JERE DUNHAM
Werwolf-Geschichten sind buchstäblich eine Landplage. Ich bekomme pro Saison Dutzende zu lesen und bin darum wohl etwas zu kritisch geworden. Für mich muß eine Werwolf-Story schon etwas Besonderes haben, damit ich sie nicht als »x-ten Werwolfaufguß« abhake. Aber wenn ich eine wie diese hier erhalte, die nicht nur ein weiterer Abklatsch des neuesten Horrorfilms ist — greife ich zu.
Jere Dunham gehört zu den Autorinnen, die hier ihr Debüt haben. Sie ist verheiratet, hat eine neun Jahre alte Tochter und, wie sie es formuliert, »zwei Pit-Bull-Terrier, die zu unserem und zu unserer Nachbarn Glück, als Chihuahuas zur Welt kamen«. (Also noch eine Hundefreundin!)
Jere schrieb mir aber auch: »Sie als Fantasy-Spezialistin dürften wissen, daß die Frauen von Sauromatien die historischen Amazonen sein könnten (aber nicht sein müssen).« Nein, das habe ich nicht gewußt. Ich dachte immer, wenn die Amazonen tatsächlich existiert haben sollten, dann bei den Etruskern. Das ist natürlich auch nur eine Vermutung, aber Vermutungen sind das Thema jeder Fantasy und unser Motiv zum Schreiben. - MZB
JERE DUNHAM
Östlich des Morgens
Als Sofyia am Ostufer
des Stromes zu sich kam, lagen ihre nackten
Füße noch im Wasser. Sie hatte Sand in den Augen und
zwischen
den Zähnen, scharfkörnigen, knirschenden Sand. Ein kühler
Wind
drang in ihr wasserschweres Gewand und ließ sie erschauern.
Sie
hob den Kopf, richtete sich mühsam auf Händen und Knien
auf
und schleppte sich zwei, drei Längen das steile Flußufer
hinauf.
Dann brach sie wieder zusammen. Ihre wochenlange Ernährung mit
blutloser, wenig gehaltvoller Menschenkost und mit Wurzeln, Beeren
und faden Blättern hatte ihr alle Kraft geraubt. Sie brauchte
endlich wieder Fleisch - aber hier gab es ja weit und breit kein
Wild.
Traurig schloß sie die Augen und stellte sich
all ihre Brüder und
Schwestern in Wolfsgestalt, im glänzenden, in vielerlei
Grau
prächtig schimmernden Sommerfell vor … Sie hörte das Geheul, das
sie zu ihrem Aufbruch angestimmt hatten, den melancholisch rauhen
Abschiedsgruß. Das Gebell war so wirklich. Sie vernahm es wieder in
diesem Augenblick, aber nun klang es wie Gelächter - oder gar wie
Spott und Hohn?
Östlich des Morgens,
hatte die Hexe des Rudels versprochen, wirst
du dich auf vier Beinen fortbewegen, ja, Sofyia, das hat mir
die
Mondin gesagt. So war sie wochenlang nach Osten
gewandert,
immer weiter nach Osten, und sie hatte jeden Morgen gehofft,
die
Sonne hinter sich aufgehen zu sehen. Aber das war nicht
gesche-
hen, und nun müßte sie wohl mit dem haarlosen, schwachen
Leib
sterben, den sie ihr ganzes Leben lang verabscheut hatte.
Nun gut. Sechzehn Jahre vergeblichen Sehnens nach der
Ver-
wandlung waren genug. Der Ufersand war ihr ein weiches
Kissen,
das sanfte Plätschern der Wellen beruhigend wie ein
Herzschlag.
Nein, es war kein schlechter Ort zum Sterben!
Das Gebell hob wieder
an, so real, so real, aber lauter und näher
jetzt, und nun wurde es zum freundlichen Winseln. Kalte
Schnau-
zen stießen sie an und beschnüffelten ihr Haar, ihre Hände.
Für
einen Moment vermeinte Sofyia, sie sei wieder zu Hause
oder
werde nach ihrem Tod unter dem häßlichen grauen Himmel
der
Fremde von den Wölfen des Jenseits begrüßt.
Oh, wenn sie sich doch erheben könnte, um ihren Gruß zu
erwi-
dern ! Aber dieser Fluß hatte sie den letzten Funken Kraft
gekostet.
Nun erklang ein schweres, dumpfes
Clop-Clop-Clop-Clop-Pong —
wie das Poltern aufeinander purzelnder Melonen … Gleich
darauf
wurde es vom Geräusch beschuhter Füße abgelöst. Sie
näherten
sich rasch, hielten nun dicht hinter ihrem Kopf.
»Hoho, Mädchen, was ist denn das? Wen habt ihr denn da
gefun-
den?« hörte sie jemanden rufen. Die kalten Schnauzen ließen
von
ihr ab. »Brave Mädchen!« Sofyia spürte Finger so heiß wie
Feuer
in ihrem Nacken, witterte den Geruch von Mensch und von
etwas
anderem, was aber wieder schwächer wurde und mit einem
sich
entfernenden Clop-Clop-Clop-Clop schwand.
Als sie aufblickte, sah sie über sich das
wettergegerbte Gesicht
einer Frau, die blaue Augen und blonde, zur Krone gesteckte
Zöpfe
hatte. Was für ein prächtiges Fell die nach der Verwandlung
haben
müßte! Die Frau war von zwei enormen Hündinnen flankiert,
die
den Kopf so hoch hielten wie sie und hechelten und
schnüffelten.
Oh, die kalten Schnauzen, die sie geweckt hatten … Sie
sahen
anders aus als ihre Stammesgenossen: Sie hatten einen
schmalen
Kopf und hohen Rücken, und durch das seidige, rot
gescheckte
Langhaarfell zeichneten sich scharf Rückgrat und Rippen ab
…
»Ich danke euch, himmlische Schwestern«, grüßte Sofyia
in
Wolfssprache zuerst die beiden, wie es sich ja gehörte. Aber
die
Hündinnen grienten nur und erwiderten kein Wort. Waren
Engel
denn so blöde?
Nun kniete sich die
Fremde vor Sofyia hin und half ihr aufsitzen,
nahm ihren weiten Umhang ab, der so blau wie der
Nachthimmel
bei Vollmond war, und hüllte die Frierende darin ein. Dann
hielt
sie ihr einen prall gefüllten Schlauch an den Mund, und
Sofyia
trank. Es war starker Wein, und ihr wurde gleich etwas wärmer.
»Ich heiße Sofyia«,
sagte sie in ihrer Menschensprache, »und
danke dir von Herzen.«
»Man nennt mich Nitra.
Ich bin die Anführerin der Jägerinnen
von Sauromatien«, erwiderte die Fremde. Nun sah Sofyia, daß
sie
eine weiße, mit vielen blauen Pferdeköpfchen bestickte Bluse
trug.
Wie seltsam, sein Gewand mit dem Bild eines Beutetieres
zu
schmücken! Auch ihre Reithosen aus derbem dicht gewebtem
Stoff waren damit verziert … und ihre hohen Schnürstiefel mit den
zahllosen Haken prangten in demselben Nachtblau wie die kleinen
Pferdeköpfe.
»Wo bin ich?« fragte
Sofyia mit heiserer Stimme.
Die Frau lächelte freundlich. »Genau östlich des
Morgens.«
Sofyia keuchte und ergriff frohlockend ihre Hände. »Da kannst
du
mir ja helfen?«
»Natürlich!« rief die
Fremde verdutzt. »Denkst du, ich würde dich
hier einfach liegenlassen?« Sie faßte Sofyia unter und hob sie
so
mühelos wie eine Welpe auf, blickte sich nun stirnrunzelnd um und
pfiff laut durch die Zähne. »Turek! Wo bist du denn schon
wieder?«
Jetzt trabte ein Tier
herbei, in dem Sofyia den zuvor gewitterten
Grasfresser erkannte. Ein Pferd - wie peinlich, daß ihr das
nicht
gleich klar gewesen war! Seine Nähe weckte das Jagdfieber in
ihr.
Wie sie doch nach Fleisch hungerte … »Rasch, laß mich
herun-
ter«, flüsterte sie Nitra hilfsbereit zu. »Damit du dich
verwandeln
und es reißen kannst.«
»Mich verwandeln?«
fragte die Frau und starrte sie verblüfft an.
»Meine Stute reißen?«
Die Stute kam zutraulich
näher. So ein großes Pferd hatte Sofyia
noch nie gesehen! Zudem war es nicht braun, sondern weiß
wie
der Todeswolf und trug am Kopf Lederriemen und
Knochenstück-
chen. Ihr Herz begann zu rasen. Die alte Hexe hatte sie
belogen!
Hier gab es für sie keine Rettung, kein Entrinnen mehr.
Nein,
östlich des Morgens war das Reich des Todes!
Nun blieb das Pferd ruhig vor ihr stehen. Es hatte
sanfte, braune
Augen mit geschlitzten Pupillen - wie eine Ziege. Sofyia
wim-
merte vor Angst, als Nitra sie seitlich auf seinen Rücken hob.
»Kannst du denn nicht
richtig aufsitzen?« fragte Nitra erstaunt.
»Schwing einfach dein rechtes Bein darüber. Hier, ich
schlag dir
die Röcke zurück, damit sie dir nicht im Weg sind …« Sofyia
sah
ihre bleichen Hände näherkommen und die blauen Augen
dämo-
nenhaft funkeln. Oh, gleich würde die Fremde sich
verwandeln,
um sie auf der Stelle mit Haut und Haar zu verschlingen …
Da fiel sie in Ohnmacht.
»Wenn du es mich dir
braten ließest, könntest du es viel leichter
kauen«, sagte Nitra nun schon zum drittenmal.
Aber Sofyia schüttelte heftig den Kopf und spie wütend
vor ihr
aus. Wenn die nicht höflich warten konnte, bis sie ihr Fleisch
ver-
zehrt hätte, verdiente sie keine andere Antwort! Sie spürte
die
Blicke aller Jagdgefährtinnen Nitras auf sich, als sie sich nun
noch
einen Brocken Fleisch von der blutigen Hirschkeule riß. Ihr
war,
als würde sie von Geistern belauert … Die Augen dieser
Frauen
reflektierten den Feuerschein nicht. Nur ihr Geruch sprach
dafür,
daß sie lebendige Wesen waren. Und der Gestank des bis zur
Un-
kenntlichkeit verkohlten, faden Fleischs, das sie aßen.
»Undankbare Hündin!« murmelte eine.
»Schweig!« fuhr Nitra
die Gefährtin an. »Sie wäre fast ertrunken
und ist noch völlig verschreckt. Als ich sie aufs Pferd hob, ist
sie
sogar ohnmächtig geworden!«
»Sie hätte es dir fast
aufgefressen!« versetzte die Gescholtene und
kniff ihre Augen zu schwarzen Schlitzen. »Aber wenn es dir
lieber
ist, nenne ich sie eben undankbare Wölfin.«
Das reichte Sofyia nun! Empört legte sie die halbe
Keule beiseite
und knurrte böse: »Weshalb beleidigt ihr mich und
schmeichelt
mir in einem Atemzug?«
Nitra legte ihr die Hand
auf den Arm. »Wie meinst du das?«
»Ja, ich bin wohl undankbar«, seufzte Sofyia und
starrte auf die im
Feuerschein wie Gold schimmernden blonden Härchen auf
Nitras
Handrücken. »Du rettest mich, wärmst mich mit deinem Um-
hang. Ich schrecke vor dem Beutetier zurück, das du dir
gezähmt,
dienstbar gemacht hast. Du teilst dein erbeutetes Fleisch mit
mir,
und ich schlinge es gierig und ohne ein Wort des Danks
hinunter.
Wie soll ich mich da
nicht wundern, wenn deine Genossin mir den
Ehrentitel gibt, den mir meine Leute bisher verweigert
haben?«
Da hielt sich Nitra rasch die Hand vor den Mund, um ihr
Lachen zu verbergen - aber es war vergebliche Mühe. »>Wölfin<
ist in deinem Land ein Kompliment?» prustete sie.
Sofyia stieß die blutige
Keule wag, legte den Kopf auf den Tisch
und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Die Hexe hat mich zum
Nar-
ren gehalten«, schluchzte sie. »Sie hat gesagt, daß ihr mir
helfen
würdet. Aber ihr macht euch ja auch nur über mich
lustig!«
»Was hat diese Alte versprochen ?« forschte Nitra, nun
ganz ernst.
»Wo kommst du überhaupt her, Kleine?« Sie sah auf
einmal hart
und mißtrauisch drein … und die übrigen Jägerinnen
musterten
Sofyia mit Augen so schwarz wie Anthrazit.
Sofyia hatte plötzlich
Angst, ihnen die Wahrheit zu sagen. Aber
könnten sie ihr noch mehr antun, als sie bereits gelitten
hatte?
Waren diese Frauen nicht ihre Retterinnen? Sie wischte
sich die Tränen ab - schalt sich aber gleich deswegen, weil sie
sich dabei die letzten Sandkörner ins Auge gerieben hatte, daß es
höllisch brannte.
»Ich gehöre zu den Neuri.«
»Die Neuri!« rief Nitra
überrascht. »Die Wolfsmenschen?«
Sofyia nickte. »Aber ich kann mich leider nicht so
verwandeln wie
die übrigen meines Volks. Solange alle in Menschengestalt im Dorf
leben, ist es nicht so schlimm. Aber wenn der Stamm aufbricht, zu
neuen Jagdgründen zieht, nehmen alle für diese Reise Wolfsgestalt
an, und dann stehe ich zurück. Meine Eltern müssen mir von ihrer
Beute abgeben … und dabei sollte ich doch für sie jagen, da sie
bereits alt und fast zahnlos sind. Und ich darf mir kein Männchen
suchen, obwohl ich jetzt volljährig geworden bin. So bat ich die
Hexe, bei der Mondin Hilfe und Heilung für mich zu erfragen. Und
jetzt ist es soweit: Heute Nacht werde ich mich erstmals in eine
Wölfin verwandeln«, sagte sie, und ihr Herz sang vor Hoffnung bei
diesen Worten.
»Die Wolfleute«,
murmelte eine der Jägerinnen nachdenklich.
»Also gibt es die Neuri noch!«
Nitra kniete vor Sofyia
nieder und faßte sie an den Armen. »Was
hat die Hexe dir gesagt? Was genau.?«
Da beugten sich alle
übrigen Sauromatierinnen interessiert
vor.
»Die Hexe hat mir
versprochen, östlich des Morgens würde ich
mich auf vier Beinen fortbewegen«, erklärte Sofyia.
»Nun, da hat sie nicht gelogen«, lachte, nun eher
freundlich, die
Jägerin, die sie »Hündin« und »Wölfin« geschimpft hatte.
»Nitra
hat gesagt, du seist auf allen vieren aus dem Morgen
gekro-
chen !«
»Ich kroch nicht aus dem Morgen«, fuhr Sofyia auf, »sondern aus einem Fluß.«
»Aus dem Fluß Morgen«, versetzte Nitra ruhig.
»Was?« fragte Sofyia. Ihre Sprachen ähnelten einander sehr - aber hatte sie das eben richtig verstanden?
»Du bist nicht östlich
des Morgens, sondern östlich des Flusses
Morgen.«
Sofyia war für einen
Moment sprachlos. Dann flüsterte sie:
»Wollt ihr damit sagen, die Hexe hätte mich hinters
Licht geführt?
Aber als Priesterin der Mondin wird sie mich doch nicht anlügen!«
»Auch ich bin
Mondpriesterin, und ich sage dir, niemand gelangt
hinter den Sonnenaufgang.«
»Nein, das kann nicht sein«, beharrte Sofyia mit bebender Stimme.
»Der ganze Stamm hat mir Lebewohl gesagt … Meine Mutter und mein Vater und meine Brüder und Schwestern … ich kann nicht glauben, daß sie mich auf eine Reise in den Tod schickten!«
Nitra schüttelte nur bedauernd den Kopf.
»Wenn die Mondin erst am Himmel aufsteigt, werde ich die Kraft zu meiner Verwandlung schöpfen«, versetzte Sofyia entschieden.
»Ihr werdet ja sehen … ich laufe bald auf vier Beinen zu meinem Volk zurück!«
»Man hat dich
hereingelegt und dich zum Narren gehalten«, sagte die
Scharfzüngige, die sie eine »Wölfin« gescholten hatte.
»Und selbst wenn du es schaffst, all die Flüsse wieder
zu durchqueren und heimzukehren … deine Leute sind inzwischen ja
schon längst weitergezogen.«
»Das glaube ich dir nicht«, entgegnete Sofyia steif. »Ich werde hier am Feuer warten, bis ich die Kraft zum Gestaltwandel in mir spüre.«
»Laßt uns allein«,
befahl Nitra. Da kamen alle Jägerinnen – sogar die Spötterin - zu
Sofyia und klopften ihr verlegen, aufmunternd auf die Schulter und
zogen sich dann zurück. Nur Nitra blieb. Und als der Mond über die
Berge stieg, saß sie noch immer schweigend am Feuer und starrte
nachdenklich in die Flammen.
Und Sofyia? Sie wartete auf den Lustschauder, das
unwillkürliche Gefühl, das laut ihrer Familie Verwandlungen
ankündigt. Der Mond stieg um eine Handbreit und noch um eine und
noch … Es war ein schöner voll gerundeter Mond, wie geschaffen, ihr
diese ersehnte Kraft zu geben … Aber nichts dergleichen geschah,
und irgendwann mußte sie sich eingestehen, daß all ihr Hoffen
vergeblich gewesen war. Die tiefe Verzweiflung, die sie am Fluß
gespürt, befiel sie erneut, ergriff von ihr Besitz und umschloß ihr
Herz gleich einer starken Faust und quetschte es aus, bis ihr
nichts mehr blieb als ihr Leid.
Da warf sie den Kopf in
den Nacken und heulte aus tiefster Seele zum Himmel auf. Aber ihr
Geheul erleichterte und befriedigte sie nicht, da es ja nur eine
Nachahmung war, die aus einer unheilbar menschlichen Kehle kam. Sie
war nun östlich des Morgens und würde sich trotzdem nicht
verwandeln können … Traurig zog sie die Knie hoch, begrub ihr
Gesicht zwischen den Beinen und verharrte lange in dieser Haltung.
Als ihr aber nach einer Zeit bewußt wurde, daß Nitra ja auch noch
da war und sie bestimmt beobachtete, flüsterte sie: »Bitte geh. Du
mußt dich bald verwandeln, und ich könnte es nicht ertragen, das
mit anzusehen.«
»Ich gebiete über keinen Zauber!« erwiderte
Nitra.
»Du bist keine Werwölfin?« staunte Sofyia, hob rasch
den Kopf und blinzelte scheu zu ihrer neuen Freundin hinüber. »Aber
ihr hattet heute abend doch frisches Fleisch. Wer hat diesen Hirsch
getötet? Eure Männchen? Ich habe noch keines zu Gesicht bekommen.
«
»Ha!« schnaubte Nitra und reckte sich. »Hier in Sauromatien leben Frauen und Männer getrennt voneinander. Wir kommen nur zu-sammen, um Kinder zu zeugen. Wir jagen und kämpfen jedoch ganz auf eigene Faust.«
»Was?« fragte Sofyia baff. »Ihr … könnt gar nicht Wolfsgestalt annehmen?«
Nitra schüttelte
energisch den Kopf.
»Oh, das tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leid zu tun«, versetzte Nitra und musterte sie mit dem eindringlichen Blick ihrer blauen Augen. »Dein Stamm hat wohl die alte Sage vergessen, die erzählt, daß die Neuri, Sauromatier und Skythen, ja, alle Menschen, aus Tieren hervorgegangen sind … Wir Sauromatier haben uns fürs Menschsein entschieden, als die Mondin uns allen, Männern wie Frauen, vor langer Zeit erklärte, daß wir mit Hand und Hirn sehr viel mehr anfangen könnten als mit Zähnen und Klauen.
Die Neuri aber weigerten
sich, ihrer tierischen Natur zu entsagen.«
»Selbstverständlich! Wieso sollte man auch
ausschließlich Mensch sein wollen, wenn man wie ein Wolf laufen
kann?!«
»Ich frage mich, wie menschlich die Neuri eigentlich
sind«, sagte Nitra, erhob sich rasch entschlossen und wischte sich
flüchtig den Hosen-boden ab. »Hör, ich muß zum Hügel dort, um die
Mondin zu befragen.« Und schon verschwand sie in dem dunklen Wald,
der sich über dem Flußufer erhob.
Sofyia starrte ihr zutiefst verwundert nach. Daß ein Mensch sich so geräuschlos bewegen konnte! Als Nitra nach einer Weile ebenso geräuschlos zurückkehrte und sie unsagbar … hungrig anlächelte, vermeinte sie doch wieder, eine Werwölfin vor sich zu haben, und sah ängstlich zu ihr auf.
»Was schreckt dich so?« fragte Nitra, und ihre Zähne funkelten im Feuerschein.
»Du tötest wohl, ohne dich zuvor zu verwandeln«, erwiderte Sofyia nervös.
»Schon beim ersten
Morgenlicht werde ich auch dich das lehren«,
versicherte Nitra. »Und dann erfüllt sich die Prophezeiung
der
Hexe in für sie ganz unerwarteter Weise.«
Der Winter stand vor der
Tür. Nun würden die Neuri bald ihr Dorf
verlassen, ihre Menschengestalt aufgeben und nach Süden ziehen
…
Sofyia ritt in der Richtung, in der sie auf sie zu stoßen hoffte. Sie trug eine Bluse und Reithosen aus mit Hirschköpfen besticktem Tuch - Hirsche waren ihr bevorzugtes Wild —, und ihre Reitstiefel waren so rot wie frisches Blut. Ihr Hengst, der rechte Bruder von Nitras Stute Turek, legte in scharfem Trab munter Meile um Meile zurück, und die neben ihm am Leitzügel gehende Stute Vacha, sein Weibchen, hielt mühelos mit ihm Schritt.
Die Stute trug auch das Wild, das Sofyia für sich und das Jagdhundpärchen, das Nitra ihr zum Abschied geschenkt hatte, mit Pfeil und Bogen erlegte.
Sofyia durchquerte all
die Flüsse, die sie schon auf dem Herweg
überwunden hatte, aber diesmal ohne Mühe, da ihr Hengst für
sie
schwamm. Die Stämme, vor denen sie sich gefürchtet und versteckt
hatte, flohen nun entsetzt vor ihr … Sie ritt ohne Groll dahin. Ihr
Herz hatte der alten Hexe längst vergeben. Ihre Prophezeiung hatte
sich ja erfüllt! Nein, sie wäre ihrem Volk jetzt keine Last mehr.
Ihre Leute würden vor ihr katzbuckeln, wenn sie erst sähen, was sie
gelernt hatte, und würden sie als vollwertig betrachten. Ja, und
dann würde sie sich ein Wolfsmännchen erwählen.
Früher als erwartet, stieß sie auf Fährten, größer und
tiefer als die
gewöhnlicher Wölfe. In ihrer Freude schoß sie als Mitbringsel
schnell einen Hirsch und folgte, da sie vor lauter Aufregung doch
nicht schlafen konnte, die ganze mondlichthelle Nacht über, bloß
von ihrem Geruchssinn und scharfen Auge geleitet, der Spur ihres
Stammes.
Am frühen Morgen stieß
sie an einem Nebenarm des Flusses Maris, den die Sauromatier
Tiarantos nennen, auf den Sammelplatz der Neuri. Hütten und Zelte
waren jedoch weit und breit nicht zu sehen, auch keine menschlichen
Fußspuren – bloß Wolfsfährten. Nun bellte und jaulte Sofyia in der
Wolfssprache, soweit sie die eben beherrschte, einen
Wiedersehensgruß.
Da kamen sie herbeigetrottet, setzten sich in weitem
Kreis um sie und die Pferde und beäugten sie mißtrauisch. Voll
Mitleid sah sie ihre Eltern an, die in diesen paar Monden seit
Mittsommer um die Schnauze vollends ergraut und wohl noch zahnloser
geworden waren. »Ich hab euch Fleisch gebracht«, rief Sofyia ihnen
zu und wartete darauf, daß sie sich verwandelten und ihr Geschenk
annähmen. Aber sie äugten einander nur stumm an und husteten, und
einige aus dem Rudel begannen zu knurren. Und Sofyias Jadghunde
erhoben sich mit gesträubtem Nackenfell. »Sitz«, befahl sie leise.
Sie gehorchten, aber die Wölfe kamen dennoch nicht näher.
Sofyia rang sich ein
Lächeln ab und rief: »Hexe! Dank für deinen
Zauber. Ja, ich habe östlich des Flusses Morgen gelernt, mich
auf
vier Beinen fortzubewegen … Dafür sei die Mondin
gepriesen!
Und sieh dir den da an!« Damit täschelte sie dem Hengst
die Schulter. »Ich hab auch eine Stute mitgebracht, die wohl bald
fohlen wird. In einigen Jahren haben wir genug Pferde für uns alle.
Ich
sorge für sie, und in mageren Zeiten werden wir, ohne zu ermüden,
mit ihnen weite Streifzüge unternehmen und jagen können, was das
Herz begehrt.«
Die Hexe beäugte sie mit schmalen Lichtern und winselte kläglich.
»So sag doch was«, bat
Sofyia. Keine Antwort. Sofyia fühlte ihren
Zorn wachsen. »Ich bin jetzt eine Jägerin!« rief sie und blickte
der
Hexe herausfordernd in die Augen. »Ich habe mir das Recht
auf
Nachwuchs verdient! So laßt mich aus eurem Menschenmund
Worte der Zustimmung hören!« Sie legte einen Pfeil auf,
spannte
den Bogen. Die Sehne zitterte gegen ihre Wange, und die
Spitze
ihres Pfeils zielte auf das Herz der Hexe. »Nun verwandle dich,
du
verdammtes Biest«, knurrte sie.
Die Hexe warf sich auf
den Rücken, wies ihr den schutzlosen
Bauch und winselte um Gnade.
Da trat Sofyias Vater vor und sprach in der Wolfszunge so langsam zu ihr, daß sie sein Gehuste und Gebell verstand: »Quäle sie nicht!
Die Mondin hat uns zur
Strafe für das Vergehen der Hexe unsere Verwandlungskraft geraubt
…«, erklärte er. »Die Mondfrau läßt ihrer nicht spotten!«
»Welches Vergehen?« fragte Sofyia, noch immer
zweifelnd.
»Du warst immer ein Dummerchen«, gähnte nun ihr Vater
und rollte seine lange, rosarote Zunge. »Du hast dich von der Hexe
ins Land östlich des Morgens schicken lassen, das es ja gar nicht
gibt.«
»Aber sicher«, riet
Sofyia. »Sieh doch, ich kann jetzt reiten und
mit Pfeil und Bogen jagen, und ich hab euch Fleisch mitgebracht.
«
Ihr Vater hob witternd die Schnauze. »Der
Hirsch riecht gut. Aber
du stinkst nach Mensch. Du bist jetzt bloß noch Mensch«, sagte
er
und sah sie mit seinen gelben Lichtern traurig an. Dann wandte
er
ihr das Hinterteil zu und trottete in den Wald zurück. Die
Mutter
folgte ihm, ohne sich noch einmal umzublicken. Ein Rudelgefährte
nach dem anderen verschwand nun zwischen den Bäumen.
Ein leichtes
Schneetreiben setzte ein. Da langte Sofyia zu ihrer Stute hinüber
und löste den Gurt, der den Hirsch auf ihrem Rücken
hielt.
Er kam ins Rutschen und fiel schwer zu Boden.
Tränen rannen ihr die Wangen hinab - Menschentränen.
Und sie zog die Zügel an und riß ihren Hengst herum, Richtung
Osten, Richtung Morgen.