MERCEDES LACKEY

 

Es ist mir, wie ich wohl schon gesagt habe — ich neige in diesen Einleitungen offenbar zu Wiederholungen, beweise damit aber doch zumindest eine gewisse Beständigkeit immer eine Freude, alte Bekannte in Erinnerung bringen zu können. So Mercedes Lackey, die ich mit ihren Serienheldinnen, der Schwertkämpferin Tanna und der Zauberin Kethry, im dritten Band dieser Reihe vorgestellt habe. Ich prüfe (und verwerfe) alljährlich Dutzende von Angeboten, in denen mir Autoren ihre »neue Serie« unterbreiten. So etwas läuft bei mir nicht. Wer mir »eine Serie« anbietet, erhält nichts als einen Ablehnungsbescheid; aber wenn mich die erste Geschichte als solche überzeugt hat, nehme ich auch die folgende und vielleicht auch die nächste und übernächste — so wie bei Lackeys Tarma und Kethry oder Diana Paxsons Shanna (die nur in einem der bisherigen Bände nicht auftauchte). Aber Mercedes Lackey hat sich mit diesen Kurzgeschichten nicht etwa begnügt, sondern auch einige richtige Bücher geschrieben: drei Romane über Tarma und Kethry sowie sechs über die Herolde von Waldemar, die mir trotz der darin agierenden »menschlich fühlenden« Pferde gefallen (ich bin, vielleicht weil ich auf meiner elterlichen Farm den Pferdestall ausmisten mußte, alles andere als eine Pferdenärrin), dazu moderne okkulte Romane (Brennendes Wasser) sowie, und das ist ihr neuester, einen über einen japanischen Vampir …

Mercedes Lackey wohnt in Tulsa, Oklahoma. Da ich selbst schon im Wüstengürtel gelebt habe, möchte ich sagen: Das ist ein guter Ort zum Schreiben — anderes kann man dort kaum machen, wenn man kein Fußball-Fan ist. Man riskiert aber, daß die Einheimischen einen, weil man über sie schreibt, für einen Satanisten oder Ähnliches halten. Ich spreche da aus eigener Erfahrung; bei mir lag es wohl auch daran, daß ich keine eifrige Kirchgängerin war (obwohl ich doch eine Zeitlang den Chor der Methodistenkirche leitete). - MZB

 

 

 

 

MERCEDES LACKEY

 

 

Feuerflügel

 

Ein gleißender Hitzeschleier lag auf dem Land. Die Luft flimmerte über den Gräsern, und das monotone Summen der bei den Graswurzeln verborgenen oder um die jungen Ähren surrenden Insekten erfüllte den Nachmittag. Dabei ging ein heißer Wind, der mit den Gerüchen der ausdörrenden Erde, des trocknenden Grases und auch des nahen Flusses gesättigt war. Kethry sah seufzend von ihrem halbfertigen Weidenkorb hoch, lehnte sich gegen den glatten, kühlen Felsblock im Schatten ihres Zeltes und döste ein wenig vor sich hin. Jadrie spielte mit den anderen Kindern drüben am Fluß - Lyan und Laryn erhielten Reitunterricht, und der sechs Monate alte Jadrek war in der Obhut von Tarma und Warrl. Ja, die wachten gut über ihn und die anderen Kleinen der Liha’irden, die diesen heißen Nachmittag vernünftigerweise verschliefen. So waren alle vier gut aufgehoben - besser noch als zu Hause unter den Blicken aller Liha’irden.

Kethry schloß beruhigt die Augen. Sie konnte sich sicherlich ein Nickerchen gönnen. Und der Korb? Der konnte warten.

Da zerriß der jähe Angstschrei eines Kindes die nachmittägliche Stille. »Mamal« Kethry reagierte so schnell, wie jede Mutter das getan hätte - griff aber dabei, was wohl kaum eine andere Mutter gemacht hätte, blitzartig nach ihrem Schwert und zog schon blank, als sie behend auf die Füße sprang. Aber sie war einen Herzschlag langsamer als Tarma, die schon auf die Baumreihe am Flußufer zulief, von wo Jadries Schrei gekommen war. »Mama, rasch!« schrie Jadrie erneut. Da war Kethry gottfroh, daß sie nach Shin’a’in-Sitte keinen Rock, sondern eine Reithose trug, und sie flog wie der Wind den Trampelpfad entlang, den die Herden bei ihrem Zug zweimal täglich zur Tränke getreten hatten. Als sie sich durch den dichten Saum der Büsche gekämpft hatte und auf das weidenüberschattete Flußufer hinaustrat, da erblickte sie als erstes, kaum eine Pferdelänge vor sich, ihre Jadrie, die wie angewurzelt dastand und, das Gesicht so weiß wie der Flußsand und beide Hände im Mund vergraben, wie gebannt auf etwas starrte, das vor ihr im Wasser lag.

Da steckte Kethry das Schwert ein, stürzte zu ihrer Tochter und hob sie empor und drückte sie ganz fest an sich, und ein Gefühl der Erleichterung, so stark, daß ihr davon die Knie weich wurden, überflutete sie. Jadrie barg ihr Gesicht an ihrer Schulter und ließ ihren Tränen nun freien Lauf.

Erst jetzt blickte Kethry auf die Fluten zu ihren Füßen hinab, um zu sehen, was ihr doch sonst so furchtloses Töchterlein vor Angst fast außer sich gebracht hatte.

Da sah sie Tarma vor sich am Ufer knien … und neben ihr etwas liegen. Eine Leiche - aber so übel zugerichtet … Dem Teint nach ein Shin’a’in, den Kleidungsresten nach ein Schamane. Tarma hatte den Mann aus dem Wasser gezogen und auf den Rücken gedreht. Ein dichtes Geflecht blauroter Brandstriemen, wie von einer Peitsche aus dünnen, rotglühenden Drähten geschlagen, überzog seine Brust. Kethry hatte bereits zur Genüge Leichen von Gefolterten gesehen, aber dieser Anblick ließ selbst ihr noch übel werden. Sie konnte nur hoffen, daß Jadrie den Toten nur undeutlich, vom Wasser oder Schlamm des Flusses bedeckt, zu Gesicht bekommen hatte.

Wohl doch nicht, so wie sie schluchzte und zitterte. Mein armes Kind …

Da bewegte sich der Mann und stöhnte leise. Kethry hielt den Atem an: Der lebte ja noch! Wie konnte nur jemand eine so schreckliche Folter überstehen?

Tarma sah stumm zu ihr auf. Und in ihrem Blick stand wieder diese kalte Wut, dieses Dafür wird jemand bezahlen müssen. Und bring das Kind von hier fort.

Das genügte Kethry. Sie machte schleunig kehrt und stolperte, so schnell sie das mit ihrer sechsjährigen Tochter im Arm vermochte, in Richtung Lager zurück.

Da schwärmten die übrigen Shin’a’in schon wie zornige Wespen aus dem Lager - Wespen mit Stacheln, wohlgemerkt, schwang doch jeder von ihnen eine Waffe. Und Kethry wies im Laufen hinter sich, zum Fluß, und stieß etwas ihr selbst Unverständliches über den Heiler hervor … das aber irgendeinen Sinn zu machen schien, beflügelte es doch den Heiler der Shin’a’in - den Mann, der Jahre zuvor die bereits todgeweihte Tarma mit seiner Kunst und Fürsorge ins Leben zurückgeholt hatte - zu einem Spurt, mit dem er alle anderen bald hinter sich ließ.

Als die Stammesleute an ihr vorbeiliefen, verlangsamte sie ihren Schritt. Jadrie weinte nicht mehr; sie zitterte nur noch, und das trotz der drückenden Hitze. Da drückte Kethry sie fester an sich. Jadrie war bisher das sonnigste und sensibelste all dieser Kinder gewesen; für sie war die Welt bloß ein einziges, großes Abenteuer gewesen.

Aber heute … hatte die Kleine lernen müssen, daß Abenteuer auch gefährlich sein können.

Heute hatte sie eine der bittersten Lektionen des Lebens gelernt, daß diese Erde kein freundlicher Ort ist. So ließ sich Kethry in der Kühle des nächstgelegenen Zeltes nieder und hielt Jadrie fest umfangen, als die ob der schmerzlichen Lektion wiederum in Tränen ausbrach. Nach einer Weile, da sie das noch weinende Kind wiegte, hörte sie die Menge zurückkehren und mit zornigen und ängstlichen Rufen vorüberziehen, hin zum Zelt des Heilers. Als Jadrie sich müde geweint hatte, legte Kethry sie in dem Zelt schlafen, das sie sich mit Tarma und den vier Kindern teilte, und nahm allen Mut zusammen und machte sich selbst zum Heiler auf.

Der Platz vor dem Zelt war leer. Die Menge hatte sich zerstreut. Aber das ganze Lager war in Alarmbereitschaft. Obwohl äußerlich alles wie gewohnt wirkte, war eine Spannung zu spüren - wie bei einem hinterm Horizont aufziehenden Sturm, der noch außer Sicht, aber schon zu fühlen ist. Als Tanna jetzt aus dem Zelt trat, ging Kethry forschenden Blicks auf sie zu. Aber die scharfe Zornfalte um den Mund der Partnerin sagte ihr alles, was sie im Augenblick wissen mußte.

»Warrl kann auf die Kinder aufpassen. Und wir, bleiben wir hier?« fragte sie. »Oder reiten wir los?«

Tarma überlegte kurz, und mitten in ihr Schweigen hinein setzte die durchdringende Klage ein, mit der die Shin’a’in um ihre Toten trauern. Da kniff Tarma die Augen zusammen, und ihr Gesicht wurde hart.

»Wir reiten«, stieß die Shin’a’in dann zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor.

Sie ritten den ganzen Tag nach Norden, am Fluß entlang, und dann, als der Strom unter der Steilwand verschwand, den Zickzackweg zur Dhorisha-Ebene hinauf. Sie kamen gegen Sonnenuntergang dort oben an, zogen aber bis lange nach Einbruch der Dunkelheit weiter und schlugen erst bei stockfinsterer Nacht mitten im vom Kiefernduft erfüllten Pelagiris-Wald ihr Lager auf. Tarma hatte während des ganzen Ritts kein Wort gesagt; und Kethry hatte dieses Schweigen respektiert, obwohl sie darauf brannte zu erfahren, was geschehen war.

Weil Kethry ja nun schon Zaubermeisterin war, mußte sie mit ihren magischen Energien nicht mehr ganz so sparsam umgehen und konnte es sich daher erlauben, zwei Hexenflammen zu erzeugen, die ihnen genügend Licht zum Holzsammeln und zum Anfachen des Feuers gaben, das Tarma mit einem winzigen Zauberfunken entzündet hatte. Es war natürlich kein sehr großes Feuer, aber bei dieser Hitze brauchten sie es nur, um das Kaninchen für ihr Nachtmahl zu braten. Als sie gegessen hatten, blieb Tarma noch lange sitzen und starrte in die ersterbenden Flammen. Ihr zuckender Schein beleuchtete die alten Baumriesen rings um ihren Lagerplatz, deren Stämme so dick waren, daß Tarma sie auch mit beiden Armen nicht hätte umspannen können, und deren ausladendes Astwerk erst etliche Mannslängen über dem Boden begann.
Dieser Ort, der sonst meist wie ein Tempel wirkte, kam den beiden in jener Nacht eher wie ein Grab vor.

»Er hat uns nicht nicht mehr viel gesagt, bevor er starb«, begann Tarma endlich. »Aber nach seiner Kleidung, vielmehr deren Resten … war er ein For’a’hier … gehörte er zum Feuerfalkenclan .«

»Glaubst du, daß sie … allesamt tot sind?« fragte Kethry, des Schicksals der Tale’sedrin eingedenk. Aber Tarma schüttelte den Kopf.

»Sie sind wohlauf. Wir haben einen Boten zu ihnen geschickt. Aber der da … erzählte, er sei allein gewesen. Die Feuerfalken waren immer … etwas anders. Dieser Clan bringt mehr Schamanen hervor als jeder andere, manchmal auch einen Zauberer. Diese Feuerfalken sind dafür bekannt, daß sie gern umherstreifen und dabei auch von der Großen Ebene herabsteigen. Der da war ein Laj’ele’ruvon, ein Wissens-Sucher, und er war auf seiner Suche hierhergekommen, ins Gebiet der Tale’edras … Die Schamanen der Feuerfalken haben weit mehr Kontakt zu den Tale’edras als wir anderen. Was auch mit ihm geschehen sein mag, es geschah hier in diesem Wald.«

»Du glaubst doch nicht … daß ein Habichtbruder …«, hob Kethry an. Aber dieser Gedanke schien ihr selbst so absurd, daß sie schon den Kopf schüttelte, ehe Tarma das gleiche tat. »Nein … ein Habichtbruder sei zwar irgendwie darin verwickelt, sagte der Sterbende uns noch, aber der, der das getan habe, sei kein Tale’edras. Ich glaube, er wollte mir verständlich machen, daß dieser Habichtbruder irgendwie in Schwierigkeiten sei,« sagte Tarma und rieb sich nachdenklich die Schläfe. »Ich habe mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, wie um alles in der Welt ein Habichtbruder in Schwierigkeiten kommen könnte, und ich …«

Da ertönte knapp über ihnen ein Schrei. Kethry sprang erschrocken auf und umfaßte zähneknirschend den Griff ihres Schwertes Gram.

Wieder erklang der schaurige Schrei, und diesmal erkannte sie ihn als den eines Eulenadlers, jenes Nachträubers mit dem Gebaren und dem geräuschlosen Flug einer Eule und dem Bau und Aussehen eines Adlers. Es war ein seltenes Tier, und Kethry kannte es nur, weil ein Paar von ihnen in der Nähe ihrer Burg nistete und Jadrek, ihr Mann, es allabendlich stundenlang hingerissen beobachtete.

Tarma erhob sich gleichfalls und scharrte plötzlich Erde über die Glut, um sie zu löschen. Als Kethry dann, da ihre Augen sich ans Dunkel gewöhnt hatten, den über ihnen kreisenden Vogel sah, pfiff sie erstaunt durch die Zähne. Sicher, es war ein Eulenadler, aber er war weit größer als die beiden ihr bekannten - und schneeweiß.

»Das ist ein Vogel der Tale’edras«, bemerkte Tarma grimmig. »Sie sagen, daß diese Tiere im Dienst ihrer Zauberer mit der Zeit ein weißes Gefieder bekommen. Mir scheint, der da wurde ausgeschickt, Hilfe zu holen.«

Da stieß der Eulenadler wie zur Bestätigung wiederum einen Schrei aus, flog ein Stück nach Nordwesten, ließ sich dann auf einem Ast nieder und äugte zu den beiden hin - wie um sie aufzufordern, ihm zu folgen. Kethry legte ihrer recht unruhig gewordenen Gefährtin die Hand auf den Arm, um sie zu bremsen, und fragte: »Was machen wir mit unseren Pferden?« »Verdammt… wir lassen sie am besten frei. Dann kehren sie bei Tagesanbruch allein zum Shin’a’in-Lager zurück«, versetzte Tarma. Sie schien nicht glücklich über ihre Idee - aber was hätten sie sonst tun können? Sie konnten sie weder am Camp zurücklassen noch sie durch den Wald reiten, der so stockfinster war, daß sie nicht sähen, wo sie die Hufe hinsetzten. Und sie am Zügel zu führen, wäre ebenso schlecht, wie sie zu reiten.

Andererseits, an einem heißen Sommertag über die weite Ebene und zum Lager zurücklaufen zu müssen …

»Nehmen wir ihnen doch die Fußfesseln ab und lassen sie hier und versuchen… vor dem Morgengrauen zurück zu sein«, schlug Kethry vor. »Bis dahin werden sie sich wohl nicht weit entfernen.« 

Tarma zog ein Gesicht, nahm aber ihrer Stute den Fußstrick ab und warf ihn auf ihr säuberlich aufgehäuftes Sattel- und Zaumzeug.  

Kethry folgte ihrem Beispiel, und als sie dann aufblickte, sah sie, daß der Eulenadler noch immer wartend dasaß. Er flog erst wieder auf, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt waren, und ließ sich bald danach auf einem anderen, auch nordwestlich von ihnen stehenden Baum nieder. Und damit erledigte sich auch Kethrys letzter Zweifel an Tarmas Vermutung: Der Vogel wollte offenbar wirklich, daß sie ihm folgten. So führte er sie immer weiter - viele Wochen lang, wie es ihnen schien, und doch nur Stunden, denn nach dem Stand des Mondes zu urteilen, der durchs Geäst geradewegs zu ihnen herabschien, war es derweil erst kurz nach Mitternacht geworden. Nun, da sie Weg und Steg hinter sich gelassen hatten, war es für sie unmöglich zu sagen, wo sie sich befanden, denn der Wald mit seinen riesigen Bäumen sah überall gleich aus. Kethry vermeinte seit einer Weile zu spüren, daß die zauberischen Energien, die die Luft erfüllten, stärker wurden; ja, die Haut prickelte ihr so davon, daß sie sich dagegen abschirmen zu müssen glaubte, und sie war sich nicht mehr so recht sicher … ob die Zeit noch in ihrem gewohnten Rhythmus verstrich.

»Wo sind wir?« flüsterte sie schließlich ihrer Gefährtin zu. Tarma hielt inne und blickte zum Mond empor. »Ich weiß es nicht«, gestand sie dann. »Ich habe die Orientierung verloren. Aber wir müßten … irgendwo weit westlich und etwas nördlich von unserem Ausgangspunkt sein. Ich denke nicht, daß wir noch im Pelagiris-Wald sind, eher schon in einer Art Pelagir-Bergland. Ich wollte, wir hätten unseren zottelhaarigen Freund dabei …« »Da hast du leider recht…«, begann Kethry - und eben da fühlten die zwei, wie sich eine riesige, unsichtbare Faust um sie schloß. Der Vogel schrie gellend auf und flog himmelwärts. Tarma fluchte; aber Kethry war zu keinem Laut fähig, so sehr rang sie nach Atem.

Das ist der Lähmungszauber, dachte sie, während sie Luft zu holen versuchte. Aber sie konnte nicht einatmen, ohne zuvor auszuatmen, und immer, wenn sie das tat, schloß sich die gewaltige Hand noch enger um ihre Brust. Der angeblich … Eine nicht der Nachtstunde geschuldete Dunkelheit überkam sie, und ihre Lungen lechzten nach Luft. … verlorengegangen …

Pechschwarze Finsternis stieß wie ein Habicht auf sie herab und umfing sie.

Stechende Brustschmerzen waren das erste, was sie beim Aufwachen spürte. Dann fühlte sie, wie etwas Kühles und Feuchtes über ihre Brauen strich. Sie schlug die Augen auf - und starrte in dumpfem Staunen in zwei Augen, die so blau waren wie die ihrer Gefährtin, aber zu einem von weißem Haar gerahmten und eindeutig männlichen Gesicht gehörten.

Eindeutig? Nicht… ganz. Der Mann hatte etwas Ungewöhnliches an sich. Nicht, daß er ein She’chorne gewesen wäre, nein, das nicht. Aber etwas Ähnliches, wenn auch keineswegs Schlechtes, doch etwas sehr, sehr Besonderes.

Hinter seinem Kopf sah sie Stäbe funkeln, die so glitzerten und gleißten, wie nur poliertes Metall das vermag - und zwei Lichter: ein auf- und abschwellendes am Rande ihres Blickfeldes und eines, das nur ein Hexenlicht sein konnte und gerade hinter jenem Gitter schwebte.

Als der Fremde sah, daß sie aufgewacht war, lächelte er matt und legte das feuchte Tuch, mit dem er ihre Stirn gekühlt hatte, auf den Rand einer Metallschüssel, die neben ihm stand. »Oh, verzeih, junge Frau«, sagte er in einem Shin’a’in mit merkwürdigem Akzent. »Ich hatte nicht vor, jemanden in Gefangenschaft zu locken, als ich meine gefiederte Dienerin losschickte.« »Die Eulenadlerin gehört dir?« fragte sie und bemühte sich dabei, langsam zu atmen, da jede Bewegung die Brustschmerzen verstärkte.

»Ja«, erwiderte er. »Ich habe sie zu meinen Leuten gesandt. Aber als sie eure Magie sah, wollte sie euch herbringen. Jetzt ist sie zu verängstigt, um sich herrufen zu lassen.«

»Aber ich habe doch …«, hob Kethry an, verstummte aber, als sie den warnenden Blick des Habichtbruders gewahrte. Wir werden also beobachtet und belauscht. Und wer immer uns gefangengenommen hat, soll aus irgendeinem Grunde nicht wissen, daß diese Eulenadlerin, genau wie Warrl, passive Zauberschilde sehen kann. Sie versuchte sich aufzurichten, und der Fremde half ihr dabei wie zufällig.

Kethry sah sich forschend um. Sie befanden sich in einem Käfig, der mit einem gewöhnlichen Schloß gesichert war. Neben dem ihren stand noch ein Käfig, der aber ohne Schloß war. Da drinnen hockte Tarma. Sie hatte beide Beine untergeschlagen, und ihr Gesicht war so ausdruckslos wie Stein.

Nur ihre Augen verrieten, daß sie vor Zorn kochte: Sie waren von einem so intensiven Blau, daß sie mit ihrem Blick die Luft zwischen sich und Kethry knistern ließ.

Ihre Käfige standen mitten in einem Geviert aus sauber gezogenen, sauber geschnittenen Hecken, die höher als ein Pferd samt Reiter waren und deren jede eine Öffnung aufwies, durch die Kethry noch mehr Hecken zu sehen vermeinte, so daß sie sich ganz wie in einem Irrgarten fühlte.

»Wie ihr seht«, ließ sich nun eine fremde, verdrießlich klingende Frauenstimme vernehmen, »plane ich meine Gefängnisse gut.«

Aber das Aussehen der Unbekannten, die jetzt in den fahlen Schein des Hexenfeuers trat, beeindruckte Kethry ganz und gar nicht. Ihr Gesicht und ihr Leibesumfang zeugten von einem Hang zur Völlerei; ihr Mund war in einem höhnischen Grinsen erstarrt, ihr Blick wich dem ihrigen aus. Und es lag nicht bloß am fahlen Hexenlicht, daß ihre Haut käsig wirkte und ihr Haar eine unbestimmbare Nichtfarbe hatte, die irgendwo zwischen Mausbraun und Blond angesiedelt war. Ihr Gewand jedoch war prächtig, wenn auch in einer zu auffälligen und übertriebenen Art - als ob es aller Welt verkündete: »Schaut, ich habe viel Geld gekostet! « Es war auch für so einen Ort mitten im Wald völlig deplaziert, aber das schien seine Trägerin nicht zu bekümmern. »Für die Zauberer«, sagte ihre Kerkermeisterin mit großer Geste. »Ein Käfig, der jede Magie nutzlos macht, mit einem Schloß, das sich nur auf die ganz normale Weise öffnen läßt.« Damit hob sie einen Schlüssel empor, der an ihrem Gürtel hing. »Und da ich wie du eine Frau bin, kann dein Weisschwert mir auch nichts anhaben. Selbst wenn du es in die Hand bekommen könntest.« Nun erst erblickte Kethry ihre Klinge, die außen vor der Käfigtür baumelte - gerade außer Reichweite. 

Meiner Hände! Das ist ihr erster Denkfehler. »Und für die Kriegerin ein Käfig, den nur Magie öffnet«, fuhr die Hexe fort und kicherte wie ein kleines Mädchen, ohne dabei jedoch ihr böses Grinsen aufzugeben. Tanna blieb stumm, Kethry auch. Da warf sich ihre Kerkermeisterin in Positur und sah sie abwartend an - wohl darauf wartend, daß eine der beiden sie nach dem Grund ihrer Gefangenschaft fragte. Aber da ihr keine den Gefallen tat, zog sie bald ein böses Gesicht und stolzierte davon, auf das Licht zu, das irgendwo hinter der Hecke flackerte. »Wer ist denn diese Wahnsinnige da?« fragte Tarma in schleppendem Ton. »Und was, zum Teufel, hat sie mit uns vor?« Der Habichtbruder kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich an die Gitterstäbe und zog eine Grimasse. »Das ist die Hexe Keyjon. Sie hat all ihre Zauberkräfte anderen Magiern gestohlen«, begann er dann, und ein Zorn so heiß wie die Wut Tarmas machte ihm die Stimme rauh. »Was sie will? 

Von euch nichts … außer, euch gegen mich benutzen. Wie meinen Freund, was ihn das Leben gekostet hat.«

Der Feuerfalken-Schamane. Er weiß bereits, daß der Mann gestorben ist, dachte Tanna. Sie versuchte, hinter diese ausdruckslose Miene des Habichtbruders zu blicken, aber es wollte ihr nicht gelingen.

»Um was zu bekommen?« fragte sie.

»Etwas, das sie mir nicht stehlen kann. Sie hat es versucht, aber ihre geraubten Waffen prallen an meinen Schutzzaubern ab«, sagte der Mann und wies mit dem Kinn auf das flackernde Licht. »Sie hat Feuervögel.«

Und als er Kethry daraufhin scharf Atem holen sah, nickte er und fügte hinzu: »Du kennst diese Vögel wohl?«

»Die Feuervogel-Probe war früher eine der Zulassungsprüfungen zur Oberstufe der Hohen Schulen der Weißen Winde«, erwiderte Kethry. Sie starrte zu dem Funkellicht hin und wünschte sich, sie könnte die Hecken mit ihren Blicken durchdringen. »Aber dafür sind sie inzwischen zu selten geworden. Ich selbst habe nur einmal einen gesehen, und das auch nur von weitem.«

»Hier sind sie nicht so selten … aber sie sind durch solche wie Keyjon bedroht«, fuhr der Habichtbruder düster fort. »Sie will, daß ich sie zu ihren Hausgeistern mache. Sie will auch mich. Sie wird das eine wie das  andere  nicht eher bekommen … als bis die Hölle zufriert!« Da lachte Kethry erstaunt. »Herrin der Winde«, rief sie, »bitte… gib ihr diese Vögel! Sie braucht nur einmal die Beherrschung zu verlieren, wenn sie einen von denen auf der Schulter hat, und schon …« Aber der junge Mann schüttelte den Kopf. »O nein, Frau! Das weiß sie so gut wie du und ich. Was sie unter >Hausgeist< versteht … nenne ich >Sklave<. Ich würde nie irgendein Lebewesen zu diesem Los verdammen, auch wenn es nicht so offenbar riskant wäre, ihr die Herrschaft über etwas derart Gefährliches zu geben.« Als Kethry daran dachte, was man mit einem gezähmten, gehorsamen Feuervogel alles anstellen könnte, erschauerte sie erneut. Es war wirklich gefährlich! Ihr fiel ein, daß es in jener Geschichte der Zauberkriege, die angeblich die Hexenechse Gervase verfaßt hatte, hieß, diese Feuervögel seien absichtlich als eine Art Waffen oder Kampftiere gezüchtet worden. Ich könnte unter keinen Umständen, dachte sie, und seien sie noch so furchtbar, Tiere zu Waffen machen. Und der Gedanke, eines von ihnen so in Panik zu setzen, daß es wie eine lebende Fackel durch ein Dorf flöge und mit seinen Flammen die Strohdächer und das Heu in den Scheunen in Brand steckte, war ihr unerträglich. »Keyjon ist das Kind magiebegabter Eltern, die ihr all das gaben, was sie verlangte«, fuhr der Habichtbruder fort. »Aber sie wollte immer mehr, und ihr Ehrgeiz war weit größer als ihr bescheidenes Talent. Eines Tages entdeckte sie ihre wirkliche und ihre einzige Begabung: die Zauber und Kraft anderer zu stehlen und mit fremder Macht deren Zauber ins Werk zu setzen, ohne selbst etwas dafür zu bezahlen. So bereicherte sie sich auf Kosten anderer und strebte nach immer mehr Macht, je mehr sie davon schon besaß. « Kethry stand langsam auf, um die trüben Gedanken zu verscheuchen, ging die paar Schritte bis zu den Gitterstäben und schätzte dabei im Geiste die Distanz zwischen dem Gitter und ihrem Schwert Gram. Und als sie sich genau ansah, wie es aufgehängt war, kam ihr ein neuer Gedanke. Ich bin Zaubermeisterin und verfüge also praktisch über unbegrenzte Macht. Ob ich so werden könnte wie sie?

Jetzt trat der Habichtbruder, den Blick fest auf das Flackerlicht jenseits der Hecke gerichtet, leise neben sie und sprach: »Nicht Macht und Reichtum verderben den Menschen, sondern die Gier nach Macht und Reichtum. Wenn diese Gier einen alle Rücksicht auf die Bedürfnisse und Nöte anderer vergessen läßt, wird die Verderbtheit zum wahren Übel. Schon allein deine Befürchtung, du könntest wie Keyjon werden, zeigt, wie unwahrscheinlich dies bei dir ist. Sie hatte immer nur das im Sinn, was sie haben wollte.«

»Gut gesprochen«, mischte sich nun Tarma mit grimmiger Miene ein. »Ich bin Tarma shena Tale’sedrin, und das dort ist Kethry, meine She’enedra.«

»Sturmflügel k’Sheyna«;, erwiderte er und lächelte selbstironisch.  

»Ein Spitzname, den ich mir zulegte, als ich noch jung und völlig von mir eingenommen war … und der mir nun so anhaftet, daß ich ihn nicht mehr abzulegen wage.«

Tarma verzog darauf keine Miene und fragte kühl: »Worauf gründet deine Beziehung zu dieser Frau?«

»Ach, auf einem Rest jener Torheit, dank derer ich mich nach der mächtigen Gewitterwolke benannte …«, antwortete er langsam. »Ich glaubte, ihr helfen zu können. Ich dachte, durch einen Freund wie mich könne sie etwas anderes lernen. Kurz, ich meinte, sie ändern und zu einem besseren Menschen machen zu können … was andere ja nicht vermocht hatten.« Er zuckte mit den Achseln und fuhr fort:  

»Ich dachte, schlimmstenfalls … ja, ich sei so viel stärker als sie, daß sie mir nichts anhaben könnte. Ich glaubte, mich könnte sie nicht hereinlegen, und ahnte nicht, wie verschlagen sie ist und daß sie mit mir ihre eigenen Pläne verfolgte und mich dazu mißbrauchen wollte, sich meiner Schützlinge, der Feuervögel, zu bemächtigen. Und nun, nun müssen außer mir sogar andere für meine Torheit teuer bezahlen.« »Was ist mit dem Feuervogel-Schamanen geschehen?« fragte Tarma schroff.

Nur ein leichtes Zucken seiner Lider verriet, wie bewegt er war.

»Sie fing ihn«, erwiderte er, »als er mich besuchen kam, warf ihn in den Käfig mit den Feuervögeln und versetzte sie in Panik. Sie wußte, daß sie mir die Macht über sie rauben könnte, wenn ich sie einsetzte, um die Vögel zu beruhigen.« Seine Augen leuchteten mit dem Glanz unterdrückter Tränen. »Auch er wußte das und bat mich, nicht einzugreifen, obwohl sie ihn mit Flammen peitschten. « Nun ließ er seinen Blick von Tarma zu Kethry und wiederum zu Tarma wandern und schloß: »Werdet ihr mir vergeben, wenn ich auch vor euren Schreien die Ohren verschließe?« »Wirst du sie denn verschließen?« fragte Kethry ruhig und starrte in seine blauen Augen, die ihr so viel älter erschienen als sein Gesicht. »Oder wirst du nicht eher die Schreie derer hören, die leiden würden, wenn dieses Weib bekäme, was es will?« Da schloß er für einen Moment die Augen, und sein Gesicht war ihr zum ersten Mal wie ein offenes Buch. Schmerz war darin zu lesen - und, so merkwürdig das klingen mag, eine Erleichterung so quälend wie jeder Schmerz. Dann sah er sie wieder an, nahm ihre Hand und küßte sie so formvollendet wie ein Höfling. Nun erkannte sie, was an seiner Art ihn so schwer begreiflich machte -Sturmflügel war der ausgewogenste Mensch, der ihr je begegnet war; er hatte seine männliche und seine weibliche Natur so völlig angenommen, daß er so gelassen wirkte wie ein Vogel, der sich zum Flug anschickt…

»Aber vielleicht mußt du dir darüber ja gar keine Sorgen machen«, bemerkte Tarma trocken. »Keth, ich höre die Hexe nicht mehr. Wie wär’s mit der Thahlkarsh-Nummer?«

»Warum nicht? Sie hat ja früher schon geklappt«, erwiderte Kethry und schleuderte die Stiefel von sich, hangelte sich am Gitter bis unters Käfigdach und streckte dann beide Beine behutsam zwischen den Stäben hindurch - was ihr zu ihrem großen Leidwesen gar nicht leichtfiel, da sie ihre Kondition lange sträflich vernachlässigt hatte. 

Aber, und dies hatte sie gehofft, es gelang ihr, mit ihrem Fuß den Haken zu erreichen, an dem ihr Schwertgehenk baumelte.

»Mach dich bereit«, rief sie nun zu Sturmflügel hinab und grinste amüsiert, als sie seine vor Staunen weit aufgerissenen Augen sah.  

»Ich löse jetzt den Schwertgürtel und lasse ihn zu dir herunter. «

Sturmflügel schüttelte skeptisch den Kopf und fragte: »Was nützt uns dein Schwert in diesem Käfig, der doch allen Zauber zunichte macht?«

»Uns beiden gar nichts, aber die Kriegerin wird es gegen jede Art von Hexerei schützen«, versetzte Kethry. Der Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht und ihre Armmuskeln schmerzten schrecklich, als sie sich nun noch mehr streckte, einen Fuß in den Gürtelring schob, ihn vorsichtig anhob und ihn behutsam über die Hakenspitze schwenkte. »Tarmas Käfig ist doch verhext, oder?!«

»Hoffentlich bin ich im Werfen so gut, wie du glaubst!« erwiderte Sturmflügel und streckte den rechten Arm so weit aus dem Käfig, daß er die Spitze der Schwertscheide zu fassen bekam. Kethry hatte nicht den Atem, um ihm zu erklären, daß ihr Schwert auch ohne ihn zurechtkäme, wenn es außerhalb des Einflußbereichs ihres Käfigs wäre, und fuhr daher einfach fort, es Stück um Stück hinabzulassen, bis er es sicher ergreifen und halten konnte.

Dann ließ sie sich auf den Käfigboden fallen und wartete ab, bis die Schmerzen in ihren Armen abklangen. Wie schrecklich, älter zu werden! Warum können wir nicht alle bis zum Ende so jung wie mit zwanzig bleiben … und dann einfach tot umfallen?

Als sie wieder hochblickte, sah sie, wie das Schwert pfeilgerade in den anderen Käfig hinüberzischte und wie Tarma es so geschickt auffing, als ob sie das schon oft gemacht hätte.

Sie hielt es kaum in Händen, als auch schon die eine Käfigseite wie eine Tür aufschwang.

Und das nicht zu früh! Denn eben da erschien Keyjon in einem der Heckendurchgänge, begleitet von zwei riesigen Kreaturen … oder vielmehr Wesen, die nichts anderes als wandelnde Rüstungen waren.

»Shekal« fluchte Tarma und hechtete aus ihrem Käfig, rollte sich über die Schulter ab, um ihren Aufprall zu mildern, sprang dann hoch und stürzte auf Kethrys Käfig zu. Keyjon war so überrascht, daß sie wie erstarrt, mit weit offenem Mund und hängender Zunge, dastand und einfach zusah, wie Tarma das Schwert Gram, mit dem Heft voraus, durchs Gitter schob.

Aber gerade als Kethry es zu fassen bekam, löste Keyjon sich aus der Starre, wies mit der ausgestreckten Rechten auf die drei und schrie etwas in einer Sprache, die sogar Kethrys Ohren fremd war. 

Was immer auch es bedeutet haben mochte … die beiden lebenden Rüstungen an ihrer Seite nahmen Kampfhaltung ein, zückten ihre Waffen und stürzten auf Tarma los.

Kethry hatte schon einige Zauberanimationen gesehen, aber die nun war besser als alles, was sie kannte. Die zwei Rüstungen bewegten sich leichtfüßig, geschmeidig - und schnell. Und wenn Tarma nicht eine Idee schneller gewesen wäre, hätte der eine Automat sie mit seinem beidhändigen Breitschwert ja auch gleich von Kopf bis Fuß gespalten. Sie würde den beiden nicht lange entgehen können, so ganz allein, wie sie war … Auf daß sie nicht noch länger alleine bleibe! dachte Kethry und holte aus einem Geheimfach der Schwertscheide ihren kleinen Dietrich und machte sich daran, damit das Käfigschloß zu öffnen. Dabei hoffte sie inständig, daß Keyjon sich weiterhin auf Tarma konzentrieren und sie und den Habichtbruder ignorieren würde. Daß mir Sturmflügel jetzt bloß nicht auf den Gedanken kommt, er als Mann verstünde sich ja besser auf Schlösser als ich … Sie spürte, daß Sturmflügel sich an sie drängte … aber als sie aufsah, bereit, ihm den Schädel einzuschlagen, falls er ihr den Dietrich aus der Hand zu nehmen versuchen sollte, gewahrte sie, daß er sich beidhändig an die Gitterstäbe klammerte und sich so an die Käfigtür preßte, daß er ihre Bemühungen vor Keyons Blick so weit wie möglich verbarg.

»Danke«, flüsterte sie, widmete sich dann wieder ganz dem Schloß und untersagte sich jeden Gedanken an irgend etwas anderes, ja, selbst daran, daß ihre Gefährtin und Blutsschwester Tarma binnen weniger Augenblicke schon getötet werden könnte. Bei der Arbeit an einem Schloß, hörte sie ihren Einbruchslehrer sagen, gibt es für dich nichts als dieses Schloß. Wenn du dich ablenken läßt, hast du schon verloren.

Aber der war ja auch nie dadurch abgelenkt worden … daß zwei so verhexte Rüstungen, kaum eine Armlänge entfernt, die Gefährtin in Scheibchen zu hacken versuchten!

Da, das Schloß gab nach! Sie blickte hoch und sah, daß Keyjon ihr Vorhaben offenbar entdeckt hatte. Als sie ihre Käfigtür aufstieß, schrie die Hexe erneut einen ihr unverständlichen Befehl. Darauf ließ einer der Automaten sogleich von Tarma ab, machte kehrt, hob die Klinge hoch über seinen Helm und ließ sie niedersausen …

Aber sie zielte nicht auf Kethry. Sie zielte auf Sturmflügel.

Auf Sturmflügel, der im Käfigeingang nicht wegtauchen konnte, der keine Waffe hatte, um sich zu verteidigen, und den sie mit keinem ihr bekannten Zauber noch rechtzeitig würde schützen können …

Kethry sah die Klinge herabsausen und wußte, daß sie ihr Schwert Gram auf keinen Fall schnell genug hochbrächte … wäre er doch bloß eine Fr … Klirr!

Als Kethry sich wieder in der Gewalt hatte, ihre Zähne nicht mehr wie wild aufeinanderschlugen, ihr Hirn nicht mehr raste und ihre Augen nicht mehr tränten, dachte sie für einen Moment, jetzt sei sie völlig verrückt geworden - denn vor ihr kauerte, unversehrt, Sturmflügel, die Hand zur Abwehr eines Hiebs erhoben, der nicht vollendet worden war … und eine Haaresbreite über seinem Kopf schwebte, von Gram eisern pariert, das mächtige Breitschwert des Automaten.

Da standen sie alle für einen Augenblick einfach da - so wie ein merkwürdiges lebendes Bild…

Dann tauchte Sturmflügel unter den gekreuzten Schwertern weg. Er sprang auf die Füße, als der Automat seine Klinge von Gram löste, drehte sich zu ihm um und schrie Kethry zugleich zu: »Duck dich!«

Sie ließ sich, ohne noch zu überlegen, in die Hocke fallen, und der Habichtbruder ging wie ein Stier auf den Automaten los.

Das hätte nicht besser abgestimmt sein können, wenn sie es vorher geübt hatten: Denn die durch Magie bewegte schwere Rüstung hatte schon halb die Balance verloren, und als Sturmflügel ihr in den Brustpanzer stieß, kam sie vollends aus dem Gleichgewicht und taumelte rückwärts, stolperte über Kethry und schlug scheppernd mitten im Käfig auf … Im Käfig, in dem jeder Zauber zunichte wurde. »Weg da!« schrie Tarma, die nun, den anderen Automaten dicht auf den Fersen, über den Platz rannte. Da krochen Kethry und Sturmflügel, so rasch ihre Hände und Füße sie trugen, ihr aus der Bahn, und sie stürzte geradewegs in den Käfig - und die Rüstung, die zuviel Schwung hatte, um halten zu können, sauste hinterher. 

Kethry vernahm ein Würgen und Ächzen, und als sie jäh herumfuhr, sah sie, wie Keyjon sich mit den Händen die Kehle umklammerte und puterrot anlief bei dem vergeblichen Versuch, nun irgendeinen Ton hervorzubringen. Sturmflügel, der noch ausgestreckt auf dem Boden lag, richtete seinen Blick auf die Hexe und malte mit dem Finger einen kleinen Bogen in die Luft. Da schnappten ihr die Arme, mit aneinandergepreßten Handgelenken und fest verschränkten Fingern, wie ausgerenkt vor. Erst jetzt erhob er sich - so merkwürdig geschmeidig und anmutig wie eine Katze … und schritt langsam auf die Hexe zu, die zur Gefangenen und zum Opfer ihrer eigenen Gier geworden war. Kethry stand auf und stöhnte, als sie all ihre Prellungen spürte, die zweifellos prachtvolle blaue Flecken abgeben würden. Zugleich kam Tarma, nur vorsichtig auf dem linken Bein auftretend, aus dem Käfig gehumpelt und fragte mit gedämpfter Stimme: »Was war denn bloß mit diesem verfluchten Schwert los?« Kethry zuckte mit der Achsel. »Es dachte wohl, als es Sturmflügel nicht klar als Mann oder Frau einordnen konnte … es sei besser, gleich zu handeln und das später abzuklären.« Sturmflügel sah auf, als die beiden nun zu ihm traten, sagte aber kein Wort. »Was machen wir jetzt mit ihr?« fragte Kethry. Er fuhr sich mit der Hand durchs weiße Haar. »Das weiß ich nicht«, räumte er ein. »Ich habe so das Gefühl, daß das Schwert an deiner Seite sich gegen mich wenden würde, wenn ich ihr etwas anzutun suchte.«

»Vermutlich«, versetzte Tarma mißgelaunt. »Aber sie hat, unseres Wissens, schon zumindest einen Menschen getötet. Noch dazu einen Schamanen der Clans und Heiligen! Das Blut schreit nach Sühne…«

»Wärst du mit einer Strafe einverstanden, bei der sie am Leben bleibt?« fragte der Habichtbruder zu ihrer Überraschung. Tarma überlegte kurz und erwiderte dann vorsichtig: »Vielleicht. Aber nur, wenn sie nie wieder freikommen und Böses tun kann. Nur, wenn sie für immer hier festgehalten wird und der Rest ihrer Tage für sie zur Hölle auf Erden wird. Meine Herrin schwört auf Rache, mein Freund.«

Er nickte. »Danach steht auch mir der Sinn … Und du, junge Frau, wärst auch du damit einverstanden?«

Kethry nickte nur stumm; sie spürte bei ihm eine Macht wachsen, die aus einer ihr unbekannten, aber wohl jenem Energiereservoir verwandten Quelle stammte, aus dem alle Meister der Weißen Winde schöpfen konnten. Erst jetzt begriff sie, daß auch er einer jener Zaubermeister war …

Da hob er langsam die Hände. »Dein ganzes Leben lang wolltest du die Macht im Zentrum des Seins erobern … die Welt rings um dich nach deinen Gelüsten lenken«, wandte er sich feierlich an Keyjon. »Diesen deinen größten Wunsch will ich dir erfüllen … Herrin zu sein über alles, was dein Auge schaut, Herrin übers Netz…« Er wies mit dem Finger auf sie. Ein Beben durchlief den Ort, und alles schwankte und schwamm so fürchterlich, daß Kethry sich der Magen drehte und ihr die Augen tränten.

Als sie wieder klar sah, war Keyjon verschwunden. An ihrer Statt aber war eine riesige graue Spinne zu sehen, die fett und massig im Zentrum eines Spinnennetzes lauerte, das sich im Winkel zweier Hecken spannte.

»Spinnen sind bekanntlich kurzsichtig«, murmelte Sturmflügel, wie zu sich selbst. »Ich muß deshalb Sorge tragen, daß nur schädliche Wesen, die es verdienen, gefressen zu werden, einherkommen können… und alte oder kranke Lebewesen, denen ein schmerzloser Tod zu gönnen ist.«

Nun warf er Kethry einen Blick zu. Da wußte sie plötzlich, daß er nicht nur unendlich viel mächtiger war, als sie vermutet hatte -sondern auch weitaus älter. Sehr, sehr viel älter. »Dies ist ein Führer für euch!« sagte er und zauberte ihnen einen kleinen Feuerball. »Ich habe hier noch einiges zu erledigen, und er wird euch vor dem Morgengrauen zu euren Pferden bringen.« Und als er jetzt lächelte, war es Kethry, als ob ihre Müdigkeit und ihre Schmerzen von ihr abfielen. »Ohne eure Hilfe wäre ich sicher nicht freigekommen. Ich danke euch, meine Schwestern der Macht, habt Dank!«

»Gern geschehen«, erwiderte Kethry. Sie hätte ihm noch mehr sagen wollen, konnte aber nicht mehr bleiben, da das Zauberfeuer schon ins Dunkel vorausschwebte und Tarma ganz ungeduldig an ihrem Arm zerrte. So folgte sie der Shin’a’in in den Irrgarten, wo sie bald jede Orientierung verlor. Sie war so von widerstrebenden Gefühlen zerrissen, hätte gerne noch vieles von ihm gelernt, da er doch um so viele Dinge zu wissen schien … Was habe ich in meinem Leben denn vollbracht!’ Ich habe doch nur eine einzige Schule der Weißen Winde aufgebaut. Mit einer Macht wie der seinen könnte ich …

Ein heilloses Durcheinander anrichten, ja, das könnte ich, mich in Dinge einmischen, die mich nichts angehen! Nein, derlei Macht ist wohl nicht erstrebenswert. Und zudem, was würde sie mir schon bringen außer Neid und Argwohn?

Mit einer Macht, wie sie Sturmflügel zu eigen war, würde sie nur Zielscheibe der Begierden von Bösewichtern wie Keyjon werden.  

War dieses Wissen solch ein Risiko wert?

Ein Risiko nicht nur für sie selbst, sondern auch für Tarma, die Kinder und Jadrek…

Nein, schloß sie. Schließlich waren wir es doch, die ihn gerettet haben. 

Wissen ist nicht alles. Manchmal benötigt man nur gesunden Menschenverstand und eine vernünftige Planung … Da hörten die zwei Frauen hinter sich ein freudiges Krächzen und jubilierendes Zwitschern, und als sie sich umblickten, sahen sie die Feuervögel, deren jeder von seiner eigenen Flamme erstrahlte, über die Hecke in den nächtlichen Himmel aufsteigen, kreisen und herabstoßen, und sie sangen ein Lied und glichen ewig brennenden Feuerwerks-körpern, die sich selbst zum Tanze aufspielen. Kethry spürte, daß ihr die Augen in Tränen schwammen, und hörte neben sich Tarma vor Staunen keuchen.

Die Feuervögel zogen noch einige Kreise und stiegen nun, einander immer noch zujubelnd, ins Geäst der alten Bäume auf, und als sie sich darin niederließen, erglühten deren Kronen für einen Moment in smaragdgrünem Licht, so als ob ihrer jede eine winzige Sonne beherberge.

Aber dann waren all die Vögel mit einemmal verschwunden. Und Kethry sah im Schein des Zauberlichts, daß auch Tarma die Tränen übers Gesicht liefen. Ja, es hatte noch einen Grund dafür gegeben, daß zwei tapfere Männer ihr Leben eingesetzt hatten, um die Vögel aus der Sklaverei zu befreien. Sie faßte Tarma an der Schulter und drückte sie innig an sich.

Ja, genau das ist erstrebenswert: frei zu sein, Freunde zu haben und fähig zu sein, Schönes zu sehen, ohne es für sich allein … oder um der Macht willen, die es verkörpert… haben zu wollen. Dann ließ Kethry ihre Eidschwester gehen, so wie Sturmflügel die Feuer vögel hatte gehen lassen.

»Komm, meine Gefährtin, laß uns nach Hause zurückkehren«, sagte sie. »Wir haben jetzt viel zu erzählen.«