockte sie sich ins kinnhohe
Wasser, zog einen Dolch aus ihrem Gürtel und hieb sich eine Binse
ab, kappte die Spitze, nahm darauf das dicke Ende in den Mund
und tauchte unter.

Aber nicht lange, da kam sie mit blauem Gesicht wieder hoch und
schnappte nach Luft. Was in alten Balladen gutging - daß im Fluß
untergetauchte Helden durch Binsen atmeten -, wollte hier, wo
die Binsen keine Luft durchließen, da sie in viele Kammern unter-
teilt waren, wohl nicht glücken …

Da stieß sich Nelerissa kräftig vom Grund ab, um ins tiefe Wasser
zu kraulen. Die Strömung faßte sie und trieb sie nach Osten; aber
sie ließ es geschehen, um sich nicht nutzlos zu verausgaben. Aber ihre Stiefel hingen wie Blei an ihr. Sie zogen ihr die Füße immer
wieder auf den Grund. Daher ließ sie das Kraulen sein, als sie in
schulterhohes Wasser kam, und blickte sich um.
  Auch hier war sie noch von zahllosen wilden Tieren umgeben.
  Rehe und Antilopen sah sie dort schwimmen und sogar einen
goldbraunen Panther, und sein unheimliches Fauchen, das dem
Feuer wohl eine Warnung sein sollte, ließ ihr fast das Herz stillste-
hen. Aber die anderen Tiere verhielten sich merkwürdig ruhig.
  Nelerissa tauchte völlig unter und hob nur ab und an den Kopf aus
dem Wasser, um Luft zu holen. Dabei sah sie, daß die Lohe von
Mal zu Mal um ein Stück näher war und jetzt bereits das sumpfige
Ufer erfaßte - ein Meer flüssigen Lichts, das die Binsen im Nu
dörrte und verzehrte. Ein furchtbarer Geruch lag in der Luft. Der
Himmel war rabenschwarz von Rauch und Asche, und darunter
stoben wie ein Sternschnuppenregen abertausend Funken.
  Und einer fiel ihr leicht wie eine Schneeflocke dicht unter dem
Auge auf die Wange. Da tauchte sie schnell wieder unter und rieb
sich die versengte Haut. Die Schmerzen, so durchdringend wie
von einem Speerstich, ließen auch nach, schwanden aber nicht
ganz.

Jetzt wäre sie am liebsten ständig unten geblieben. Aber das ging
natürlich nicht. Sie schoß hoch, daß der Gischt nach allen Seiten
flog, und holte Atem, war dabei aber aus Angst vor den Funken so
angespannt wie eine überdrehte Harfensaite.
  Das jenseitige, nördliche Ufer hatte Feuer gefangen. Die Flammen
umarmten die Bäume dort inniger noch als Liebende - der Sturm
und der Funkenflug hatten ihr höllisches Werk vollbracht… Ne-
lerissa dankte Resdren, dem Schutzpatron der Diebinnen und
Diebe, daß die sie den Weg ins Wasser hatte finden lassen.
  Aber so von Kälte und Hitze geplagt - der Eiseskälte des aus den
Westbergen kommenden Flusses und der Gluthitze über den Flu-
ten -, wurde Nelerissa bald von einem starken Schüttelfrost ge-
plagt, und da wußte sie, daß es kritisch wurde. Sie kühlte rasch
aus, konnte aber nicht aus dem Wasser und sich aufwärmen. Da-
her versenkte sie sich, wie sie es bei einem Schamanen der Nord-
berge gelernt hatte, in einen Zustand tiefer Kontemplation. Ihr Bewußtsein wurde davon nicht getrübt - sie wußte gut, wo sie
war, was um sie geschah und was sie zu tun hatte. Aber sie war
jetzt fast unempfindlich gegen Hitze und Kälte und spürte kaum
noch Schmerzen.

Sie wollte auch alle Gedanken bannen und mußte doch daran den-
ken, wie und warum sie in diese Hölle geraten war.

Sie - Nelerissa Grassamen - war die beste Diebin in der Stadt und
der Mann, den man Degen hieß, der beste Dieb dort. Aber jeder
von ihnen hielt sich selbst für die Nummer eins … Die Stammgäste der Stadtschänke, in der sie verkehrten, waren in diesem Punkt recht unbeständiger Meinung und immer zu einer Wette bereit.
  So hatten sie Degen die Palme zuerkannt, als er der Prinzessin von
Leileth die Krone stahl - und Grassamen den Lorbeer, als sie dann
aus der Schatzkammer des Ersten Handelsherrn den magischen
Rubinschlüssel und erlesenste Edelsteine entwendete. So war es
eine ausgemachte Sache gewesen, daß sie nach Westen zögen, um
den Menschenschädel aus reinem Opal, von dem man jüngst ge-
hört hatte, zu stehlen, ja, in manchen Schenken hatte man sie gar
gefragt, wann sie denn nun aufzubrechen gedenke! Denn jeder
wußte: Wer jene Trophäe erränge, würde zum Diebskönig von
Areherna ausgerufen.

Im Sommer durchquerten nur wenige Karawanen die Goldene
Steppe. Aber ihr alter Freund Hundeohr hatte ihr zugetragen, daß
sich da eine zum Aufbruch vorbereite. So war sie zum Westtor
geeilt. Von Degen weit und breit keine Spur - war er am Ende
schon abgereist? Aber Hundeohr hatte ihr ja hoch und heilig ge-
schworen, daß er die Stadt nicht verlassen hätte … Sie hatte sich
dem Karawanenführer unter falschem Namen angedient. Und der
hatte sie angeheuert, als Wächterin. Daß sie Ausländerin war,
hatte ihn, bei ihrem Geschick im Kampf mit Dolch und Schwert,
nicht geschert. Aber daß sie auch die legendäre Kunst des waffen-
losen Kampfes beherrschte, die man vormals in den Nordbergen
lehrte, hatte sie ihm verschwiegen. Es gab unter den Lebenden nur
einen, der um ihr Geheimnis wußte. Den anderen hatte es den Tod
gebracht.

Die Reise war trotz der jahreszeitlichen Risiken drei Monate lang
glücklich verlaufen - bis dann, nur noch drei Tagesritte von den
Westbergen entfernt, ein haschberauschter Wächter diese Steppe
in ein Flammenmeer verwandelt hatte.

Als Nelerissa dann aus dem Fluß kletterte, war die Welt grau und
schwarz geworden. Die Erde war verbrannt, der Wald ein rau-
chendes Skelett und die Straße knöcheltief mit grauer Asche be-
deckt, und die Sonne ging an einem rauchverhangenem Himmel
unter. Nelerissa machte sich nach Westen auf und richtete ihre
Schritte dabei nach dem einzigen Farbtupfer in dieser schwarz-
grauen Öde: dem riesigen und blutrot leuchtenden Feuerball der
versinkenden Sonne.

Kein Sternenfunkeln durchbrach den dichten Schleier aus Rauch
und Asche, als die Nacht hereingebrochen war. Und Nelerissa
stolperte durchs Dunkel. Nur am Tapsen ihrer durchtränkten
Stiefel erkannte sie, daß sie noch auf der alten Flußstraße war.
  Und sie war so tief in ihrer Trance, die ihr Hunger, Schmerz und
Angst nahm, daß sie nicht einmal ihre Ohnmacht nahen spürte.

Barbaren vom kriegerischen Reitervolk der Goldenen Steppe
beugten sich über sie, als sie im Morgenlicht zu sich kam. Drei
oder vier der halbnackten Wilden halfen ihr auf. Und sie starrte in
all die grell bemalten Gesichter, auf das bunte Lederzeug und den
Zierat, mit dem sie überreich beladen waren. Für Diebsaugen wie
die ihren waren diese Kerle mit ihren knalligen Messingfußreifen
und feinen Goldringen, mit ihren edelsteinübersäten Brustschil-
den, billigen, kupferdrahtumwickelten Armreifen und Halsketten
aus geschliffenem Glas ein schmerzlicher Anblick und eine Krän-
kung! Aber Nelerissa verbiß sich jede Bemerkung: Es waren ja nur
Wilde. Nun flüsterten sie auch noch in einer rauhen, gutturalen
Zunge miteinander, die sie nicht verstand. Und sie selbst hatte
noch nicht die Kraft zu sprechen.

Einer dieser Barbaren, die erstaunlich zuvorkommend zu ihr wa-
ren, sah sie nun so Auge in Auge an, daß sie das Fett in seinen
Haaren roch, und sagte: »Fremde, du stehst unter dem Schutz der Götter!« Er sprach das Reichsidiom, mit ganz leichtem Akzent. » Du
hast das Feuer der Sommerhölle durchquert. Die Götter haben dich
geläutert und dich für eine große Aufgabe erwählt… Wir dulden
sonst keine Fremden, stellen uns aber den Göttern nicht in den
Weg. Ihr Wille geschehe! Sobald unser Schamane dich gesundge-
pflegt hat, bringen wir dich zu deinem Volk zurück.«
  Nelerissa starrte ihn traurig an. Ihre Leute waren doch tot oder in
alle Winde verstreut - von den Truppen Arehernas massakriert,
versklavt, vertrieben worden! Die wilden Steppenvölker hatte nur
ihre Todesverachtung vor jenem Los bewahrt: Denn diese Barbaren
töteten bei hoffnungsloser feindlicher Übermacht sich selbst und
ihre Angehörigen - und ihre Pferde. Und da hatten ein paar kluge
Reichsbürokraten begriffen, daß der Nachschub an edlen Walla-
chen, die selbst die besten Zuchtpferde des Reichs schlugen, in
Gefahr kam, und hatten zu einem Frieden und Bündnis mit ihnen
gedrängt. So war das barbarische Reitervolk sogar zur einzigen
Nation mit Meistbegünstigtenstatus geworden. Wilde waren diese
Leute dennoch geblieben.

Und Nelerissa fragte sich, ob diese Kerle sie wirklich durch die
Goldene Steppe zurückschleppen wollten. Sicher, sie würden dank
ihrer schnellen Pferde und ihrer Kenntnis geheimer Oasen weitaus
zügiger vorankommen als ihre Karawane - aber doch wenigstens
zwei Monate für den langen Weg brauchen.

Aber bevor sie darauf eine Antwort finden konnte, schwanden ihr
wieder die Sinne.

Sie träumte.

Dräuende Schatten begleiteten ihre Flucht nach Süden und Osten,
längs endloser bergiger Gestade … in die Hauptstadt des Reichs.
  Aus den Schatten der Slums trat der ranke, schlanke Mann, ein
Fremder in einer fremden Stadt, der mit jähen Hieben die letz-
ten vier jener Kerle erledigte, die sie angefallen hatten. Schatten
huschten im selben Takt wie sie und ihr Retter, als er sie im Um-
gang mit Dolch und Schwert zu höchster Perfektion führte und
sie die Kunst des Beutelschneidens, Einschleichens und Einbruchs
lehrte. Und Schatten tanzten, als sie in einem langen, spärlich erleuchteten Saal mit einem anderen Flüchtling aus den Nordbergen, den sie in der Stadtschänke kennengelernt hatte, den waffenlosen Kampf übte. Schatten lagen wie Samt über dem Bett, in dem sie Degen mit einer anderen Frau dabei überraschte … seinem Namen in ganz anderem Sinne Ehre zu machen. Und Schatten lasteten über ihr, als sie dann mit ihrem treulosen Geliebten, Bubenstück um Bubenstück, um den Rang des Diebskönigs konkurrierte.

Aus diesen Schatten, die ihr Bewußtsein verdunkelten, starrte ihr ein Schädel von unvergleichlichem, unergründlichem Opal entgegen, der seine fleischlosen, schillernden Kiefer aufsperrte und lachte und lachte und ihr laut zurief, daß er nie und nimmer zu erringen sei.

Auf einem Felsen über dem Großen Fluß saß Nelerissa barhäuptig in der Herbstsonne und summte, unhörbar für jeden, ein Lied, das in aller Munde war - oder es gewesen war. Vor fünf Monden, bei ihrem Weggang aus der Stadt. Wahrscheinlich war es seitdem durch andere Balladen anderer Barden abgelöst worden und die durch andere und andere. Wie gerne hatte sie doch im Reichszentrum und nach seinem Herzschlag gelebt, die neuesten Lieder gehört, all die Märkte und Läden mit edlen Gewändern und Waffen, mit Kuriosa aus aller Welt durchstöbert. Schon in ihrer Jugend hatte sie sich gewünscht, in Areherna zu leben! Und sie war nach dem blutigen Sieg des Reichs, dem Untergang ihres Volkes nicht nur deshalb dorthin geeilt, weil es mit seinen über fünfzigtausend Einwohnern ja mühelos ein paar tausend Geächtete und Flüchtige aufnehmen konnte - sondern auch, weil es der Mittelpunkt der Welt war. Aber über dem geschäftigen Treiben der Stadt, dem Kampf ums Überleben und ihrer Karriere als Diebin hatte sie alles, was sie an ihrer Heimat so geliebt hatte, mehr und mehr vergessen.

Nun, als sie auf dem Felsüberhang in der Nachmittagssonne saß und die Bäuerinnen und Bauern beobachtete, die ihre Gerste mähten und dabei irgendein uraltes Erntelied sangen, war ihr, als ob sie auf ihr längst untergegangenes Dorf schaue. Sie mochte dieses Gefühl.  

Nicht, daß sie die harte Feldarbeit, das mühselige Leben in ihrem armen Dorf vermißt hätte - nach ihren Nordbergen sehnte sie sich mit einemmal so sehr.

Der Weiler unterhalb der Felswand hieß Grathred und war der
Ort, der die Opalreliquie barg. Seinen Namen, seine Lage hatte sie
von der Kräuterhexe eines Dorfes am Fuße der Westberge erfah-
ren, bei der die Barbaren sie unter der Drohung zurückgelassen
hatten, im Fall ihres Todes, wovon ihr Schamane unfehlbar er-
führe, mit Feuer und Schwert wiederzukehren. Einen Monat lang
hatte Nelerissa dort im Fieber- und Zauberschlaf gelegen. Die
Hexe hatte sie aber erst ziehen lassen, als sie völlig genesen, wieder
zu Kräften gekommen war, und ihr auf ihre Auskunft, sie sei auf
Pilgerfahrt zu dieser gottgesandten, heiligen Reliquie, ohne Zö-
gern den Weg bis dorthin beschrieben.

Sinnend blickte Nelerissa auf die Frauen und Männer von Grath-
red, die sich so auserwählt fühlten, daß sie die Götter sogar bei
der Arbeit lauthals priesen. Ja, die Gerstenernte fiel heuer sehr gut
aus - selbst für diese Julukelaregion, wo man dank der ergiebigen
Schneeschmelze und gelegentlichen Regenfälle in den Westber-
gen ja später und mehr erntete als andernorts im Reich. Was
Wunder also, daß die Leute hier glaubten …
  Aber die Meisterdiebin Nelerissa Grassamen wußte den wahren
Grund des unverhofften Segens: Es war der Glaube dieser Dörfler
selbst. Weil sie glaubten, göttliche Hilfe zu haben, arbeiteten sie
noch fleißiger, werteten jedoch die reichen Früchte ihres Fleißes
als neuen Beweis göttlicher Gunst - und legten noch mehr Fleiß an
den Tag, um sich dies Wohlwollen zu erhalten. Was die wirkliche
Hilfe der Götter natürlich erübrigte.

Und sie sangen so froh und mähten so fleißig, daß Nelerissa sich
ganz sicher war: Der Opalschädel war noch im Dorf.
  Da ihr die Kopfhaut von der Sonnenhitze nun weh tat, stellte sie sich in den Schatten einer mächtigen, uralten Kiefer. Sie hüllte sich in den Umhang, den ihr die Kräuterfrau geschenkt hatte, zog dann, zum Schutz gegen die Sonne, die Kapuze hoch und setzte sich an den Felsrand, um das Dorf zu beobachten - und auf die Nacht zu warten.

Ein Halbmond aus brennenden Wachskerzen stand hinter dem
einzigen anderen Objekt, das auf dem Altar zu sehen war. Und das
war, nach Größe, Form und allen Details, einschließlich der
stumpfen Zähne, ein Menschenschädel … Er war aber nicht aus
vergilbtem Knochen, sondern aus einem in feinsten, prächtigsten
Farben, in vielerlei Rot-, Blau- und Grüntönen schillernden Stein,
der nichts anderes als Opal sein konnte. Aber ein Opal groß und
schön genug, um das Lösegeld für einen gefangenen König - oder
der Preis für den Rang der Diebskönigin zu sein.
  Nelerissa kniete vor dem Altar nieder und musterte den Schatz,
um dessentwillen sie den weiten, gefahrvollen Weg auf sich ge-
nommen und viel gelitten hatte. Er war riesig und fabelhaft. Und
er war zum Greifen nahe. Er brächte ihr Rang und Wohlstand.
  Dann könnte sie sich als steinreiche und für alle Zeiten berühmte
Diebin zur Ruhe setzen. Was war das wert?

Sosehr sie sich auch anstrengte: Sie sah hier ebensowenig etwas
von gewöhnlichen Sicherungen und Fallen wie zuvor am Eingang
der kleinen Holzkirche. Aber es konnten hier ja auch andere Ge-
fahren lauern. Also versenkte sie sich, zum zweitenmal in zwei
Minuten, in jene Art der Trance, die man alle Nordbergler gelehrt
hatte.

Nelerissa besaß zudem die bei den Berglern seltene Gabe, in den
tiefsten Trancestufen alle Zauber zu sehen. Man hatte sie deshalb
zu einem Schamanen in die Lehre gegeben. Leider hatte sie bis
zum Überfall der Reichstruppen kaum mehr als einige Tricks zur
Lösung von Zaubern gelernt. Nur mit Glück war sie am Leben
geblieben und entkommen, aber ihr Talent, Zauber zu lösen und
zu löschen, hatte ihr danach geholfen, eine der besten Diebinnen
in der Geschichte Arehernas zu werden.

Die Diebin wußte, daß der Opal nicht von den Göttern stammte.
  Die besten Opale kamen von den Hängen der erloschenen Vulkane
auf der anderen Seite der Westberge; die kaiserliche Armee, die als
erste bis zu deren Ostrand vorgestoßen war, hatte sogar Men-
schenknochen gefunden, die nicht etwa, wie sonst, zu schlichtem,
grauem Stein, sondern zu so schimmerndem, farbenprächtigem
Opal geworden waren. Diese Truppe hatte auch den Ursprung des Julukela entdeckt: eine Unzahl übelriechender heißer Quellen hoch in den Bergen. Und von seinen Wassern war dieser Opalschädel, im Laufe von Jahrhunderten vielleicht, langsam zu Tal gespült worden, bis er endlich am Ufer bei Grathred gestrandet war, wo die Dörfler ihn nun auch gefunden hatten. Sicher, er war großartig, ehrfurchtgebietend - aber ganz irdischer Natur und Herkunft.

Irdisch, aber wohl nicht frei von Zaubern! Bestimmt hatte ihn der Dorfpriester mit den stärksten seiner Magien gesichert. So hielt sie Ausschau nach Zaubern zur Gefahrenabwehr - seltsam gefärbtem Feuer, das den Opal in Brand hielte, ohne ihn zu verbrennen; nach dem Bindezauber, der ihn unverrückbar an den Altar feßle - einem feinen Netz aus schillernden Gespinsten; und nach jenem tödlichen Schutzschild aus pulsierenden blauen Strahlen. Aber sie fand nichts.

Nun weitete sie aber aus Vorsicht den Kegel ihrer Konzentration, bis er auch das Türchen hinter dem Altar und das Kirchenschiff umfaßte. Sie fand wieder nichts, entdeckte jedoch, als sie auch den Haupteingang einbezog, daß sie nicht länger allein war: Im Portal leuchtete, in farbenprächtige Zauberschleier gehüllt, die rote Flamme einer anderen Menschenseele. Einer Menschenseele, die ihr wohlbekannt war.

Da unterbrach sie ihre Trance und erhob sich leise, wie nur eine erfahrene Diebin oder Kriegerin das vermag, so in die Hocke, daß sie den Kircheneingang und den Neuankömmling vor sich hatte. Dann ertastete sie unter all den Klingen in ihrem Gurt ihr Wurfmesser, legte es auf das unter ihr gebreitete Cape und lockerte dann ihr Schwert und ihren Parierdolch, ließ aber alle beide noch stecken.

Dabei behielt sie den im Auge, der längs der Wand, nicht im Gang zwischen den Bankreihen, langsam nach vorn und Schritt um Schritt weiter ins goldene Kerzenlicht kam. Die reich beringten Hände sah sie zuerst: Die Rechte hielt einen langen, schmalen Degen und die Linke eine Leder- oder Hanfschnur mit einem Amulett daran - also dem Zauberspürer für die, die Nelerissas Gabe nicht besaßen. Dann schob sich das Gesicht ins Licht: ein ihr schmerzlich vertrautes Antlitz, tiefer gefurcht als bei ihrem letzten Treffen, aber noch immer jugendlich für einen Mann von fünfunddreißig Jahren.

So langsam und vorsichtig er auch einhergekommen war, nun be-
trat er den Altarraum - und erblickte den Opal. Da schwand der
Argwohn aus seinem Gesicht und machte ehrfürchtigem Staunen
Platz.

»Da bist du ja!« rief Nelerissa, sprang auf und warf ihr Messer.
  Aber es prallte, einen Hauch vor seiner Brust, jäh ab und fiel zu
Boden. Das überraschte Nelerissa nicht. Degen trug immer so
einen magischen Schild. All seine wunderbar gearbeiteten, aber
etwas zu zahlreichen Fingerringe waren Talismane - zum Schutz
vor Zaubern. Und unter der Bluse trug er, wie sie gut wußte,
Amulette, die ihn gegen Schwerter, Speere und Pfeile feiten. Aber
seinen Spitznamen verdankte er seinem Geschick im Umgang mit
dem prächtigen Degen, den er auch jetzt bei sich führte. Er war ein
sehr guter Fechter. Aber nicht der beste; das wußte er auch - und
es wurmte ihn. Und er war kein Magier, konnte Zauber nicht um-
gehen oder beheben. Nur sie und der mächtige Magier, dessen
Dienste und Schweigen er sich kaufte, wußten, daß er seine unred-
lich erworbenen Reichtümer für vielerlei Mittel ausgab, die ihn
gegen irdische oder überirdische Anschläge auf sein Leben schüt-
zen sollten.

Er hatte seine Talismane und Amulette nicht einmal abgelegt, als
er sie, seine Diebsschülerin Nelerissa Grassamen, den Umgang
mit der Klinge gelehrt hatte!

Noch als ihr Messer auf die Fliesen klirrte, hob Degen die Klinge in
seiner Rechten en garde. Mit der Linken legte er sich zugleich
geschickt das Amuletthalsband um und zog darauf den Parier-
dolch.

Dann ging er stumm und mit zornrotem Gesicht auf die los, die
ihm ans Leben gewollt hatte.

»Verschwinde!« rief da Nelerissa. »Den Opal lasse ich dir nie und
nimmer!«

»Grassamen, du wolltest mich töten! Ist es schon so weit mit uns
gekommen?« fauchte er und drang auf sie ein.

Vor dem Altar kreuzten sie die Klingen. Da sah er im Licht der
Kerzen …

»Bei Resdren!« rief er und starrte sie mit großen Augen an. »Was
ist denn mit deinem Haar passiert?«

Aber Nelerissa attackierte, ihr Schwert zuckte nach seiner Kehle.
  Er parierte, aus reinem Reflex.

»Dein Kopf ist ja ganz vernarbt!« Ja, der war, von den Brauen bis
hinter die Ohren, mit einer glasig weißen und so rohen rosa Masse
bedeckt. »Oh, Götter, Nel …«

Ihr Stoß war eine Finte; die Spitze ihrer Klinge senkte sich nach
seinem Unterleib. Er parierte jäh mit dem Degen, fing mit seinem
Dolch den ihren ab. Sie stieß damit nach seinem linken Handge-
lenk und stach zugleich mit ihrem Schwert nach seinem Herzen.
  Aber ihr Dolch prallte von seinem Schutzschild ab wie von Stein -
und das Schwert schlug er ihr mit einer harten Drehung seines
Degens aus der Hand, daß es auf die Fliesen krachte.
  Und Degen, mochte er über ihre Narben auch bekümmert sein,
nutzte seinen Vorteil: Er klemmte ihren Dolch zwischen Klinge
und Garde des seinen ein, stieß mit dem Degen nach ihrer bloßen
Kehle und schrie: »Nur einer von uns darf in die Stadt zurück!«
  Aber seine Klinge stach ins Leere.

Denn Nelerissa hatte ihren blockierten Dolch losgelassen und war
blitzschnell beiseite gesprungen. Jetzt hob sie den Fuß und trat
hart zu - mit ihrem ersten Tritt traf sie seinen Degenarm und mit
ihrem zweiten sein Kinn. Und ehe seine Klinge zu Boden geklirrt
und das Krachen seiner Halswirbel verklungen war, hatte sie
schon wieder ihre Position gewechselt und die Arme kampfbereit
erhoben.

Degen fiel wie eine Marionette, der die Fäden durchtrennt wurden, in sich zusammen.

Die Kerle aus Areherna konnten mit Fäusten und Füßen zuschla-
gen; aber sie waren doch nur Schläger, wußten ihren Körper nicht
als Waffe einzusetzen. Nelerissas Leute waren Meister in dieser
Kunst gewesen. Aber das hatte ihnen gegen jene zehntausend kai-
serlichen Infanteristen und die Hundertschaft an Feldhexern
nichts genützt. So waren die meisten von ihnen erschlagen worden…  

Einige waren entkommen, und einige waren in die Sklave-
rei verschleppt worden. Aber von den letzteren waren schon we-
nige Monate nach der Ankunft in der Stadt die meisten tot und die
übrigen entflohen. Da hatte man im Reich gesagt, diese Nordberg-
ler taugten nicht zu Sklaven, und an dem Glauben festgehalten, all
die Berichte über waffenlos kämpfende Bergbewohner seien
ebenso Legenden wie jene, wonach die Südler den Kopf in der
Hand hielten - oder gar keinen hätten und ihr Gesicht auf dem
Bauch spazierentrügen.

Kein Wunder, daß Degen es nie einer Überlegung für wert gehal-
ten hatte, auch nur einen Penny für die Abwehr unbewaffneter
Angriffe auszugeben, und immer gemeint hatte, in solchen Lagen
genüge ein schneller Degen!

Nun starrte er, flach auf dem Rücken liegend, zu Nelerissa empor.
  Sein Kopf ruckte, Rumpf und Glieder aber waren starr. Blut trat
ihm auf die Lippen, als er da keuchte: »Du … sagtest doch …«
  »Natürlich habe ich gesagt, das seien alles Märchen«, versetzte
Nelerissa. Ja, sie hatte getan, als ob sie nicht wisse, wovon er rede,
als er sie gefragt hatte, was denn an den Legenden über den waf-
fenlosen Kampf dran sei - und dann geschworen, das sei Gerede.
  Und bei seinem Schwert- und Dolchunterricht hatte sie sich so im
Zaum gehalten, um nur nichts von ihrer Fertigkeit in dieser Kunst
zu zeigen! »Ich war jung und dumm, als ich in die Stadt kam …
aber nicht so dumm, das alte Wissen meines Volkes preiszugeben
und zu verraten.«

»Ich kann mich nicht mehr rühren«, ächzte Degen mit schwacher
und schwankender, kaum hörbarer Stimme. »Ach, Götter! Du
hast mir den Hals gebrochen.«

»Ven, ich habe dich gewarnt, dich aufgefordert abzuhauen«, sagte
Nelerissa und wunderte sich, daß ihre Stimme so belegt war. Sie
hatte ja im voraus gewußt, daß sie ihn um der Trophäe willen wohl
töten müßte, und war darüber nicht erschrocken. Warum also die-
ser Kloß in ihrer Kehle, warum diese Tränen jetzt?
  »Töte mich«, bat Degen, der den Tod doch so gefürchtet hatte, daß
er einem Hexer für allerlei Schutzzauber sein Vermögen hingege-
ben hatte. »So kann ich nicht weiterleben.«

Ich würde ihm eine Gnade erweisen, dachte Nelerissa, starrte aber
nur auf ihn, der da hilflos zu ihren Füßen lag. Was ihr Werk
war.

»Töte mich endlich!«

Nun kniete sie sich schnell neben ihn und legte ihm eine Hand auf
die Wange. »Lebe wohl!« flüsterte sie dann, lehnte ihr Gesicht an
das seine, zog mit ihrer freien Hand ihr Stilett und stieß es ihm ins
Herz.

Er verschied mit einem Schrei. Nelerissa schloß ihm behutsam die
Augen, zog ihm das Stilett aus der Brust und wischte es an der
Innenseite ihres Umhangs ab. Dann steckte sie Stilett, Schwert
und Dolch ein und schöpfte zitternd Atem.

Entschlossen trat sie nun zum Altar, nahm den Schädel mit einer
Hand, hob ihn empor und starrte lange in seine leeren, düsteren
Augenhöhlen.

Was war dieser Opal wohl wert? Soviel wie der Schatz des Kaisers?
  Vielleicht. Aber war er auch einen guten Namen wert und das
Leben eines Menschen? Den Glauben eines Dorfes?
  Da flog das Türchen hinter dem Altar auf, und herein stürzte der
Dorfpriester in wallender Robe, den der wilde Kampflärm oder der
Todesschrei Degens aus dem Schlaf gerissen haben mochte. Er sah
sich sehr unruhig um, und nun gewahrte er, über den Halbmond
von brennenden Kerzen hinweg, Nelerissa mit dem Schädel in der
Hand. Er erstarrte - aber sein Blick huschte zwischen ihrer häß-
lichen Narbe und der heiligen Reliquie hin und her.
  Nelerissa streckte ihm den Opal entgegen. »Du hast ihn nicht mit
Magien bewehrt! Glaubst du, die Götter hätten ihn dir geschickt,
damit du ihn dir stehlen läßt?« Sie machte halb kehrt, zeigte mit
der freien Hand auf die Altarstufen. »Sieh selbst!«
  Der Priester kam nun eilends um den Altar. Beim Anblick des
Toten keuchte er erschrocken und sah Nelerissa fragend an.
  »Dieser Mann war gekommen«, fuhr sie fort, »diese Gabe der Göt-
ter an Grathred zu stehlen. Aber ich habe ihn aufgehalten. Die
Götter schickten mich, ihr Geschenk und euer Dorf zu beschüt-
zen. «

Da wankte er einen Schritt vor, warf sich auf die Knie und preßte die Stirn fest auf den Boden. Er sprach ein kurzes, inbrünstiges
Gebet, richtete sich dann auf und sah die Fremde an.
Und sie wies auf den Leichnam und sprach: »Glaubst du etwa, jetzt
käme niemand mehr, diese Göttergabe zu rauben? Ich bin gekom-
men, deine Leute zu lehren, Dieben und anderem Gesindel das
Handwerk zu legen.«

»Aber … aber wir haben …. doch keine Waffen!« stammelte der
Priester. »Nur ein paar elende Messer und Speere. Würdest du
uns lehren, mit Sicheln und Hämmern zu kämpfen?«
  »Nein, ich bringe euch die geheime Kunst des waffenlosen Kamp-
fes bei.«

Der Priester machte erneut eine tiefe Verbeugung, ohne aber dabei
Nelerissa aus den Augen zu lassen, und sprach mit ehrfürchtiger
Miene: »Oh, Dienerin des Divinen, du kannst in Grathred bleiben,
solange die Götter es erlauben.«

»Angenommen!« erwiderte Nelerissa und begann damit wieder
ein auf Betrug gebautes neues Leben - das aber, nach ihrer An-
sicht, wohl nützlicher und segensreicher würde als jenes, das sie in
Areherna geführt hatte.