VERA NAZARIAN

 

Variationen über Märchen sind nicht gerade mein Fall. Ich lehne sie in der Regel ab. Aber bei der hier, die mir - wie alle Storys von Vera - merkwürdig, ergreifend und vorzüglich erscheint, mußte ich eine Ausnahme machen. Vera schrieb mir, zur Aktualisierung ihres Lebenslaufes, daß sie nun in einer Computerfirma arbeite und so in der glücklichen Lage sei, alle möglichen Programme testen zu können. Diese Tätigkeit, bei der sie etwa fünfzigerlei Dinge zugleich erledigen müsse, sei genau nach ihrem Geschmack. Sie »arbeite auch fleißig an ihrem Roman über eine Welt ganz ohne Farben« — was für ein seltsames Thema für jemanden, der so farbig schreibt wie sie. Aber das dürfte nun Science-fiction nach Ihrem Geschmack sein! - MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VERA NAZARIAN

 

Der Schöne und das Tier

 

Sie hatte die Gewohnheit, all die Liebenden, die Hand in Hand und Blick in Blick zwischen den Rosenbüschen und dem üppigen Grün der Gärten lustwandelten, zu beobachten, aus den Winkeln ihrer kalten und klaren Augen zu betrachten. Das waren ja ihre Gärten, und sie tat diesen verliebten Eindringlingen hin und wieder, wenn es ihr gefiel, ihre Gegenwart kund - nur zur Erinnerung, damit sie nicht vergäßen, daß dies wunderbare Idyll, dieser Garten Eden, nur ein kleiner Teil ihres Wohnbereichs sei, den sie mit ihnen zu teilen geruhe. Und die Liebenden, deren viele nur aus einer Laune heraus dorthin kamen, rechneten immer damit, hinter der nächsten Biegung des gewundenen Weges oder in der Nische irgendeiner Hecke auf sie zu stoßen - auf diese abstoßend häßliche und düstere Gestalt, die man, wie sie erfahren sollten, die Schwarze Königin nannte.

Diese üppigen Gärten umgaben ihren Palast wie schimmernde Wimpern ein glitzerndes Auge. Aber die Königin, die Letzte aus einem vor Altehrwürdigkeit schon dekadenten Geschlecht, war aufgrund einer genetischen Laune mißgestaltet und als Monster zur Welt gekommen. Mit dreiundzwanzig Jahren, bei ihrer Krönung, war sie genau zwei Meter groß. Sie hatte einen Buckel und war obendrein mit einem Kopf geschlagen, der so ungeschlacht und übergroß wie ein Felsen war; ihr muskulöser, fleischiger Ho-minidenleib und selbst ihr Gesicht waren völlig mit schwarzen Borsten bewachsen, und als Haar hatte sie eine scheußliche schwarze Mähne, die ihr bis auf die Hüften herabfiel … Ihre Gesichtszüge waren kaum menschenähnlich, waren eigentlich unkenntlich - ja, niemand hatte sich je getraut, sie aus der Nähe zu betrachten. Aber ihre Augen waren strahlend hell und von kalter Intelligenz, waren unsagbar menschlich.

Auch ihre Stimme war erschreckend menschlich - voll und tief und so weich wie ein Hermelinfell. Es war eine Stimme, die von einer erstaunlichen Bildung zeugte und makellos gewesen wäre - wenn sie nicht ab und an von hohlen Pfeiftönen überdeckt worden wäre, die von ihrer chronischen, angeborenen Lungenkrankheit herrührten.

Diese junge Frau hatte gleich nach dem Tod ihres Vaters den Thron bestiegen und grundlegende Veränderungen im Land vorgenommen. Ihr Vater war - wenn auch körperlich durchweg menschlich gestaltet - ein finsterer Mann gewesen. Er hatte ein hartes Regiment geführt und das Land in Apathie, Elend und Zerfall versinken lassen. Nach seinem Hinscheiden erwuchs aus der Dekadenz und Apathie plötzlich eine schöpferische Energie. Die Tier-Königin gab dem Reich einen neuen Pulsschlag, regierte es jedoch gleichfalls mit fester Hand. Denn sie war stark, stark wie ein Minotaurus - und das aus reiner Willenskraft … Ja, in ihrem scheußlichen Leib wohnte ein enormer Wille. Die Königin, die als Mädchen trotz ihrer Mißgestalt standesgemäß aufgezogen und erzogen worden war und den Namen »Vinnaea« erhalten hatte (aber hinter ihrem Rücken nannte sie keiner so!), hielt nun in ihrem prunkvollen Palast prächtig hof. Sie kannte und schätzte die Künste und Wissenschaften und förderte jeden, der sich darin hervortat.  

Und sie liebte auf subtilste Weise das Schöne und die Schönheit.

Das vor allem war, nach Ansicht einiger Leute, der Grund, warum sie ihre Gärten den Liebenden öffnete und sich mit solchem Prunk und solch erlesenen Menschen umgab. Ja, diese Leute sagten, die Königin wolle sich in eine völlige Harmonie von Linien, Klängen und Gedanken versenken, wie um darin zu ertrinken und ihr Ich zu verlieren - um nicht mehr das Tier zu sein, das sie, wie sie wohl wisse, in den Augen der Menschen sei.

Bei Hofe trug die Königin immer nur lange, wallende Kleider, die ihre groteske Gestalt so gut wie möglich kaschierten. Und ehe sie erschien, mußte man immer die großen Leuchter hochziehen und das Licht im Thronsaal dämpfen.

Denn helles Licht schmerzte angeblich ihre abnorm empfindlichen Augen.

Im Halbdunkel der üppigen Gärten fand die Tier-Königin öfter als andernorts Ruhe und Frieden. Sie verbrachte dort ganze Tage. Wenn die Sonne vom Himmel brannte, flüchtete sie sich in den Schatten des Ahornhains oder der Trauerweiden am lustig plätschernden Bach oder erging sich zwischen den kunstvoll beschnittenen Hecken des Irrgartens. Wenn es jedoch regnete, setzte sie sich in eine ihrer Lieblingsgrotten, um philosophische Werke zu lesen oder mit ihrer so ungefügen, schwarz behaarten Hand in ihrem in Leder gebundenen Tagebuch einen ausnehmend schönen Gedanken zu notieren.

Zu anderen Tageszeiten, wenn die Sonne in einem bernsteinfarbenen Feuermeer versank oder Wolken den Horizont verbargen, pflegte sie die in ihren Gärten promenierenden Paare zu beobachten.

Sie waren ein schöner Anblick für sie … diese jungen Männer und Frauen, wohl so vollkommen wie der schönste Sonnenuntergang, aber lebendiger. Die Tier-Königin liebte es, diese flirtenden Menschen zu beobachten, die einander zärtliche Worte zuflüsterten -Worte, die sie geflissentlich zu überhören versuchte, aber nicht konnte. Sie weckten in ihrem so unmenschlich reinen Herzen ein ihr neues Gefühl, das sie nicht hätte in Worte fassen können, das sie jedoch immer wieder überkam und mitunter schmerzhaft an ihr nagte. Aber der Anblick all dieser Verliebten, so sehr er auch eine seltsame Sehnsucht in ihr nährte, erfüllte sie doch mit einer merkwürdigen Zufriedenheit.

Bis nun eines Tages ein junger Mann eine blutrote Blüte von ihrem Lieblingsstrauch brach. Da war es um den Frieden der Tier-Königin geschehen.

»Oh, wie hübsch! Und wie groß sie ist, die will ich haben!« rief Aysnera und wies auf die prachtvolle, exotische Blüte, die soviel größer war als die übrigen an diesem Busch. »Ich weiß nicht recht, meine Liebe«, erwiderte Moere bedächtig, »vielleicht wäre es nicht recht, hier einfach irgendwelche Blüten zu brechen.«

»Warum nicht?« schmollte die junge Frau. »Es hat ja so viele hier … wem würde das schon auffallen oder weh tun? Oder hast du etwa vor ihr Angst?«

Moere errötete. Ihm sah man jede Gemütsbewegung immer sofort an, da er eine so helle, porzellanzarte, durchscheinende Haut hatte, daß der leiseste Blutandrang sein Gesicht mit der flammenden Röte eines Sonnenuntergangs überzog - die dann genauso schnell wieder einer edlen Blässe weichen konnte. Aysnera war nicht die einzige, die Moere mit seinem Air außergewöhnlicher Empfindsamkeit, seinen honigfar-benen Locken und seinem sanften, in sich gekehrten Blick bezaubert hatte, und in ihrem Freundeskreis hatte er, bei Frauen wie bei Männern, den zärtlich neckischen Spitznamen »Der Schöne«.

»Tja dann«, versetzte Lady Aysnera. trotzig, »pflücke ich sie mir eben selbst!« Schon streckte sie ihre reich beringten Hände aus und reckte sich, stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, um die schöne Blüte zu erreichen … aber vergeblich, und so gab sie es auf und klagte: »Oh, dieser blöde Busch! Er ist zu hoch für mich! Aber wie hübsch das leuchtende Rot doch in meinem schwarzen Haar aussähe … Wenn du doch bloß etwas lieber zu mir wärst, Moere! Du bist ja groß genug!«

Seufzend gab der junge Mann nach und brach die Blüte. Aber dabei empfand er ein ihm unerklärliches Unbehagen - wie einer, der sich bei einer Ungehörigkeit beobachtet fühlt. Und schon sah er Aysnera bestürzt ihre Röcke raffen und in einem tiefen, ehrerbietigen Knicks niedersinken … und hörte sie »Eure Majestät!« murmeln … und er fühlte, wie sein Puls aussetzte und dann, halb von Furcht und halb von einem nicht benennbaren Gefühl befeuert, wie wild zu rasen begann. Aber noch ehe er seine tiefe, höfliche Verbeugung machte, musterte er mit raschem Blick die vor ihm aufragende, wie aus dem Nichts gekommene schwarze Mißgestalt - und sah menschliche Augen, in denen ein kaltes Feuer glomm. Da senkte er den Kopf und umklammerte den Blütenstengel mit bebender Hand.

»Erhebt euch, erhebt euch … und tut das nie wieder«, sprach die Gestalt nun mit tiefer Stimme, aus der Machtbewußtsein, aber auch unterdrückter Zorn klang, und fuhr dann, an die zitternde Aysnera gewandt, fort: »Wer hat dir denn deine Manieren beigebracht?«

»Oh, es tut mir so leid, Majestät! Bitte, entschuldigt…«

Die zwei erhoben sich, wie ein ungeschriebenes Gesetz befolgend, wagten jedoch nicht, die Augen zu heben und … sie anzusehen.

»Wie heißt du, junge Frau ?« fragte die Tier-Königin.

»A … Aysnera, Eure Majestät. Lady Aysnera Hild. Es tut mir so leid…«

»Aysnera Hild, wärst du denn damit einverstanden, daß sich deine Gäste in deinem Haus einfach dein Silbergeschirr von deiner Tafel nehmen oder deine Gobelins von den Wänden holen? Dies sind meine Gärten, und ihr seid hier meine Gäste … Die Blüte, mag ihr auch seit Wochen meine Liebe gelten, ist nicht wirklich wertvoll. Aber was mich stört, ist deine Einstellung, Lady, die Unbekümmertheit, mit der du sie dir nahmst.«

»Ich bin der Schuldige …«, warf der junge Mann da ein. »Ich habe die Blüte gebrochen.« Damit hob er den Blick und sah dem Tier in die Augen. »Moere Deiwall, Majestät, zu Euren Diensten.« »Ja«, erwiderte die Tier-Königin, als er schon glaubte, der Kopf zerspringe ihm unter dem Blick, den sie ihm aus dem Dunkel ihrer Kapuze zuwarf. »Ich weiß, aber du hast es doch nicht aus eigenem Antrieb getan. Ich habe nämlich alles gehört.« Nun wandte sich das Tier wieder ebenso jäh an Aysnera: »Du kannst gehen, junge Frau. 

Ich trage dir die Sache nicht nach.« Und dann an Moere: »Aber du bleibst. Ich möchte, daß du mit mir kommst.«

Der junge Mann wurde so von kalter Furcht überkommen, daß er wie betäubt war, ja, nicht einmal hörte, wie Aysnera hastig Abschied nahm, und nicht einmal mehr sah, daß sie sich fast im Laufschritt entfernte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Jetzt war er allein mit dem Tier.

Und diese Furcht ließ ihn auch nicht los, als er der in schweren, schwarzen Brokat gehüllten unförmigen Gestalt, von der er nur die Stimme und den Blick kannte, auf gewundenen Gartenpfaden zu einem ihm unbekannten Ziel folgte. Er ging wie unter einem Bann hinter ihr her, von einem intuitiven Gefühl der Verpflichtung, aber auch von einer ihm neuen Erregung getrieben und gedrängt.

»Ich will dir Dinge zeigen, die du noch nie gesehen hast«, sagte das Tier, als sie nun dahinschritten. »Dir, im Gegensatz zu all den anderen, muß ich sie zeigen.«

Und er dachte nicht einen Augenblick daran, sie nach dem Warum zu fragen.

Sie kamen durch Ahorn- und Eichen- und Birkenhaine, und das Tier erzählte ihm von der Schönheit der Geräusche fallenden Laubs und vom weichen Atem der Erde. Sie sahen in die munter plätschernden Bäche hinein, und sie lehrte ihn, mit einem Blick all die Kiesel auf deren Grund zu zählen. Sie zeigte ihm das Spitzenmuster der Schatten, die die an den Bachrändern wachsenden Trauerweiden mit ihren so zarten Blättern und Zweigen warfen, und da erinnerte er sich, daß er Spitzen dieser Delikatesse schon an den kunstvollen Tapisserien bei Hof gesehen hatte. Dann betraten sie die Grotten. Und er sah, daß die Steingebilde ein unheimliches, hypnotisches Licht verströmten … Der Anblick einer aufflatternden Fledermaus löste in ihm nicht mehr Ekel und Angst aus, sondern ein seltsam freundliches Mitleid und gar Bewunderung für ihre elegante Stromlinienform. Ja, er wurde gewahr, daß seine Furcht lebhafter Neugier gewichen war. Er hätte vor allem so gern wieder die Stimme der Tier-Königin gehört. Da sagte sie auch schon, mit einemmal innehaltend: »Die Sonne geht gleich unter, du mußt nun Abschied nehmen. Behalte die Blüte, die du gepflückt hast, als ein Geschenk von mir. Komme morgen zu der Stelle, wo wir uns begegnet sind. Dann zeige ich dir noch mehr.«

Er nickte stumm, da er wußte, daß er gehorchen mußte.

Moere Deiwall kehrte am folgenden Nachmittag zurück - wie sie ihn geheißen. Und auch am nächsten und übernächsten Tag. Und das Tier führte ihn jedesmal umher und zeigte ihm dieses und jenes, bis er jedes Zeitgefühl verlor und begann, die Gärten als durchsichtigen Spitzentraum wahrzunehmen, den Wind aber als etwas Festes und die Sonne als golden glühendes Gas im Himmelseis. Wenn er dann, immer vor Sonnenuntergang, wieder zu seinen Freunden kam, wunderten die sich sehr über seine Geistesabwesenheit, seine Blässe und seinen leeren Blick. »Was ist los … Schöner, was ist mit dir?« fragten sie beunruhigt, hatten sie doch stets das Gefühl, er blicke durch sie hindurch, wenn er sie ansah. Aber als sie herausfanden, daß er seine Nachmittage mit der Tier-Königin zugebracht hatte, musterten sie ihn insgeheim bedauernd, aber verständnislos, und sie raunten einander zu, er müsse wohl den Verstand verloren haben.

So gingen Monate ins Land. Der Herbst mit seiner goldenen Pracht aus Reife und Verfall löste im ewigen Zyklus der Jahreszeiten den Sommer ab. Und im Winter, als die Bäume und Büsche kahl und schon mit funkelnden Eiskristallen bestäubt waren, traf sich Moere noch immer mit ihr im Park. Frierend, die Lippen vom Atem umwölkt und vom Rauhreif gesäumt, stand er dann neben ihr und lauschte ihren Worten und ihrer Stimme. Und er begann allmählich, zu seinem eigenen Erstaunen, selbst zu reden, und er erzählte ihr, die stets in samtenes Dunkel gehüllt war, vieles, was er sich selbst noch nie gesagt hatte.

Dann hörte sie ihm ernst und aufmerksam zu, und er erhaschte dabei ab und an erneut einen Blick ihrer so klaren menschlichen Augen. Und er bat sie jedesmal, noch etwas länger … bis nach Sonnenuntergang bei ihr bleiben zu dürfen - da er nicht verstand, warum sie ihn immer zuvor wegschickte. Aber das Tier bestand mit einem Nachdruck, der keine Widerrede duldete, darauf, daß er gehe, bevor die Sonne den Horizont berühre.

Jetzt bedrängten ihn die, die er seine Freunde nannte, oft so mit ihren Fragen, daß er am liebsten auf und davon gelaufen wäre und sich in einem Mauseloch verkrochen hätte. »Moere, worüber redest du mit ihr? Und was treibst du denn mit ihr?« fragten Aysnera und ihresgleichen.

»Nichts«, sagte er dann. »Nichts wirklich …« Und weil ihm bewußt wurde, wie rätselhaft diese Antwort sogar für ihn war und daß sie ihren Argwohn nur schürte, fuhr er fort: »Oh, wir diskutieren … über Philosophie, ja. Ihre, Ihre Majestät interessiert sich sehr dafür und hat in mir einen guten Gesprächspartner gefunden. «

»Oh!« rief Aysnera darauf empört. »Wie kannst du bloß! Wie kannst du dich bloß mit dem … Tier treffen?!« Da lief Moere zum erstenmal seit Monaten wieder knallrot an. »Du sollst sie nicht so nennen! Sie heißt Vinnaea, und sie ist unsere … Königin.«

»Höh!« spottete Aysnera. »Sie ist aber auch das Tier. Und was für eins! Du bist wohl schon blind für ihre äffische Häßlichkeit!« »Ich … ich habe sie noch nie gesehen«, erwiderte Moere, und als er das sagte, wurde ihm plötzlich klar, wie seltsam es in der Tat war, daß er sich nie gefragt hatte, was außer diesen Augen unter der Kapuze sei. Er sah mit einemmal, als ob sich sein inneres Auge heimlich neu eingestellt habe, daß die ganze Sache wirklich sehr bizarr war. In all diesen Tagen ihres Zusammenseins hatte er sich nie überlegt, warum … warum sie immer nur so ziellos im Garten umher-wanderten, warum sie niemals vor ihm ihren Umhang abnahm, um sich ihm zu zeigen, warum er nie bis nach Einbruch der Dunkelheit da bleiben durfte und warum sie, die als Königin doch anderes zu tun hatte, überhaupt soviel Zeit mit ihm verbrachte. Ich muß, dachte er, unter einem Bann gelebt haben, der mich alles doppelt sehen ließ. Selbst jetzt, wenn ich mich in dem eleganten, hell erleuchteten Raum umblicke und Aysnera in ihrem prächtigen, edelstein-besetzten Abendkleid betrachte, sehe ich - wie aufgrund einer Doppelbelichtung in meinem inneren Auge - alle Dinge halb durchscheinend, sehe ich Halbdunkel in diesem Lichterglanz … Ja, er konnte durch Aysnera hindurch fast ungehindert den Wandschrank sehen, denn auch sie war nur halb Körper, halb Schatten und wurde zudem, je länger er sie ansah, immer körperloser, und wenn er sie noch einen Moment ansähe, würde sie vollends substanzlos …

Er blinzelte, um diese Vision fortzuwischen, denn er fühlte sich von einer Woge der Furcht überkommen - von etwas Großem, das sein Vorstellungsvermögen bei weitem überstieg. Dann verebbte es, und die Dinge stellten sich wieder normal dar, also in der einen und einzigen Art, in der er sie einst wahrgenommen hatte. Vielleicht verliere ich ja wirklich den Verstand, ging es ihm dann durch den Sinn.

»Bitte, triff dich nicht mehr mit ihr …«, flüsterte Aysnera nun flehentlich. »Komm doch mit uns. Wir feiern morgen ein Fest, mit einer Partie im Drachenschlitten! Komm mit uns, wenigstens dieses eine Mal!«

»Aber …«, widersprach er, von einem dunklen Herzweh beschlichen.

»Es wird ein rauschendes Fest, mit Musik und Tanz, mit fahrenden Sängern und Schellnarren, Tamburinen und Flöten, und wir gleiten schneller als der Wind dahin! Du wirst wieder lächeln und lachen, Moere! Komm, gib dir einen Ruck und sei wieder der, der du einmal warst… Du wirst sehen, das ist gar nicht so schwer!« »Aber ich versprach ihr zu kommen. Wie immer … Sie wird es sich nicht erklären können, warum ich ausbleibe, sie wird … Was, wenn ich sie damit verletze?«

»Hast du etwa schon Angst vor ihr, kleiner Moere?« Wieder dieser Spott! dachte er und überlegte scharf. »Sie nicht zu sehen, nur dieses eine Mal. Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Sie wird sich denken können… daß ich anderes zu tun habe. Das wird sie sich doch vorstellen können, bei den Göttern! Ich habe schließlich auch noch ein eigenes Leben!« Aber jetzt war es, als ob sein inneres Sehvermögen, jenes, das seine Wahrnehmung verdoppelt und ihm die vierdimen-sionale Sicht geschenkt hatte, plötzlich schwand und schrumpfte und sich verengte. Und nun sah er nur noch die banale stoffliche Opulenz des Gemachs und Aysneras aufmerksamen Blick.  

Irgendwo anders aber erschauerte, wie unter einem Windhauch, die prächtige blutrote Blüte, die das Tier ihm einmal geschenkt hatte und die nun schon monatelang, seltsamerweise von allen außer ihm unbemerkt, in ein und derselben Kristallvase unermüdlich geblüht hatte. Schon im nächsten Moment war sie verdorrt und braun - aus ihrer Zeitlosigkeit jäh in den Zerfall gehaucht.

Die Tier-Königin stand wartend auf dem nun trostlosen Gartenweg. Rings um sie tobte der Winterwind und zerrte roh an den kahlen, schwarzen Zweigen der Büsche und Bäume und fegte kristallweiße Schneewirbel auf. Sie reckte den Kopf und lauschte, und von fern her drang, durch die eisigen Böen hergeweht, das fröhliche Lachen und Lärmen der jungen Paare bei der Großen Winterausfahrt an ihr Ohr. Sie hörte auch das Dröhnen der Hufe, die über den gefrorenen Boden rasten, und das wilde Klagen von Panflöten und das Wummern der Tamburine. Wilde überschäumende Freude klang daraus, und die Tier-Königin konnte mit ihrem Sehvermögen ihn ausmachen, ihn, den lachende junge Frauen und Männer umgaben, die vor Kälte feuerrote Wangen hatten. Er war so jung wie die anderen, sah aber frischer und blühender aus als sie alle, und sein helles Lachen übertönte das Heulen des Wintersturms. Und die Tier-Königin gewahrte den sanft entflammten Blick seiner funkelnden, gütigen Augen, der ihr seit ihrer ersten Begegnung so vertraut und so teuer war. Erschrocken, aber unbeirrt diese Blüte mit kühler, blasser Hand umklammernd, hatte er vor ihr gestanden, und sie hatte diese Güte in seinen Augen gesehen, diese seltsame Einfühlsamkeit, die ihr noch nie zuvor begegnet war. jener Blick hatte die Mauer der Unschuld, die sie umgab, durchdrungen und ihr diamantenes Herz durchbohrt, war ihr ins tiefste Innere, in ihren weichen Kern aus Regenbogen und Perlmutt gegangen und hatte sie mit einem Gefühl erfüllt, das sie noch nie gefühlt hatte und dem sie keinen Namen geben konnte.

Sie sah, wie »der Schöne« und die anderen, mit scharlachroten und goldenen Bändern geschmückt, aus den Drachenschlitten stiegen. Er lachte, faßte die vor Kälte zitternde Aysnera mit sanfter, warmer Hand um die Hüfte und drückte sie an sich, und die Lady legte ihm die Arme um den marmorgleichen Hals, strich ihm über die weichen, honigfarbenen Locken.

Da traten der Tier-Königin Tränen in ihre menschlichen Augen und trübten ihr für einen Moment die Sicht; aber der kalte Wind ließ die Zähren, die ihr über die schwarzborstigen Wangen liefen, im Nu zu Eis erstarren.

Sie hatte ihm noch nie gesagt, daß sie ihn liebte. Sie hatte ihm nie gesagt, daß er wiederkommen müsse, so er nicht wolle, daß sie sterbe.

Aber das war auch nicht nötig, denn sie hatte ihn sehen gelehrt.

Wieder sah die Tier-Königin durch die Dunstschleier in die Ferne, hörte sie das Singen und Lachen den Wind übertönen. Sie sah, daß der Schöne sich über den Busen jener Frau beugte, sah jede sanfte Rundung seines Profils und sah seine Haut: so glatt, transparent wie Porzellan und dabei so lieblich errötend wie der rosenfarbene Morgen.

Jetzt sah die Tier-Königin seinen sanften Blick - jenen offenen, rückhaltlosen Blick, den er einst ihr geschenkt hatte und den er jetzt genauso einfach und ehrlich einer anderen schenkte. Da war es, daß tief in ihr, tief in diesem borstigen, muskulösen, verwachsenen Leib, etwas brach und barst. Sie gab keinen Laut von sich, aber ihre Kraft, diese ungeheure Kraft des Tieres, war aus ihr gewichen … Und sie war nur noch ein in schwarze, jämmerliche Gewänder gehüllter Krüppel und sank nun, wie ein Embryo gekrümmt, schwerelos und langsam in den blendend weißen Schnee.

Als Moere mit noch von der Schlittenfahrt roten Wangen nach Hause kam, fand er seinen verzauberten Schatz, diese Blüte, die wie ein Leuchtfeuer vor seinem inneren Auge gestrahlt hatte, schwarzbraun verdorrt in ihrer Kristallvase vor. Da erinnerte er sich, daß er das ganze Fest über tief in seinem Inneren gesehen hatte, wie sie starb und verging, und daß er zu seinem Staunen mitunter auch die klaren und durchdringenden Augen der Tier-Königin erblickt hatte, und sie waren hell leuchtend wie der Tag gewesen, aber zum ersten Mal von Tränen feucht… Aber er hatte sich nicht darum geschert, hatte sich lieber von der Lust des Augenblicks wie von einer Woge forttragen lassen und diese Vision einfach verdrängt.

Nun jedoch, da eine dunkle Flut über ihm zusammenschlug, ließ er es wieder zu, daß er sah, und da geschah es, daß sich seine Sicht erneut entfaltete, entzerrte und verdoppelte, bis sie wieder wie früher war und ihm aufging, was er begangen hatte. Die Gärten ruhten weiß und still, und ein silbrigvioletter Nebel hing darüber. Der Wind hatte sich gelegt, kein Laut war zu hören, und alles lag reglos und verschwamm im Spätnachmittagsdunst.

Sein Puls raste vor Weh, sein Atem ging schwer, und die Haut riß ihm vor Kälte, als er nun wie wahnsinnig und der Zweige, die ihn im Gesicht trafen, gar nicht achtend, den vielfach gewundenen Weg entlanglief. Und als er wieder um eine Biegung kam, sah er sie - oder das, was sie sein mußte -, und da überkam ihn ein Schwindel, daß er fast ohnmächtig geworden wäre. Ein Hauch feinen Pulver-schnees überzog schon die mitleiderregende schwarze Gestalt, die da vor ihm hingestreckt lag. Und aus diesem formlosen Haufen sah er ein kleines schwarzborstiges Etwas ragen, das einer Hand ähnelte - ja, eine rheumatisch verkrümmte, knotige Hand mit langen Tierkrallen statt Fingernägeln … Seltsam, dachte er, daß mir ihre Hände, diese gespenstischen, schwarz behaarten, jämmerlichen Klauen, bisher noch nie aufgefallen sind …

Moere sank in die Knie und kniete sich neben der Tier-Königin in den Schnee. Einen Moment dachte er, sie sei tot - hörte sie dann aber, zu seiner Erleichterung, leise röcheln. Aber ihr pfeifender Atem klang wie der einer Sterbenden.

Nun sandte die Sonne ihren letzten Strahl und sank unter den Rand der Erde, und Abenddunkel fiel wie ein Tuch über den Garten.

Eine intuitive, aber unwirkliche Angst erfaßte Moere. Da legte er sein Ohr an ihre Brust und lauschte ihrem wenn auch recht leisen Herzschlag.

Merkwürdig, dachte er, ihr Gesicht ist noch immer von der Kapuze verborgen. Er fand es selbst schon unheimlich, daß sich in seiner Brust keinerlei Gefühl regte … Wieder war es, als ob ein Zauber ihn umfinge, nur daß er jetzt alles sah und hörte, aber überhaupt nichts empfand.

Nun schob er sacht die Kapuze zurück. Diesmal legte sich, wie um es zu bergen, das Abenddunkel über ihr Antlitz, so daß er diese Rauchschwärze mit suchenden Augen durchbrennen mußte, um es sehen zu können. Schweigend betrachtete er das Gesicht der Tier-Königin … das wie eine grotesk-entsetzliche Karnevalsmaske war. Aber er fühlte noch immer nichts. Da schlug die Tier-Königin jäh die Augen auf. Und sein bisher so eiskalt ruhiges Herz raste mit einemmal, als ob es ihm zerspringen wollte.

Denn ihre Augen waren so verändert: Rotglühende Vulkane starrten ihn an. Und nach einer Weile, in der ein Erkennen darin aufglomm, flüsterte sie: »Moere … Du bist also wieder da. Aber du hättest nicht um diese Stunde kommen dürfen. Es ist ja schon dunkel. Und nach Einbruch der Dunkelheit verliere ich, wie du ja siehst, den letzten Rest meines menschlichen Aussehens, immer nach Einbruch der Dunkelheit.«

Sie atmete schwer und rauh, suchte mit ihren feurigen Blicken in seinen gefrorenen, bloß aufnehmenden Augen nach einer Reaktion.

»Es tut mir leid …«, flüsterte er, »ich konnte nicht kommen …«

»Ja. Wie wahr, nicht zu mir. Das ist nur natürlich, lieber Moere. Es hätte mich überrascht, wenn es nicht geschehen wäre …«, sagte sie und gab sich Mühe, ihrem Tiergesicht ein Lachen abzuringen. »Ich …«

»Sprich nicht weiter«, flüsterte sie und bleckte die langen Zähne zur schrecklichen Karikatur eines Lächelns. »Nun, o Schöner, was denkst du jetzt, wo du mich so siehst, wie ich bin … mit meinem so entsetzlichen wie lächerlichen Gesicht und Leib? Und hab keine Angst, ehrlich zu antworten. Ich würde es merken, wenn du lügst, weißt du. Ich kenne dich … zu gut. Ja, ich bin das Tier, mein liebster Schöner, und könnte dich, wie die Leute sagen, in Stücke reißen«, sprach sie in jetzt bissigem, spöttischem und eigenartig stolzem Ton und sah ihn abwartend an. »Nenne dich nie mehr so!« rief er, plötzlich hellwach und offen.

»Weshalb nicht, mein Hübscher? Denn ich bin das Tier. Die Königin aller Tiere …«

Da würgte es ihn tief im Hals, daß er zu ersticken fürchtete, und das Blut hämmerte ihm im Kopf. Er sah sie wortlos an, blickte sie einfach an, so wie er sie … früher immer angesehen hatte. »Also«, fragte das Tier, »was siehst du jetzt?« Moere begann zu weinen.  

Tränen schossen ihm in die Augen, liefen ihm über die Wangen und gefroren zu Eiskristallen schärfer denn Stahlklingen, blauem Eis, das ihm die zarte Haut zerschnitt. »Ich weiß es nicht!« stammelte er immer wieder. »Ich sehe nichts! Ich sehe nicht…«

Nein, er hatte noch nie etwas so gut in Worte fassen können wie sie!

Aber als ihm der Kopf von dem aufwallenden Schmerz, den so lange unterdrückten Gefühlen zu platzen drohte, rief er: »Kannst du es mir denn nicht sagen? Weißt du, die du mich ja diese andere Sicht gelehrt hast, denn nicht, was ich sehe?« Dann hielt er keuchend inne, schluckte seine Tränen hinunter, und fuhr danach ruhiger fort:  

»Du mußt es also hören, Vinnaea? Wenn ich dich jetzt anblicke, sehe ich nur, was ich immer sah. Nicht diese schwarze Mißgestalt, nein, nicht die triste Hülle aus Dunkelheit, die du dir aus irgendeinem Grund vor langer Zeit, lang vor deiner Geburt erwählt hast! Sie ist nur ein substanzloser Schatten, wie alles, was ich rings um mich erblicke … Nein, du bist nicht das da, sondern ein Licht! Du, meine Königin, bist die strahlendste Lichtgestalt, die ich je erblickt, und ich sehe dich deutlicher als die Sonne oder diese armen Wesen in meiner Umgebung. Wenn ich sie lang genug ansehe, schwinden sie vor meinen Augen zum Nichts. Und sobald ich mir selbst vormache, ich sähe nichts, beginne auch ich, wie sie, zu verblassen … Aber du nicht! Du bist das einzige Wesen, dessen Anblick mich blendet, und du bist die konkreteste Erscheinung dieser Welt.« Nun sah er das Tier zögernd an, fuhr dann aber entschlossen fort: »Ja, meine Gleißende, ich fürchte mich bis heute vor dir … und werde mich wohl immer etwas vor dir fürchten. Denn du bist soviel strahlender als ich. Ich fühle, daß du mich fortbrennen könntest, und muß dennoch immer bei dir sein …« Und er kam zu ihr ins Dunkel des samtenen, schwarzen Umhangs und schmiegte sich an sie, legte seine Arme fest und ohne Zaudern um ihren schwarzborstigen Leib, grub sein mit gefrorenen Tränen noch bedecktes Gesicht in ihre dunkle Halsbeuge und weinte, daß er am ganzen Körper zitterte.

»So ist mein Leben nicht unnütz gewesen«, flüsterte das Tier und drückte ihn an sich. »Du, mein sanfter Schöner, du meine zweite Seelenhälfte … Denn ich wurde ja nur als Tier geboren, um dir zu helfen, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind … Und das hast du jetzt geschafft…«

Da schluchzte er noch wilder, und seine bis dahin stets getrübte, verzerrte Sicht wurde plötzlich klar und scharf … so daß er die Tier-Königin ganz und gar sah: taghell in der Mitte der Nacht und strahlender und schöner, als er gedacht hatte. Nun sah er bis in die fernsten Ecken ihres Reichs und erblickte alle Dinge, die da waren, sah sie wie von innen heraus, ganz als ob sie geschliffene Kristalle wären, aus deren glasigen Regenbogenkernen er blicke. Und sie spürten die Kälte jener Nacht nicht, als sie sich inniger umarmten.  

Zwei Wesen aus reiner Energie verschmolzen nun zu einem einzigen.

Moere vermeinte, in einer unnatürlich weit entfernten und kalten, körperlosen Kammer eine kleine, aber taghelle, blutrote Blüte zu sehen, die sich von der verdorrten wie in einem Doppelbild abhob.

Und dann glaubte er noch zu sehen, daß am Stiel der großen, welken Blüte eine Knospe so rot wie Feuer aufgebrochen war.