DAVE SMEDS

 

Dave Smeds ist kein Anfänger und kein Unbekannter. Er hat unter anderem drei Romane geschrieben und kehrt nun, nach »drei Jahren einer fast absoluten Schreibpause«, zu den Magischen Geschichten zurück. Da seine Frau soeben ihr Hebammendiplom gemacht und eine Stelle angetreten hat, kann er sich wieder den ganzen Tag an den PC setzen — was vermutlich bedeutet, daß er demnächst einen neuen Fantasy-Roman fertigstellen wird, den die Lektoren allerorten mit Freudenschreien begrüßen dürften. Ich hoffe jedoch, daß er auch weiterhin Kurzgeschichten schreibt und uns treu bleibt. — MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DAVE SMEDS

 

Schwertzauber

 

Die fremden Räuber stellten sie auf offener Heide. Da bezogen die
Insulaner auf einem uralten Dyrie-Grabhügel Position. Er war
kaum mehr als eine Unebenheit in dieser endlosen, mit Moorgräsern und wilden Blumen bedeckten Ebene, aber doch eine Erhebung. Droben am Himmel ballten sich die Wolken zu einer dunklen, drohenden Wand.

Die Bundkrieger und die anderen Kämpfer reihten sich rings um den Hügel zu einer lebenden Mauer. Reila trat zu den Bundhexen, die sich auf der Hügelspitze versammelten. Sie hatten nun keine Zeit mehr, ihr Ritualzelt aufzuschlagen. Die Frauen würden die Schreie ihrer Männer also ungedämpft hören und das frisch vergossene Blut riechen. Aber Reila schob die schreckliche Vorstellung beiseite, um die für ihren Zauber nötige Konzentration erlangen zu können.

Schon rückten die Hrogi mit ihrer üblichen Wildheit vor, ganz als
ob sie die kleine Schar so rasch und gründlich vernichten wollten
wie die zwölf Inseldörfer, die sie schon ausgelöscht hatten. Die
Invasoren waren den Insulanern zahlenmäßig vierfach überlegen.

»Kämpft bis zum Letzten«, rief die Großhexe Maer den Kriegern wie ihren Schwestern zu. »Wenn wir unsere Haut teuer genug verkaufen, bleiben ihrer nur so wenig, daß sie für das Herzland keine Gefahr mehr sind.«

Reila warf einen letzten Blick auf Kelf, ihren Mann. Er hatte ihr schon den Rücken zugekehrt, stand hoch erhobenen Schwerts bereit, jedem Angreifer entgegenzutreten.

Da schloß sie die Augen, faltete die Hände im Schoß und verbannte jeden störenden Gedanken aus ihrem Geiste. Und siehe da, die Erde wehrte sich nicht, als sie nun nach deren Essenz spürte.

Demnach hatte die Großhexe richtig geraten - dieser Grabhügel mußte einst ein Ort gewaltiger Macht gewesen sein.
  Ja, nun überblickte sie mit geschlossenen Augen das Schlachtfeld,
wie von hoch über dem Hexenkreis, und fühlte doch unter sich den
harten Markstein des Grabs. Es waren also, außer dem Sehvermögen, all ihre Sinne in ihrem Körper verblieben.
  Alle Hexen hüllten jetzt ihre Männer in ihre schützende Aura ein.
  Damit waren die Insulaner kampfbereit.

Und die Angriffswelle der wilden Hrogi brach sich an ihrer Mauer
aus Schilden, Panzern und Waffen.

Kelf schlug seinem Gegner die drohend gereckte Speerspitze ab
und lähmte ihm mit einem Fußtritt das Knie, fand aber nicht die
Zeit, ihm einen tödlichen Streich zu versetzen. Denn schon stürzte
sich ein halbes Dutzend Hrogi mordlüstern auf ihn, und die Ge-
fährten zu seiner Linken und Rechten waren viel zu sehr mit ihren
Gegnern beschäftigt, um ihm beistehen zu können.
  Eine Streitaxt traf ihn in die Seite. Die Klinge schälte Haut und
Muskel von den Rippen, und zerbrochene Glieder seines Ketten-
hemds durchbohrten ihm die Adern. Er taumelte benommen.
Aber Reila nahm seine Schmerzen in sich auf. Sie schrie laut auf,
wie immer, bei seiner ersten Verwundung in einer Schlacht. Und
Kelf stieß, vom Schmerz erlöst, dem Axtkämpfer die Spitze seines
Schwerts durchs Panzerhemd mitten ins Herz.
  Reila leitete ihre Schmerzen so schnell wie möglich in die Erde ab -
was ihr aber wie immer zu langsam zu gehen schien —, und die
Göttin schickte ihr dafür jäh Genesungskraft und neue Stärke. Ihr
Energiestoß traf sie wie ein machtvoller Kuß. Sie formte ihn neu
und sandte ihn Kelf zu.

Nun wuchsen die durchgetrennten Muskeln des Bundkriegers
wieder zusammen, sein Leib spie die Metallsplitter aus, und seine
Haut schloß sich über der Wunde. Und das alles erfolgte so rasch,
daß Kelf schon fast wieder heil und unversehrt war, als er mit
einem Ruck sein Schwert zu lösen suchte.

Aber die Klinge saß so fest im Kettenhemd des Axtkämpfers, daß
es Kelf Zeit kostete, sie herauszuziehen. Schon streifte eine Keule
seinen Helm, trafen Breitschwerter seine Oberarmschienen.

Reila ließ das Dröhnen und Klingen in seinem Kopf verstummen
und nahm den Schwerthieben ihre Wirkung - die Schläge hatten
ihn zwar nicht verletzt, waren aber so wuchtig gewesen, daß sie
seine Arme ohne ihr Eingreifen für eine Weile gelähmt hätten.
  Einer der Hrogi, der Kelfs Benommenheit ausnutzen wollte und
zum Hieb seine eigene Deckung öffnete, bezahlte die Keckheit mit
dem Leben.

Reila sog noch mehr von Kelfs Schmerzen ab - das strengte sie so
an, daß ihr der Schweiß ausbrach und ihr das Haar näßte und von
der Nase troff. Die Göttin gab ihr großmütig noch mehr von ihrer
Essenz. Und sie leitete die Gabe an ihren Mann weiter.
  Sie nahm, obwohl auf Kelf konzentriert, doch das ganze Gesche-
hen wahr: Die Hrogi stürmten von allen Seiten an. Schon lagen
einige sterbende Inselkrieger zwischen den Heidekrautbüschen
und Steinen und Grasbüscheln. Aber die fünf Bundkrieger teilten
unbeirrt ihre Hiebe aus und bremsten so den Ansturm. Und doch
zogen die Feinde ihren Kreis um den Grabhügel immer enger,
wenn auch nur um einen hohen Preis an Blut und Menschen-
leben.

Als aber die Hrogi sahen, daß diese Bundkrieger Hiebe und Wun-
den überlebten, die für gewöhnliche Männer Ohnmacht oder Tod
bedeutet hätten, konzentrierten sie die Attacke auf die fünf. Reila
konnte Kelf in dem wilden Getümmel kaum mehr ausmachen.
  Aber es griffen so viele Hrogi zugleich an, daß sie sich gegenseitig
in die Quere kamen - und der Großkrieger Fonis in dieser Schar
leichter Ziele mit seiner Streitaxt wahre Verheerungen anrichten
konnte.

Reila war von dem Schmerz schon so betäubt und von der ständi-
gen, unsäglichen Mühe, enorme Energiemengen zu kanalisieren,
schon so verwirrt, daß ihr Tranceblick nun über das Getümmel
hinwegglitt.

Da sah sie am Rand der Walstatt einen athletischen Hrogi-Krieger
stehen. Er trug einen Helm mit zwei gewaltigen Wisenthörnern
und einem Zierstreif aus winzigen Rubinen. Den linken Arm hatte
er in einer Schlinge ruhen, und mit der rechten Hand, die ein
Fäustling aus Leder und Stahl schützte, schwang er sein blankes, noch nicht mit Blut bedecktes Breitschwert, und er schwang es so
locker, als ob es eine ranke Weidengerte und nicht eine für zwei
starke Hände bestimmte Klinge sei.

Der Anführer. Reila sandte ein stummes Stoßgebet zum Himmel,
daß einer ihrer Krieger sich aus dem Schlachtgewühl löse, um sich
auf den Mann zu werfen und ihm den reichverzierten Helm samt
Kopf zu spalten. Denn der mußte die treibende Kraft hinter den
ständigen Hrogi-Attacken der letzten beiden Tage gewesen sein.  
  Aber Kelf konnte ihr Flehen zum Glück nicht hören. Er hätte sich
auch dann nicht von der Stelle rühren können, wenn die Hiebe
nicht so dicht auf ihn niedergesaust wären. All das vergossene Blut
- zum Teil sein eigenes, zumeist jedoch das seiner Feinde - hatte
den Grasboden zu seinen Füßen in einen so tiefen Morast verwan-
delt, daß er Mühe hatte, auf diesem glitschigen Grund das Gleich-
gewicht zu halten. Aber er tat seine Pflicht, diese Hrogi zu schla-
gen. Er hatte seinen Rhythmus gefunden, schickte bei jedem
Schlagwechsel einen Gegner tot oder schwer verwundet zu Bo-
den.

Der Schmerz wurde Reila zur unablässigen, hypnotischen Flut.
Sie ließ den Energiestrom auf dem von ihr errichteten Pfad in
seinem eigenen Tempo fließen und verwandte den ganzen kleinen
Rest ihres Bewußtseins darauf, den Häuptling ihrer Feinde zu be-
obachten.

Der Mann umfing mit seinem Blick die Bundkrieger. Jetzt nickte
er bedächtig. Sodann musterte er, eindringlicher noch, die Bund-
hexen und nickte wieder, tiefer noch, und bewegte die Lippen, als
ob er mit sich selbst zu Rate ginge.

Der gellende Schrei Sandels, der jüngsten Bundhexe, riß Reila aus
ihrer Vision … Und als sie ins Getümmel blickte, sah sie Sandels
Bundgefährten Flin, schon halb enthauptet, inmitten eines Hau-
fens von Feinden liegen, sah, wie ein hünenhafter, muskulöser
Kerl die schwere Streitaxt auf seinen Unterleib niedersausen ließ,
daß sie seine Rüstung durchschlug und durch seine Eingeweide ins
Rückgrat fuhr.

Und sie sah, daß Sandel entseelt zu Boden stürzte.

Der Tod des ersten Bundwächterpaares verlagerte den Energie-
strom, der durch die Bundhexen floß. Sein Sog nahm Reila für die
Spanne zwischen zwei Herzschlägen jede Spur von Schmerz.
  In diesem Augenblick der Klarheit sah sie, daß der Hrogi-Anführer
wie gebannt zur leblosen Bundhexe hinstarrte - nicht etwa zu dem
besiegten Bundkrieger.

Dann kehrten die Energien in ihre alten Pfade zurück, kamen damit auch all die Schmerzen wieder. Kelf hatte sich durch den Tod des Kampfgefährten so ablenken lassen, daß er sich eine Blöße gegeben hatte und auch prompt schwer verwundet worden war.
  Reila schlug sich mit der Pein ihres Mannes herum und heilte ihn.
  So gewann Kelf die Kraft und Kühnheit wieder. Er tötete in einem
wahren Feuerwerk der Schwertkunst vier Gegner fast gleichzeitig
und erhöhte damit die Zahl seiner Siege auf annähernd zwanzig.
  Aber Reila hatte einen allzu gewaltigen Schlag einstecken müssen.
Und die kurze Erholungspause hatte ihre Fähigkeit, mit schwerer
Pein fertig zu werden, so geschwächt, daß ihr die Umwandlung jetzt
mißlang.

Da kam die Schatteneule und entführte sie zu sich in ihre dunkle
Höhle.

Ein Zerren am Hals und der leichte, nebelweiche Regen, der ihre
Wangen liebkoste, brachten sie wieder zu sich. Mit dem schweren
Duft des regennassen Heidekrauts stieg ihr aber auch der Gestank
von Blut und aufgeschlitzten Gedärmen in die Nase. Wenn das
hier das Jenseits ist, dachte sie dumpf, riecht und gibt es sich doch
verdammt wie die irdische Welt.
  Sie schlug langsam die Augen auf.

Ein schmieriger Hrogi-Krieger beugte sich über sie. In der einen
Hand hielt er ein Messer und in der anderen ihr Amulett aus Zinn
und schwarzem Turmalin - das Zeichen ihres Kultes. Die Enden
der durchschnittenen Lederschnur, an der sie es um den Hals ge-
tragen hatte, kitzelten ihre entblößte Kehle.

Der Mann grunzte erstaunt, als er sah, daß sie sich bewegte, und
wandte den Kopf und sprach mit einem Kerl, der hinter ihm stand
- aber in so rauhem Tonfall, daß sie nichts davon verstand, obwohl die Sprachen der Hrogi und der Insulaner ein und dieselbe Wurzel
haben.

Jetzt trat der Häuptling in ihr Blickfeld. Das Tuch, in dem sein
verwundeter Arm ruhte, wies frische Blutflecken auf. Die
Schlacht hatte wohl auch ihn erreicht. Aber seine Haltung hatte
nichts von ihrer Spannkraft verloren. Er schwang gebieterisch sein
Schwert. Da wich der Krieger von Reila zurück.
  »Noch am Leben? Das ist ja etwas ganz Neues!«
  Der Häuptling sprach so klar und deutlich wie ein Gelehrter; nur
sein leichter Akzent verriet, daß die Sprache dieser Inseln nicht
seine Muttersprache war. Er starrte sie mit einer glühenden, fast
sexuellen Inbrunst an. Aber es war nicht leibliche Begierde, was
sie in seinem Blick las.

»Seit Jahren, in vielen Treffen habe ich gegen die Hrolf-Krieger,
die Söhne eurer Göttin, gekämpft … Sie töteten so viele unserer
Besten, daß wir immer wieder voll Entsetzen zu unseren Langboo-
ten flohen. Vor einem Monat konnten wir erstmals eine ganze
Schar von ihnen erschlagen. Und weißt du, was wir dann entdeck-
ten ? «

Er sah Reila höhnisch an und stieß der neben ihr liegenden toten
Großhexe die Stiefelspitze in die Rippen, und Reila klagte laut, als
sie Maers Leichnam so mißhandelt und geschändet sah. »Oh, wir
fanden«, fuhr er ruhig fort, »in einem Zelt so viele tote Frauen, wie
wir an Kriegern erschlagen hatten. Sie lagen starr, aber ganz un-
versehrt auf dem Boden, und auf ihren Lippen war nicht die Spur
von Gift.«

Nun kniete er sich neben Reila und fragte leise: »Und warum bist
du noch am Leben ?«

Ja, sie war noch am Leben. Aber jetzt, da der Schock der Schlacht
und die Verwirrung des Erwachens schwanden, ging ihr auf, was
das bedeutete.

Und er wandte sich um, als ob er in ihren geweiteten Augen etwas
gelesen hätte, und beschrieb mit seinem Schwert einen Bogen, der
das ganze Schlachtfeld einschloß. »Seht nach, ob zwischen all den
Toten noch ein lebender Hrolf liegt. Aber tötet ihn mir nicht!«
  Reila, die dank seines Timbres und seiner Aussprache den Sinn des in Hrogi erteilten Befehls erfaßt hatte, stöhnte in ihrem Herzen.
Ja, nun würde der Häuptling das Geheimnis lüften, aufgrund des-
sen ihr Volk sein kleines Tieflandreich zwei Jahrhunderte lang ge-
gen alle Invasionsversuche hatte verteidigen können.
  Als sie sich mit Mühe auf die wackligen Ellbogen stützte und halb
aufrichtete, sah sie, daß zwei Hrogi von ihrer Leichenfledderei ab-
ließen und die gesamte Walstatt systematisch nach Überlebenden
abzusuchen begannen, und sah auch, daß der Krieger, der ihr das
Amulett geraubt hatte, sich ihnen sogleich anschloß.
  Drei Männer. Mit ihrem Häuptling vier. Wer von den Feinden
sonst noch lebte … lag schwer verwundet auf der blutgetränkten
Heide, machte mit seinen Schutzgöttern seinen Frieden und
würde ja bald seinen Verletzungen erliegen. Einen Sieg hatten
diese Invasoren eigentlich nicht errungen.

»Ihr habt mich mehr Männer gekostet, als ich für möglich gehal-
ten hätte«, sagte der Häuptling. »Mehr, als ich riskiert hätte, wenn
ich das geahnt hätte. Aber vielleicht hat es sich am Ende ja doch
gelohnt.«

Er erhob sich, steckte sein Schwert ein und holte aus den Falten
seines Armtuchs ein Halsband hervor, in dem Reila sofort das des
Großkriegers Fonis, des Mannes von Maer, erkannte. Und der
Hrogi-Anführer kniete sich neben Maers Leiche und legte diesen
Anhänger neben den der toten Großhexe.

»Ich finde immer ein Gegenstück«, sagte der Häuptling. »Ja, jeder
Hrolf-Talisman hat eine eigentümliche Turmalinzier, aber zu je-
dem findet sich am Hals einer eurer Hexen das exakte Pendant.«
Die Bundwächter hätten ihre Amulette nicht in der Schlacht tra-
gen dürfen, dachte Reila bitter. Aber … wie hätten sie es über sich
bringen sollen, das Symbol ihres Bundes abzugeben?
  »Ich heiße Thros«, fuhr der Hrogi fort und erhob sich. »Und
du?«

Da wandte Reila ihr Gesicht zur Seite, verweigerte ihm nicht nur
ihren Namen, sondern auch den Klang ihrer Stimme, die nicht
durch Hrogi-Ohren beschmutzt werden durfte.
  Der Häuptling schnaubte höhnisch. »Vielleicht bekomme ich ja noch Gelegenheit, deinen Namen zu erfahren.«

Da wußte sie, daß er sie vorläufig am Leben ließe. Nicht für eine
Vergewaltigung, obwohl auch die wahrscheinlich dazugehören
würde - sondern um ihr ihr Wissen abpressen zu können.
  Thros. Der Name war ihr bekannt. Neffe des Königs von Hrog …
  Und Kommandeur der Invasionstruppen. Es mußte ihm viel daran
gelegen haben, ihre Schar zu vernichten. Hätte er sonst das Risiko
einer Verfolgungsjagd tief ins Landesinnere hinein auf sich ge-
nommen?

Nun verstand sie auch, warum dieser Einfall so viel vernichtender
war als der ein Jahrzehnt zuvor und so viel bedrohlicher als alle
anderen seit der Vereinigung der drei Königreiche und der Bildung
der Bundgarde.

Ein Aufschrei des Suchtrupps ließ Thros herumfahren und Reila
die Augen öffnen.

Sie hatten Kelf gefunden! Mit all dem Blut, dem wüst zerhauenen
Kettenhemd und dem zerfetzten Wollwams sah er aus wie ein To-
ter. Aber Reila wußte, daß er noch am Leben war. Und auch Thros
wußte das.

»Fesselt ihn gut und bringt ihn her«, befahl er. Sein Blick ruhte
schon auf Reila und las in ihrem Gesicht ihr Entsetzen.
Tränen rannen aus ihren Augen, gruben tiefe Rinnen in den
Schmutz auf ihren Wangen. Schrecklich fahl war ihr Mann! Die
feindlichen Krieger schleppten ihn, unter der Schwere des er-
schlafften Leibs ächzend, zur Spitze des Grabhügels und warfen
ihn einfach obenauf auf die Leichen von Hara und Sandel.
  Er rührte sich nicht.

Da befahl Thros dem Mann, der ihr das Amulett geraubt hatte, sie
ja gut im Auge zu behalten, und kniete sich neben Kelf nieder. Er
säuberte seine Wunden von Tuch- und Panzerfetzen, hielt ihm
eine schmale Klinge unter die Nase, um zu sehen, ob Atem den
polierten Stahl beschlüge, und fühlte an seinem Hals nach einem
Puls.

Als er, durch den verletzten Arm behindert, Kelf mit einiger Mühe
den Talisman abgerissen hatte, ließ er sich von Reilas Bewacher
den ihren reichen und verglich sie miteinander. Nun nickte er.
  »Dieser Mann wird binnen einer Stunde sterben«, sagte er und ließ die zwei bis aufs Haar gleichen Anhänger vor ihren Augen
baumeln. »Aber du könntest ihn retten, nicht wahr?«
  Sie wußte, daß sie ihn sterben lassen sollte. Dann würde auch sie
sterben - und Thros wüßte nicht mehr, als er sich zusammenge-
reimt hatte … So hätte Kelf gesprochen, wenn er bei Bewußtsein
gewesen wäre.

Aber als ihr Blick auf seine zerhauenen Handschuhe fiel, sah sie
die starken männlichen Hände, die ihr zu Beginn ihrer einwöchi-
gen Initiationsriten den Kelch ihres Bundes gereicht hatten. Als
ihr Blick dann auf seine maskenhaft geschlossenen Lider fiel, sah
sie die hellgrauen, durchdringenden Augen, die ihr am letzten Tag
der Zeremonie ewige Treue gelobt hatten. Und als ihr Blick auf
seine aufgesprungenen Lippen fiel, erinnerte sie sich an die zärt-
lichen Küsse, die er ihr in der Nacht darauf und in den Jahren
seither gegeben hatte … und an die prachtvollen Kinder, die die
Frucht ihrer leidenschaftlichen Liebe waren.
  Wenn jetzt nur ihr Leben auf dem Spiel gestanden hätte, hätte sie
es ohne Zögern geopfert. Sich selbst hätte sie töten können, aber
nicht ihn - nicht einmal durch Untätigkeit und Nichtstun.
  Kaum zu einem Entschluß gekommen, fiel sie nun der Trance an-
heim. Der Erdenquell wallte wieder so kraftvoll wie eh und je, aber
ihr Leib vermochte die Energien nur mit Mühe zu fassen und zu
leiten. Sie sandte ihren Sinn aus zu Kelf und fühlte, daß das Le-
bensfeuer in seiner Brust noch glomm … und sie entfachte es wie
mit einem Blasebalg zur lohenden Flamme.

Seine inneren Wunden schlossen sich. Neues Blut strömte durch
die entleerten Adern. Und all die Abwehrkräfte vereinten sich, um
die Infektionen, die schon in seinem Bauch und einem Bein wüte-
ten, zu bekämpfen und zu besiegen.

Da sank Reila erschöpft ins Heidekraut zurück. Der Kopf schwirrte
ihr. Wie von fern nur vernahm sie noch das Gekeuche und Ge-
murmel der Hrogi. Dann hörte sie auch das nicht mehr.

Die Wolkendecke war verflogen und das regennasse Gras vom
Glanz der untergehenden Sonne erfüllt, als sie wieder zu sich
kam.

Sie sah Kelf, seiner Rüstung beraubt und fester noch gefesselt, in
ein paar Schritten Entfernung auf einem Rock liegen, den man
offenbar der toten Sandel ausgezogen hatte, und sie spürte und
sah, daß auch sie selbst, wenn auch nur mit dünnen Lederschnüren
  um die Handgelenke und Fußknöchel, gefesselt worden war.
  Ihre Blicke trafen sich. Kelf war zwar übel zugerichtet und noch
mit Narben, Schürfwunden und blauen Flecken übersät, hatte je-
doch seine Wachheit und Spannkraft wieder. Seine Totenblässe
war einem hellen Rot gewichen. Reila hatte ihn nicht ganz wieder-
herstellen können, aber doch soweit, daß er außer Lebensgefahr
war. Ja, er war in gewisser Hinsicht sogar in besserer Verfassung
als sie.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein Merlin unweit von ihnen
eine Maus schlug und mit der Beute in der Ferne verschwand.
  Aber ihr Blick ruhte unverwandt in dem ihres Bundgefährten, und
sie sahen einander wortlos an.
  »Ah, endlich aufgewacht?« rief jemand vergnügt.
  Als Reila darauf den Kopf wandte, sah sie Thros näherkommen -
er hatte eine frische Armschlinge um. Hinter ihm sah sie die ande-
ren drei Hrogi um ein Holzkohlenfeuer geschart. Sie brieten an
langen Spießen zwei Schneehasen, die einen köstlichen Duft ver-
breiteten. Reila verspürte keinen Hunger, dankte aber Mutter
Erde für diesen Bratenduft, da er den immer noch über dem
Schlachtfeld liegenden Blutgeruch etwas überdeckte.
  »Das war atemberaubend«, sagte Thros und wies auf den weitge-
hend genesenen Kelf. »Unsere Zauberer träumen schon lange da-
von, die Kraft der Erde, der Sonne oder des Meeres zu kanalisie-
ren. Viele haben es versucht, wurden aber durch die gewaltigen
Energien, die sie zu bündeln versuchten, getötet oder ihres Ver-
standes beraubt. Wer hätte denn gedacht, daß man dazu einen
Kundigen als Kanal und einen als Empfänger braucht!«
  »Die Hrogi waren schon immer etwas langsam im Denken«, spot-
tete Kelf.

Thros würdigte den Bundkrieger nur eines flüchtigen Blicks und
versetzte gelassen: »Aber selbst wenn dem so wäre … wir lernen
schnell, wenn uns einer etwas lehrt.«

»Ich werde euch gar nichts lehren«, knurrte Reila.
  »Ah, dir hat es also nicht die Stimme verschlagen!« lachte Thros.
  »Aber du weißt wohl nicht, was du da sagst.«
  Damit schlenderte er zu Kelf, kniete sich neben ihm nieder, faßte
mit Daumen und Zeigefinger der gepanzerten Hand sein Ohrläpp-
chen und quetschte es, bis das Blut spritzte. Kelf zuckte zusam-
men.

»Du kannst dir ausmalen, wie ich ihm sonst noch Schmerzen zufü-
gen könnte«, sagte Thros darauf und erhob sich. »Höre, ich bin
nicht etwa darauf versessen, ihn zu foltern! Aber du wirst früher
oder später, um deines Mannes willen, vernünftig werden und
sprechen. Du hast es nicht über dich gebracht, ihn sterben zu las-
sen, und wirst es ebensowenig über dich bringen, ihn leiden zu
lassen.«

Reila konnte ihre Gefühle nicht verbergen - ihre Miene sagte ih-
rem Feind alles, was er hatte wissen wollen.

»Nein, bestimmt nicht«, fuhr Thros fort. »Ich muß euch beide nur
gut gefesselt halten und verhindern, daß dein Gefährte sich etwas
antut.«

»Es ist ein langer Weg nach Hrog«, versetzte Kelf.
  »Oh, du wirst dich wundern, wie schnell wir dort sind«, spottete
der Häuptling. »Beim nächsten Einfall in dies schöne Land treten
wir gegen eure Hrolf-Krieger mit unseren Hrolf-Kämpfern an.
Mein Herr hatte schon daran gedacht, diese so verlustreichen Feld-
züge aufzugeben. Nun dürfte er es sich wohl anders überlegen.«
  Er faßte Reila am Kinn und versuchte, sie zu zwingen, ihm in die
Augen zu sehen, das triumphierende Leuchten darin zu erblicken
… Als sie jedoch die Lider schloß, kicherte er bloß, stieß ihr den
Kopf nachlässig zur Seite und ging zum Feuer, um seinen Teil des
Siegesmahls zu genießen.

Reila fühlte, wie ihr die Galle hochkam, eine Galle so bitter wie der
Sud der Herzwurz. Diese Schlacht hätte kaum schlimmer für uns
ausgehen können! dachte sie niedergeschlagen.
  In ihrer Not blickte Reila zu Kelf hinüber. Die Dämmerung hatte
seine Pupillen völlig gefülllt. Sie sah wie durch Fenster in sie hin-
ein und geradewegs in seine Gedanken. Ja, er hielt es nun auch für richtig, daß sie ihrer beider Tod nicht zugelassen hatte. Ihr Überle-
ben hatte jetzt einen Sinn und ein Ziel, das klar vor ihnen lag.
  Sie durften nur sterben, wenn sie Thros mit in den Tod nähmen.

Die Hrogi wollten bei Kelf offenbar sichergehen. Ganz gründlich
prüften sie die Knoten an seinen Fesseln und banden ihn so fest an
den toten Großkrieger Fonis, daß er sich nicht mehr umdrehen,
geschweige denn losmachen konnte.

Bei Reila gaben sie sich weniger Mühe. Sie war so zierlich gebaut
und so augenfällig durch ihre Zaubereien erschöpft, daß sie ihnen
keine Bedrohung und Gefahr schien. So sahen sie ihr nur die
Hand- und Fußfesseln nach und rollten sie einfach zur anderen
Seite des Schlafplatzes. Ihre Fessel war ja so raffiniert geknotet
und ihre Bewegungsfreiheit, mit fest auf den Rücken gebundenen
Händen, so eingeschränkt, daß sie sich ganz bestimmt nicht be-
freien konnte, und sie lag nun auch so weit von Kelf entfernt, daß
sie ihm nicht helfen könnte, seine Bande zu lösen.
  Die Krieger verhehlten so wenig, was sie nun noch gern mit Reila
gemacht hätten, daß Thros sie anherrschte: »Spart eure Kraft auf!
  Ihr braucht sie für den harten Eilmarsch morgen.« Da zuckten sie
nur die Achseln. Sie waren von dieser zweitägigen Verfolgungs-
jagd und dem Gefecht offensichtlich so mitgenommen, daß sie
keine Lust zu Widerworten hatten - aber doch wieder nicht so
erschöpft, daß sie es aufgegeben hätten, lüstern zu Reila hinüber-
zuschielen.

Thros brachte den wenigen der schwerverwundeten Kampfgefähr-
ten, die nach Sonnenuntergang noch lebten, höchstselbst die Reste
des Festmahls. Er fütterte sie, sprach beruhigend auf sie ein und
gab ihnen von dem widerlichen Hrogi-Branntwein zu trinken, so-
viel sie schlucken konnten. Und als das darin enthaltene Gift bei
Einbruch der Nacht dann sein Werk vollbracht hatte, murmelte er
ein Gebet und ließ die Toten allein.

Die Hrogi legten sich sehr früh schlafen. Aber Thros versäumte es
nicht, einen von ihnen zur Nachtwache abzuordnen… und Reila
zu versichern, daß sie vor Sonnenaufgang allesamt zum Lan-
dungsplatz ihrer kleinen Flotte aufbrächen. Bald hörte sie von den Hrogi nur noch die rhythmischen, tiefen Atemzüge derer, die
dicht neben ihr schliefen, und die schweren Schritte des jetzt ein-
sam seine Runde gehenden Wächters, und selbst die gingen in dem
Konzert, das die Frösche und Grillen gaben, fast unter.
  Der Wächter deckte schon bald das Lagerfeuer mit Soden ab, so
daß es nur noch schwach weiterglomm. Und da senkte sich die
Nacht nun vollends über das Lager, eine Nacht schwer von den
Ausdünstungen der Schlafenden und einer feuchten Hitze, die
über der Heide lag. Wolken schoben sich langsam vor die Sterne,
und der Mond, bereits im letzten Viertel, würde erst nach Mitter-
nacht aufgehen.

Jetzt, dachte Reila, wo ihr Schlaf und die Nacht am tiefsten ist!
Sie fühlte, wie nun ihre Müdigkeit wich. Die Kraft der Erdgöttin
strömte in sie ein, kam in hohem Bogen von der anderen Seite des
Lagers geflossen. Von Kelf.

Die Energie kurierte weder ihre Blutergüsse noch die Schürfungen
an ihren Handgelenken … Kelf formte den Zauber auf seine
Weise, seinen Fähigkeiten gemäß. Sie empfing ihn auf ihre Art,
wie sie es in der Halle ihrer Sekte gelernt und getan hatte.
  Nun sah sie sich langsam nach dem Wächter um: Seiner Silhou-
ette nach zu urteilen, starrte er ins Dunkel hinaus … Da rollte sie
sich leise zu dem von einem Schwert durchbohrten Leichnam
eines der ihrigen hin, dessen Lage sie sich bei Tageslicht eingeprägt
hatte. Denn da war ihr aufgefallen, daß die Hrogi, als sie die her-
umliegenden Waffen einsammelten und auf einen Haufen warfen,
diese Klinge übersahen.

Es fiel ihr schwer, die auf dem Rücken gefesselten Hände über die
Schwertspitze zu heben, die eine Fingerlänge aus dem Toten ragte.
  Aber dann schaffte sie es und machte sich daran, ihre Handfesseln
an deren schartiger Schneide durchzuscheuern.
  Mit einemmal sah sie, daß der Wächter sich umdrehte. Sie erstarrte.   
  Vielleicht hatte er sie gehört. Aber auch wenn nicht – er könnte ja auf den Gedanken kommen, nach ihr zu sehen. Und dann fände er sie nicht an ihrem Platz…

Aber der Hrogi reckte und streckte sich nur, gähnte ein paarmal,
drehte sich wieder um und beobachtete ein Fledermauspärchen, das da eben vorbeiflatterte und bald in Richtung Moor ver-
schwand.

Reila machte behutsam weiter. Und endlich ging das Leder ent-
zwei! Sie massierte ihre blutig gescheuerten Handgelenke, trennte
rasch ihre Fußfesseln durch und wartete ab, bis alle Taubheit aus
ihren Armen und Beinen gewichen war.

Dann erhob sie sich geschmeidig und sicher, schlich katzengleich
zu dem Hrogi hin, der in ihrer Nähe schlief - dem Amuletträuber,
der ja auch seine Waffen vor dem Einschlafen neben sich abgelegt
hatte. Sie sah sie in dieser Dunkelheit zwar nicht, fand sie aber mit
dem Instinkt einer Kriegerin - ein leichtes Schwert und eine kleine
Keule, die für ihre nicht so kräftigen Arme wie geschaffen waren!
  Und sie griff entschlossen danach.

Aber das Geräusch beim Blankziehen weckte den Schläfer. Reila
hob die Keule und zerschmetterte ihm - Lärm hin, Lärm her - den
Kopf, bevor er auf die Beine kam.

Der dumpfe Laut ließ nun den Wächter herumfahren und nach
seinem Schwert greifen. Reila warf sich auf ihn und stieß ihm,
noch ehe er blankgezogen hatte, die Spitze ihrer Klinge in die
Kehle. Er röchelte, hob sein Schwert wie zum Hieb, verlor aber die
Balance.

So einen Stoß genau in den schmalen Spalt zwischen Halsbeuge
und Kinn hätten auch bei Tageslicht nur die geübtesten Schwert-
kämpfer führen können - sie war jetzt offenbar von noch besserem
Schlag.

Der Wächter taumelte noch, als sie sich schon dem dritten Hrogi
zuwandte. Er war aus seinen Decken aufgefahren und starrte jetzt
mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen her, war sich aber bei dem
Dunkel unsicher, welcher dieser Kämpfer denn sein Feind sei.
  Aber als sie sich auf ihn stürzte, hob er seine Streitaxt.
  Geschickt parierte er Reilas Schwertstoß. Da schlug Stahl gegen
Stahl, daß die Funken stoben. Und jetzt stürmte er auf sie ein.
Aber sie sprang leichtfüßig, in ihrer Bewegung von keiner Rüstung behindert, zur Seite, stellte ihm ein Bein und versetzte ihm, als er dann zu Boden ging, mit der Keule einen gewaltigen Hieb in den Nacken.

Da streckte er alle viere von sich und blieb reglos im Heidegras
liegen. Reila hätte nicht sagen können, ob er nur bewußtlos oder aber tot war, hoffte jedoch, das später klären zu können.
  Das leise Zischen des Breitschwerts spürte sie mehr, als daß sie es
hörte - aber früh genug, um unter einem Hieb wegzutauchen, der
sie den Kopf gekostet hätte. Sie machte einen Satz nach vorn und
wirbelte herum.

Thros fluchte derb und richtete seine Klinge auf sie. Da standen sie
sich gegenüber: er, den einen Arm in der Schlinge, aber stark und
gewappnet und kampferfahren - und sie: in einfacher Wollbluse
und wollenem Rock, durch die Kraft der Göttin wohl gestärkt, aber
schwach an Muskeln und Knochen.

Da warf er sich schwertschwingend auf sie. Sie stob zurück. Ihre
Klinge schoß vor, traf aber das Kettenhemd. Seinem Rückhand-
schlag wich sie tänzelnd aus.

Sie war beweglich, schnell, aber er war gut gewappnet. Er führte
den nächsten Stoß. Sie sprang zur Seite, parierte und stieß rasch
zu, während er sich wieder sammelte - ihre Schwertspitze traf nur
auf Stahl.

»Ich hätte dich heute nachmittag töten sollen«, sagte Thros.
  »Ja, das hättest du«, höhnte Reila. Sie wollte ihn in Rage verset-
zen, damit er sich zu Unüberlegtheiten hinreißen ließe, sich viel-
leicht eine Blöße gäbe.

Aber das Gegenteil trat ein. Thros war nun hellwach und hatte
das Geplänkel genutzt, sich eine Strategie zurechtzulegen. »Ich
hätte … einen von euch … töten sollen.«

Sie erwiderte nichts darauf, erschauerte aber innerlich. Er hatte
ihren schwachen Punkt gefunden!

Und er säumte nicht, seinen Vorteil zu verfolgen. Schon versuchte
er, sie mit seinen Attacken in Richtung auf Kelf zu treiben, der,
seiner Rüstung beraubt und schwer gefesselt, einem tödlichen
Hieb nicht würde entrinnen können. Eine bloße Verwundung
wäre bereits verhängnisvoll, weil sie ihn aus der Trance risse.
Dann würde sie ihre Kraft und Kunst verlieren und Thros schmäh-
lich unterliegen.

Reila mühte sich verzweifelt, ihre Position zu halten. Sie zwang Thros zu einer Parade. Aber sein tückischer Hieb trieb sie wieder
einen Schritt zurück. Sie wagte einen Stoß auf sein Gesicht, aber
er lenkte ihn geschickt ab… Ihre Schwertspitze durchbohrte sein
Kettenhemd, daß ihm Blut auf den Unterarm spritzte.
  Das reichte nicht aus. Mehr als ihn für ein paar Schlagwechsel zu
bremsen, schaffte sie nicht.

Aber sie durfte nicht aufgeben und mußte den Hrogi schlagen —
auf welche Weise auch immer. Tapfer kämpfte sie gegen ihre
wachsende Verzweiflung an.

Daß sie in der Hitze des Gefechtes keine eigenen Lösungen finden
würde, war ihr klar. Aber sie hatte ja Kelf, der aus seiner Ferne
alles beobachten und sie leiten und ihr tätigen Beistand leisten
konnte. Worte konnte er durch die Magieschiene nicht leiten,
wohl aber ihre Hände und Füße führen.

Sie ließ seine lenkende Kraft von ihren Muskeln Besitz ergreifen
und schob ihre eigenen Wünsche und Einschätzungen beiseite.
  Thros drang erneut auf sie ein. Sie wich zurück, parierte und ver-
suchte eine Riposte. Aber er schmetterte sie ab. Sie wartete darauf,
daß nun ihr Körper die Initiative übernähme und eine besondere Taktik einschlüge, aber er war nur auf Rückzug, auf Weichen aus …  

Thros drängte stürmisch nach und hieb auf sie ein. Sie tauchte weg und parierte, tänzelte aus der Gefahr, aber das war auch schon alles.  
  Der Nachthimmel blies ihr durchs schweißnasse Haar, und eiskalte Schauder liefen ihr den Rücken hinab.
  Sie stieß mit den Fersen gegen ein Bein. Thros hob die Braue, aus
seinen dunklen Augenhöhlen leuchtete Siegesgewißheit.
  Sie durfte nicht mehr weichen, denn so würde sie Kelf preisgeben.
  Nein, eher würde sie sich auf der Stelle in Stücke hauen lassen!
  Aber ihre Füße befahlen: Spring! Und sie nahm die Botschaft an.

Als sie nun mit einem Satz nach hinten sprang, nutzte Thros seine Chance. Er stieß sein Schwert schräg nach unten und durchbohrte den Leichnam eines Inselkriegers.

Kelf hatte Reilas Sprung leicht zur Seite abgefälscht. Weder sie noch Thros hatten im Dunkel der Nacht erkannt - daß sie um eine Leiche kämpften. Es lagen ja so viele dunkle Gestalten im Gras.

Thros zerrte an seinem Schwert, das sich in der Rüstung des Toten
verklemmt hatte. Reilas Stoß sah er kommen, er vermochte ihm aber nicht mehr auszuweichen. Mit aller Kraft stieß sie ihm die Klinge in die Kehle.

Da ließ er seine Waffe fahren, brach zusammen und fiel, kaum zwei Schritte von Kelf entfernt, mit dem Rücken ins blutige Kraut.

Und Reila sah im schwachen Licht der Sterne, das durch die leicht
aufreißenden Wolken fiel, wie sich auf dem Gesicht des besiegten
Gegners Verblüffung und fassungsloses Staunen malten.
  Nun, da die Gefahr überstanden war, erlaubte sie sich Mitleid mit dem Feind. Seine zu große Siegesgewißheit war ihm zum Ver-hängnis geworden - seine Verblendung. Er hatte geglaubt, bereits all ihre Geheimnisse gelüftet zu haben.

Der Häuptling seufzte tief. Das Seufzen wurde zum Röcheln.
  Dann Stille. Da wandte sich Reila von dem Toten ab und schnitt ihren Bundgefährten los.