LOIS TILTON

 

Eines habe ich nie von mir behauptet: unfehlbar zu sehr. Als ich diese Geschichte bekam, hieß sie »Edric unter den Trollen«.
  Ich war so von ihr fasziniert, daß mir nicht auffiel, keinen Moment, daß sie keine weibliche Heldin hatte. (Ich übersah auch, daß sie für
Marion Zimmer Bradley’s Fantasy Magazine eingereicht worden war, nicht für die Magischen Geschichten – und legte sie auf den falschen Stapel, wo sie dann auch blieb.) Ich erinnerte mich noch daran, wie sehr mir Lois Tiltons vorige Story (»Hände«) gefallen hatte (Band VI dieser Reihe). Als ich nun ihr neues Werk bei der Endauswahl zum zweitenmal las, war ich etwas entsetzt. Aber Frau Tilton hat sie mir dann, sie ist ja ein Profi, freundlicherweise umge-schrieben. Und ich freue mich, Ihnen ihre Story nun in dieser neuen Fassung vorlegen zu können.

Lois hat schon etliche Kurzgeschichten verfaßt (Science-fiction, Horror und Fantasy) und auch einen Roman veröffentlicht (Vampire WinterJ. Sie unter-richtet auch das »schöne« Fach Philosophie (wenn sie es so unterrichtet wie ich seinerzeit … sind das wirklich »schöne« Stunden) und hat sich »neuerdings an Science-fiction-Rezensionen versucht«. Nun, besser sie als ich.

Lois Tilton hat einen Mann und zwei Kinder, »die wir die >Kräfte des Bösen< nennen« (so hieß auch ich die, die mich beim Schreiben störten), sowie »zwei Katzen, die nicht eben die Kräfte des Guten sind«. (Aber welche Katzen wären das schon?)-MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

LOIS TILTON

 

Edyth bei den Trollen

 

Den drei massigen Kerlen, die da in der düsteren Höhle unweit des Ausgangs hockten, hingen die lehmverkrusteten Schmerbäuche schwer über ihre verschrumpelten, stechend roten Genitalien.  

Schmatzend und kauend, daß die gewaltigen Kinnladen nur so krachten, zerrten sie mit ihren riesigen Pranken an dem halb verwesten Kadaver, der zu ihren Füßen lag. Einer schnappte sich in seiner Gier ein Stück Oberschenkelknochen, an dem noch einige Fleischfetzen hingen, biß ihn mitten entzwei, daß es laut knackte, und machte sich dann mit sichtlichem Behagen daran, das bereits stinkende Mark auszusaugen und auszuschlürfen. Etwas abseits des grausigen Aasmahls kauerte eine junge Frau. Sie war von kleinerem Wuchs als diese drei und schrecklich mager: der Bauch eingefallen und darüber scharf hervortretende Rippen, über denen sich eine vor Kälte dunkelblaugrau verfärbte Haut spannte. Mit einer Hand hielt sie ihr schwarzes Lederhalsband umklammert: Edyth bei den Trollen.

Nun lugte eine Ratte kühn aus einer Felsspalte und kroch dann mit wachsam gesträubten Schnurrhaaren langsam auf einen Klumpen Fett und Knorpel zu, der unbeachtet auf dem Boden der Höhle lag. Aber einer der Trolle gewahrte diese Bewegung aus den Augenwinkeln und ließ die grobknochige Pratze auf den Nager niedersausen, als der sich eben seine Beute schnappte. Ein grelles Quieken, ein zartes Knöchleinknicken - und der Troll starrte leicht verdutzt auf die schlaffe Kreatur in seiner Linken und runzelte dabei die Brauen, daß sich die lederne Haut an seiner niedrigen, knochigen Stirn in tiefste Falten legte. Seine Kiefer mahlten langsam weiter, und er musterte das stinkende Darmstück in seiner Rechten und schluckte, sah abwägend von einer Hand auf die andere, warf nun die kleinere Portion achselzuckend beiseite und stopfte sich vergnügt den Darm in den Mund.

Edyth stürzte sich wie ein Blitz auf die tote Ratte, biß ihr die Kehle
durch, sog ihr gierig das warme, klebrige Blut aus. Es war seit
langem ihre erste Mahlzeit, denn sie hatte sich trotz ihres nagen-
den Hungers nicht überwinden können, etwas von dem kalten,
halb verfaulten Aas hinabzuschlingen, das die Trolle so moch-
ten.

Der Kerl, der die Ratte erschlagen hatte, sah Edyth grunzend zu,
wie sie das noch warme Tier gierig aufaß, dabei selbst die zarten
Knöchelchen zerbiß und schluckte und nur Haut und Haar übrig-
ließ. Nun fühlte sie sich schon besser - die plötzliche Wärme in
ihrem Bauch gab ihr Trost, neue Lebenskraft. Seufzend kauerte sie
sich wieder auf den Boden, zog die Knie an und legte die Arme um
sich, um sich ein wenig zu wärmen. Es wehte eine kalte Luft her-
ein. Die Tage wurden schon kürzer, die Nächte länger, und sie
sehnte sich nach einem Bad im fahlen Schein der Sonne des Nor-
dens. In dieser Höhle gab es nichts, was sie gewärmt hätte: kein
Feuer und nicht einmal einen Hauch von fremder Körperwärme,
denn die Trolle waren so kalt wie der vom Frost gespaltene Fels,
aus dem ihr Geschlecht einst hervorgegangen war. Und Edyth war
so nackt und bloß wie sie — denn als eine der ihren zu erscheinen,
war ihr einziger Schutz an diesem Ort. Sie hatte nicht einmal ein
Fell als Decke, da die Trolle ja jeden Kadaver mit Haut und Haar
auffraßen … Verstohlen tastete sie nun nach ihrem Halsband und
umklammerte wieder diesen kleinen Anhänger - ihr Amulett und
Schutz und einziges Relikt aus ihrem Menschenleben.
  Jetzt bin ich schon seit Wochen bei den Trollen, dachte sie, aber
manchmal kommt es mir so vor, als ob ich immer hier gewesen
wäre. Sie hatte schon fast so schwielige Knie und Hüften, auch fast
so verfilztes Haar wie diese Unholde. Und ihre Brüste waren von
der kargen Kost ganz eingefallen und verschrumpelt. So hatte sie
sich das wirklich nicht vorgestellt!

Eine Erinnerung quälte sie, ein Bild, das manchmal verblaßte, wie
offenbar all ihre Erinnerungen - das Gesicht ihres Meisters, des
Hexers Nemian, der ihr mit knotigen, altersfleckigen Fingern das
Amulett reichte. Da, mein Mädchen, nun kannst du dich unsicht-
bar unter die Trolle mischen! Das hatte sich nicht ganz bewahrheitet:  

Sie hatten sie zwar nicht als Mensch erkannt… sahen sie aber
- als eine der ihren, als kränkliches, unfruchtbares Weibchen, und
warteten gleichgültig ab, ob sie sterben oder überleben würde.
  Die schmatzenden Trolle hoben den Kopf und sahen zum Eingang
hin, den nun eine massige Gestalt füllte. Der Neuankömmling
verharrte für einen Moment so und kam dann hereingetrottet. Er
schnüffelte begierig und starrte Edyth mit seinen grün glühenden
Telleraugen an. Da faßte sie nach ihrem Amulett und betete in-
brünstig zu einem ganzen Pantheon von Schutzgeistern. Denn
dieser Kerl, den sie bei sich »Steingesicht« nannte, zeigte seit
neuestem ein Interesse an ihr, das sie vor Entsetzen und Grausen
nicht beim Namen zu nennen wagte. Er blickte sie nun so forschend an, daß sie hinter seiner knochigen Stirn schon irgendeinen
Argwohn flackern sah, schnaubte dann aber nur, kauerte sich vor
die Reste des Kadavers und langte nun seinerseits zu.
  Sie seufzte erleichtert. Die Trolle waren unglaublich blöde, aber
ihre Sinnenschärfe ließ nichts zu wünschen übrig! Dieses Amulett
unterdrückt deinen Geruch, hatte Nemian ihr versprochen, aber er
hatte nichts davon gesagt, daß sie dann wie eine läufige Trollin
röche.

Die Trolle wurden unruhig, denn im Osten begann der Himmel
schon aufzuhellen. Einer nach dem anderen erhoben sie sich von
den paar Knochen, die noch übrig waren, und zogen sich in die
Tiefen ihrer Höhle zurück, wo kein Sonnenstrahl sie träfe. Stein-
gesicht sah zu Edyth hin und grunzte warnend. Sie stöhnte inner-
lich, da sie ihr angewärmtes Plätzchen aufgeben sollte, erhob sich
aber steif und trottete im typischen Trollgang hinter Steingesicht
her tiefer in die Höhle hinein.

Ihre Augen hatten sich, da sie schon so lange hier lebte, an die
Dunkelheit gewöhnt. Sie sah genau hin, wo sie hintrat, denn der
Boden war mit Speiseresten der Trolle übersät, und nun stieß sie
mit dem Fuß ein Stück Beckenknochen zur Seite und hoffte nur,
daß es kein menschliches Überbleibsel sei. Die Legenden erzählten
ja, daß Trolle Menschenfleisch über alles schätzen. Nun, sie hatte
in all dieser Zeit, die sie in der Höhle verbracht hatte, noch nicht
erlebt, daß sie auch einen Menschen getötet hätten - konnte sich aber gut vorstellen, wie sie einen Mann oder eine Frau auffraßen, ihrem Opfer wie einem Brathähnchen die Gliedmaßen ausrissen, sein Fleisch roh hinunterschlangen und selbst seine Knochen dann nicht verschmähten.

Aber dort, in dieser Ecke, lag doch etwas, was von einem Men-
schen zeugte! Sie kniete sich nieder und untersuchte das Häufchen
- mit den Händen wie mit den Augen. Zwischen feuchten, halb
verrotteten Stoffetzen fand sie ein metallenes Gürtelschloß, ein
paar Münzen und ein Messer. Schnell prüfte sie mit dem Daumen
die Klinge: Sie war schon stumpf vor Rost… Es war auf jeden Fall
nicht das, was sie suchte.

Eine vage Erinnerung kam ihr: ein Schatz, Reichtum, reicher
Lohn. Der Schatz war hier irgendwo, mußte hier sein. Der Hexer
Nemian, ihr Meister …

Aber die Erinnerung schwand. Fieberhaft wühlte sie weiter in dem
Unrat. Zum Glück kümmerten sich die Trolle nicht darum. Sie
waren völlig mit sich beschäftigt: Ein Junges spielte mit zwei Stei-
nen, ein Weibchen würgte anverdautes Fleisch hoch und stopfte es
ihrem Kleinen in den Schlund. Das war eine der Überraschungen
für Edyth gewesen: daß Trollinnen ihre Jungen nicht säugten - ja,
daß sie überhaupt Junge hatten … Ein paarmal hatte sie gesehen,
wie sich welche paarten - ganz schnelle, leidenschaftslose Vereinigungen, ein paar Stöße, ein zufriedenes Grunzen, nicht mehr.
  Aber jetzt kam Unruhe auf - das eine Junge hatte zufällig einen
hellen Funken geschlagen und ließ die Steine schreiend vor Angst
fallen. Die Trolle fürchteten das Feuer wohl ebenso wie das Licht
der Sonne.

Edyth konnte sich ein Lachen nicht verbeißen. Das ließ einen in
ihrer Nähe hockenden Troll den Schädel heben und mißtrauisch
die breiten Nüstern blähen. Da schlug sie rasch die Augen nieder
und blickte bemüht auf das traurige Häufchen, das sie eben unter-
sucht hatte. Ein paar Habseligkeiten eines Reisenden vielleicht,
der im Jahr zuvor getötet worden war. Sie nützten ihm jetzt nichts
mehr. Aber ihr auch nicht.

Sie zitterte schon vor Erschöpfung. Wie lange würde sie hier noch
durchhalten? Irgendwann, eines nicht mehr fernen Tages, würde sie in einen Dämmerschlaf fallen, aus dem es kein Erwachen gäbe.
  Dann würden die Trolle, die ja auch keine Skrupel hatten, ihre
eigenen Toten aufzufressen, ihr das Fleisch von den Knochen na-
gen und das Mark daraus saugen.

Aber sie wollte leben. Sie wollte es warm haben, sauber gewaschen
sein und saubere Kleider tragen: wieder ein Mensch sein. Aber das
war ausgeschlossen, solange sie den Schatz nicht gefunden hatte,
den…

Schwindel überkam sie wie eine Woge, verwischte ihre Erinne-
rung. Manchmal wußte sie nicht einmal mehr so richtig, wer sie
war! Sie klammerte sich an ihr Amulett, jetzt fiel es ihr wie
Schuppen von den Augen - der Reif, König Elessens Armreif …
  Ja, sie erinnerte sich nun wieder! Der Armreif, und wenn sie den
fand … eine unvorstellbar große Belohnung für sie!
  Sie erhob sich und schlurfte in die tiefsten Tiefen der Höhle, wo
fast völlige Dunkelheit herrschte, und forschte nach noch älteren
Hinterlassenschaften. Denn die Legende berichtete, daß die Trolle
seit unzähligen Generationen in diesen Gängen hausten und in all
der Zeit nicht nur die Reste ihrer Opfer, sondern auch gewaltige
Schätze angehäuft hatten. Das hatte ihr Nemian gesagt. Schätze
… die mußten hier irgendwo versteckt sein …

Edyth erwachte, als die Trolle rings um sie aufstanden. Aber eine
bleierne Müdigkeit lag auf ihr. Diese Kälte und der Hunger hatten
ihr ja alle Lebenskraft geraubt. Ihre leeren Därme krampften sich
schmerzhaft zusammen. Ich muß heute nacht endlich etwas zu
essen bekommen, dachte sie, etwas Gehaltvolleres als eine tote
Ratte …

Fröstelnd trottete sie hinter ihren Trollen her zum Ausgang - und
erstarrte vor Staunen: Denn der mit verkümmerten, bizarren
Bäumen bestandene Berghang, auf den sich die Höhle öffnete, war
mit Reif bedeckt, und er glitzerte im Schein des eben aufgegange-
nen Mondes wie ein Tuch aus abertausend Diamanten. Gierig sog
sie die kalte, frische Luft ein, um einen klaren Kopf zu bekom-
men.

Nun hörte sie aus der Höhle hinter sich schrilles Wehklagen. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß eines der Weibchen den Jungtroll
verprügelte, der zuvor schon Ärger gemacht und gehabt hatte.
Wohl seine Mutter, überlegte Edyth, als sich der Geprügelte
schmollend ins Dunkel trollte. Er war zu klein, um mit ihnen die
schützende Höhle zu verlassen.

Edyth spähte wieder in die Nacht. Die meisten anderen waren
schon losgezogen, und sie sah die plumpen Wesen im Dunkel ver-
schwinden. Diese Kreaturen sind trotz ihres schwerfälligen Gangs
ganz schön schnell, dachte sie, als sie jetzt ihrer Fährte folgte. Die
Beine brannten ihr vor Kälte, wurden nun aber rasch taub und
gefühllos. Von Hungerkrämpfen gebeugt, rannte sie bergab, und
bald humpelte sie auch.

Da hörte sie tapsige Schritte hinter sich - und als sie keuchend
kehrtmachte, sah sie den Jungtroll, der noch kleiner war als sie, auf
ihrer Spur einhergetrottet kommen. Er blieb mit einem leeren,
idiotischen Grinsen vor ihr stehen und grunzte einen Gruß.
  »Verschwinde!« flüsterte Edyth barsch und gab ihm einen kräfti-
gen Stoß. »Marsch, zur Höhle zurück! Ich bin ja nicht deine Mut-
ter!«

Aber der Jungtroll scherte sich nicht darum, sondern hechelte und
keuchte Edyth glückselig und zufrieden an. Da holte sie tief Luft
und humpelte den Kerlen nach die Spur hinab, die in einem dich-
ten Fichtenwald verschwand. Von den Trollen war bald auch
nichts mehr zu hören, dafür aber, von fern her, das Geheul eines
Wolfsrudels - ein vielstimmiger Chor, der Edyth Mark und Bein
gefrieren ließ. Dahin sind die Trolle wohl unterwegs, dachte sie
schaudernd. Die Kerle gehen lieber Aas suchen als jagen, obwohl
sie ja bärenstark sind … Der Hang wurde nun so steil, daß sie nur
noch von Baum zu Baum taumeln konnte. Aber dafür war es hier
auch nicht mehr ganz so kalt.

Am Fuß des Hangs drehte sie sich um und starrte keuchend zu-
rück. Ob sie es zur Trollhöhle hinauf überhaupt wieder schaffen
würde? Sie kämpfte sich weiter, durchs dickste Dickicht - sank
aber nach einer Weile vor Erschöpfung und Verzweiflung in die
Knie. Das war sinnlos, dazu reichten ihre Kräfte einfach nicht. Ihr
war so wirr im Kopf, und für einen Augenblick wußte sie nicht mehr, warum sie dort war. Das Amulett, es hatte etwas mit dem
Amulett zu tun, das sie am Hals trug - ein Schatz …
  Ein schauriges Wolfsgeheul, ganz in ihrer Nähe, ließ sie entsetzt
auffahren. Sie blickte gehetzt um sich und hielt nach irgendeiner
Art Waffe Ausschau, mit der sie sich die Bestien vom Leib halten
könnte. Sie hatte einmal mit eigenen Augen gesehen, wie ein Ru-
del einen Hirsch riß, wie die Wölfe huschten, sprangen, zu-
schnappten, dem noch lebenden Tier die schimmernden und
dampfenden Därme aus dem Bauch zerrten, und dann all das Blut
im Schnee! Davonzulaufen würde nichts nützen …
  Oh, warte! Da war es wieder, das Geheul eines Rudels auf der Hatz
- aber das einer Hundemeute! Hunde - Menschen! Sie war geret-
tet!

Erleichterung überkam sie, und sie schrie mit brüchiger Stimme:
  »Hierher! Zu Hilfe!«

Der Ranken nicht achtend, die ihr die bloßen Beine blutig rissen,
lief, stolperte sie auf das Hundegebell zu. Plötzlich ging hinter ihr ein Höllenlärm los. Zweige krachten und Steine polterten, und als sie sich umdrehte, sah sie jemanden durch die Büsche brechen und
geradewegs auf sich zustürmen. Ein Troll!

Aber - und nun fiel ihr ein Stein vom Herzen -, das war doch der
Jungtroll, der ihr zuvor schon gefolgt war … Er stürzte sich auf
sie, umklammerte sie und winselte vor Angst und Entsetzen. Über
seine Schulter hinweg sah Edyth in der Ferne Lichter zwischen den
Bäumen tanzen und schwanken - Fackeln! Und das Gebell der
Hunde kam immer näher; sie folgten sicher der Fährte des Trolls.
  Gleich wären sie da: die Meute, die Fackelträger und die Jäger mit
ihren Spießen - Menschen, Schutz und Sicherheit, Wärme und
Essen.

Der Jungtroll wimmerte und weinte. Er hätte in der Höhle bleiben
sollen, ging es Edyth durch den Kopf, er ist jung, zu unerfahren,
um sich gegen eine Schar Jäger und ihre Hunde zu verteidigen! Sie
gab ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken und herrschte ihn an:
  »Hau ab, verschwinde! So lauf schon!« Aber er klammerte sich
nur wieder an sie. Da fluchte sie laut in ihrer Ratlosigkeit. Diese
Männer würden ihn töten, die Männer, die für sie warme Kleidung, ein wärmendes Feuer und warmes, gutes Essen bedeuteten. Wo waren nur die anderen Trolle geblieben? Und wo die Mutter des Jungen? Warum hatte die nicht dafür gesorgt, daß er in der Höhle blieb, dort, wo er hingehörte und in Sicherheit wäre? Schluchzend vor Zorn und Not, packte sie seine Pranke, die schon ein gutes Stück größer war als ihre Hand, zog ihn hinter sich her und rief: »Komm jetzt, lauf!«

Sie stolperten den Hang hinauf - auf der Flucht vor der Meute und auf dem Weg zurück zur Höhle und zu Hunger und Kälte. Aber die Hunde waren schnell, fast so schnell wie die Wölfe, die zu jagen sie ja gezüchtet wurden, und sie kamen rasch näher. Nein, da gab es kein Entrinnen für sie! Verzweifelt blickte Edyth sich um … Dort!  

Der riesige Baum vor ihnen! Sie schleifte den Troll zu dem Baumriesen und stieß ihn derb ins Kreuz. »Los, steig hinauf! Mach schnell!« Dabei wußte sie ja nicht einmal, ob ein Troll überhaupt klettern kann. Aber dem Jungtroll dämmerte bereits, was er zu tun hatte, und er grunzte zustimmend und begann, sich schwerfällig im Geäst hochzuhangeln.

Da sah sie auch schon einen Hund durchs Dickicht brechen und auf die Lichtung stürmen. Kurz entschlossen stieg sie dem Troll nach und trat wild nach dem Hund, der bereits am Stamm hochsprang und wütend nach ihr schnappte. Einen Moment später umringte die ganze Meute den Baum - riesengroße Jagdhunde mit zottligem Fell und mit weit heraushängender roter Zunge und schimmernden Zähnen. Edyths Trollgeruch machte die Tiere rasend. Sie … sie hatte sehr lange unter Trollen gelebt, in ihrer Höhle geschlafen - und dabei ihren Geruch angenommen! Die Meute würde sie in Stücke reißen! »Hilfe!« schrie sie in panischer Angst.  

Fackelschein zwischen den Bäumen. Ein Mann trat auf die Lichtung, ein Jäger, verlangsamte den Schritt, als er sie gewahrte. Edyth wagte nicht, sich zu rühren, schrie aber und schrie: »Hilfe! Ich bin ein Mensch!«

Nun kamen noch mehr Jäger herbei und starrten sie so entgeistert an, daß sie sich jäh und peinvoll ihrer Nacktheit bewußt wurde. Sie versuchte verzweifelt, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken, und blinzelte ängstlich ins Fackellicht. Als sie aber hörte, daß die Jäger leise über sie beratschlagten, packte sie ihr Amulett und umklammerte es fest. Glaubten die ihr denn nicht? War sie am Ende in eine Trollin verwandelt worden? Und in ihrer Verzweiflung schrie sie: »So helft mir doch! Im Namen der Götter! Ruft diese Hunde zurück!«

Endlich trat einer der Männer vor und brachte die Jagdhunde mit ein paar Stockhieben zum Schweigen. »Du bist ein Mensch?« »Aber ja! Weißt du denn nicht, daß Trolle nicht sprechen können?«

Der Jäger knurrte enttäuscht, winkte aber den anderen, die darauf auch begannen, die Hunde anzuleinen und zurückzuzerren. Da stieg Edyth so gut sie es vermochte, ohne ihre Blöße zu zeigen, zu dem Jäger hinunter.

Er ließ ihr sogleich einen Umhang bringen, grollte aber, als sie sich dankbar damit einhüllte: »Wir hielten dich für einen Troll. Die Kerle haben uns heute nacht Vieh gestohlen, uns zwei Ochsen fortgeschleppt.« Eine Anklage.

Die Hunde zerrten immer noch wie rasend an den Leinen, um wieder an den Baum zu kommen. Einer der Hundeführer rümpfte angewidert die Nase. »Puh! Die stinkt ja genau wie ein Troll!« Sie verlangten eine Erklärung von ihr. Aber ihr drehte sich der Kopf. Sie fand die Worte nicht mehr, wußte nicht, was sie sagen, wie sie es ausdrücken sollte.  Aber da war auch noch der Jungtroll dort oben im Baum, so schutzlos ohne seine Mutter, und die Hunde hatten ihn sicher schon gewittert.  Führe sie von hier fort! »Ich …«, stammelte sie, von Krämpfen geschüttelt und mit klappernden Zähnen. »T … Trollh … höh… le.« »Du meinst, du warst in ihrer Höhle?« »J … j… aa. Hab mich drin versteckt.«

Die Männer starrten sie spöttisch und zweifelnd an. Da stocherte sie im Nebel ihrer Erinnerungen nach einem Argument, das sie nun hätte überzeugen können; aber ihr fiel nichts mehr recht ein … »V … ver … irrt«, stotterte sie schließlich, »hab mich verirrt.«

Einer der Jäger spie verächtlich vor ihr aus. »Schafscheiße, das! Trolle fressen jeden, den sie in ihrer Höhle finden … Die halten dir den Kopf abgerissen, genau wie meinen Ochsen, meinen besten Ochsen!«

»Nein, ehrlich!« beteuerte Edyth. »Ich bin splitternackt zu ihnen gegangen. So haben sie mich für eine von ihnen gehalten, für eine Trollin.«

Da hieß der Anführer seine Leute schweigen. »Lassen wir das! Die Trolle… wo sind sie jetzt hin?«

Edyth bemühte sich verzweifelt, nicht an den Troll zu denken, der über ihren Köpfen in der Baumkrone hockte, und betete zum Himmel, daß er sich still verhalten möge, keinen Laut von sich gebe. »Ich … ich weiß nicht. Ich habe sie aus den Augen verloren … ich versuchte, ein Haus oder ein Dorf zu finden, irgendeinen Ort…«

Der Jagdführer warf ihr einen mißtrauischen Blick zu. Aber jetzt erhob ein anderer die Stimme: »He du! Wie heißt du eigentlich?«

Da mußte sie erst nachdenken, sich Zeit nehmen. »Edyth. Ja, Edyth Egilsdottr. Aus …« Sie wußte nicht mehr weiter. Aber der Mann nickte befriedigt. »Genau, das war der Name… den der junge Bursche nannte. Er kam gestern, glaube ich, hier durch und hat nach dir gefragt. Du hättest dich sicher im Wald verirrt, hat er gesagt.  

Magni hieß er. Dein Mann? Bist du etwa deinem Mann ausgerissen?«

Magni? An den müßte sie sich doch erinnern. An den und an Nemian. Ja, ihr Meister. Aber ihr Mann? Hatte sie denn jetzt einen Mann? Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Der Jäger knurrte verächtlich: »So viele nackte Frauen, die im Wald rumlaufen oder sich in einer Trollhöhle verstecken, gibt es hier ja auch wieder nicht. Das ist sie, bestimmt. Besser, wir bringen sie gleich ins Dorf.« »Und was ist mit den Trollen?«

»Dafür ist es schon zu spät. Wir finden ihre Fährte jetzt nicht mehr.«

Der Anführer funkelte Edyth noch einmal an, als ob sie an ihrem Jagdpech schuld sei, und die Hunde knurrten sie noch immer recht argwöhnisch an - aber man nahm sie mit, und ihr war es gleich, ob das bloß widerwillig geschah. Die Hütte, in die man sie brachte, war ein aus frisch gefällten Stämmen errichtetes rohes Blockhaus. Aber im Kamin brannte schon ein gutes Feuer, und ihr war endlich, endlich wieder warm - und sie war vor der Trollhöhle bewahrt.

Sie hatte sich den Trollgeruch abgewaschen, ein schönes, frisches Kleid angezogen, sich den Bauch mit guter Menschenkost gefüllt.

Die Dörfler drängten sich um sie. Diese Frau, die bei den Trollen gelebt hatte, erschien ihnen faszinierend wie abstoßend, und sie überschütteten sie mit tausend Fragen. »Du hast Menschenfleisch gegessen, ja?«

»Nein! Sie … die Trolle aßen meist Aas … Eber, Rehe, manchmal eine Ziege oder ein Schwein.«

»Oder einen Ochsen«, grollte einer aus der Schar.

»Du sagst, die äßen kein Menschenfleisch?«

»Nein … also, ich meine, ich hab das nicht gesehen … Aber ich habe nie …«

»Und was ist mit dem Schatz?«

»Genau«, pflichtete ein anderer bei, »es heißt, in der Trollhöhle liege ein Schatz. Gold!«

Edyth fuhr ein fürchterlicher Schrecken in die Glieder. Sie faßte nach ihrem Amulett. »Ein … ein Schatz? Nein, nein. Nur ein paar Knochen und verrostete Sachen. Sonst nichts. Kein Schatz!« Aber tief in ihrem Gedächtnis war, halb vergessen, doch so etwas. Ein Schatz! Ein Armreif  … König Elessen … Nein. Sie sträubte sich. Oh, sie hatte gesucht, das wußte sie nun wieder ganz genau. Wochenlang gesucht, in den dunkelsten Winkeln der Höhle … jeden Haufen von halb verrottetem Unrat durchwühlt. Aber nichts.  

Nichts.

Sie umklammerte noch immer ihr schützendes Amulett. Und doch…

Vier Tage nach ihrer glücklichen Rettung schritt Edyth hurtig zum Dorf hinaus. Zwei Männer, die eben einen Viehstall ausbesserten, sahen sie in den Wald hineingehen. Sie riefen ihr hinterher, aber sie antwortete nicht. Ah, endlich wieder der würzige Fichtenduft, der so erfrischend und belebend war, und wie herrlich, über dies Polster aus dürren, braunen Nadeln zu gehen … Auf einer Lichtung, die ihr vertraut vorkam, blieb sie stehen und sah dann lange den baumbestandenen Abhang hoch. Der Berg. Die Höhle.

Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen Wunsch und Furcht. Nein, sie wollte da nicht wieder hin. Nein, nein! Die Kälte, das stinkende Aas, der ständige entsetzliche Hunger. Die viehischen Trolle waren keine angenehme Gesellschaft. Sie wollte ein Mensch sein …

Aber der Schatz lockte. Der Armreif. Macht, Reichtum, eine große Belohnung.

Nein. Da gab es kein Gold, keine Edelsteine, das wußte sie doch.  

Der Schatz.

Nein! Nur eine Gürtelschnalle, ein verrostetes Messer. Der Armreif.  

Ihr Finderlohn!

Sie wollte nicht wieder in die düstere Grotte. O bitte, Meister, ich will nicht zurück! »He du! Trollfrau!«

Edyth schrak auf, fuhr herum. Zwei Dörfler standen ihr gegenüber.  

Sie kannte die beiden schon beim Namen - Wilm, der Dorfvorsteher, und Hanno, der Mann, dem die Trolle seine besten Ochsen entführt hatten. Die zwei waren mit Spießen bewaffnet.

»Wohin des Wegs, Trollin? Wieder zur Höhle, nicht? Zurück zu den Männchen, nicht wahr?« »Nein, nein. Bestimmt nicht.«

»Ich wette, sie wollte sich den Schatz holen«, knurrte Wilm. »Da ist bloß kein Schatz! Hab ich euch das nicht schon tausendmal gesagt? 

Das ist doch nur ein Märchen.«

»Vielleicht«, murmelte Wilm. »Vielleicht auch nicht. Da sehen wir am besten selbst einmal nach. Und du zeigst uns den Weg, ja?«

»Nein!« fuhr Edyth auf.

»Halt’s Maul! Sollten wir nichts finden, sehen wir ja wenigstens, wo sich die gottverdammten Trolle verstecken. Und dann rotten wir sie mit Feuer und Schwert aus. Also los jetzt, Bewegung!« zischte Hanno und hob drohend seinen Spieß. Edyth sah stumm zum Berggipfel empor. In ihrem Kopf war alles in Aufruhr, drehten sich die Bilder: erschlagene oder bei lebendigem Leib verbrannte Trolle.  

Ein Schatz, ein riesiger Haufen Gold und Edelsteine, auf dem obenauf der sagenhafte Armreif König Elessens funkelte. Ein Häufchen halb verrotteter Lumpen und ein Jungtroll, der um seine tote Mutter wehklagte und weinte … »Nein«, widersprach sie mit letzter Kraft. »He, ihr da!«

Da drehten alle drei sich um und sahen einen Mann heraufgerannt kommen. »Edyth, bist du’s?« rief er, schon ganz außer Atem. Die Dörfler senkten beruhigt ihre Spieße. Und Edyth sah, daß der Fremde jung und gut gekleidet war und ein Schwert am Gurt trug. 

Er kam ihr irgendwie bekannt vor …

»Edyth?« fragte der Neuankömmling erleichtert und wandte sich an diese verdrießlich dreinschauenden Dörfler. »Sie hat also wieder auszureißen versucht? Danke, daß ihr sie zurückgeholt habt!«

Mürrisches Schweigen war die Antwort - nach einer Weile brummte Wilm: »Dein Weib? Ich rate dir, sperre sie das nächste Mal lieber gut ein. Wenn du nicht willst«, schloß er gehässig, »daß sie dir noch Welpen wirft, so Halbtrolle.«

Der Fremde sah ihnen stirnrunzelnd nach, als sie den Weg zum Dorf hinabstiegen, und sagte: »Ich kann diese Rüpel von Hinterwäldlern nicht ausstehen!« Nach einem forschenden Blick auf Edyth fügte er in besorgtem Ton hinzu: »Du siehst wirklich sehr mitgenommen aus!  Schau, ich hab in meilenweitem Umkreis in jedem elenden Dorf nach dir gefragt. Du hättest vor gut zehn Tagen zurück sein sollen … eigentlich schon früher. Wo warst du? Was ist schiefgelaufen?«

Edyth suchte krampfhaft, sein Gesicht im Nebel ihrer Erinnerungen wiederzufinden. Magni? Mein Mann? »Magni?« fragte sie zögernd.

»Genau, das bin ich. Hier, warte mal«, erwiderte er, öffnete ihr Hemd, faßte ihr Amulett und riß es ab, noch ehe sie protestieren konnte. »Da!«

Kalte Klarheit überkam sie, ihre Verwirrtheit schwand, und die Nebel, die ihr Gedächtnis bedeckt hatten, waren wie weggeblasen, jetzt erinnerte sie sich an alles. Ja, Magni - aber er war nicht ihr Mann, war ein Lehrling wie sie. Und Nemian, ihr Meister, das dreimal verfluchte Amulett … Der Grund, warum sie zu den Trollen geschickt worden war. Der Schatz und König Elessens Armreif - die gab es gar nicht und hatte es nie gegeben. Es war alles nur eine Illusion; aber dieser Täuschung wegen hatte sie so viele Wochen frierend und hungernd in jener Höhle zugebracht …

»Wieder alles in Ordnung?« hörte sie Magni fragen.

Sie erschauerte und schöpfte langsam Atem. »Ja«, flüsterte sie,

»alles in Ordnung.«

»Gut! Wie gesagt, wir haben uns bereits Sorgen um dich gemacht. Der Winter kündigte sich ja schon an, aber du warst noch immer nicht von den Trollen zurückgekehrt. Selbst unser Meister wurde unruhig. Wir befürchteten, daß die Trolle dich gefressen hätten.  

Man weiß ja nie!« sagte er und lächelte etwas gezwungen. Sie starrte ihn mit leeren Augen an, unterdrückte ein Zittern. »Nun, lassen wir das«, fuhr er hastig fort. »Der Meister brennt darauf, deinen Bericht zu hören. Ich habe für uns Pferde im Dorf stehen und genug Geld für die Kleider hinterlassen, die man dir gab. Los, gehen wir.«

Auf dem Weg bergab hob Edyth plötzlich die Hand. »Warte mal.  

Nur eine Minute. Ich muß da etwas nachsehen.« Es war der höchste Baum in der Lichtung. Sie erkannte ihn sofort, jetzt bei Tageslicht, und sie spähte suchend in sein Geäst hoch. Ob der kleine Troll wohl entkommen war? War er so schlau gewesen, noch vor Tagesanbruch herabzusteigen, ehe die Sonne ihn da bannen konnte?  

Was immer auch geschehen sein mochte: Nicht die geringste Spur kündete noch von ihm. Edyth seufzte, Nun, eine Trollmutter hatte sie ja nie sein wollen. »Was war da?« fragte Magni.

»Oh, nichts. Es ist alles bestens. Gehen wir zurück.«

Der Hexer Nemian starrte stirnrunzelnd auf das Amulett in seinen
knotigen, altersfleckigen Händen. Bloß eine unbedeutende Störung, sagte er sich schließlich. Der Zauber zur Gedächtnisbeeinflussung war wohl etwas dejustiert … Kein großes Problem. Die junge Frau hatte sich doch ganz gut geschlagen. Sehr gut sogar.
  Schmunzelnd legte er den Talisman fürs erste wieder beiseite.
  Er war überaus zufrieden mit Edyths Untersuchung. Zwei Schreiber nahmen gerade ihren Bericht auf. Ihre Federkiele kratzten nur so übers Pergament, während sie ihr Leben bei den Trollen in allen Details schilderte. »Ausgezeichnet …«, kommentierte der Meister entzückt jede ihrer Enthüllungen über die Ernährungs-, Paarungs- und Erziehungsgewohnheiten ihrer Beobachtungs-gruppe.
  »Das hast du gut gemacht, Mädchen! Wie immer, möchte ich
sagen.«

Edyth nahm sein Lob mit einem müden Lächeln entgegen und
nippte am Würzwein, den ein frischgebackener Stift ihr gebracht
hatte. Sie beantwortete nun schon seit Stunden pausenlos Fragen
und war wie gerädert.

Aber Nemian hatte ein Einsehen, entließ die Skribenten und legte
dann Edyth seine knochige Hand väterlich auf die Schulter. »Also,
mein Mädchen«, begann er, »mir ist klar, daß … die unerwarteten
Komplikationen bei deiner jüngsten Feldstudie dich viel Kraft und
Energie gekostet haben, und ich weiß auch, daß du dich nach einer
langen Ruhepause sehnst und den Winter gern im warmen
Schreibsaal damit verbrächtest, deine Beobachtungen auszuwerten.  

Aber du bist nun mal von all meinen Lehrlingen die beste Feld-forscherin. Kein anderer liefert mir so interessante Berichte und so hinreißende Details wie du.« Nun sah er ihr fest in die
Augen.

»Aber«, fuhr er nach einer Zeit fort, »ich muß dich gleich wieder
losschicken und tue das auch bloß, weil es sich um einen wirklich
wichtigen Fall handelt. Ich erhielt soeben die Nachricht, daß man
diesen Herbst auf einem Eiland vor der Sturmküste doch wahrhaftig einen geflügelten Drachen gesichtet hat … einen Vertreter einer Spezies, die seit einem halben Jahrhundert als ausgestorben galt! Ich weiß, wie aufregend diese Kunde für dich sein muß …

Aber wir müssen uns sputen. Diese Neuigkeit wird alle möglichen
Abenteurer anlocken, Schatzsucher, Gesindel der schlimmsten
Sorte.« Er hielt inne und grub Edyth die knochigen Finger in die
Schulter, daß sie zusammenzuckte. »Du siehst also, ich muß dich
umgehend wieder auf Expedition schicken, so leid es mir auch
tut.«

»Aber Meister, bitte!« flehte Edyth. »Die Sturmküste! Und das im
Winter!«

Nemian runzelte die Stirn. »Aber, aber, mein Mädchen! Du
weißt, daß ich dem Kollegium immer höchst lobend über deine
Fortschritte berichte. Bis jetzt. Und deine Gesellenprüfung? Du
weißt, daß du mit einer guten Empfehlung im nächsten fahr zum
Examen zugelassen werden könntest. Ja, wir würden es sehr be-
dauern, wenn dem irgend etwas im Weg stünde. Also!«
  Damit nahm er das Amulett wieder auf und schloß nachdenklich:
  »Du mußt dann selbstverständlich unsichtbar in die Höhle des
Drachen eindringen …«