ELUKI BES SHAHAR

 

Eluki bes Shahar kam über Sheila Gilbert, Lektorin bei Daw Books, zu uns.

Sie ist Auskunftsbeamte der Bibliothek von Greater Pough-keepsie (New York). Das erinnert mich an Basingstoke; ich bin im Norden des Bundesstaats New York aufgewachsen, und Poughkeepsie war, als ich zur Grundschule ging, nichts als ein Nest mit einer riesigen bundesstaatlichen Nervenklinik. Aber heute ist es eine Stadt mit gut 80000 Einwohnern. Alles ändert sich eben, und nichts bleibt, wie es war.

Aber sei’s drum: Eluki hat unter dem Pseudonym »Rosemary Edghill« drei historische Liebesromane und unter ihrem richtigen Namen den Science-fiction-Roman Hellflower (Höllenblume) publiziert. Einen Roman mit dem gleichen Titel, aber von einem anderen Autor (von George O. Smith, soweit ich mich erinnere) habe ich als junger Sci-fi-Fan gelesen … so um 1953. Wie doch die Zeit vergeht! - MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ELUKI BES SHAHAR

 

Schwarze Magie

 

Sie hieß Coelli Lightfoot und trug zwei grüne Türkise im linken Ohr, und von ihrem rechten Ohr baumelte ein goldener Mond. Sie hatte blaue Augen, braunes Haar und ein energisches Kinn. Sie war nach ihrer Geburt beim Orden in Harkady in Pflege gegeben worden und hatte die recht ereignislosen ersten zwölf Jahre ihres Lebens mit Kochen und Putzen und Botengängen für die Ordensoberen verbracht. Dieser Orden hatte einst einer Gottheit gedient, deren Namen inzwischen in Vergessenheit geraten war. Er nahm nun, wegen ihres Geschicks für seine anspruchsvolle Kunst, lieber Frauen als Männer auf, und als Coelli älter wurde, war es ihr großer Wunsch, daß man sie zum Bleiben auffordere. Darum bat der Orden ja nicht alle Pfleglinge. Er bekam alljährlich viele Säuglinge anvertraut, weil er sie ernährte und aufzog, und schickte alljährlich Kinder fort, die ihm untauglich erschienen. Andere lehnten das Angebot zu bleiben ab, weil die Ordensregeln streng und hart waren.

Aber an Coelli Lightfoot entdeckten die Oberen von Jahr zu Jahr mehr Talente und Tugenden. Sie wuchs in einer Welt schweigsamer, arbeitsamer Männer und Frauen auf, und als sie zum erstenmal ihre Tage bekam, rief der Chef-Buchmaler sie in sein Studierzimmer und fragte, ob sie gewillt sei, ihre Reihen zu verstärken… Er sagte ihr nur, was sie bereits wußte - daß sie die Geheimnisse, die ihr anvertraut würden, nicht verraten dürfte und keine anderen Kinder haben könnte als die, die bald aus ihrer Hände Arbeit hervorgehen würden.

Aber Coelli wünschte sich kein anderes Leben als dieses, und so verabreichte man ihr die Droge, die mit ihren Tagen ein für alle Male Schluß machte, und begann, sie in den Künsten des Ordens zu unterrichten.

In der Zurichtung des Pergaments. Im Mischen der Pigmente und im Ausglühen des Golds. Im Destillieren der Tinte, Zuschneiden der Federkiele und Pinsel sowie in allen anderen Feinheiten der hohen Kunst des Buchmachens.

Und als sie alles gelernt hatte, was ihre Lehrmeister sie lehren konnten, begab sie sich ans Werk.

Coelli Lightfoot stellte Bücher her. Bücher, die Abschriften von Wachs- oder Tontäfelchen oder von zerlesenen, uralten Originalen waren, auch Mehrfachkopien besonders gefragter Werke, so daß man statt einem dann zwei, drei oder fünf Exemplare hatte -die alle gleich und doch so unterschiedlich wie jene Hände waren, die sie geschrieben hatten. Und wenn ihre Arbeit endlich getan war - die Pergamentseiten beschrieben, illuminiert und an den Lederrücken angenäht, die Buchdeckel gefertigt und je nach Rang und Reichtum des jeweiligen Kunden verziert, die Schnallen und Schließen fest geschlossen waren -, konnte sie sich sagen: Ohne mich würde dies hier nicht existieren. Und in diesem Sinne mangelte es ihr nicht an Kindern. Fünf Jahre später trug Coelli dann die Schildpatt-federbüchse der Gesellin am Gürtel, und sie machte weiter. Und wieder fünf Jahre später erhielt sie die fein mit Silber eingelegte Lackbüchse der Schreiberin, und man bat sie wieder zu bleiben. Als sie aber ihre Kunst weitere fünf Jahre ausgeübt hatte und nun endlich die mit dicken Bernsteinperlen verzierten, dunkelroten Seidenquasten der Meisterilluminatorin von ihrer Federbüchse baumelten, war es Zeit für sie zu gehen.

Denn das Ordenshaus bot nur für wenige Platz, und die Jungen und Starken und Begabten mußten in die weite Welt hinaus, um für den Orden und sich Reichtümer zu erwerben. So nahm Coelli Lightfoot im siebenundzwanzigsten Lenz ihres Lebens ihr Meisterstück unter den Arm und begab sich zum Heuermarkt vor den Toren der Stadt, um festzustellen, wer denn an den Diensten einer Meisterbuchmalerin aus der Ordenswerkstatt zu Harkady interessiert sei.

Haushofmeister Meule war ein Mann mit eiskalten Augen, der seinen Blick so zwischen ihr und ihrem Buch hin und her schweifen ließ, daß sie geschworen hatte, er werde zu guter Letzt noch die Farben ihrer schönen Initialen verwischen. Dem Markttratsch zufolge kam er aus einem Großen Haus mit Namen Windwalls, das hoch im Gebirge jenseits der Wüste lag. Aufgrund all der Fragen, die er zu ihrem Können stellte, war Coelli Lightfoot sich sicher, daß er jemanden suche, der einem Großen Scriptorium mit vielen Schreiberinnen und Schreibern vorstehen könne. Meister Meule war einer von denen, die weder ein Ja noch ein Nein über die Lippen bringen, zählte jedoch ihrem Orden genügend gutes Rotgold hin, um Coelli mitnehmen zu können, ohne einen einzigen Fetzen Pergament unterschrieben zu haben … Er versprach hoch und heilig, ihren Dienstvertrag zu schicken, sobald sein Herr ihn mit höchsteigener Hand ausgefertigt habe, wobei Coelli überzeugt war, daß die Hand, die den Kontrakt fein säuberlich schriebe, die ihre sein würde.

Es wurden zwei Wochen Wegs durch die Wüste und dann ein paar Tage harten Aufstiegs auf Bergsteigen, die minder noch als Ziegenpfade waren. Dabei kamen sie durch die dichten hohen Wälder, die ihrem Orden Galläpfel, Misteln und Weidenholz für die Tintenherstellung lieferten. Endlich erreichten sie die aus weißen Quadern erbaute Rundburg, die Windwalls genannt war, und so sah Coelli erstmals, welche Art von Großem Haus ihre Dienste begehrte.

»… aber die Dienstdauer und Bezahlung, Meister Meule. Sie sind hier gar nicht genannt«, sagte Coelli und tippte mit schwieligem Zeigefinger auf das ihr vorgelegte Pergament. Meule runzelte nur die Stirn. Hirnloser Narr, dachte sie, wer mich als Schreiberin dingt, weiß doch wohl, daß ich auch lesen kann. »Schau noch mal genau hin, Mädchen«, brummte er und stellte einen Weidenkorb auf den Tisch, auf dem die drei Vertragsausfertigungen lagen: eine für das Haus, eine für sie und eine für die Oberen in Harkady.

»Komm, Meule, dir bräche keine Zacke aus der Krone, wenn du mich mit meinem Titel anreden würdest! Du hast eine Meisterbuchmalerin des Ordenshauses zu Harkady gedingt … nenne mich also Meisterin Coelli und erweise mir die Großzügigkeit deines Hauses.«

»Solange du nicht unterzeichnet hast, Meisterin Coelli, haben wir niemanden gedingt. Solltest du aber nicht vorgehabt haben, ihn zu unterschreiben, hättest du mit deinem Kommen nur unser aller Zeit vergeudet.«

»Und die würde ich noch mehr vergeuden, wenn ich diesen Vertrag unterschriebe, der nicht rechtskräftig wäre«, murmelte Coelli und wandte sich wieder den Klauseln zu, die sie bereits ihren ganzen ersten Morgen in dieser Burg gekostet hatten. Diese Verträge, die da im Sonnenlicht lagen, das durch die hohen, schmalen Fenster einfiel, waren so sauber und schön geschrieben - wie von ihr oder ihresgleichen! Meule hatte ihr aber erzählt, daß sonst niemand aus ihrem Orden hier tätig sei. Vielleicht hatte er doch die Wahrheit gesagt … vielleicht konnte ja der Herr dieses Hauses tatsächlich lesen und schreiben.

Aber warum ließ man dann ihre Dienstdauer und ihre Löhnung so im unklaren? Sie studierte die Dokumente von neuem, und da stach ihr eine Formulierung in die Augen, die sie bisher offenbar übersehen hatte.

»>Für die Lebenszeit der Katze<«, las sie mit lauter Stimme vor. 

»Welcher Katze?«

»Dieser da«, erwiderte Meule und hob eine rötliche Fellkugel aus seinem Weidenkorb. Coelli nahm das kleine Wesen ganz automatisch in ihre hohlen Hände, und da sah es mit seinen noch kätzchenhaft blauen Augen ganz unnahbar eulenhaft zu ihr auf. »Meule, du bist wohl wahnsinnig?« knurrte Coelli belustigt. »Gib mir deine Feder, oder soll ich meine nehmen?« Aber seine Feder aus Feinsilber hatte eine so rasiermesserscharfe Spitze, und er preßte ihr beide Finger so fest darum, daß sie ihr ins Fleisch fuhr und Blut daraus quoll - das ihr als Tinte dienen sollte. Sie fluchte leise, da es weh tat, aber als Meisterin aus Harkady hatte sie gegen Hexerei ebensowenig einzuwenden wie gegen guten Lohn, und so unterschrieb sie diese drei Ausfertigungen mit der hellroten Tinte, die ihre Farbe wohl so lange behält wie jede andere.

Dann nahm Meule das rötliche Katerchen in die eine Hand und ihre Finger in die andere und zwang dem Tierchen das Maul auf, so daß ihm ihre Blutstropfen auf die Zunge fallen konnten. Darauf sprach er aber ein Wort, das die Sonne erbleichen und die Silberfeder in Coellis Hand rauchen und jäh verglühen ließ. Das Katerchen setzte sich mißmutig auf, um sich einer Katzenwäsche zu unterziehen, und Coelli wünschte sich, weil es jetzt leider viel zu spät war, noch etwas zu ändern, daß sie mehr Angst empfunden -und ihrer inneren Stimme Gehör geschenkt hätte. »Meule, was hast du da getan?« fragte sie nur, und da lächelte er -zum erstenmal, seit sie ihn kannte.

Am Ende des ersten Jahres versuchte sie, sich freizukaufen. Am Ende des dritten Jahres versuchte sie zu fliehen. Aber jetzt war sie schon sieben Jahre in Windwalls.

Als Coelli pünktlich zu Dienstbeginn die Schreibstube betrat, saß Cheyne wie üblich auf dem Fenstersims. Er sonnte sich und zuckte nur schläfrig mit einem Ohr, als sie an ihm vorüberging. Wie lange lebte eigentlich so ein Kater?

Sie schlug ihr Pult auf und stellte Federn und Tintenfaß bereit. Der riesige, rötlich gefärbte Kater auf dem Fenstersims bewegte sich unruhig im Schlaf.

Im folgenden Jahr ließ ihr Gedächtnis stark nach. Sie konnte sich bald an kein Gesicht, keine Stimme und keine Minute der Muße oder Freude aus all der Zeit mehr erinnern, die sie in der kalkweißen Zitadelle verbracht hatte. Da war die Arbeit und gelegentlich, zu ihrem Mißbehagen, auch Meule … An den Hausherrn, der ihr ja wohl ihre Arbeit zuteilte, und die Dienstboten, die ihr doch Speis und Trank, Bettwäsche und Waschwasser und Kerzen brachten, hatte sie keinerlei Erinnerung.

Aber Cheyne war ihr immer sehr präsent. Cheyne, der sie im Winter gewärmt hatte und ihr Licht im Dunkel gewesen war. Cheyne, der im Frühling einmal Schmetterlinge gejagt und dann reglos, mit einem Riesenbuckel, auf ihrem Fensterbrett gehockt hatte. Cheyne, das einzige Lebewesen in Windwalls, das ihr gab, was jedes Lebewesen braucht. Cheyne, ihr Kerkermeister.

Die Sonne ging schon unter, als sie endlich die Pinsel und Federn forträumte. Ein gutes Tagwerk, so gut wie jedes andere in diesen letzten sieben Jahren. Ihre Dienstherren würden zufrieden sein. Solide. Meisterhaft… Zum Verrücktwerden.

Das war nicht die Art Arbeit, von der sie während ihrer Lehrzeit geträumt hatte - nicht die Kunst, zu der ihr Orden in Harkady sie einst, im Wissen um ihr Talent, ausgebildet und angehalten hatte. All die noch ungebundenen Seiten, die sich da unter ihren Händen breiteten, waren einfachste Schreibarbeit - Buchstaben zu Worten gereiht, Worte zu Seiten und Seiten zu Seiten, zu einem uferlosen Meer von Seiten. Sie malte keine Initialen mehr rot aus, ja, sie schrieb überhaupt keine Initialen mehr, zog keinen sauberen, dem Auge wohltuenden Rand mehr, schmückte die Deckel der Bücher, die sie hier fertigte, nicht mit leuchtenden Edelsteinen. Alles, was sie hier hervorbrachte, war nur klein und rund und säuberlich -ordentlich, grau, verläßlich.

Und ihrer Fähigkeiten ebenso unwürdig wie der Mühe und Liebe, die für ihre Ausbildung aufgewandt worden waren. Warum hatte das Haus Windwalls überhaupt eine Meisterbuchmalerin gedingt, wenn man nicht mehr als das wünschte? Und warum ließ man sie nicht endlich ziehen?

Coelli seufzte … Sie hatte mit Meule geredet und gestritten und ihm vor Augen geführt, daß er für diese Vertragssumme ein ganzes Heer von Schreibern hätte haben können. Aber nein … Windwalls hatte sie gedingt, und er beantwortete ihre Tränen, Drohungen und Bitten mit Schmeicheleien und der Versicherung, man sei mit ihrer Arbeit höchlich zufrieden — und einem deutlichen Hinweis auf die Laufzeit ihres Vertrages. Für die Lebenszeit der Katze.

Die Tage wurden kürzer. Coelli mußte sich eingestehen, daß wieder ein Sommer vorüber war und sie noch immer in Windwalls saß. 

Bald wäre es Winter, und dann würde sie ihre Zeit damit zubringen, bei Lampenlicht harmlose, graue Bücher zu fertigen und vom kommenden Frühjahr zu träumen, das ihr, vielleicht, die Erlösung von ihrer Fron und die ersehnte Freiheit brächte. Coelli spürte, daß ihr Können verkümmerte, da es nicht gefordert wurde, und hatte endlich den Eindruck, von Morgen zu Morgen ein Stück mehr an Kraft und Würde zu verlieren und von Tag zu Tag auf mehr ungemachte Bücher zurückzublicken - ihre ungeborenen Kinder, deren Klagen sich mit dem Heulen des Windes vereinten.

Man machte sie zum Krüppel! Mit jedem Tag und jeder Beteuerung, man verlange nur Mittelmäßiges, stahl man ihr noch ein wenig mehr von ihrer Größe, ihre Verzweiflung wuchs von Verlust zu Verlust. Aber Windwalls’ Magie hatte ihr ihren Widerstandswillen wie mit sanfter Chirurgie genommen. Waren diese Leute grausam? Oder haßerfüllt? Sie wußte es nicht. Ihr war die Gabe, zu richten und zu urteilen, abhanden gekommen. Dieses Haus war in seinen Unternehmungen so sehr auf Sicherheit bedacht, daß es ihr mit dem schändlichen Dienstvertrag die Seele geraubt und in den Körper des Katers verpflanzt hatte. So daß sie nicht fliehen und nicht einmal von Flucht träumen konnte, solange Cheyne am Leben war.

Die Äste peitschten ihr ins Gesicht. Schluchzend, verängstigt und voller Scham über ihre Tat, stolperte Coelli Lightfoot durch den dunkler werdenden Wald. Das Blut klebte ihr so an den Händen, daß sie wünschte, ihre armen Hände hatten Augen zum Weinen.  

Hatte sie das tun dürfen, um sich den letzten Rest ihrer ach so grandiosen Begabung zu bewahren? letzt, in der dunklen, feuchten und kalten Wildnis, erschienen ihr ihre Talente bloß als banale Gaben, die keineswegs ihre aus jugendlichem Ungestüm geborene Tat rechtfertigten.

Sie hatte nicht nur den Lohn für sieben Dienstjahre, sondern auch ihre Zukunft als Meisterbuchmalerin vertan. Denn ihr Orden würde sie aus seiner Liste streichen, sobald er von ihrem Tun erführe.

Coelli stöhnte laut auf, taumelte weiter durch die Dunkelheit und suchte die innere Stimme zu übertönen, die ihr einzureden suchte, sie habe recht getan, als sie den Teil des Ichs verteidigte, den keiner opfern darf. Aber irgendwann konnte sie einfach nicht mehr weiter: 

Ihre Kehle brannte ihr wie Feuer, und ihr war eng um die Brust, ihre grauen Röcke waren ganz zerfetzt und durchnäßt, die dünnen Sohlen ihrer Stiefel durchgelaufen und durchlöchert. Nun, dachte sie, ist es Zeit nachzusehen, was meine Meisterfederbüchse an Dingen enthält, mit denen ich meine so teuer erkaufte Freiheit feiern könnte.

Aber sie war sich kaum über diesen Schritt klar geworden, als der Boden unter ihr nachgab. Und sie fiel durch schlammiges Gesträuch und schlug endlich so hart auf, daß ihr auch ihre letzten Flausen vergingen. Sie sah nichts mehr, da es nun stockdunkel um sie war, aber ihre Nase sagte ihr, daß sie am Rand eines Sumpfes gelandet war. So lehnte sie sich an die steile Bank, die sie herabgesaust war, strich sich die Röcke glatt und wartete darauf, daß der Mond aufgehe und ihr leuchte.

Kein Tritt ließ die noch dicke Laubschicht aus dem vorigen Herbst rascheln, und aus dem Tümpel vor ihr war nur ab und zu ein leises Plätschern zu vernehmen. Coelli wußte nicht, wie nah sie dem Sumpf war, und verspürte auch keine Lust, das herauszufinden. Sie wartete. Vielleicht sollte sie eine Buße auf sich nehmen, zur Sühne dafür, daß sie Cheyne aus Eigennutz getötet hatte! Aber sie hatte schon volle sieben Jahre gebüßt und damit im voraus für ihr Verbrechen bezahlt … Sobald der Mond aufgegangen wäre, würde sie weiterziehen, um zu sehen, ob sie sich wirklich ein lebenswertes Leben erkauft habe.

Würde der unsichtbare Herr von Windwalls sie so verfolgen lassen wie irgendeine entlaufene Dienstpflichtige, die zum Brandmarken und Auspeitschen zurückgeschleift wird? Aber ihre Dienstzeit war abgelaufen, mochte sie das Ende auch etwas beschleunigt haben …  

Nein, er wird mich nicht hetzen, sagte sie sich endlich, sondern sich über die Lohnersparnis für fast acht Arbeitsjahre die Hände reiben.

Da hellte der Himmel sich so weit auf. daß er sichtbar wurde durch die Lücken im Blätterdach. Die nächtlichen Laute, die bald nach ihrem Sturz wieder eingesetzt hatten, verstummten erneut, so daß Coelli nur noch ihre eigenen Atemgeräusche hörte und sich fragte, worauf sie denn da eigentlich horche. Dann sah sie den Mond, der über die Bäume aufgestiegen war … und das graubraune Biest, das über das spiegelglatte Wasser des Sumpfs auf sie zuglitt. Sein flacher, kleiner Kopf duckte sich zwischen starke Schultern, und die Krallen seiner gespreizten Pfoten hinterließen keine Spur auf dem mondlichthellen Wasserspiegel. Coelli sah genau, daß sein Nackenfell vor Erregung funkelte und seine Schnurrhaare gesträubt waren, und hörte, daß es leise ein Jagdlied summte, ein Lied von Beute und Behexung. Es war Cheyne.

In seinen furchteinflößend gelben Augen glomm kein Erkennen auf, lag nicht einmal die schläfrige Gleichgültigkeit, mit der er sie immer betrachtet hatte … Cheyne war durch Schwarze Magie wieder zum Leben erweckt und dabei tausendfach vergrößert worden, und in seinen irren Lichtern war kein Fünkchen von Beseeltheit.

Seine Seele war woanders - an die ihre gekettet und vorzeitig und ohne Weihen abberufen, war sie mit ihrer geflohen … Da fletschte Coelli, ehe sie sich’s versah, ihre stumpfen, mickrigen Zähnchen und miaute dem sich anpirschenden Kater herausfordernd entgegen.

Der erstarrte, als ob er nun lohnendere Beute entdeckt hätte, und kam dann, schneller als zuvor, geradewegs auf sie zu. Aber den Tod, welchen auch immer er mir bereiten würde, habe ich nicht verdient, dachte Coelli. Sie unterdrückte ihren seltsamen Impuls, sich zum Kampf zu stellen, und ergriff nun die Flucht … vergeudete aber kostbare Sekunden damit, am Ufer des Tümpels, auf dem ja ihr Tod heranschlich, entlangzulaufen, und hangelte sich dann an Wurzeln, die aus dem Lehm ragten, die steile Böschung hinauf.

Sie sah sich suchend um. Aber im Licht des Vollmonds bot der Wald keine Deckung, wirkten die Bäume wie die stehengebliebenen Säulen eines zerstörten riesigen Tempels. Auf einen Baum konnte sie sich nicht retten, da das Biest, das ihr folgte, bestimmt viel besser kletterte. Also lief Coelli weiter, obwohl sie gut wußte, daß sie nicht die kleinste Chance hatte. Windwalls würde sie nicht wieder aufnehmen, nachdem es dieses Untier auf sie losgelassen hatte.

Das Rasseln von Bernsteinperlen ließ Coelli aufhorchen … Sie sah in vollem Lauf zu ihrem Rangabzeichen hinab und umklammerte es in einer jähen Aufwallung. Aber dann hätte sie fast bitter über sich selbst gelacht - mit so einer Meisterfederbüchse konnte sie ihren Verfolger doch nicht beeindrucken!

Doch die Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Sie blieb stehen und machte kehrt. Nun hieß es Atem holen und dann kämpfen. So sie konnte. Sie war weder Priesterin noch Kriegerin … und hatte als »Waffe« ja nur ihre Lackfederbüchse, die das Werkzeug ihrer Kunst enthielt: Federkiele, Pinsel, Tintenstift und Block und dazu ein winziges Federmesser mit silbernem Griff. Nun hielt sie ihr Etui wie ein heiliges Amulett schützend vor sich hin und grub in ihrem schlechten Gedächtnis nach dem Wissensfetzen, auf dem ihre ganze Überlebenshoffnung gründete. Und dabei hörte sie den Höllenkater, schon viel zu nah, die Böschung heraufklettern.

Aber das Bedürfnis nach einer Waffe, irgendeiner Waffe, ließ sie jetzt die Büchse öffnen und das winzige Messer herausholen. Hell blitzte nun die schmale Klinge im Mondlicht auf, und ihr Gleißen schlug in den Augen des zum Sprung ansetzenden Katers Funken, die wie eine Erwiderung darauf waren.

Er war viel massiger, als sie gedacht hatte, und warf sie einfach um. Sie glitt über nasses, halb verwestes Laub und spürte seinen heißen, höllisch stinkenden Atem, als er den Kopf zum Biß senkte.  

Halb von Sinnen vor Angst, hämmerte sie ihm mit den Fäusten gegen die Schläfe, und dabei drehte sich ihr das Messer in der Hand und schnitt ihr ins Fleisch … Der Kater riß ihr mit den Hinterpfoten tiefe blutende Wunden in die Beine, da er Halt suchte, um ihr den Bauch aufzuschlitzen, und näherte seinen Dämonenschädel und sein weit aufgerissenes Maul wieder ihrem Hals. Jetzt fiel Coelli ein, warum sie sich von dem Federmesser Rettung versprochen hatte, und sie wappnete sich gegen die kommenden Schmerzen und stieß nun dem Teufelstier, so weit ihr Arm reichte, die Klinge durch den Rachen ins Gedärm. Daß Cheynes Geist in ihr zustimmend miaute, nahm ihr die Angst.

Das Untier war so überrascht, daß es das Zubeißen vergaß. Da ließ sie, um aus seinem ekligen, klebrigen Gekröse freizukommen, das Messer los und zog Arm und Hand zurück — spürte dabei aber noch, wie der Kater seine Kiefer zu schließen begann. Und da wußte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Dann verschwand der von Eisen und Silber verbrannte Nachtmahr in tonlosem Geheul. Nur die tiefen Beinwunden und dieser ringförmige Biß um ihren Oberarm, aus dem rubingleiche Blutstropfen quollen, erinnerten nun noch an ihn.

Eine Meisterilluminatorin ist zwangsläufig auch Gelehrte. Denn um ein Werk richtig schmücken und binden zu können, muß sie den Text nicht nur lesen, sondern auch verstehen können.

Eisen bricht die Mondzauber.

Silber bricht die Sonnenzauber.

Und das kleine Messer bestand aus beiden Metallen.

Nach einer Weile rollte Coelli sich auf die Seite, zog die Beine an und begann zu weinen. Nun war sie wirklich frei.

Als die Sonne den Mond am Himmel ablöste, wusch sie sich mit dem klaren Wasser des hier in den Sumpf mündenden Baches ihre Wunden aus und verband sie mit Moos und Stoffstreifen, die sie von ihrem Hemd abriß, und kaute nun eine bestimmte Baumrinde, bis sie einen klaren Kopf hatte. Dann machte sie sich auf den langen Weg zurück nach Windwalls. Ihre Federbüchse aber ließ sie da, wo sie lag.

Der Wald hatte immer Rohstoffe für ihre Kunst geliefert. Nun ließ Coelli sich von ihm ernähren, am Leben erhalten, auf daß sie ihre Aufgabe zu Ende bringen könne. Sie brauchte beinahe drei Tage für den Rückweg durch die Wildnis, den sie auf dem Hinweg in einer Nacht im Lauf hinter sich gebracht hatte, und schon am ersten Tag, als die anfänglich gesammelte Rinde aufgebraucht war, kam es ihr vor, als ob sie nicht allein unterwegs sei: Cheyne strich ihr mitunter um die Beine und brachte sie damit zu Fall -aber dann schwebten Meule und Unbekannte herzu und bestürmten sie, wieder aufzustehen und dorthin zu kommen, wo sie ihr helfen könnten. 

Und wenn Coelli sich daraufhin weiterschleppte, sprachen sie mit ihr und lobten sie. Aber an das, was sie da sagten, konnte sie sich später nicht mehr erinnern.

Als ihr Fieber am dritten Tag fiel, wußte sie, daß sie überleben und ihre Wunden vernarben sehen würde.

Die Grenzsteine von Windwalls passierte Coelli kurz nach Mittag. Meule - in Weiß statt in seine grüne Kastellansrobe gekleidet -erwartete sie schon vor dem Burgtor. Dicht hinter ihm sah sie all die anderen stehen, die sie nur aus ihren Fieberträumen kannte … Sie schritt langsam auf sie zu, setzte dabei behutsam Schritt vor Schritt, um ja nicht noch zu stolpern.

»Willkommen«, grüßte Meister Meule. »Willkommen daheim, Meisterin Coelli.«

Dann erhob sich ein Flüstern gleich dem des Windes in den Bäumen, und da wußte Coelli, ohne eines weiteren Belegs zu bedürfen, wer diese Katze geformt und zu ihr geschickt hatte. Willkommen, flüsterten nun die versammelten Herren von Windwalls. Willkommen … willkommen … willkommen … »Ich komme, weil ich um meine Entlassung nachsuchen will, Meule«, erwiderte Coelli mit rauher Stimme. Ihre Kehle war wie Pergament und des Sprechens ungewohnt. Aber sie hatte gesagt, was sie hatte sagen wollen.

Meule meinte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Als er nun den Mund zu besänftigenden Platitüden auftat, fühlte sie eine panische Angst in sich aufsteigen, daß sie seinen Worten erneut Glauben schenken könnte.

Aber Cheyne kam ihm zuvor: Ihr Kater-Ich, nun für immer ein Teil von ihr, stimmte ein HohnIied auf diesen Ort der Hexerei und des Wahnsinns an. Da stöhnte Coelli-Cheyne auf und wich einen Schritt zurück.

»Der Kater«, murmelte Meule ungläubig. »Du hast den Kater.«  

»Cheyne ist tot. Du mußt mich gehen lassen, deinem Wort gemäß.«

Da begannen die Herren wieder zu flüstern, und es war ein Raunen wie von Blättern im Wind. Aber Coelli blickte die Burg hinan. Die Feste erschien ihr nicht mehr starr und stark, sondern weich und schlaff wie ein Lebewesen, dem man den Lebensfunken geraubt hat.

»Dich gehen lassen ? Ja, wohin denn ? Für dich gibt es kein Zuhause mehr als dieses. Deinem Orden haben wir berichtet, du hättest ihn verraten. Von hier ging kein Vertrag, kein Schreiben nach Har-kady ab. Für deinen Orden bist du tot. Ja, wir haben dich mit Bedacht ausgewählt … eine begabte Meisteriluminatorin, die sich gegen die Zerstörung ihres Talents wehrt… und du hast nie begriffen, wie nützlich du uns warst und warum. Du hast uns gehaßt. Geglüht vor Haß … ach, so heiß geglüht. Du hättest dich noch Jahre so verzehrt und uns mit dem Feuer deiner Wut gewärmt.«

Uns gewärmt, seufzten die Geister im Chor. Meule trat auf Coelli zu. Er sah plötzlich nicht mehr aus wie ein Mensch, sondern weit eher wie etwas, das ihr einst vorzuspiegeln vermocht hatte, er sei ein Mensch.

»Jetzt müssen wir uns wohl nehmen, was wir bekommen können, und das alles auf einmal«, sagte Meule.

Die Geister heulten zustimmend. Bei diesem disharmonischen Geheul war es Coelli, als ob Windwalls jetzt wirklicher werde und sie in jenen Alptraum zurückholen wolle, aus dem es für sie kein zweites Erwachen gäbe. Komm zu uns … Glühe für uns … O Feuerkind, O Königin … Bleib bei uns … Rette uns …

Eine über der Zeit stehende Königin, die für immer über Windwalls und dieses Geschlecht aus dem Reich der Legenden herrschen würde. Coelli sah in der Glorie von Windwalls schon ihren Krönungsornat schimmern.

»Nein«, sagte sie. Ein Teil von ihr war Cheyne. Und Cheyne hatte kein Interesse an Legenden, sondern an Jagd und Beute. Aber sie würde nicht die Beute sein!

»Du wirst doch nicht so weitermachen wollen, wie du jetzt bist«, sagte Meule. Aber da wog sie schon die Klinge in ihrer Hand und schleuderte sie.

Ihr Blick maß den Bogen, den die Klinge beschrieb. Sie sah sie im Sonnenlicht blitzen und hörte sie auch gegen die weiße Ringmauer klirren.

Da schwieg der Wind. Kein Lüftchen ging mehr … Coelli stand auf einem Gipfel, auf dem einst eine Feste namens Windwalls gethront haben mochte, und starrte auf ein kleines Federmesser aus Eisen und Silber hinunter, das auf den Felsen unter ihr im Sonnenschein glitzerte.

»Wie gesagt, Meister Meule … die Katze ist tot. Und in Harkady schließt man nur mit Menschen Verträge.«

Wer in einen gewissen Laden geht, der in einer gewissen Straße in Choirdip liegt, sieht da eine Frau, die im linken Ohr zwei grüne Türkise und im rechten einen goldenen Mondanhänger trägt. Sie hat blaue Augen, braunes Haar und ein energisches Kinn. Sie handle mit Antiquitäten und Kuriosa, sagt sie. Der Magistrat von Choirdip weiß genau, daß alles, was irgendwo gestohlen wird, irgendwann den Weg in den Laden von Coelli Lightfoot findet. Es heißt, sie sei einst Schreiberin gewesen und mit ihrem Liebsten aus ihrem Ordenshaus geflohen. Man sagt auch, sie verwandle sich bei Vollmond in eine Katze … und sie sei eine Hexe, die mit den Geistern der Lüfte in Verbindung stehe. Ja, man erzählt sich viel über sie. Aber niemand wüßte zu sagen, wohin sie geht, was sie tut oder wie sie zu all den Büchern kam, die ihre Wände bedecken …  

Coelli Lightfoot lohnt Choirdip seine Unwissenheit gut, und sie ist weder Diebin noch Hehlerin. Aber sie ist sehr gut zu Katzen. Und sie ist frei.