GARY W. HERRING

 

Gary Herring hält, wie ich, die Verherrlichung von Katzen als gute Hausgeister der Autoren für überzogen. So gebe sich seine Katze Cuss viel Mühe, ihn vom Schreiben abzuhalten, »weil sie in meinem PC ihren Rivalen um meine Gunst und Aufmerksamkeit sieht«.

Ich habe keine Katzen mehr, seit meine Kinder aus dem Haus sind. Denn Kristoph nahm Mozart mit, Kat nahm Pywacket und lsabel (die wir wegen ihrer seltsamen Zeichnung »Schottenmieze« nannten), und Beth entführte mir Patches, so daß mir nur Victoria Regina blieb, gegen die, weil sie ein Plüschtier ist, Lisa aber gottlob nicht allergisch ist. Da ich seit dem vierten Lebensjahr Katzen gehabt hatte, kommt mir mein Haus jetzt, so ohne sie, leer vor. Aber ich hatte mir nach Solanges Tod geschworen, mein Herz ja nie mehr an eine Katze zu hängen. Warum und wie ich mir aber dann doch wieder welche zulegte, die oben Genannten nämlich, das weiß ich wirklich nicht, jedenfalls hatte ich immer größte Mühe, Mozart von meiner Tastatur fernzuhalten — denn Katzenhaare sind ja Gift für einen Computer. Das behauptet wenigstens meine Servicetechnikerin (aber sie war sehr lieb und hat mir binnen vier Jahren gut viermal mein Systemboard ausgetauscht).

»Die Große Beschützerin« ist die Fortsetzung von »Falkinnenberg«, einer Story, die ich im vorigen Band dieser Reihe veröffentlicht habe. Sie sehen also, daß ich mich nicht prinzipiell gegen Serien sperre. Aber ich meine eben, Amateurautoren sollten nicht dauernd von Serien faseln, sondern erst einmal lernen, eine zu schreiben. Wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann diesen Typus von Autor, der noch keine Silbe publiziert hat, aber ständig von den Serien schwadroniert, die er bald schreiben werde. Soll er doch seiner Mutter von seinem großen ungeschriebenen Werk erzählen, aber doch bitte nicht einer vielbeschäftigten Herausgeberin — es sei denn, sie bitte ihn, etwa bei einem Arbeitsessen, ausdrücklich darum … Aber ansonsten möge er sich das für seine liebe Mutter oder seine Kollegen im Dichterclub aufsparen, die ebenfalls noch keine Silbe veröffentlicht haben. – MZB.

 

GARY W. HERRING

 

 

Die Große Beschützerin

 

 

Sharik warf sich ihre Satteltaschen über die Schulter und pochte an die Tür der Schenke. Ein eiskalter Wind, der die Schneeflocken durch den Hof jagte, ließ die beiden an einem Pfosten neben dem Holzstapel angebundenen Pferde wiehern und stampfen. Sharik fror trotz ihres dicken, wollenen Umhangs so, daß sie erschauerte. Als sie nun noch hinter sich das Baby vor Kälte weinen hörte, fluchte sie leise und klopfte erneut, heftiger und ungeduldiger schon.

»Ich sehe kein Licht«, sagte Ressa zweifelnd, setzte dann ihren Reisesack ab und hüllte ihr Kind fester in ihren dünnen Umhang, um es gegen den Wind zu schützen. »Vielleicht ist das gar nicht das richtige Gasthaus.«

Sharik wies auf das Schild über der Tür, auf dem im Strahl ihrer Laterne trotz dieses dichten Schneegestöbers die Silhouette einer roten Falkin mit gebreiteten Schwingen zu erkennen war. »Das ist das Zeichen meines Ordens! Man sieht nur deshalb kein Licht, weil die Läden geschlossen sind. Die Schlafmützen sind wohl alle schon zu Bett gegangen«, sagte sie und fuhr, nach einem schnellen Blick zum nächtlichen Himmel, dann fort: »Von mir aus könnte das jetzt auch der Palast des Winterkönigs sein, solange er nur vier Wände und ein Dach hat!« Und damit begann sie, wieder gegen die Tür zu hämmern.

Wer immer da drin ist, ich zähle jetzt bis zehn, schwor sie sich stumm, und bei den Göttern, wenn die Tür bis dahin nicht offen ist, schlage ich sie ein!

Als Sharik bei »sieben« angelangt war, flog die Tür so jäh auf - daß ihre Faust beinahe im Gesicht eines hübschen Jungen von etwa fünfzehn Jahren gelandet wäre, der da plötzlich vor ihr auf der Schwelle stand. Der Junge duckte sich aber noch rechtzeitig und fluchte. »Was, zur Hölle, wollt ihr?« fragte er dann, schläfrig blinzelnd, aber ein Holzscheit schlagbereit haltend. Sharik schob ihn zornschnaubend beiseite und führte Ressa in die von Kerzen erhellte Gaststube und schnurstracks zu dem gemauerten Ofen an der hinteren Wand, in dem noch ein bedecktes Kohlenfeuer glomm.  

»Bring die Pferde in den Stall«, rief sie dann dem Jungen über die Schulter zu.

»Den Teufel werde ich«, knurrte der verdrießlich. »Ihr könnt doch nicht so einfach…«

Da ließ Sharik ihre Satteltaschen fallen, schüttelte ihren Umhang ab und drehte sich herrisch zu ihm um. Groß und schlank stand sie da, eine junge Frau von achtzehn Jahren, mit dichtem, rotem Haar und in der Uniform des Ordens der Roten Falkin. Rechts auf ihrem Steppwams leuchtete das Falkin-Emblem. Daß es auch auf dem Schild draußen prangte, hatte seinen Grund. Denn dieses Gasthaus gehörte den Falkinnen und diente ihnen als Kurierherberge zwischen ihrer Ordensburg in Atenawa und der recht abgelegenen kleinen Garnison Tarzy’s Forge, die den Tempel der Erntegöttin zu schützen hatte. Gut und schön, wenn es auch an anderen Reisenden, die hier unterwegs waren, etwas verdiente; doch die Angelegenheiten der Großen Kriegerin hatten in jedem Fall Vorrang. Der Junge sah sie verblüfft an, ließ seinen Blick zwischen ihrer Uniform und dem Schwert an ihrem Gürtel hin und her wandern. »Die Pferde in den Stall bringen«, murmelte er schließlich und nickte, nahm dann von dem Haken neben der Tür die Laterne und zündete sie an einer der Kerzen an, warf sich eine Jacke über und trat in den Winterwind hinaus.

Ressa hatte Dreyan, ihren kleinen Sohn, auf den Ofensims gebettet und wärmte ihm mit ihrem Atem die eisigen Füßchen und Händchen. Nun wischte sich Sharik den Schnee von ihren geflochtenen Haaren, blies ihre Laterne aus und stellte sie neben Ressas Reisesack ab, nahm einen Schürhaken und stocherte in der kohlenbedeckten Glut, bis daraus ein loderndes, knisterndes Feuer aufsprang. Zufrieden lächelnd legte sie das Schüreisen weg, setzte sich auf den Ofen und seufzte wohlig, als sie die Wärme durch ihre Kleidung dringen spürte.

»Bei den Göttern, das tut gut! Wenn das noch länger so gegangen wäre, wäre ich im Sattel festgefroren. Wie geht’s dem Kleinen ?«

Ressa hatte ihren Umhang abgelegt und war schon dabei, Dreyan zu stillen. »Sehr gut«, erwiderte sie, ohne aufzublicken. »Aber es war wohl auch höchste Zeit…«

Sharik musterte ihre Reisegefährtin, auf die nun der helle Schein des Feuers fiel. Ressa war sicher nicht älter als sie, eher noch etwas jünger, und wäre mit ihrem honigblonden Haar und mit ihren strahlendblauen Augen wohl eine Schönheit gewesen - wenn da nicht dieses dunkle, weinrote Muttermal gewesen wäre, das ihre ganze linke Gesichtshälfte bedeckte. Ressa hatte, seit sie einander am Nachmittag auf der Landstraße begegnet waren, ihren Kopf immer so gehalten, daß es nicht zu sehen gewesen war. Als sie nun auf ihr saugendes Kind hinabblickte, huschte ein sanftes Lächeln über ihr verunstaltetes Gesicht, das all ihre Traurigkeit wegwischte.  

Was für eine Verwandlung!

»Eine Zeitlang dachte ich schon, ich hätte mich verirrt …«, gab Sharik zu. »Ich bin ja auch noch nie hier gewesen.« Sie lauschte auf den Wind, der immer wilder heulte. Der Junge, der da draußen bei den Pferden war, tat ihr plötzlich schrecklich leid. »Was für ein Glück, daß wir das Haus gerade jetzt gefunden haben!« seufzte sie.

»Ja, eben noch rechtzeitig vor diesem Schneesturm«, war nun eine fremde weibliche Stimme zu vernehmen.

Als Sharik verdutzt aufblickte, sah sie eine stämmige Frau mit schon grauem Haar vor sich. Die Fremde, die ein schlichtes Kleid und dazu eine Küchenschürze mit großen Fettflecken trug, musterte lächelnd das Falkin-Emblem auf Shariks Wams und sagte dann in der Tempelsprache: »Sei gegrüßt, im Namen der Großen Beschützerin.«

Nun erhob Sharik sich und sprach die zweite Hälfte des rituellen Grußes: »Und sei du im Namen der Großen Rächerin gegrüßt.« 

Sodann fuhr sie im profanen Hjelmarik fort: »Ich bin Sharik von Eshan. Kavalleristin aus Atenawa.«

»Trin von Gliest«, erwiderte die ältere Frau und reichte ihr die Hand. »Willkommen im Falkinnenhorst! Ich bin die Wirtin … Womit hast du dir’s bei der Kommandeurin verscherzt, Reiterin Sharik?«  

»Häh? Wieso?«

Trin kicherte und wies mit dem Kopf auf Shariks Satteltaschen vor dem Ofen. »Du bist doch auf Kurierdienst«, konstatierte sie. »Zur Schwadron in Tarzy’s Forge, ja? Hring, diese alte Sau, verdonnert doch immer diejenigen Rekruten zum Winterkurierdienst, die sie am wenigsten mag. Was hast du denn Schreckliches verbrochen ?«

»Ich bin vor einigen Tagen zum Morgenappell zu spät gekommen …«, erwiderte Sharik düster lächelnd.

Trin fauchte vor gespieltem Mitgefühl, lachte dann herzhaft und wandte sich Ressa zu, die das Ganze stumm vom Ofen aus beobachtet hatte, und fragte: »Was führt denn dich und dein Kind in einer so lieblichen Nacht hierher, mein Fräulein?« »Mein … mein Mann ist vor zwei Monaten gestorben, Frau Wirtin«, antwortete Ressa und neigte den Kopf nach links, obwohl ja nichts darauf hindeutete, daß Trin ihr Muttermal bemerkt hätte. »Weil er keine Verwandten mehr hatte, kehre ich jetzt zu meiner Familie in Stalo’s Heath zurück.«

»Mein herzliches Beileid«, sagte Trin ernst und fuhr nach einer Weile, wieder lächelnd, fort: »Nenn mich Trin, bitte. Die Anrede >Frau< erinnert mich so an mein Alter. Und du, komm in die Küche, Reiterin Sharik! Ich habe einen Eintopf fertig. Da ihr heut nacht meine einzigen Gäste seid und das Gesinde schon im Bett ist, mußt du mir schon helfen, das Abendessen für euch aufzutragen.«

»Dieser Junge hat uns so lange vor der Tür warten lassen, daß ich schon dachte, wir würden da draußen noch eingeschneit«, bemerkte Sharik, als sie der Wirtin in die Küche folgte. »Typisch Emry!« sagte Trin und nickte. »Das ist unser Stalljunge. Ein guter Kerl … aber laß ihn sich vor ein warmes Feuer setzen, und er schläft im Handumdrehen ein!« Damit trat sie beiseite, um Sharik vorgehen zu lassen, und zog dann die Küchentür fest hinter ihnen beiden zu.

»Also«, fauchte sie nun, und ihre Jovialität war wie eine Maske von ihr abgefallen, »wer, zur Winterhölle, ist deine Freundin da draußen, Reiterin Sharik? Und wie bist du denn zu der gekommen?«

Trins Verwandlung von einer freundlichen Wirtin in eine barsche Offizierin war so schnell erfolgt, daß es Sharik erst einmal die Sprache verschlug. »Ich …«, stakste sie dann, »ich … habe sie erst heute nachmittag kennengelernt. Auf der Straße hierher. Und wer sie ist, das hast du ja von ihr selbst gehört.« »Der einzige Ort namens Stalo’s Heath«, schnaubte Trin, »von dem ich je gehört habe, ist ein Weiler droben im Norden… aber sie reist ja in entgegengesetzter Richtung. Als junge Witwe mit einem Neugeborenen könnte sie in jedem Tempel Aufnahme finden und, für ein wenig Mithilfe im Haushalt, bis zum Frühjahr bleiben, um dann weiterzureisen … Was, zum Teufel, macht sie dann mitten in einem Schneesturm auf der Landstraße?« Sharik spürte, daß ihr Gesicht wie Feuer brannte. »Sie hing fast ohnmächtig im Sattel, als ich auf sie stieß«, versetzte sie wie entschuldigend. »Ich sah auf den ersten Blick, daß sie eben erst aus dem Kindbett aufgestanden war, und konnte den gottverdammten Schneesturm schon förmlich riechen. Was hätte ich denn tun sollen … sie etwa auf der Straße dort erfrieren lassen? Was hättest du an meiner Stelle getan?«

Da warf Trin ihr einen grimmigen Blick zu und schüttelte dann den Kopf. »Ich hätte vermutlich genauso gehandelt«, gab sie zu. »Aber dann wäre es mir auch recht geschehen, wenn sie sich als Köder in irgendeiner Banditenfalle erwiesen hätte.« Stirnrunzelnd trat sie an ein Regal, nahm zwei Holznäpfe heraus und stellte sie auf den Tisch.

»Ich nehme sie hier auf, bis sie ohne Gefahr Weiterreisen kann«, fuhr sie fort. »Aber das geht auf deine Rechnung! Und wir sehen für alle Fälle zu, daß sie sich erst auf den Weg macht, wenn du schon weit weg bist.«

»Du würdest sie allein reisen lassen?« fragte Sharik kalt. »Mit so einem kleinen Kind?«

»Ich habe den Verdacht, daß sie daran gewöhnt ist. Für eine Frau im Kurierdienst liest du dir seltsame Weggefährtinnen auf«, sagte Trin und schöpfte von dem Eintopf, der in einem großen Kessel auf dem Herd köchelte, einige Kellen voll in eine Servierschüssel. Der Duft, der Sharik nun in die Nase stieg, war so wunderbar, daß ihr der Magen knurrte - und das so laut, daß sie Trins abschließende Bemerkung fast überhört hätte.

»Zudem«, sagte die ältere Falkin, »wovor sie auch davonlaufen mag … es wird sie bei diesem Wetter wohl kaum einholen.«

Zu dem dicken Eintopf aus Hammelfleisch und Zwiebeln gab es noch Graubrot und Braunbier. Aber wie hungrig sie wirklich war, merkte Sharik erst beim Essen. Als sie gerade, zufrieden und satt, ihren Napf mit einem Stück Brot auswischte, kam Emry vom Stall zurück. Er stampfte sich den Schnee von den Stiefeln und meldete überaus höflich - inzwischen war er ja auch hellwach -, ihre Pferde seien gut untergebracht und für die Nacht bestens versorgt. Als er das erledigt hatte, ließ er sich in einen Sessel vor dem Ofen fallen und schlief im Handumdrehen wieder ein.

Sharik musterte ihn mit keckem Lächeln. Die warme Mahlzeit hatte ihre Stimmung doch sehr gehoben. Emry war offenbar auch gar nicht so jung, wie sie anfangs gedacht hatte, und er sah recht gut aus. Vielleicht …

Aber nein, o nein! Sie war im Dienst, und der endete erst mit der Ablieferung der Depeschen, die in ihren verdammten Satteltaschen staken. Wenn Trin das mitbekäme, und das würde sie sicher, würde sie es Hring melden, und dann wäre die Hölle los, müßte sie teuer dafür bezahlen … Also fand Sharik sich mit der Aussicht auf eine eisige Nacht ab und nahm sich zum Trost noch eine Portion von dem herrlichen Eintopf.

Jetzt setzte sich Trin lächelnd zu ihnen an den Tisch und begann, sie ein wenig darüber auszufragen, was sie auf der Landstraße so alles erlebt und gesehen hätten. Die Fragen waren in scherzhaftem Ton gestellt, richteten sich aber zumeist an Ressa. Sharik wußte gleich, daß sie Ressa auf die sanfte Tour auszuhorchen versuchte, und verfolgte fasziniert ihre Manöver … Obwohl Trins Auftritt in der Küche sie noch immer wurmte, konnte sie doch nicht um hin, ihr schauspielerisches Geschick zu bewundern. Statt einer Falkin mit einer Klinge als Rückgrat war sie nun wieder ganz jene gutmütige Wirtin, der nur an herzhaftem Essen, zufriedenen Gästen und ein klein wenig harmlosem Tratsch lag. Ein braungebrannter Alter, der so hart wie Stahl wirkte und von Trin als der Pferdeknecht vorgestellt wurde, kam herein, um die Fremden in Augenschein zu nehmen, und weckte gleich noch seinen schlummern-den Lehrling mit einem Tritt gegen das Schienbein. Als er wieder fort war, erschienen zwei Mägde - Zwillinge wohl -, um den kleinen Dreyan zu bestaunen und die eine oder andere Frage zu stellen. Als aber eine von ihnen Ressa ganz ungeniert anstarrte, räusperte sich Trin so drohend, daß sie alle beide erschrocken in ihre Schlafkammer zurück huschten. Ressa tat, als bemerkte sie die neugierigen Blicke nicht, redete nur, wenn sie angesprochen wurde, und antwortete auf alle Fragen entweder mit »Ja« oder »Nein« oder »Ich weiß nicht«. 

Als sie nun mit Dreyan, der zu weinen begonnen hatte, zum Ofen ging, um ihn trockenzulegen, gab Trin auf und begann, den Tisch abzuräumen. Auf einmal hielt sie jedoch inne und rief: »Wach auf, Emry!« Und als der Stalljunge, der gleich wieder eingenickt war, auffuhr und schuldbewußt um sich sah, sagte sie zu ihm: »Ich glaube, ich höre die Pferde… Geh und sieh nach, ob du die Stalltür richtig verriegelt hast.«

Der Junge erhob sich maulend, warf sich den Umhang über und nahm die Laterne vom Haken. Trin griff sich derweil den Geschirrstapel und sagte zu Sharik: »Ich stell das eben mal in den Ausguß, damit die Mädchen es in der Frühe gleich spülen können, und bin gleich wieder da, um euch eure Zimmer zu zeigen.« Sharik überlegte gerade, ob sie dem Stallburschen zur Hand gehen sollte, als der Wind die Läden so rattern ließ, daß sie sich doch lieber zu Ressa an den warmen Ofen stellte. Und als der Junge nun hinausging, kam durch die offene Tür eine so kalte Bö herein, daß sie sich zu ihrem weisen Entschluß beglück-wünschte. Da gähnte sie herzhaft und blickte Ressa neugierig über die Schulter. »Bäh!« raunzte sie und zog eine Grimasse. »Das vor allem verbinde ich mit Babys. Das und den Geruch.«

»Wenn es deines wäre, würde es dich nicht so stören«, versicherte Ressa ihr lächelnd.

»Oh, verschone mich damit, junge Frau«, versetzte Sharik lachend.  

»Ich habe meinen Teil davon schon als kleines Mädchen abbekommen. Ich mußte ja nicht nur auf mein Brüderchen aufpassen, wenn meine Mutter zu viel zu tun hatte, sondern auch jedesmal die Gören der Nachbarn hüten, die zu uns zu Besuch kamen. Nie wieder!«

»Hier«, sagte Ressa nur und hielt ihr Dreyan hin. »Halte ihn, bis ich das Zeug hier weggebracht habe.«

Sharik zögerte kurz und nahm den jungen dann. Aber es verging ein peinlicher Moment, ehe ihr wieder einfiel, wie man einen Säugling richtig hält. Dreyan strampelte und wand sich in ihren Armen und fuchtelte mit seinen Fäustchen nach ihr, schmiegte sich aber dann doch an sie, schloß die Äuglein und schlief ein. Und Sharik hielt ganz still, damit er bloß nicht wieder aufwachte und zu schreien anfinge.

Er sieht aus wie ein winziger Greis, dachte sie, so krebsrot und so runzlig.

»Vielleicht bekommst du ja selbst mal eines«, neckte Ressa sie.  

»Wohl kaum«, erwiderte Sharik, setzte dann jedoch hinzu: »Derlei kommt bei uns schon vor. Aber nicht eben oft. Man kann sich nach fünf Jahren aktivem Dienst zur Reserve versetzen lassen. Was du dann mit deiner Zeit anfängst, das ist deine Sache … solange du dich ans Gesetz hältst und den Orden unterrichtest, wo du denn im Bedarfsfall zu erreichen bist. Manche werden häuslich und gründen eine Familie.«

»Sind dir noch nie Zweifel gekommen?« fragte Ressa. »An so einem Leben als Falkin, meine ich.«

»Nein«, erwiderte Sharik rasch. Aber das war gelogen. Sie hatte sich mit derlei Zweifeln herumgeschlagen. Und der Anblick dieses schlafenden Kindes frischte einige davon wieder auf. Alle meine Freundinnen aus Kindertagen sind jetzt verheiratet, dachte sie, und, zum Teufel, die meisten von ihnen haben wahrscheinlich auch schon Kinder. Ich werde wohl nie ein eigenes in den Armen halten, so wie dieses jetzt.

Jetzt trat Trin, mit einer Laterne in der Hand und einem dicken, wollenen Umhang um die Schultern, aus der Küchentür, musterte mit zuckenden Mundwinkeln Sharik und Dreyan und sagte: »Ich bin bald zurück. Ich besorge nur noch etwas Feuerholz für unser Frühstück morgen.« »Soll ich dir helfen?« fragte Sharik.

»Nein, nein. Ich hole nur einen Armvoll rein, damit es über Nacht trocknen kann.« Trin bemühte sich, die Tür so schnell wie möglich hinter sich zu schließen, aber auch der kurze, eisige Luftschwall genügte, um Dreyan aufzuwecken. Er begann gleich zu wimmern, und so schmiegte Sharik ihn fester an sich, bis Ressa ihn ihr wieder abnahm, um sich mit ihm auf den Ofensims zu setzen und ihn sanft zu wiegen.

»Was meinst du, können wir morgen weiter?« fragte sie nach einer Weile.

Sharik zuckte die Achseln. »Das hängt vom Wetter ab. Vielleicht ist der Schnee morgen früh schon zu tief zum Reiten«, versetzte sie und fügte, Trins Verdacht eingedenk, dann hinzu: »Der Tempel der Erntegöttin in Tarzy’s Forge böte dir Obdach, und er wird von einer Schwadron Falkinnen beschützt.« Ressa wurde plötzlich ganz starr. 

Aber Sharik ließ nicht locker und fuhr fort: »Wenn du in irgendwelchen Schwierigkeiten steckst …« Da flog die Tür auf, und herein stürzte Emry, in einem Wirbel von Schnee. »Er hat sie geholt«, schrie er verstört. »Ein Dämon hat Trin in seiner Gewalt!«

Sharik sprang hoch, ganz Reflex und ohne Besinnen, und stand, das Schwert in der Hand, einen Sekundenbruchteil später schon draußen vor der Haustür. Ein Wind so schneidend wie eine Stahlklinge fiel über sie her, und das wilde Schneegestöber, das auch der aus der Gaststube fallende Lichtschein kaum durchdringen konnte, nahm ihr fast jede Sicht. Aber da, neben dem weißen Haufen von Holzstapel, war doch ein vager Lichtfleck - Trins Laterne! Vorsichtig stapfte sie nun darauf zu, und rutschte dennoch einmal in dem wadentiefen Schnee aus, der den Hof jetzt bedeckte.

»Halt!« übertönte eine Stimme das Heulen des Windes. Sharik blieb wie angewurzelt stehen und faßte ihr Schwert fester. Da trat ein Schemen hinter dem Holzstapel hervor und ins Licht der zu Boden gefallenen Laterne. Der Anblick, der sich Sharik jetzt bot, ließ sie tief Luft holen.

Denn vor ihr stand, splitternackt und strahlend lächelnd, mitten im kalten Schnee und Sturmgebraus der schönste Mann, den sie je erblickt hatte. Er war schlank und muskulös und hatte ein fein geschnittenes Gesicht und dunkelblondes Haar. Nun bückte er sich anmutig und hob die Laterne auf, und seine Augen schimmerten rot in ihrem Schein.

»Die Frau ist in meiner Gewalt«, sagte er mit tiefer, herrischer Stimme. »Bring mir das Kind … oder sie ist des Todes.« Als Sharik endlich begriff, was er gesagt hatte, leckte sie sich nervös die Lippen. »Welches Kind?« fragte sie dann ruhig, um ihre Überraschung und Verwirrung zu verbergen. Der Fremde grinste. 

»Ressas Kind«, erwiderte er. »Den Jungen der Frau mit dem gezeichneten Gesicht. Sag ihr, Haldan sei hier, und sie habe bis Sonnenaufgang Zeit, mir das Kind zu übergeben. Wenn sie sich weigert, bringe ich meine Geisel schön langsam um. Und jetzt geh!«

»Wie soll ich wissen, daß sie noch am Leben ist?« fragte Sharik.  

»Ich möchte sie sehen.« »Geh!!«

Sharik zitterte und knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. 

Er trug keine Waffe, soviel war sicher. Sie könnte sich hier und jetzt auf ihn stürzen. Aber der Schnee war so verdammt rutschig, und einer, der splitternackt im knietiefen Schnee stehen konnte, ohne sich den Tod zu holen, konnte womöglich noch mehr als das … Es war auch nicht zu erkennen, wo er Trin gefangenhielt und ob er wirklich allein war. Er war also klar im Vorteil. Und dann auch noch dieses verfluchte Lächeln!

Sie machte schweigend kehrt, um den Rückzug anzutreten, und sah sich erst an der Tür wieder um. Aber da war er verschwunden, samt der Laterne.

Als Sharik in die Gaststube zurückkehrte, fand sie dort, um Emry geschart, auch das übrige Gesinde vor. Der alte Pferdeknecht sah besorgt, aber auch zweifelnd drein. Und die Zwillinge standen mit angstgeweiteten Augen da - die eine weinte gar. Sie redeten alle zur gleichen Zeit und wild durcheinander. »Was war das?« »Was hast du gesehen?« »Lebt sie noch?«

Und Ressa, die Dreyan fest an sich drückte, stand stumm am Ofen und starrte Emry an, als ob er eine Viper sei. Da warf Sharik die Tür hinter sich zu und schrie: »Ruhe jetzt!« Und sie nutzte die nun eintretende Stille, um ihre Gedanken zu sammeln. »Trin lebt noch«, sagte sie dann, so überzeugend wie möglich. »Emry, erzähle mir, was da geschah!« Der verängstigte Junge schluckte hart und stotterte: »Ich … ich kam von euren Pferden zurück, nach denen ich noch geschaut hatte. Irgend etwas hatte sie so erschreckt, daß sie wie wild gegen die Boxen traten, aber ich habe sie beruhigen können. Ja, und da sah ich Frau Trin am Holzstapel stehen. Ich rief sie. Und sie sagte, komm und hilf mir mit dem Feuerholz.« Sein Gesicht verzerrte sich nun. »Da … stieg irgend etwas von hinten über den Holzstoß und packte sie.«

»Und du bist einfach weggelaufen?« fragte der Pferdeknecht böse.

»Trin wollte es«, verteidigte sich Emry. »Es stand dort im Schein der Laterne, so daß wir beide es gesehen haben. Zuerst war es auf allen vieren … aber als es sich aufrichtete, um Trin zu packen, sah es wie ein Mensch aus. Nur völlig behaart, mit einem Maul wie ein Wolf und mit glutroten Augen.«

Vom Ofen her erklang ein Keuchen. Ressa war weiß im Gesicht geworden, und ihr rotes Muttermal leuchtete wie frisches Blut.  

»Und, hat es gesprochen, Emry?« fragte Sharik, ohne Ressa aus den Augen zu lassen. »Hat es irgend etwas gesagt?« »Etwas gesagt?« wiederholte Emry verständnislos. »Es knurrte wohl eher.«

Sharik runzelte die Stirn - Emrys Bericht und ihre Beobachtungen ließen nur den einen Schluß zu … Sie trat auf Ressa zu, die wie angewurzelt dastand, und sagte nur ein Wort: »Haldan!«

86Damit hatte sie wohl ins Schwarze getroffen! Ressa sah gehetzt um sich, wie ein Hase in der Falle, und ließ sich, da sie nun keinen anderen Ausweg sah, vor Sharik auf die Knie fallen. »Im Namen der Großen Beschützerin«, flehte sie, »bitte ich um Schutz für meinen Sohn!«

Sharik spürte ein Stechen, Kribbeln in sich hochsteigen und tief in ihrem Bewußtsein etwas wachsen… etwas, was Ressa kühl wog und maß. Dann überwältigte der helle Zorn sie. Und sie riß Ressa am Handgelenk auf die Beine und führte sie schnurstracks in die Küche. »Wir möchten nicht gestört werden«, rief sie den anderen noch zu und schloß die Tür fest hinter sich.

Dann gebot sie Ressa, sich zu setzen, und fragte. »Ist dir denn klar, worum du mich da eben gebeten hast?«

»Ja doch«, erwiderte Ressa, den Blick unverwandt auf das Kind auf ihrem Schoß gerichtet. Aber Sharik war nicht überzeugt. Schutz zu geben, das war eine der ältesten Traditionen des Ordens der Roten Falkin. Ja, sie reichte bis in jene Zeit zurück, in der es diesen Orden noch gar nicht gegeben hatte und die Falkinnen nur in losen Gruppen umher-geschweift waren und aus diesem oder jenem Grund in den Tempeln, die den anderen Erscheinungsformen der Großen Herrin geweiht waren, Zuflucht gesucht hatten und zum Dank dafür zu den Waffen gegriffen hatten, um die Tempel gegen Banditen und anderes Gelichter zu vertei-digen. »Du hast mich gebeten, Dreyans Beschützerin zu werden …«, klärte sie Ressa auf. 

»Nicht nur vor dem, was immer da draußen sein mag, sondern auch vor jedem hier, der versuchen sollte, deinen Jungen auszuliefern.«

Als Ressa nickte, fuhr Sharik fort: »Du scheinst jedoch nicht zu wissen, daß dieser Schutz seinen Preis hat … die Wahrheit. Die Große Kriegerin bewahrt keinen vor dem Los, das er verdient. Ehe ich dir ihren Beistand zusagen kann, muß ich wissen, vor wem und warum du Schutz begehrst. Und glaube mir, die Kriegsherrin läßt es nicht zu, daß man ihre Dienerinnen belügt …« Das hatten ihr wenigstens ihre Lehrerinnen in der Ordensschule versichert - sie machte das zum ersten Mal. »Erzähle mir also von Haldan«, befahl sie. »Wer ist er, und warum will er deinen Sohn?«

Ressa zögerte, völlig ihrem Sohn zugewandt, ehe sie schließlich erwiderte: »Haldan war … er ist mein Mann und Dreyans Vater. 

Und er gehört zu den Tierleuten.«

»Ein Gestaltwandler … ?« Sharik starrte sie verblüfft an. Aber da fiel ihr ein, was Emry von diesen Wesen berichtet hatte. Es wäre also denkbar, wenn auch verdammt schwer zu glauben. Die Tierleute waren ein ganz eigenes Volk, das in den abgelegensten Wäldern und Gebirgen hauste.

Sie blieben gern unter sich, und all die übrigen Hjelmarker wußten von ihnen eigentlich nur eines gewiß … daß es sie gab. Man raunte, daß sie manchmal auch Menschen fräßen. Aber in der Ordensschule hatte man gesagt, das seien Ammenmärchen, und in Wirklichkeit seien das hungrige Wölfe und Bären gewesen. »Wie, zur Winterhölle, kamst du nun dazu, einen von denen zu heiraten?« fragte Sharik zweifelnd. »Ich wußte ja nicht, daß er zu denen gehörte«, antwortete Ressa. »Ich war Magd im Haus des Lords von Pard’s Ridge. Haldan war sein Förster. 

Der neue Förster … sein Vorgänger war von einem wilden Tier getötet worden, und Haldan bekam seine Stelle, weil er einen Wolf erlegte, der das, wie er behauptete, getan hatte. Wir haben uns dort kennengelernt … und er hat mir den Hof gemacht.«

Ressa verstummte und legte die Hand schützend über ihr Muttermal. Da mußte Sharik daran denken, was sie selbst beim Anblick dieses wild und prachtvoll aussehenden Haldan empfunden hatte, und sie fragte sich, was es für Ressa bedeutet haben mochte, daß einer wie er … sie auserkoren hatte.

»Wir haben dann geheiratet«, fuhr Ressa fort. »Ich war glücklich, obwohl er oft fort war, weil damals viele Schafe gerissen wurden und auch Hirten umkamen. Und Haldan kehrte dann immer mit einem erlegten Bären oder Wolf zurück, und er brachte auch Wilderer zur Strecke, aber ein, zwei Monate später fing dieses Töten immer von neuem an.

Ja, und kurz vor Dreyans Geburt hat Haldan mir schließlich alles gestanden … daß er den alten Förster und diese Hirten getötet habe.

Seine Leute hätten ihn verstoßen, weil er bloß so zum Spaß Menschen umgebracht habe. Und er habe mich geheiratet, um seinen eigenen Stamm gründen zu können. Er wolle nur eins, ein Kind, und dann mit mir fortziehen, wenn es entwöhnt wäre. Aber es kam noch schlimmer! Dreyan, sagte er, wäre vielleicht kein Gestaltwandler, sondern ein Mensch. Aber das ließe sich erst nach einigen Monaten sagen. Wenn er jedoch ein Mensch wäre, würde er ihn … ebenfalls umbringen«, schloß Ressa und sah auf ihren Sohn hinab.

Sharik starrte erschüttert den herzhaft gähnenden, mit der Faust nach seiner Mutter fuchtelnden Dreyan an. Bei den Göttern, dachte sie, von Übelkeit überkommen, seinen eigenen Sohn! »Dann bist du also geflohen?« bohrte sie weiter. »Und er ist dir gefolgt. Warum hast du ihn nicht einfach bei deinem Herrn angezeigt?«

Ressa lachte bitter. »Wer hätte mir denn geglaubt, daß ich erst da erfahren hatte, wer er wirklich ist? Ich war doch schon seit über einem Jahr mit ihm verheiratet!«

Als Ressa schwieg und sie mit brennenden Augen anblickte, lehnte Sharik sich an die Wand und wartete … auf ein Zeichen. Ressas Geschichte schien Hand und Fuß zu haben, aber etwas stimmte daran nicht. Gut, die Große Kriegerin war nicht mit Schwert und Rüstung und Donnerhall erschienen, um Ressa der Lüge zu bezichtigen, aber das Gefühl, daß jemand ihr über die Schulter blicke, war noch da, war sogar stärker geworden … Sie fühlte eine wachsende Gewißheit in sich, die sich in einen einzigen Satz fassen ließ: »Sie hat gelogen.«

Und noch ehe ihr bewußt wurde, daß sie laut gedacht hatte, schrak Ressa auf und beteuerte: »Falkin, ich habe die Wahrheit gesagt! «

Sharik musterte sie kühl und ohne sie einer Antwort zu würdigen, bis Ressa schließlich schuldbewußt den Kopf senkte. »Ich habe es von Anfang an gewußt«, flüsterte sie. »Haldan hat es mir vor unserer Heirat schon erzählt, weil er dachte, er könne es ohnehin vor mir nicht geheimhalten.«

»Warum hast du ihn dennoch genommen?« fragte Sharik unerbittlich und horchte mit einemmal dem Klang ihrer Stimme nach. Hatte darin nicht auch eine andere Stimme mitgeklungen?

Ressa fuhr mit den Fingern über ihr weinrotes Muttermal, das ihr halbes Gesicht bedeckte. Zornestränen schossen ihr in die Augen.  

»Was ging es denn mich an, was er den anderen antat?« fragte sie aufschluchzend. »Für die war ich doch immer nur ein Spaß für eine Nacht oder Zielscheibe ihres Spottes gewesen. Und ich wußte, was man sich über die Tierleute erzählte. Daß jeder Mensch nach ihrem Biß wie sie wird und daß sie einen makellosen Leib haben. Haldan war ohne körperlichen Makel. Und er schwor mir, mich nach Dreyans Geburt ebenso makellos zu machen.« Nun wandte sie den Kopf, nach links, wie immer, und fuhr mit stumpfer Stimme fort: 

»Ich habe ihm geglaubt… Erst später dann habe ich mich gefragt, wieso er denn ein Kind brauchte, um einen Stamm zu gründen, wenn er doch jeden Menschen in seinesgleichen verwandeln konnte.«

»Dann hast du ihn also verlassen, als dir klar wurde, daß er dich hintergehen wollte?« fragte Sharik in eisigem Ton. Aber Ressa sah auf und blickte ihr fest in die Augen.

»Ich verließ ihn, damit er meinen Sohn nicht töten konnte.« Da wußte Sharik, daß dies die Wahrheit war. Sinnend betrachtete sie Dreyan, der böse um sich sah. Wieviel an ihm war menschlich? Und wieviel von seinem Vater lauerte hinter diesen unschuldigen blauen Augen ? Aber darauf kam es nicht an. Dieser Junge war ohne Schuld, zumindest bis jetzt, und das Gelübde, das sie getan, war eindeutig.

»Im Namen der Großen Beschützerin«, schwor sie, »ich werde deinen Sohn beschützen.«

Da fiel alle Spannung von Ressa. Sie sank etwas in sich zusammen und flüsterte: »Ich danke dir, Falkin!«

Danke lieber deinem Sohn, dachte Sharik unwirsch, als sie nun die Küche verließ.

Sharik trat in den verschneiten Hof und sah sich genau um. Sie konnte Haldan nirgendwo entdecken, nicht die Spur von ihm, war sich jedoch sicher, daß er sie beobachtete. Langsam ging sie ein paar Schritte in den Hof hinaus und blieb dann abwartend stehen.

Der Sturm hatte sich gelegt und war zur Brise geworden. Aber auch die drang ihr noch so eisig durch den allzu dünnen Umhang und das fadenscheinige Kleid Ressas, das sie jetzt anhatte, daß sie eine Gänsehaut bekam. Das Haar hatte sie sich zum Knoten gebunden und unter der Kapuze verborgen, und die linke Gesichtshälfte hatte sie sich rot bemalt. Und in den Armen hielt sie ein längliches Bündel - ein in Dreyans Decke gehülltes Holzscheit -, das auch den Dolch in ihrer Hand verbarg.

Der hölzerne Dolchgriff war trotz der Kälte schweißnaß. Wenn ich nur mein Schwert hätte mitnehmen können! dachte Sharik. Aber ihre Verkleidung war schon fragwürdig genug und würde keinen täuschen, der sie länger in Augenschein nahm. Das Schneetreiben und auch der ihrem Gewände anhaftende Geruch Ressas müßten ihr erlauben, auf Dolchweite an Haldan heranzukommen, ehe er sie erkannte und sich der Gefahr bewußt würde. Aber das hieß, daß sie verdammt nah an ihn herankommen mußte! Sie hatte diese ganze letzte Stunde damit verbracht, Ressa über ihren Mann auszufragen, um einen Hinweis auf etwas zu bekommen, das sie gegen ihn nutzen könnte. Zum Glück hatte er seiner Frau nicht nur seine Macht und Stärke, sondern auch auch einige seiner Schwächen geschildert. Er war also verwundbar. Durch Silber natürlich. Aber das half ihr nun nicht weiter. Da müßte sie dem Bastard schon ein paar Silbermünzen in den Schlund stopfen können.

Feuer ging auch nicht. Mit Stahl wäre es möglich, aber nicht ohne weiteres. Denn bei den Tierleuten heilten Hieb- und Stichwunden anscheinend sehr schnell. Haldan hatte gegenüber Ressa geprahlt, er könne jede ihm mit Stahl beigebrachte Wunde, die ihn nicht auf der Stelle töte, ignorieren. Einen Gegner wie ihn konnte man mit einem Dolch nur an wenigen Stellen tödlich verwunden, und um die nun zu treffen, müßte sie hautnah an ihn herankommen.

Schade, daß Ressa nicht mehr Mut gehabt hatte! Sie hatte doch oft genug Gelegenheit gehabt … hätte ihren Mann jederzeit im Schlaf töten können und damit allen viel Leid … Ein Lichtschein unweit voraus ließ Sharik aufschrecken. Sie faßte den Dolch fester und beobachtete gespannt die zwei Gestalten, die aus dem Dunkel traten und sich ihr bis auf zehn Schritt näherten. Haldan hatte Trin die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie schien durchgefroren und rasend vor Wut, aber unverletzt. Er lächelte noch immer und war noch immer so nackt wie ein Neugeborenes. Aber das berührte Sharik nicht mehr. Er war für sie nur noch ein Gegner - ein Ziel für ihren Dolch. »Bring ihn her, Ressa!« rief er ihr zu.

Sharik schüttelte nur den Kopf, um sich nicht durch ihre Stimme zu verraten, und zeigte auf Trin. Achselzuckend und lächelnd tat Haldan ihr den Gefallen. Er gab Trin einen Schubs. Sie stolperte und wäre fast in den Schnee gestürzt, fing sich dann aber wieder und taumelte, steif vor Kälte, voran. Da ging Sharik langsam auf ihn zu.

Durch ein Auge, dachte sie dabei. Oder ein Ohr. Ins Herz ist zu schwierig … zu viele Rippen. Ich muß nahe ran, ganz nah. Wenn wir doch Pfeil und Bogen hätten. Hilf mir, Herrin, so habe ich mir meinen ersten Kampf nicht vorgestellt!

Nun war Sharik auf gleicher Höhe mit Trin. Sie sah ihre Augen in jähem Erkennen aufleuchten. Mit einem leichten Kopfnicken schritt sie weiter und hoffte, daß Trin das einzig Vernünftige tun würde: weiterzugehen. Trin konnte ihr so, mit gefesselten Händen, nicht helfen - und sie ihr durchzuschneiden, hatte sie keine Zeit. Die Wirtin fluchte halblaut; aber schon hörte Sharik sie hinter sich durch den Schnee fortstapfen.

Als Sharik noch gut drei Schritt von Haldan entfernt war, schwand sein Lächeln. Er starrte sie durchdringend an, ließ seine Laterne fallen, sank dann auf alle viere und begann, sich blitzschnell zu verwandeln.

Damit hatte Sharik nicht gerechnet, denn über die Verwandlungen ihres Mannes hatte Ressa nichts aus eigener Anschauung erzählen können. Sie hatte gehofft, dies sei ein langwieriger Prozeß, der ihr Zeit gäbe, den Dolch zu gebrauchen. Aber nun sah sie im Licht der umgefallenen Laterne, daß Haldan binnen eines Herzschlags wie Quecksilber zu neuer Gestalt wogte. Das ging so schnell, daß sie vor Schreck erstarrte. Schon blickte er als Tier zu ihr auf - die Augen rotglühend und das strohfarbene Fell wütend gesträubt … Er riß sein dampfendes Wolfsmaul auf, heulte drohend und sprang mit einem gewaltigen Satz auf sie los. Jenes Heulen riß Sharik aus ihrer Starre. 

Sie schleuderte ihm das Holzscheit mit aller Kraft entgegen. Aber er duckte sich darunter weg und rammte sie mit solcher Wucht, daß sie der Länge lang auf den Rücken fiel. Sie fühlte die Todeskälte des Schnees durch ihr dünnes Gewand, und ihre linke Seite war ein einziger Schmerz. Er war in Sekundenschnelle auf ihr, umklammerte ihr mit harter Pfote die Kehle, schlitzte ihr mit scharfer Klaue die Haut der Kinnlade auf und schnappte mit weit aufgerissenem Maul, aus dem Zähne wie Messer ragten, nach ihrem Hals.

Da stieß Sharik ihm den Dolch tief in den Bauch. Haldan grunzte bloß bei diesem Hieb - heulte aber gräßlich auf, als sie ihm mit einem Ruck den Leib aufschnitt, daß ihr sein Blut über Arme und Brust spritzte. Er wälzte sich von ihr und taumelte beiseite. Sie versuchte gleich aufzustehen, um ihm nachzusetzen, aber der tiefe Schnee und die Schmerzen in ihrer Brust bremsten sie. Als Sharik endlich hochkam, hatte Haldan sich schon wieder erholt. Er sprang sie an und verbiß sich so in ihr Bein, daß sie laut aufschreiend in die Knie brach, preßte ihr dann mit den Vorderläufen die Arme an die Seiten und warf sie zu Boden. Sharik spürte seinen heißen, stinkenden Atem im Gesicht. Sie wand sich verzweifelt zur Seite. Seine Zähne gingen ins Leere und schlugen knapp neben ihrem Ohr aufeinander. Er warf den Kopf zurück … und schon wieder näherte sich, wie in einem Alptraum, das schreckliche Gebiß ihrer bloßen Kehle.

Aber jetzt traf ihn ein Schlag in den Rücken, ein Schlag so hart, daß Sharik ihn durch ihn hindurch spürte. Er sprang knurrend auf, drehte sich wie rasend um … Als Sharik sich mühsam in die Hocke aufgerichtet hatte, da sah sie vor sich Ressa stehen. Sie war in irgendein geborgtes Hemdkleid gewandet und hielt ein Schwert so ungeschickt hoch, als ob sie Holz hacken wollte. Haldan gab ein Keuchen von sich, das ebensogut ein Lachen gewesen sein mochte, streckte seine Frau mit einem einzigen Schlag in den Schnee und stürzte sich wieder auf Sharik, um ihr den Garaus zu machen. Aber Sharik sprang mit einem Kriegsschrei auf die Beine und stieß ihm den Dolch durch die Kinnlade und tief ins Hinterhaupt. Haldan röchelte, die Klinge im Schlund, überschlug sich und fiel auf den Rücken. Sharik landete auf ihm und legte dann ihr ganzes Gewicht auf ihren Dolch, um ihn noch tiefer hineinzutreiben. Und als sie seinen blutbeschmierten Griff mit aller Kraft hin und her drehte, hörte sie Knochen krachen und sah, wie Haldan gleich erschauerte und erschlaffte.

Da blickte Sharik mit wildem Lächeln zu Ressa hinüber, die immer noch zitternd im Schnee lag und krank aussah. Trin erteilte laut Befehle, und das ganze Gesinde kam herbeigelaufen. Ein Blutfleck leuchtete im Schnee wie das Muttermal in Ressas Gesicht. Und ein Funkeln von Stahl lenkte Shariks Blick zu dem Schwert, das neben Ressa lag.

»Aber das ist doch mein Schwert!« protestierte sie noch schwach, als man sie auf die Füße stellte.

Zwei Tage danach kamen vier Reisende zum Falkinnennest. Es waren drei Männer und eine Frau, zu Fuß. Ihre Spur führte vom Waldrand quer über die Straße, durch den Schnee, der für ein Pferd zu tief war. Als Sharik sie von dem kleinen Fenster ihrer Dachkammer aus näherkommen sah, wußte sie sofort, daß es Tierleute waren. Denn ihre Haltung, ihr Gang waren von Haldans lässiger, animalischer Anmut.

Nun mußte sie sich rasch anziehen. Aber das fiel ihr trotz der Hilfe der von ihr dazu verdonnerten Zwillinge schwer … Sie trug einen Brustverband zur Schienung ihrer gebrochenen Rippen, und ihre Beinwunden waren gut vernäht. Aber wenn sie sich bückte, streckte oder zu schnell bewegte, raubten ihr stechende Schmerzen den Atem. Ihr Hemdkragen bedeckte die Krallennarbe am Hals, aber natürlich nicht den fingerlangen Schmiß, der sich vom Kinn fast bis zum Ohr zog. Sie musterte ihn für eine Weile in dem kleinen Handspiegel, den ihr eines der Mädchen hielt, und tat ihn dann mit einem Achselzucken ab … Als Falkin gewöhnt man sich an Narben, hatten ihre Lehrerinnen gesagt, und diese war ja nichts im Vergleich zu manchen anderen, die sie gesehen hatte.

Als Sharik endlich ihr Schwert gegürtet hatte, stieg sie humpelnd die Treppe hinunter. Trin erwartete sie schon im Flur. »Sie waren hinter Haldan her …«, begann die ältere Falkin ohne Umschweife. »Sein Stamm hatte von den Morden in Pard’s Ridge irgendwie Kunde erhalten. Zwei sind mit Emry eben zur Scheune, um sich die Leiche anzusehen. Die anderen sind da drin bei Ressa.«

»Du traust ihnen?« fragte Sharik, die noch ganz wackelig auf den Beinen war.

»Was bleibt mir anderes übrig?« sagte Trin und nahm ihren Arm, um ihr in die Schankstube zu helfen.

Ressa saß, mit Dreyan im Schoß, am Tisch und war mit der Frau und dem Mann in ein ernstes Gespräch vertieft. Als Trin nun Sharik in den Lehnstuhl am Ofen half und dicht hinter ihr dann Platz nahm, blickten sie alle drei auf.

Die Gestaltwandler sahen gut aus, obwohl sie in schlecht sitzende Wollsachen und schlichtes Leder gekleidet waren. Beide trugen sie geflochtene, mit Tierzähnen, Krallen, Federn und Knochenstückchen geschmückte Lederhalsbänder. Sie musterten Sharik lange und ernst und redeten dann halblaut miteinander. Sie verstand ihre Sprache nicht, konnte aber ab und zu ein hjelmarisches Wort heraushören.

Als die beiden anderen mit Emry zurückkamen, sagte die Frau etwas zu ihnen und wies mit dem Kopf auf Sharik. Einer, ein stattlicher Mann mit einigen grauen Strähnen im braunen Bart, trat auf Sharik zu. Seinem prächtigen Halsband nach, das auch mit Metallanhängern und Drahtgeflechten verziert war, mußte er der Anführer der Schar sein.

»Du bist die Falkin Sharik, die Haldan getötet hat?« fragte er in einem Hjelmarik mit schwerem Akzent.

»Ja, das bin ich«, versetzte sie argwöhnisch. Ihre Hand ruhte leicht auf dem Griff ihres Schwertes. Und Trin hinter ihr richtete sich auf.

»Er hatte keine Verwandten«, sprach der Gestaltwandler. »Er war ein Einzelgänger, der uns nur Schande brachte. Macht mit seiner Leiche, was ihr wollt.« Damit riß er sich einen der Anhänger von seinem Halsband und drückte ihn ihr in die Hand. »Du hast Freunde in den Gedna-Bergen, Falkin Sharik«, schloß er.

Sharik musterte erstaunt den Anhänger in ihrer Hand. Es war eine kleine Scheibe aus gehämmertem Messing, mit einer feinen Gravur, einem Hirschkopf, auf der Vorderseite. »Ich … ich danke dir«, sagte sie. Der Tiermann nickte, ging zu seinen Gefährten an den Tisch und ließ Sharik mit der Hoffnung zurück, daß ihre Freunde in Gedna, wo immer das sein mochte, es ihr nicht nachtrügen, wenn sie sie nicht besuchte.

Die Tierleute begannen wieder, halblaut miteinander zu reden. Ab und an richtete ihr Anführer oder die Frau - sie allein schienen des Hjelmarik mächtig - eine Frage an Ressa, und ihre Antworten entfachten die Diskussion jedesmal aufs neue. Und die drehte sich wohl, soweit Sharik das erraten konnte, um Dreyan. Ressa saß ruhig da, wiegte ihren schlafenden Sohn und beobachtete die vier aufmerksam und interessiert. Sie hatte nun für alle ein freundliches Lächeln und wich keinem Blick mehr aus, suchte nicht länger, ihr Muttermal zu verbergen. Vielleicht aus Erleichterung, dachte Sharik und fuhr sich mit dem Daumen sacht ihre Wangennarbe entlang. 

Vielleicht auch aus noch anderen Gründen. Herrin, sie hat noch viel an sich, was mir nicht gefällt … sie hätte dies alles verhindern können … aber sie hat sich wirklich verändert.

Als die vier Besucher ihre Diskussion beendet hatten, brachen sie zum Wald auf. Sharik fühlte, wie sie sich bei ihrem Abzug leicht entspannte. Trin seufzte schwer, ging zur Küche und hieß Emry die Mädchen holen, die ihr bei der Zubereitung des Abendessens helfen sollten. Und Ressa kam zu Sharik herüber und hockte sich vor sie auf den Ofen.

»Sie kommen morgen wieder«, sagte sie und setzte sich ihren Sohn auf den Schoß. »Und wollen dann Dreyan mitnehmen … Wenn er sich als Gestaltwandler erweisen sollte, ist es wohl am besten, daß er unter seinesgleichen kommt.« Sharik blickte auf den Jungen hinab und suchte an ihm nach einem Anzeichen jener Andersartigkeit, die bei ihren vier Besuchern so augenfällig gewesen war. Sie fand nichts dergleichen … aber er war ja auch noch so klein. Selbst Haldan war sich da nicht sicher gewesen. »Und was, wenn er ein Mensch ist?« fragte sie ruhig.

»Dann gehen wir irgendwo anders hin«, erwiderte Ressa.

»Ihr? Du mit ihm? Man sagt, die seien ein verschworener Haufen.

Werden sie dich denn willkommen heißen?«

»Das weiß ich nicht«, gab Ressa zu und sah unverwandt auf ihren Sohn. »Aber das wissen wohl auch diese vier nicht. Das haben sie ganz offen eingeräumt. Sie boten mir an, den Jungen in Pflege zu nehmen. Aber ich kann ihn doch jetzt nicht allem lassen!« Ressa verstummte, und als sie nach einer Weile fortfuhr, flüsterte sie fast.

»Ich hatte noch keine Zeit für die feierliche Namensgebung. Aber du hast mir von dem Tempel in Tarzy’s Forge erzählt«, sagte sie und sah zu Sharik auf. »Wenn du da bist… könntest du dann die Priesterinnen bitten, für Dreyan ein Gebet zu sprechen und diese Feier zu vollziehen? Und würdest du mich dabei vertreten?« Sharik blinzelte erstaunt. »Du willst mich also zu seiner Patin haben?«

Ressa lächelte. »Ich könnte mir keine bessere vorstellen.« Da blickte Sharik von der Mutter zum Kind. Tausenderlei Einwände fielen ihr ein … Sie und der Junge würden einander nie wieder zu Gesicht bekommen.

Sie würde für ihn nie mehr sein als irgendeine Gestalt in den Geschichten, die ihm seine Mutter erzählte, und er für sie nur eine Erinnerung. Was sollte also so eine Patenschaft? Diese Idee war wirklich lächerlich. Aber irgend jemand mußte bei dieser Namens-gebung für die Mutter sprechen, und welche Falkin gründete schon eine Familie? Bei dem Leben, das sie gewählt hatte, wäre das vielleicht die einzige Art von Kind, die sie je haben könnte.

»Ja«, erwiderte Sharik mit leiser Stimme. »Ich werde beides tun. Darf ich ihn noch einmal halten?«