RIMA SARET

 

Auch Rima hat meinen Rat beherzigt, Ablehnungsbescheide mit einer neuen Geschichte zu beantworten, die dem betreffenden (oder einem anderen) Lektor besser gefällt. Diese Story gehört eindeutig in die Kategorie »Vergewaltigung und Rache«. Aber weil ich davon nur wenige erhalte, nehme ich hin und wieder eine - wenn sie gut ist.

Rima Saret kann auf einige professionelle Veröffentlichungen - in Comic-Büchern und Owlflight - und auf eine Vielzahl von Beiträgen in Amateurpublikationen verweisen. Und sie ist (in Gestalt ihres Alter ego »Mary Anne Landers«) anscheinend auch eine produktive Fernsehautorin.  

Was mich wohl deshalb befremdet, weil ich einst bei meinem von einem Medienexperten angeregten Versuch, drei mir aus Fernsehsendungen bekannte Tatsachen zu benennen, nur auf eine kam (daß der Panda zu den gefährdeten Arten zählt), und die hatte ich zuvor schon aus anderer Quelle erfahren. Ich will damit nicht sagen, für das Fernsehen zu schreiben, sei schlecht, sondern nur: »Besser sie als ich!« Wenn meine Sehkraft noch gut wäre, wäre ich ja vielleicht auch eine Fernsehsüchtige. Aber dann käme ich viel weniger zum Lesen. Wenn ich mir einmal einen Film ansehe, bedaure ich nachher fast immer, daß ich die Zeit nicht auf ein gutes Buch verwandt habe. Für mich gibt es da nur wenige Ausnahmen — es sind am ehesten die Opernaufzeichnungen. Ich habe da sicher ein Vorurteil, aber eines, an dem ich festhalte. -MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

RIMA SARET

 

Marayds Flucht

 

Marayd die Rote, Kriegerin aus dem Königreich Daizur, kroch durch das Tunnellabyrinth, das aus dem feindlichen Lager hinausführte. Ihr Schwert, in seiner breiten Scheide verwahrt, zog sie an einem Riemen hinter sich her; statt seiner baumelte ihr ein Beutel mit den Edelsteinen vom Gürtel, die sie und ihre Gefährtinnen soeben aus der Schatulle des Kriegsherrn Helbor gestohlen hatten - einer schweren Truhe, die zwar roher Gewalt, aber nicht ihrer List und Findigkeit widerstehen konnte.

Ihre Kameradinnen waren noch, als Söldnerinnen getarnt, im Lager geblieben und würden bei Tage unauffällig das Weite suchen. Sie aber hatte den gefährlichsten Teil jenes Unterfangens übernommen, nämlich die geraubten Edelsteine fortzuschaffen. Der einzige Weg, auf dem sie das mit einiger Aussicht auf Erfolg versuchen konnte, war der durch diese vor langer Zeit aufgegebene Kanalisation tief unter den Ruinen der alten Stadt. Nicht Habgier und Gewinnsucht hatten Marayd zu diesem Diebstahl getrieben. Für sie selbst fiele dabei kein einziger Edelstein ab und auch kein anderer persönlicher Vorteil als der Respekt ihrer Offiziere und Kameradinnen und ihres Königs. Bei dieser Mission ging es ihr darum, Helbor den Großteil seiner Kriegskasse abzunehmen. Denn ohne die Edelsteine könnte er keine Söldner mehr anwerben und keine Waffen und Furage mehr einkaufen und somit ihr Volk auch nicht mit einem langen Krieg überziehen. Daizur könnte sich dann noch ein oder zwei Jahre seines Friedens erfreuen, zumindest so lange, wie der Kriegsherr brauchen würde, um wieder genügend Geld für eine Offensive zusammenzubringen.

Der verdammte Tunnel schien nicht enden zu wollen! Alle Glieder schmerzten ihr schon, und ihre Ellbogen und ihre Knie waren ganz wundgescheuert. Die Abwasserrohre waren doch viel enger, als sie gedacht hatte, und sie war zu starkknochig und zu kräftig gebaut für diesen Teil der Operation.

Nun spürte Marayd, daß der Tunnel steiler abzufallen begann. 

Noch ein paar Meter, und diese Unterwelt läge hinter ihr! Endlich erreichte sie den von Büschen verdeckten Ausfluß. Es war noch dunkel draußen, aber der perlgraue Schimmer der winterlichen Morgendämmerung erhellte schon den Himmel. Sie spähte vorsichtig durchs Gezweig, suchte mit scharfem Blick das fast baumlose Land ab, und als sie das Gefühl hatte, daß die Luft rein sei, trat sie entschlossen ins Freie.

Groß und langgliedrig stand sie im Morgenlicht, das ihre Rüstung erglänzen ließ. Ein mächtiger Helm rahmte ihr kantiges, frisches Gesicht mit seinen kühnen Zügen - großen, tiefliegenden Augen und kräftigen, geschwungenen Lippen, einer hervorspringenden Nase und ausgeprägten Wangenkochen. Und unter dem Helmrand quoll ihr eine ungebärdige Lockenpracht hervor, die von der Farbe des Abendrots über der Wüste war. Marayd war von üppiger Schönheit, so es denn Schönheit war … Denn für viele war sie eine allzu überwältigende Erscheinung.

Aber als eine dem Zölibat zugetane Frau scherte Marayd das kaum. Sie hatte sich die Verteidigung ihres Volkes so sehr zur Aufgabe gemacht, daß sie wenig Zeit und noch weniger Interesse für ein Privatleben hatte.

Im Augenblick war ihre einzige Sorge, die Linien der Truppen von Daizur zu erreichen. Sie mußte noch vor Sonnenaufgang soviel Wegs wie möglich zurücklegen. Denn wenn erst einmal die Sonne schiene, wäre sie in dieser ausgedörrten Steppe den Blicken der Verfolger schutzlos ausgeliefert und auf weite Entfernung auszumachen. Also gürtete sie ihr Schwert, vergewisserte sich rasch, daß noch alle Edelsteine im Beutel waren, und machte sich dann nach Norden auf, mitten durch ein mit Büschen bestandenes Terrain.

Aber als sie durchs dichteste Dickicht brach, erhob sich hinter ihr ein Söldner, der Helbors Wappen trug, schwang eine Keule und schlug ihr so aufs Haupt, daß sie alle viere von sich streckte. Ihr Helm hatte die Wucht des Hiebs gedämpft, sie jedoch nicht vor Schmerzen bewahrt, und fiel ihr nun zudem ab, weil der Kinnriemen gerissen war. Sie zog reflexartig ihr Schwert, verfing sich aber damit im Gestrüpp. Der nächste Hieb, nun auf ihren ungeschützten Kopf, nahm ihr das Bewußtsein.

»Du glaubtest also, wir wüßten nichts von diesem Tunnel?« höhnte Helbor und faßte seine in Ketten vor ihm stehende, aber trotzige Gefangene am Kinn, um ihr in die Augen zu blicken. »Du törichte Daizuriterin! Du wolltest mir meinen Schatz rauben, dafür raube ich dir jetzt den deinen!«

»Weder ich noch meine Familie verfügen über Reichtümer. Es wäre vergebliche Mühe, für mich ein Lösegeld erpressen zu wollen. «

»Solche Schätze meine ich nicht«, versetzte er und kicherte. »Ich meine deine Jungfräulichkeit … Weißt du, als meine Soldaten dich nackt auszogen und auf verborgene Waffen untersuchten, stellten sie fest, daß du noch unberührt bist.« Panik befiel Marayd. Aber sie zwang sich zur Ruhe und versetzte eiskalt: »Eher töte ich mich selbst, als daß ich mich von dir vergewaltigen lasse!«

Wieder lachte er böse. »Von mir? So ein Biest wie dich würde ich nicht einmal anspucken! Nein, ich werde dich verkaufen, und zwar an König Gambreol. Er dürfte in drei Tagen hier durchkommen, auf dem Heimweg von einer Pilgerfahrt, und er hält ja immer Ausschau nach Jungfrauen, die er seinem Harem einverleiben könnte. Er wird mir einen guten Preis zahlen … und ich brauche das Geld, wie du weißt.«

Drei Tage später schleppte man Marayd, so wie Helbor es angedroht hatte, zu Gambreols Zelt. Der König hatte ein hartes Gesicht und müde Augen, wie jemand, der zur Grausamkeit neigt und sich vielen billigen Vergnügungen hingibt … Sein Gehabe war selbst für einen Monarchen arrogant und pompös. Marayd schlug die Augen nieder, als er ihr Gesicht musterte. Und er befahl seinen Wächtern, ihr das Gewand vom Leib zu schneiden, da sie, mit den Ketten an den Handgelenken und Fußknöcheln, nicht anders zu entkleiden war.

Als Marayd dann nackt vor ihm stand und er sie wie ein Stück Vieh abgriff, weinte sie vor Scham und Zorn. Er kniff ihr derb in die Brüste, daß sie aufschrie vor Schmerzen, und ließ ihr von seinen Gardisten die Schenkel auseinanderzwingen, um selbst nachsehen zu können, ob sie wirklich noch Jungfrau sei. Dann sagte er zu seinem Faktotum: »In Ordnung. Bring Helbor jetzt das Gold. Aber nimm ihr ihre Ketten erst ab, wenn wir im Palast sind, verstanden?«

Marayd wußte, daß alles Flehen vergeblich wäre, und sagte deshalb zu sich: Du wirst dich an mir nicht ergötzen, Gambreol. Ich werde dich töten … oder mich selbst.

Die Reise zu Gambreols Palast in der Stadt Demaforth dauerte acht Tage. Und so lange war Marayd noch vor ihm sicher, da er für die ganze Pilgerfahrt, bis zu seiner glücklichen Rückkehr, Keuschheit gelobt hatte. Und da er auf dem letzten Stück der Reise noch fünf Jungfrauen kaufte, hoffte sie, daß er dann erst einmal mit ihnen beschäftigt wäre.

Marayd hatte unterwegs viel Zeit zum Nachdenken. Irgendwann mußte ihr Peiniger ihr die Ketten abnehmen, und dann würde sie bestimmt irgendein Mittel finden, ihre Ehre auf drastische Weise zu verteidigen … Sie könnte sich mit einer Scherbe von dem irdenen Eßgeschirr, das man ihr wohl brächte, die Pulsadern aufschneiden. 

Wenn man ihr ein Bettlaken gäbe, würde sie es in Streifen reißen, sich einen Strick knüpfen und sich daran aufhängen. Und wenn sie an ein hochgelegenes Fenster oder auf ein Dach gelangen könnte, würde sie sich in die Tiefe und zu Tode stürzen. Aber ihr blieb auch noch eine andere Möglichkeit - vorausgesetzt, sie fände die Zeit und die Mittel dazu. Und das war jenes geheime Verfahren einer Teleportation, das ihr die berühmte daizu-ritische Zauberin Meteris bei der Ausbildung zur Kriegerin einst erläutert hatte. Sie mußte sich dazu ein rahmenartiges Gerät bauen, das sie aus jedem Kerker im Handumdrehen fünfzig Klafter weit ins Freie versetzen würde.

Aber dafür brauchte sie zwölf lange Stangen, sechs aus Bronze und sechs aus Stahl, drei rare Kräutlein und einen Rubin oder Saphir. Damit könnte sie die natürlichen Energiefelder so verformen, daß für einen Augenblick jede Barriere durchbrochen wäre, Zeit genug, um zu entkommen. Dieser Zauber war mit großen Mühen verbun-den und jeweils nur für einen einzigen Menschen wirksam.

Marayd hatte sich das Verfahren damals genau eingeprägt, es aber noch nie erprobt. Wo würde sie die nötigen Materialien hernehmen? Und wie den sperrigen Apparat bauen, ohne Verdacht zu wecken ?

Nun ragte vor ihnen der riesige Basaltklotz des festungsähnlichen Palastes auf. Ein Wächter flüsterte ihr zu: »Aus dem königlichen Harem ist noch keine Frau entkommen. Sieh dir also den Palast gut von außen an, denn aus dieser Perspektive wirst du ihn nie mehr zu Gesicht bekommen!«

Als das Haremstor krachend hinter ihnen zugefallen war, nahm man Marayd die Ketten ab und führte sie durch eine Unzahl von Fluren und Türen. Es waren luxuriöse Räumlichkeiten, für deren Schönheit sie aber jetzt kein Auge hatte. Was ihr dafür auffiel, waren die schwere Bewachung, die massiven Türschlösser, die Gitter an den Außenfenstern. Derartig aufwendige Sicherheitsvorkehrungen hatte sie noch nirgends gesehen, nicht einmal bei ihrem Wachdienst im Frauentrakt des Staatsgefängnisses von Daizur und im königlichen Schatzhaus. Deshalb ließ sie jeden Gedanken an eine Flucht ohne magische Hilfsmittel auf der Stelle fahren.

Fast so erschreckend wie der Kerker waren für sie seine Insassen, die Frauen und Konkubinen von König Gambreol. Ein einziger Blick in ihre schönen, aber wie erloschenen Augen lehrte sie mehr über das Leben in einem Harem, als sie je hatte erfahren wollen. Diese armen Geschöpfe hatten nicht mehr Geist im Leib als jene obszönen Frauenstatuen, die für manche Männer so erregend sind.

Bei Gesprächen mit einigen dieser zweihundert Haremsfrauen merkte Marayd, daß es ihnen auch an Individualität mangelte … Seele und Geist, falls sie derlei besessen haben sollten, waren ihnen durch Vernachlässigung verkümmert. Dagegen hatten selbst die Insassen des Staatsgefängnisses von Daizur sich zumeist ihren wachen Verstand und ihre glühende Hoffnung auf Freiheit bewahrt.

Marayd fragte sich, wofür diese Frauen da lebten. Aber eigentlich lebten sie ja gar nicht, sondern existierten nur … Was mußte das für ein Mann sein, der solche Geschöpfe erregend fand? Jeder, der sich einen Harem als einen Ort der Freude und Sinnlichkeit denkt, sollte einmal mit eigenen Augen einen sehen! Man übergab Marayd nun einer barschen Matrone, einer ExFavoritin Gambreols, deren Reize längst verblaßt waren - und die verordnete ihr erst einmal ein Bad.  

So saß Marayd denn in ihrer großen Wanne aus geädertem schwarzem Marmor und wusch sich in dem nach Moschus duftenden warmen Wasser, und eine Zofe schöpfte ihr ab und an aus einem riesigen Kessel heißes Wasser nach.

Da trat eine schöne, wenn auch affektierte, mit Edelsteinen reich geschmückte und in prachtvolle Gewänder in verschiedenen Rottönen gehüllte Brünette ein und musterte die Neue gründlich. Marayd war diese Inspektion kaum weniger lästig und widerlich als jene durch Gambreol.

Nun fragte die Dame in herrischem Ton: »Weißt du, wer ich bin?«

»Sollte ich das?«

»Ich bin Lady Baytilis, die Hauptfrau des Königs und Mutter des Kronprinzen«, sagte die Brünette süffisant lächelnd. »Du glaubst vermutlich, du könntest ihn dir dank deiner Jugend, Schönheit und Jungfräulichkeit gefügig machen. Aber ich werde dir schon zeigen, daß hier nur eine Frau Einfluß auf ihn hat … und die bin ich!«

Marayd seufzte. »Er gehört ganz dir. Ich bin bloß eine Gefangene und will rein gar nichts von … Seiner Majestät.« »Das sagen viele Neulinge. Aber das Haremsleben bricht den Willen jeder Frau. Bald schon wirst auch du wie all die anderen sein und unterwürfig um ihn herumscharwenzeln und um seine Gunst buhlen«, erwiderte Lady Baytilis. »Aber wisse, törichte Jungfrau … Seine Majestät ist der Herr, und ich bin die Herrin dieses Harems. Mein Wort ist für dich Gesetz.

Wenn du das beherzigst, mir gehorchst, werden wir gut miteinander auskommen. So du aber versuchst, dich mir zu widersetzen, werde ich dich leiden lassen, wie du noch nie in deinem Leben gelitten hast. Hast du verstanden ?!«

Marayd mußte auflachen und rief: »Du anmaßendes und lächerliches Weib, du! Wirklich, du solltest dich einmal reden hören …«

Baytilis warf ihr einen stahlharten Blick zu und gab den Wächtern einen Wink. Und die ergriffen Marayd jäh an Armen und Beinen und warfen sie, trotz ihrer Schreie und aller Gegenwehr, kopfüber in den Kessel mit dem siedendheißen Wasser.

Eine Woche später waren Marayds Verbrühungen noch nicht verheilt. Sie war zu schwach, um sich zu rühren, aber dafür wenigstens auch nicht in der Verfassung, von Gambreol belästigt zu werden. Er war auch damit beschäftigt, die anderen Neuerwerbungen zu deflorieren - ganz zu schweigen davon, daß er sich mit allen Lieblingsfrauen und Lieblingskonkubinen wieder vertraut machen mußte.

So war Marayd noch sicher vor ihm - leider aber auch außerstande, sich das Material für ihre Fluchtmaschine zu besorgen. Bliebe ihr dazu noch die Zeit, sobald sie erst hinreichend genesen wäre? Er könnte sie ja dann jeden Augenblick zu sich rufen lassen -außer natürlich während ihrer Menstruation. In diesen Rekonvales-zenztagen wurde sie von einer jungen Konkubine namens Verit gepflegt, einer rehäugigen Blondine, die kaum ihren Kinderschuhen entwachsen war, ein auffallend zartes Gesicht hatte und - wie ihr selbstverständlich dünnes Seidengewand ahnen ließ - schon sanfte Rundungen aufwies. Sie sprach in leisem, singendem Tonfall und mit einem Akzent, den Marayd nicht so recht einordnen konnte.

Sie verhielt sich gegenüber Baytilis und anderen Frauen höheren Rangs, also praktisch gegenüber allen hier, sehr unterwürfig und diente, wie die meisten Konkubinen, den Favoritinnen als Zofe. In ihrer doppelten Knechtschaft, als Sklavin von Sklavinnen, war sie auf der untersten Stufe dieser perversen Miniaturgesellschaft. Und doch … Marayd spürte, als ihre Schmerzen etwas nachgelassen hatten, daß Verit nicht so wesenlos war wie all die anderen Frauen im Harem. Die Kleine hatte etwas Besonderes an sich … aber was es war, hätte Marayd nicht sagen können. Sie nahm sich aber vor, das herauszufinden, und fragte daher, als Verit ihr eines Tages wieder den Verband wechselte: »Sag, wie alt bist du ?« »Fünfzehn.«

»Und wie lange bist du schon hier?«

»Seit meinem zwölften Lebensjahr. Ich bin im Harem des Königs Zai geboren und aufgewachsen und kam als Teil des Einsatzes, den er bei einer Turnierwette an Gambreol verloren hatte, hierher.« »Hast du jemals außerhalb eines Harems gelebt?« »Nein. Was ich von der Welt gesehen habe, das habe ich bei der zehntägigen Reise hierher durchs Fenster meiner Sänfte gesehen«, versetzte Verit mit nun träumerischen Augen. »Aber ich weiß, wie es draußen in der Welt zugeht … Und zwar von den Neulingen, die nicht im Harem großgeworden sind.« »Von Frauen wie mir?«

Die Kleine nickte. »Das ist auch einer der Gründe, warum ich dich pflegen wollte. Sonst diene ich Lady Baytilis. Aber sie hat ein Dutzend Zofen, und selbst sie kann uns nicht die ganze Zeit über beschäftigen. «

»Ich bin dir sehr dankbar und revanchiere mich gern mit Berichten über das, was ich von der Welt gesehen habe. Aber du hast gesagt, das sei nur einer der Beweggründe gewesen …«

»Ja, auch weil … wie soll ich das sagen? Du bist anders als die anderen, weit geistvoller als die gut dreißig Neulinge, die ich in den vergangenen drei Jahren kennengelernt habe.«

»Ich hatte auch bei dir gleich so ein Gefühl… Du bist nicht wie die anderen Haremsfrauen«, sagte Marayd.

»Ich kann lesen und schreiben«, flüsterte Verit ihr ins Ohr.

Marayd blinzelte ungläubig und erwiderte: »Aber das ist hier doch verboten, soweit ich weiß.«

»Ich habe es im Harem von König Zai gelernt. Da war es zwar auch untersagt, aber ein Eunuch, mit dem ich mich anfreundete, hat es mir heimlich beigebracht. Er gab mir auch einige Bücher.« »Hast du welche hier?«

Verit schüttelte den Kopf. »Dafür wird hier alles immer zu genau durchsucht. Ich kenne zwar Verstecke für meine kleinen Schätze, wie Edelsteine und Münzen, aber so sperrige Dinge wie Bücher, die würden schnell entdeckt! Hast du schon viele Bücher gelesen?«

»Nein, ich kann nicht lesen. Ich hatte zwar oft Gelegenheit, es zu lernen, habe sie aber nicht genutzt. Und du, du hattest kaum eine Chance dazu … hast sie aber wahrgenommen!«

Verit war freundlich und sehr aufmerksam zu Marayd und zeigte ein Interesse, das über die bloße Sorge um eine verletzte Fremde weit hinausging. Sie wollte sich mit dieser Neuen offenbar anfreunden. Und Marayd brauchte jemanden, der sich im Harem gut auskannte und ihr vielleicht - wenn sie selbst dazu nicht in der Lage war - das benötigte Material beschaffen könnte. Natürlich platzte sie mit ihrem Wunsch nicht einfach heraus. Denn jede ihrer Mitgefangenen würde sie entweder verraten oder mit ihr fliehen wollen - und sie dann doch noch verraten, sobald sie ihr die Unmöglichkeit einer gemeinsamen Flucht offenbart hätte.

Als Marayd einigermaßen genesen war, zog sie bei Verit ein und erzählte ihr immer wieder stundenlang von ihren Abenteuern und denen anderer Leute. Verit lauschte immer unbewegten Gesichts. 

Aber Marayd hätte schwören können, daß sie sich nach jener Welt sehnte, die diese Geschichten schilderten. Und bei einer dieser Gelegenheiten fragte Marayd unvermittelt: »Hör mal, was würdest du machen, wenn du frei wärest?« »Alles«, erwiderte Verit seufzend.  

»Und was im besonderen?«

»Ich würde alles lernen, was ich lernen kann, alle Bücher lesen, die ich auftreiben könnte, und zu jeder Vorlesung gehen. Sobald ich genug wüßte, würde ich andere unterrichten.« »Du würdest also eine Gelehrte werden?«

»Ja, aber ich würde nicht nur andere Studierte etwas lehren. Ich würde versuchen, allen Menschen Wissen und Weisheit zu bringen, vor allem denen, die sie am meisten brauchen …«, sagte Verit und schloß nach kurzem Zögern: »Ich möchte in Würde und Ehre leben, wie ein menschliches Wesen. Nicht so wie hier!«

»Wie kommt es, daß solch ein kluger Kopf wie du an einem Ort wie diesem …«, fragte Marayd.

»Das ist eben so passiert. Meine Mutter, die übrigens auch Verit hieß …«, erwiderte die Kleine, und ihr Blick verschleierte sich, »… war genauso. Sie lebte in den westlichen Bergen und gehörte zu einer Gruppe von angeblich Gesetzlosen. Aber das waren wohl nur Nomaden, die niemandem wirklich etwas zuleide taten. Man hat sie alle getötet oder gefangengenommen. Sie selbst brachte man zu König Zai, der mit ihr dann mich zeugte. Sie hat ihren Kerker … gehaßt und immer wieder zu fliehen versucht, wurde aber jedesmal gefaßt und hart bestraft. Als ich sechs Jahre alt war, hätte sie es fast geschafft, die Mauer zu übersteigen … aber sie hatte ja mich auf dem Rücken! König Zai meinte, nun sei es genug, und ließ sie zu Tode foltern. Vor meinen Augen.« Verit brach in Tränen aus. Und Marayd umarmte und tröstete sie, dachte dabei aber unentwegt nach … Ja, Verit war genau die Art von Komplizin, die sie brauchte.

So fragte sie, als Verits Tränen zu versiegen begannen: »Würdest du mir … einen Gefallen tun, wenn ich dich darum bäte? Und auch Stillschweigen darüber bewahren?« »Wieso? Ja, sicher. Ich schwöre es!«

Marayd spürte in Verits Antwort kein Zögern, nicht den kleinsten Vorbehalt. Diese Kleine war ihr offenbar eine ergebene Freundin geworden.

»Ich muß ganz sicher sein können, daß du niemandem davon erzählen wirst«, sagte sie dennoch.

Verit überlegte kurz und erwiderte sodann: »Diese Sicherheit kann ich dir geben, indem ich dir mein Geheimnis anvertraue. Dann hast du mich in der Hand und könntest mich auch anzeigen! «

»Das würde ich nie … aber sprich, wenn du dein Herz ausschütten willst.«

»Der König hat mich zweimal mißbraucht«, flüsterte da Verit.  

»Und beim zweiten Mal geschwängert… Aber ich habe das Kind mit einem Stück Draht abgetrieben.« »Warum denn?«

»Wenn es eine Sie gewesen wäre, hätte sie, so wie ich, ihr ganzes Leben als Sklavin zubringen müssen und niemals erfahren, was es heißt, frei zu sein … Sie hätte, im Gegensatz zu mir, vielleicht noch nicht einmal davon geträumt.« »Und wenn es ein Junge gewesen wäre?«

»Dann wäre er schon bei der Geburt zum Tod verurteilt gewesen. 

In dieser Dynastie pflegt ein Kronprinz bei der Thronbesteigung alle seine Brüder und Halbbrüder umbringen zu lassen, damit sie ihm ja nicht die Herrschaft streitig machen können … Aber Gambreol will Kinder haben, möglichst viele! Sogar Töchter … um sie, wenn sie alt genug sind, zu schänden und wie normale Konkubinen zu halten. Er betrachtet Kinder, gleich welchen Geschlechts, als die Beweise seiner Männlichkeit und führt sie wichtigen Besuchern vor. Darum ließ er jede seiner Frauen oder Konkubinen, die einer Abtreibung überführt wurde, hinrichten, ja, ich habe das selbst mit ansehen müssen.« »Ich wußte nicht, daß es hier noch andere tapfere Frauen gibt.« »Die, die das machte, war nicht tapfer, sondern verzweifelt. Ihre Gesundheit war schon so angegriffen, daß der Hofarzt sagte, eine weitere Geburt würde sie nicht überstehen. Sie hat versucht, ihr Leben zu retten … und es verloren.«

»Höre, ich könnte dafür sorgen, daß du nie mehr in solche Gefahr kommst.«

»Wie?«

»Ich bin etwas in Magie bewandert und kenne einen Zauber, der uns beiden hilft. Hast du Zugang zum Arzneischrank?«

»Ja. Lady Baytilis schickt mich ständig, ihr irgendein Tränklein oder Pülverchen zu holen. Und die Salbe und die Binden für deine Verbrühungen mußte ich mir auch daraus nehmen.« »Ich brauche drei seltene Kräuter, zwölf Metallstangen und einen Saphir oder Rubin.«

»Gingen auch Gardinenstangen ?« fragte Verit mit einem Blick auf die Fenstervorhänge.

»Ich denke, ja. Hast du auch solche Edelsteine?«

»Nur Imitationen, aber ich könnte immer noch … Marayd, was genau soll dieser Zauber bewirken?«

Marayd lachte verschwörerisch. »Daß Gambreol keine von uns beiden in seine Schlafkammer ruft. Kannst du dir denken, wie?«  

»Nein.«

»Durch eine nicht enden wollende Menstruation!«

Verit klatschte in die Hände und lachte. »Oh, wie raffiniert!«

»Möchtest du das?«

»Da fragst du noch? Marayd, nichts lieber als das, damit ich nie wieder Gambreols feuchte Hände auf mir spüren muß.«

In den nächsten drei Tagen besorgte Verit die drei Kräuter - ohne allzu große Schwierigkeiten, wie es Marayd schien. Mag sein, daß sie dazu auch andere ins Vertrauen ziehen mußte, aber wenn, dann blieb das jedenfalls ohne Folgen.

Auch die sechs Bronzestangen fanden sich schnell - in Gestalt der Beine zweier alter, bereits wackliger bronzener Kohlebecken, die sie in einer Rumpelkammer entdeckten und im Handumdrehen zerlegen konnten. Marayd ließ irgendwo auch eine Rolle dünnen Eisendrahts mitgehen, der ihr zur Verbindung der Rahmenteile geeignet schien.

Die Stahlstangen zu besorgen, erwies sich als etwas schwieriger. Die mußten zwei Klafter lang sein - aber das Längste, was sich in der Abstellkammer fand, waren stählerne Vorhangstangen, die etwas mehr als einen Klafter maßen. Daher begannen sie, so unauffällig wie möglich die langen Fenstervorhänge im Haus nach Geeigneterem abzusuchen. Aber ihr Treiben blieb auf die Dauer natürlich nicht unbemerkt, und als man sie fragte, was sie da eigentlich machten, redeten sie sich mit irgendwelchen Geschichten heraus; am besten gelang ihnen das mit der Behauptung, sie suchten einen aus einem Käfig entflohenen Vogel… Die Wächter trauten ihnen wohl nichts Schlimmeres zu als exzentrisches Verhalten, und die Haremsfrauen waren zu beschränkt oder apathisch, um sich überhaupt Gedanken zu machen und Argwohn zu schöpfen. Marayd und Verit warteten nur ab, bis sie wieder allein waren, und tauschten dann rasch die langen Gardinenstangen gegen ihre Ersatzkonstruktionen aus, die aus zwei miteinander verbundenen kurzen Stangen bestanden.

Endlich hatte Marayd bis auf ein Teil alles zusammen. Als Atelier zum Bau des Gerätes wählte sie einen begehbaren Wäscheschrank; er wurde nie abgeschlossen, konnte jedoch von innen, mit einem unter die Klinke gestellten Stuhl, versperrt werden. Es lagen da Stapel nur selten gebrauchten Linnens, unter denen sie ihre Stangen erst einmal verstecken konnte. Von diesem Schrankraum waren es weniger als fünfzig Klafter bis zur Außenmauer des Palasts - und zu einem alten, nicht mehr benutzten Lagerhaus, das Marayd bei der Ankunft aufgefallen war.

Alles schien glatt zu gehen … bis die Wächter eines Tages alle Frauen in den Haremshof beorderten, auf daß sie einer Bestrafung beiwohnten. Als Marayd den großen Hof betrat, sah sie da zu ihrem Entsetzen Verit nackt an einen Pfahl gekettet stehen. Nun trat Lady Baytilis vor die versammelten Frauen und rief: »Ihr seid hier, um die strafende Gerechtigkeit am Werk zu sehen. Diese Konkubine, Verit, hat mir einen Rubinohrring gestohlen. Man fand ihn bei ihr, als man sie durchsuchte… und sie hat die Tat auch gestanden. Seht also, wie wir mit Dieben verfahren!« Auf ihr Zeichen nahm einer der Wächter seine neunschwänzige Katze und begann Verit auszupeitschen. Die Arme schrie mitleiderregend. Marayd wandte den Blick von ihr ab.  

Noch niemals zuvor hatte sie solche Pein und solche Wut in sich gefühlt, nein, selbst damals nicht, als Gambreol sie begrabscht und begafft hatte.

Jetzt war es an Marayd, die verletzte Freundin gesund zu pflegen. Verits Wunden waren fürchterlich. Aber Marayd wusch und verband sie mit zarter Hand.

Tags darauf war Verit wenigstens wieder zum Sprechen fähig. »Ich habe mich so bemüht, dir zu helfen, Marayd«, sagte sie, »und …«

Marayd fuhr ihr sanft übers Haar. »Das weiß ich! Oh, ich wollte, ich hätte an deiner Statt leiden müssen. Meine arme Verit! Aber ich werde diese Furie töten!«

»Nein, Marayd! Das haben schon andere versucht. Dafür wird sie zu schwer bewacht. Außerdem… Marayd, ist die Tür gut geschlossen?« »Ja, warum?«

»Stell bitte einen Stuhl unter die Klinke.«

Marayd tat ihr den Gefallen. »Und jetzt?«

Da wies Verit auf den Fußboden. »Siehst du die lose Fliese da?«

Marayd kniete nieder und entfernte sie mit fliegenden Händen.

Und in der freigelegten Höhlung sah sie auf einem Fetzen Seide einen glutroten Edelstein funkeln.

»Ist das … ?« fragte sie schwer atmend.

»Ja, das ist der Rubin aus Baytilis’ Ohrring! Ich habe ihn durch einen meiner Simili ersetzt. Die Wächter ertappten mich, als ich den Ring zurücklegen wollte. Die Lady hat den Betrug noch nicht bemerkt, weil sie mehr Einbildung als Verstand hat. Aber früher oder später muß es ihr auffallen. Wir sollten also mit dem Zauber nicht länger warten.«

Jetzt hätte Marayd eigentlich ihre Flucht ins Werk setzen können.  

Aber sie zögerte, denn ihre Gefühle spielten ihr einen Streich: Der Gedanke, Verit in diesem Kerker zurücklassen zu müssen, war ihr plötzlich unerträglich.

Und da ging ihr auf, daß sie den kleinen Blondschopf von Herzen liebte, mehr als sie je zuvor einen Menschen geliebt hatte, mehr sogar als ihre Blutsverwandten. In ihr hatte sie hier, wo sie nur mit Falschheit und mit Trug gerechnet hatte, eine treue Gefährtin gefunden. Verit hatte aus Freundschaft zu ihr die Schmach und die Pein einer öffentlichen Auspeitschung auf sich genommen und mehr um ihretwillen gelitten als je ein Mensch zuvor. Wie hatte sie ihr das gelohnt? Sie hatte sie belogen und getäuscht.

Hatte behauptet, sie könnte sie vor Gambreols gemeinen Gelüsten schützen. Ja, und Verit war aufgrund ihres falschen Versprechens große Risiken eingegangen und dann grausam mißhandelt worden.

Marayd machte sich die bittersten Vorwürfe. Wenn ich doch geahnt hätte, daß ich sie so in mein Herz schließen würde … aber nein, das konnte ich nicht voraussehen. Und ich konnte nicht ahnen, wie schwer es mir fallen würde, sie hier zurückzulassen! Aber was könnte Verit nicht für ein wunderbares Leben führen, in der Welt dort draußen! Mit ihrer Klugheit und Einfühlsamkeit wäre sie für jeden in ihrer Umgebung ein Gewinn und eine Freude.

Ja, Verit könnte die Schule besuchen, die ihre einstige Lehrerin Meteris und andere führende Köpfe in Daizur vor kurzem gegründet hatten. Man nahm da auch viele junge Leute auf, die zu arm waren, um Schulgeld zu bezahlen. Das einzige, was sie mitbringen mußten, war der Wille zu lernen. Und eine bessere Schülerin als Verit… würden sie wohl nie bekommen! Mit der richtigen Ausbildung könnte sie eine Leuchte der Aufklärung werden und sogar helfen, die Lage der Frauen zu verbessern, so daß so schändliche Einrichtungen wie diese Harems für immer abgeschafft würden.  

Aber sie konnte sie nicht mitnehmen. Daher würde Verit ihr Leben innerhalb dieser Basaltmauern verbringen müssen - dazu verdammt, die Welt draußen nur aus Erzählungen zu kennen, von der Freiheit nur träumen zu können, sie aber niemals kennenzulernen. 

Ihr Geist würde verkümmern; vielleicht würde sie, wie die übrigen Frauen in diesem Harem, es gänzlich aufgeben, denken zu wollen. 

Irgendwann würde sie erneut schwanger werden und, so wie sie nun einmal war, auch dieses Kind abtreiben. Aber dann würde sie vielleicht nicht mehr so davonkommen.

Eine Woche später stellte Marayd erfreut fest, daß Verits Wunden schon gut verheilt waren. »Ich hätte ja nicht gedacht, daß du so rasch genesen würdest!« meinte sie.

»Ich gebe mir die größte Mühe!« sagte Verit. »Nein … das liegt daran, daß ich jetzt eine Freundin habe.«

Gerührt umarmten sie einander, und Marayd war so von ihrer Liebe zu Verit und auch ihrem Zorn auf sich selbst überwältigt, daß sie weinen mußte.

Da klopfte es, und ein Wächter trat ein und schnauzte: »Marayd, du hast sofort im Bad zu erscheinen.«

»Wieso?«

»Seine Majestät wünscht dich heute abend zu empfangen. Mach dich also bereit.«

Damit ging er; und Marayd und Verit sahen einander bestürzt an. 

Schließlich murmelte Verit: »Nun ist es soweit. Marayd, du kannst es nicht mehr aufschieben. Du mußt den Zauber jetzt vollziehen!« 

Da ließ Marayd sich auf einen Stuhl fallen und dachte minutenlang angestrengt nach. Und mit einmal war ihr klar, was sie tun würde - was sie tun mußte.

Sie erhob sich entschlossen, entfernte die lose Fliese, nahm den Rubin und steckte ihn ein, holte die drei Beutel mit Kräutern und die Drahtspule aus ihrem Versteck, kramte auch eine Lampe hervor und ein Fläschchen mit jenem Betäubungsmittel, mit dem sie Verit über den schlimmsten Wundschmerz hinweggeholfen hatte, und griff sich zu guter Letzt noch das Reisegewand, das sie bei der Ankunft im Harem getragen hatte. »Komm«, sagte sie dann zu Verit, »gehen wir zum Wäscheschrank.«

Unterwegs machte Marayd sich an einem bodenlangen, zweigeteilten Store zu schaffen, bei dem sie kürzlich die Stangen ausgetauscht hatte. Dieses Mal riß sie die zwei Kordeln ab, rollte sie sauber auf und steckte sie ein.

Als Verit die Schranktür hinter sich zugezogen hatte, stellte sie zur Vorsicht gleich wieder den Stuhl unter die Klinke. Und Marayd begann im schwachen Schein ihrer Lampe, aus den zwölf Stangen ein käfigartiges Gestell aufzubauen. Als es fertig war, bestreute sie den Boden darunter mit den getrockneten, zerriebenen Kräutern und befestigte den Rubin am höchsten Punkt innerhalb des Geräts.

Dann hielt sie Verit das Reisegewand hin und sagte: »Da, zieh das an.«

»Warum das?«

»Für Erklärungen habe ich jetzt keine Zeit. Tu es einfach.« Und Marayd rezitierte den Zauberspruch. Plötzlich hielt sie inne und sagte: »Verit, komm her.« Und dann umarmte sie ihre Freundin und flüsterte: »Oh, ich liebe dich.« »Ich dich auch, Marayd.«

»Ich liebe dich so sehr, daß ich dir die Freiheit geben werde.«  

»Waaas?«

»Ich habe dich belogen, Verit. Dieses Zaubergerät bewirkt eine Teleportation … aus dem Palast hinaus und hin zu einem leeren Lagerschuppen. Aber es kann nur eine Person versetzen. Und die wollte ich sein. Ich habe deine Hilfsbereitschaft ausgenutzt. Ich muß es wieder gutmachen, und dazu gibt es nur eine Möglichkeit. «

Verit starrte zuerst das Gerät und dann Marayd an. »Aber … das ist unmöglich!«

»Nein, das muß sein. Du wirst endlich in der Welt draußen leben können, in Freiheit und Würde.«

»Aber selbst wenn du die Wahrheit sagst … ich kann doch nicht ohne dich gehen!«

»Du kannst und du mußt!« versetzte Marayd und ergriff ihre Hand. »Verit, ich bin nur eine Kriegerin wie viele andere. Ich lebe vom Töten, vom Kriegführen. Ich bin Teil des Kreislaufs von Tod und Zerstörung. Aber du bist anders. Du kannst etwas lernen und dein Wissen zu Nutz und Frommen deiner Mitmenschen gebrauchen. Ja, du kannst die Welt zum Besseren wenden. Sie braucht Menschen mit Herz und Verstand, Menschen wie dich!« »Aber ich, ich brauche dich! Du kannst doch nicht hierbleiben und dich von Gambreol vergewaltigen lassen!«

Marayd schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht. Da denke ich wie einige andere … für meine Freiheit und Ehre ist mir kein Preis zu hoch.«

Verit zuckte zusammen. »Nein! Ich kann es nicht zulassen, daß du dein Leben wegwirfst!«

Da faßte Marayd sie am Kinn und sah ihr in die Augen. »Dann lebe du, auf daß mein Tod nicht sinnlos sei. Bringe der Welt Frieden, so wie ich und meinesgleichen ihr Krieg gebracht haben … Bringe ihr Wissen, Weisheit und Wärme. Trage Sorge, daß die Frauen nicht länger so von Männern mißbraucht werden, wie wir es wurden, und daß sie nicht zu der Entscheidung gezwungen werden, die ich jetzt getroffen habe.«

»Marayd, ohne dich könnte ich draußen nicht überleben. Ich wüßte nicht, wie ich das anstellen sollte.«

Aber Marayd kehrte ihr den Rücken zu, öffnete das Fläschchen und träufelte etwas vom dem Betäubungsmittel auf eine Serviette, die sie von einem Wäschestapel genommen hatte. »Du wirst es lernen«, sagte sie dann. »Mach dich auf in mein Land, geh zur Neuen Schule von Daizur und frage nach der Lehrerin und Zauberin Meteris. Sage ihr, Marayd die Rote schickt dich. Ich verspreche dir, man wird dich aufnehmen …«

»Aber ich kann ohne dich nicht leben. Oh, ich liebe dich, Marayd, ich …«

Da warf Marayd sich jäh auf Verit, drehte ihr beide Arme auf den Rücken und preßte ihr das mit dem Narkotikum getränkte Linnen auf Mund und Nase. Die Kleine wehrte sich erbittert, erschlaffte dann aber im Nu und wurde ohnmächtig.

Marayd schleifte und schob ihre bewußtlose Freundin hastig in ihr Zaubergerät, küßte sie zärtlich und sprach die Formel zu Ende. 

Plötzlich erglühten die Stangen, und ein bernsteingelbes Leuchten umgab sie, das heller und heller wurde, sich bis in jeden Winkel des Schrankraums ausdehnte und Marayd in seine Wärme hüllte. Ein Energiewirbel umtanzte den Apparat, und der Rubin lohte, als ob er brenne. Aber mit einmal war das Leuchten verschwunden. Und Verit auch. Da seufzte Marayd und lächelte. Ihre Verit würde in wenigen Minuten aus ihrer kleinen Narkose erwachen. An einem anderen Ort und zu einem neuen Leben. Nach ihr aber würden bald die Wächter suchen. Ruhig zerlegte sie das Gestell. Die Stahlstäbe drahtete sie zu einem Bündel, das sie dicht unter der Schrankdecke wie eine Querstange anbrachte - mit dem jeweiligen obersten Bord der Seitenwände als Auflage. Sodann entrollte sie die zwei Vorhangschnüre, knotete sie aneinander und knüpfte das eine Ende zu einer Schlinge. Das andere Ende warf sie über die Querstange. 

Und dann trat sie ihre Flucht an.