ANDREA PELLESCHI

 

Eine Geschichte, in der anfangs irgendein Mann (sinngemäß) sagt: »Das tut eine Frau nicht…«, lehne ich normalerweise ab. Denn in einer Anthologie wie dieser braucht man das nicht noch des langen und des breiten zu widerlegen. Storys über Drachen interessieren mich in der Regel ebensowenig. Denn Drachen sind inzwischen wohl das Klischeehafteste, was es in der Fantasy-Literatur gibt.

Aber keine Regel ohne Ausnahmen. Wenn so eine Story mich wirklich fesselt… Diese hier hat mich gefesselt. Und ich denke, daß sie auch Sie in ihren Bann schlagen wird. Andrea ist »achtundzwanzig Jahre alt, Maschinenbauingenieurin von Beruf und in einem Kraftwerk vollzeitbeschäftigt«. Ich staune ja immer wieder darüber, was für Berufe Frauen heute so ausüben. Als ich klein war, galt es als selbstverständlich, daß sie Hausfrauen waren - oder aber Krankenschwestern oder Lehrerinnen. Die Zeiten haben sich offenbar geändert. - MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ANDREA PELLESCHI

 

Das Lied des Drachen

 

Terri stürmte den leeren Flur entlang. Der Klang ihrer Schritte hallte von den Wänden wider. Sie durfte nicht zu spät kommen -nicht zu Storos’ Stunde über Zaubertheorie. Er war der mächtigste Magier ihrer Schule, und sie fürchtete seinen Zorn. Schwer atmend nahm sie nun immer zwei Stufen auf einmal und drückte dabei ihre Zauberbücher fest an sich. Aber als sie um die Ecke bog, sah sie Dugan und seine Bande da stehen. Diese Burschen lauerten ihr also schon wieder auf!

»Hast du auch brav deine Zauberübungen gemacht … Terri?« fragte einer der Jungs. Terri würdigte ihn keiner Antwort und versuchte, an ihnen vorbeizukommen. Aber sie verstellten ihr den Weg.

»Oh, sie spricht heute nicht mit uns«, spottete ein anderer, als sie sie umringten. »Vielleicht hat sie ihren Stummzauber an sich selbst ausprobiert.«

»Bestimmt, und morgen vielleicht den Tarnkappenzauber, und dann sehen wir sie nie mehr wieder!« Da lachte der ganze Haufen.

»He, Terri, gib mir doch mal deine Zauberbücher«, sagte Dugan, der älteste der Jungs. »Ich will ja nur sehen, ob du auch schön deine Hausaufgaben gemacht hast…« Damit langte er nach ihrem Bücherpacken.

»Nein, laß mich in Ruhe«, rief Terri. Und in ihrer Stimme war ein Zittern.

»Laß mich in Ruhe! Laß mich in Ruhe!« äfften die Jungs sie nach.

»Schon gut, wir lassen dich ja in Ruhe«, sagte Dugan, wieder ganz ernst. »Zeig mir nur erst deine Bücher.«

Terri schüttelte abweisend den Kopf. Da waren mit einemmal all ihre Bücher und Hefte verschwunden, ihre Arme leer … Sie sah verstört um sich; aber keiner der Jungs hatte ihre Sachen. Nein, die Kerle standen bloß da und lachten sie aus. Und Dugan? Der blickte, ganz konzentriert und mit zusammengezogenen Augenbrauen, vor sich hin und bewegte nur stumm die Lippen. »Ein Zauber! Du hast mir meine Bücher weggehext. Und wo sind sie jetzt?« rief sie wütend. »Hol sie dir doch, Terri.« »Ja, zeig uns deine magischen Kräfte.«

»Vielleicht hat sie ja Angst. Vielleicht fürchtet sie, nicht auf den richtigen Zauber zu kommen.«

Einer der Jungs sah nach oben. Terri folgte seinem Blick. Da sah sie ihren Bücherpacken: Er schwebte etwa einen halben Meter unter der Decke frei in der Luft! Sie sprang hoch und langte danach … aber er glitt geschwind zur Seite.

»Gebrauch deine Magie. Zeig uns einen schönen Zauber«, riefen die Kerle hohnlachend.

Terri versuchte, sich an diesen Spruch zu erinnern; aber ihr Kopf war wie leer. Und die Ohren klangen ihr vom Spott der Jungs. Sie fühlte, wie ihr die Augen von heißen Tränen zu brennen begannen.  

Aber sie biß sich trotzig auf die Lippen. Nein, sie durfte jetzt nicht weinen - nicht vor diesen Kerlen. Aber je mehr sie sich zu konzentrieren suchte, desto leerer wurde ihr Kopf. Endlich läutete die Schulglocke. Die Jungs vergaßen darüber ihr Opfer und rannten den Flur entlang zu ihrem Klassenzimmer. Und Terris Bücherpacken krachte auf die Steinfliesen. »Du wirst nie eine Zauberin werden, Terri, nie, hörst du?« schrie Dugan ihr noch über die Schulter zu. »Geh lieber nach Hause und lerne kochen und putzen. Benimm dich endlich wie ein Mädchen !«

Langsam verklangen ihre Stimmen und Schritte. In den Flur kehrte wieder Stille ein. Terri stand mit hängenden Armen da und atmete ganz tief, um ihr wild pochendes Herz zu beruhigen, und wischte sich ärgerlich die Tränen weg, die ihr über die Wangen kullerten. 

Das ist ungerecht, dachte sie. Warum lassen sie mich nie in Ruhe? Ich habe genauso wie die das Recht, hier zu sein!

Dann sah sie auf den wüsten Haufen zu ihren Füßen hinab: All ihre Hefte und Bücher lagen kunterbunt durcheinander. Seufzend hob sie eins der Bücher auf. Es sah sehr mitgenommen aus. Die Bindung war gebrochen, und der Ledereinband hing nur noch an ein, zwei Fäden. Traurig versuchte sie, die zerknitterten Seiten zu glätten. Das war ihr erstes Zauberbuch … Ihr Vater hatte es ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt.

»Du wirst einmal eine große Zauberin sein«, hatte er gesagt, als er ihr den damals schon alten und abgenutzten Band gab. »Das war auch mein erstes Magiebuch … Dein Großvater hat es mir vermacht, als ich so alt war wie du«, hatte er mit freudestrahlenden Augen hinzugefügt. »Und von nun an soll es dir gehören.« »Aber ich bin doch nur ein Mädchen«, hatte sie ihm erwidert. »Ich kann doch nicht wie du das Zaubern lernen.« »Unsinn. Du bist meine Tochter, ja? In dieser Familie werden alle Zauberer.« Dann hatte er sie einen Moment lang scharf angesehen. »Ich konnte nicht zur Schule gehen, weil dein Großvater mich hier zu sehr brauchte. Aber du wirst diese Chance haben. Und ich werde dafür sorgen, daß du sie nutzen kannst.« Darauf hatte er das Buch aufgeschlagen und ihr die erste Stunde im Zaubern gegeben.

In den folgenden Jahren hatte er ihr fast alles beigebracht, was er über die Magie wußte. Er hatte ihr die verschiedenen Kräuter und Wurzeln gezeigt und erklärt, wozu sie in der Heilkunst nütze waren. Sie hatte auch gelernt, die wilden Tiere zu verstehen und ihre Fährten zu deuten, und hatte ihm sogar bei seiner Arbeit für die Dörfler und Bauern geholfen.

Als sie zum Internat aufgebrochen war, war er überzeugt gewesen, daß sie für alles gewappnet sei - keiner von ihnen beiden hatte geahnt, daß die Mitschüler für sie das größte Problem darstellen würden. Jetzt war sie schon seit zwei Monaten in dieser Schule -aber niemand nahm sie hier ernst. Keiner traute ihr zu, daß sie eine richtige Zauberin werden könnte.

 

Nun murmelte Terri - ohne nachdenken zu müssen - den Zauber, der ihr so arg ramponiertes Buch wieder instand setzen sollte. Und da wurde die Bindung wieder heil, nähte sich der Einband von selbst wieder zusammen. Das Buch war jetzt wieder so fest und schön wie zuvor … Terri riß verblüfft die Augen auf. Wenn sie allein war, fielen ihr diese Sprüche anscheinend im Handumdrehen ein.  

Weshalb nur konnte sie nicht auch vor den Jungs so zaubern?

Aber nun fiel ihr siedendheiß ein, daß sie viel zu spät dran war, und so las sie schleunigst ihre Siebensachen auf und lief weiter. Vor der Klassenzimmertür zögerte sie. Storos machte ihr immer so Angst. Vielleicht wäre es besser, seine Stunde zu schwänzen, als bei ihm zu spät zu kommen. Aber wenn sie schwänzte … würden die Jungs nur glauben, sie traue sich nicht zu ihnen herein. Entschlossen stieß sie die Tür auf und ging hinein. In der Klasse trat eine tödliche Stille ein. Storos sagte kein Wort und starrte sie nur an, als sie scheu zu ihrem Platz schlich und sich setzte. »Guten Morgen, Terri«, sagte er sodann - mit sanfter Stimme, aber stahlharten Augen. »Wie schön, daß du uns heute die Ehre gibst!«

Die Jungs begannen zu kichern, verstummten aber schlagartig, als Storos sich zu ihnen umdrehte.

»Ich hoffe doch, daß du dich bei mir künftig an den Stundenplan hältst«, fuhr Storos nun fort und sah wieder Terri an. »Ich dulde keine Unpünktlichkeit.«

»Ja, Meister«, erwiderte sie beschämt. Einer der Jungs feixte. Storos drehte sich wieder zu seiner Schiefertafel um und fuhr mit dem Unterricht fort. Terri hörte aufmerksam zu, mußte aber an all die Gerüchte denken, die sie in den zwei Monaten über ihn gehört hatte - Gerüchte, die besagten, daß er nicht sei, was er scheine. Offenbar konnte sich keiner an eine Zeit erinnern, zu der er noch nicht an dieser Schule gewesen war … Dann müßte er ja weit über zweihundert Jahre alt sein, dachte sie, aber das kann doch nicht sein… nur Kobolde, Trolle und Drachen werden so alt! Nun musterte Terri ihn eingehend. Ja, er sah aus wie ein Mensch -aber die Gerüchte behaupteten, daß er etwas anderes, etwas nicht so ganz Menschliches sei. Fröstelnd suchte sie sein Gesicht nach einem Anzeichen seiner Kobold- oder Trollnatur ab. Sein schwarzes Haar, seine gebogene Nase und seine hohen, sichelförmigen Brauen gaben ihm ein recht wildes Aussehen, das aber durchaus menschlich war.  

Mit seinen schwarzen Roben, die er allzeit trug, und seinen scharfen Augen, denen nichts zu entgehen schien, erinnerte er sie irgendwie an einen riesigen Raubvogel. »Nun denn, Terri…«, sagte Storos und holte sie damit jäh in die Gegenwart zurück. »Nun zeig uns mal, daß du deine Hausaufgabe gut erledigt hast. Sag, womit tötet man einen Troll am sichersten? «

»Hm. Mit Arsen und Silber«, erwiderte sie unsicher, während sie noch suchend in ihrem Schulheft blätterte - sie hätte sich dafür ohrfeigen können, daß sie so in den Tag hineingeträumt hatte! »Also, mit Arsen und Silber … ja?« bohrte Storos weiter. »Ja, hm, also …«

»Colin«, schnitt Storos ihr das Wort ab, »was meinst du denn?« »Ja, mit Arsen und Silber«, erwiderte Colin selbstsicher und warf Terri einen triumphierenden Blick zu. Und da fühlte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoß.

Storos sah Colin mit hochgezogener Braue an. »Stimmt genau. Einen Troll tötet man am besten mit in Arsen getauchten Silber-pfeilen.« Dann rieb er sich mit dem Finger seine lange, gebogene Nase. »Und warum ist das so?«

»Warum ?« fragte Colin verblüfft. »Meister … was meinst du mit >warum<?«

»Ich will wissen: warum mit Silber und mit Arsen? Warum nicht mit Gold und Arsen oder mit Silber und Quecksilber? Warum?«  

»Nun, ich nehme an … oh, das ist eben so. Das weiß doch jeder.«  

Colin sah aus, als ob er am liebsten irgendwo weit fort gewesen wäre - nur nicht in diesem Klassenzimmer-, und ließ seine Augen nervös hin und her huschen. Terri wußte die Antwort, traute sich aber nicht, sich jetzt zu melden.

Da kniff Storos mißmutig die Augen zusammen, wandte sich an einen anderen Jungen und wiederholte ungeduldig: »Warum?« Der sah nur vor sich auf den Boden und versuchte nicht einmal zu antworten … Nach einer Minute vergeblichen Wartens fragte Storos den nächsten und den nächsten, aber stets mit demselben Resultat.  

Endlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und musterte seine Schüler einen nach dem anderen. Terri machte sich ganz klein auf ihrem Stuhl und wäre am liebsten unsichtbar geworden.

»Oh, ich sehe, hier in meinem Klassenzimmer sitzen keine Schüler, sondern lauter Schafsköpfe!« sagte Storos sodann in leisem, aber schneidendem Ton. »Schafsköpfe, die ohne alle Überlegung tun, was man ihnen sagt.« Er verschränkte kühl die Arme über der Brust und starrte einen nach dem anderen tadelnd an. »Also, warum versuchen wir es nicht erneut?! Ich stelle euch Fragen, und ihr werdet sie mir nicht nur beantworten, sondern mir eure Antworten auch hübsch begründen!«

Da überfiel er sie, wie ein auf seine Beute herabstoßender Falke, mit vielerlei Fragen. Und wenn ein Schüler eine nicht beantworten konnte, stellte er sie dem nächsten und dem nächsten, bis er eine befriedigende Antwort samt Begründung erhalten hatte … Und dabei sparte er keinen aus.

Als endlich die Pausenglocke erklang und alle erleichtert von den Plätzen aufstehen wollten, gebot ihnen Storos mit hoch erhobenen Händen, noch sitzenzubleiben.

»Ich werde in den nächsten Tagen nicht hier sein«, verkündete er. Da blickten die Schüler einander vielsagend an. »Ihr bekommt eine Vertretung, glaubt aber ja nicht, daß ihr faulenzen könnt … Mein Stellvertreter weiß, was er zu tun hat!« Er zog einen Mundwinkel hoch. »Und wenn ich zurück bin, will ich hier Zauberlehrlinge vor mir sehen und keine Schafsköpfe mehr.« Sprach’s und schritt mit wehendem Umhang hinaus. Da entspannte sich alles sichtlich. Es hob ein großes Palaver an. Terri fühlte sich ganz erschöpft und ausgepumpt. Sie klappte ihr Buch zu und wollte schon aufbrechen, als ein Gesprächsfetzen, den sie zufällig auffing, sie innehalten und neugierig zuhören ließ.

»Nun ist es soweit«, sagte Dugan eben zu einigen der Jungs. »Wenn wir ihm folgen wollen, dann heute nachmittag. Wer übernimmt das?« Während er sich nun fragend in der Runde umsah, machte sich Terri an ihrem Pult zu schaffen und spitzte dabei die Ohren. Wem denn folgen? fragte sie sich erstaunt.

»Colin, erzähle ihnen mal, wie das letztes Jahr abgelaufen ist.«  

»Nun«, begann Colin, »ich wartete, bis Storos zum Schultor hinaus war, und schlich ihm dann einfach hinterher. Ich habe ein paarmal meine Spürzauber ausprobiert, leider vergeblich. Storos hatte zu viele Gegenmagien erstellt.« Nun zog er einen an seiner Halskette befestigten glatten, weißen Stein unterm Hemd hervor. Einige der Jungs pfiffen leise durch die Zähne. Da reckte Terri den Kopf, um einen Blick darauf werfen zu können. Keiner der Jungs schien sich ihrer Gegenwart bewußt … sie hatten sie wohl völlig vergessen.

»Dies Amulett hat mir mein Bruder gegeben«, fuhr Colin fort. »Er möchte genauso gern wie wir wissen, wohin Storos einmal jährlich verschwindet. Und mit diesem Stein sei es jedem ein leichtes, ihm zu folgen.«

»Ich verstehe das nicht. Warum müssen wir ihm denn überhaupt folgen?« fragte ein Junge, der am selben Tag wie Terri eingeschult worden war.

»Ihr wißt doch noch, was wir euch an Merkwürdigkeiten über Storos erzählt haben?« erwiderte Dugan. Da nickten die Jungs. »Also, ich glaube, daß sein jährlicher Ausflug etwas mit seiner wahren Natur zu tun hat. Denkt doch nur daran, daß Colin ihm im Vorjahr nicht folgen konnte!« Das ließe sich auch ganz anders erklären, dachte Terri. »Storos verbirgt etwas … Und ich glaube, daß wir das, was er verbirgt, es sei was es sei, gut brauchen könnten. Vielleicht ist er ein Kobold, dann könnten wir an Zauberpfeile kommen. Oder an Gold, wenn er ein Drache ist … Wer will ihm also nachgehen?« schloß Dugan drängend.

»Und es darf nur einer sein«, warnte Colin. »Wenn zu viele gin-gen… könnte man hier in der Schule Verdacht schöpfen.« Ein langes Schweigen war die Antwort. Alle Jungs überdachten den Plan und sahen einander immer wieder nachdenklich an, aber keiner tat den Mund auf.

»Ich werde gehen«, meldete sich Terri plötzlich und sehr zu ihrer eigenen Verblüffung - und alles fuhr zu ihr herum und starrte sie erschrocken an. »Ich meine, nun, ich habe meinem Vater immer beim Aufspüren von Tieren geholfen und war darin sehr gut, und mit ihm dürfte es wohl auch kaum schwieriger sein«, sprudelte sie hervor. Ihr Herz raste, und ihre Hände zitterten. Aber die Jungs protestierten sogleich: »Ein Mädchen kann das doch nicht!« riefen sie immer wieder.

Bis Colin die Hand hob, sie also zum Verstummen brachte, und dann Terri einen merkwürdigen Blick zuwarf. »Ich sage … laßt sie es versuchen. Wir werden ja sehen, ob sie das schafft.« Dugan wollte Einspruch erheben - biß sich aber auf die Zunge, als er die große Erleichterung in den Gesichtern all der Jungs sah, und fügte sich achselzuckend.

Terri atmete erleichtert auf. Sie ließen sie also gehen. Ja, nun konnte sie ihnen beweisen, daß sie mehr war als nur ein Mädchen. Als sie sich umblickte, gewahrte sie, daß einige ihrer Mitschüler sie respektvoll ansahen. Da wußte sie, daß sie - was immer auch folgen mochte - gut daran getan hatte, sich freiwillig für diese Aufgabe zu melden. Denn jetzt wurde sie zum ersten Mal an dieser Schule nicht mehr als Mädchen behandelt. Später an jenem Nachmittag versteckte sie sich dann draußen beim Schultor und wartete auf Storos. Dabei befühlte sie immer wieder das Amulett, das ihr nun um den Hals hing. Colin hatte gesagt, es zeige durch Glühen an, wenn sie auf dem rechten Weg sei. Und sie hoffte inbrünstig, daß er damit recht habe. Es würde ja alles so viel leichter machen. Dann überprüfte sie - wohl zum zehnten Mal in dieser Stunde des Wartens - den Inhalt ihres Rucksacks. Alles war da: ihre Wegzehrung und ihr Schlafsack und, vor allem, ihr erstes Zauberbuch.

Endlich sah sie Storos durchs Schultor schreiten. Er hatte einen langen Spazierstock in der Hand und trug einen Knappsack über der Schulter. Terri blieb in ihrem Versteck hinter dem großen Felsen, bis er auf einem schmalen Pfad den Wald betreten hatte, und nahm die Verfolgung auf, als er außer Sicht war. Als sie den Waldweg erreichte, zog sie ihren Amulettstein hervor und beschrieb damit langsam einen Kreis um sich. Und tatsächlich: Er erglühte, wenn sie ihn in die Richtung hielt, in der Storos verschwunden war. Es funktionierte! Da lächelte Terri erleichtert und schritt, mit dem Amulett als Führer, tiefer in den Forst hinein.

Etwa eine Meile konnte sie Storos so leicht folgen, daß sie schon unruhig zu werden begann - vielleicht geht er ja bloß zum Markt, dachte sie, oder zu einem kranken Verwandten … oder vielleicht haben diese Kerle mir nur einen Streich spielen wollen. Bei der Vorstellung, daß Dugan und seine Freunde sich nun über sie lustig machten, wurde sie so ärgerlich und dadurch so unvorsichtig, daß sie fast in eine Lichtung hineinspaziert wäre, in deren Mitte sie mit einemmal Storos, unbeweglich wie ein Vogel, stehen sah.

Da duckte sie sich schnell hinter ein paar Büsche und beobachtete ihn wie gebannt. Nach etwa einer Viertelstunde begann er, mit den Händen ein kompliziertes Muster in die Luft zu zeichnen und dazu ein Lied in einer ihr unbekannten Sprache zu singen. Er fing ganz leise an und sang immer lauter, so laut schließlich, daß sie sich die Ohren zuhalten mußte. Oh, es war einfach unmenschlich! Terri schloß die Augen und knirschte mit den Zähnen vor Pein. Aber als sie schon glaubte, es nicht länger ertragen zu können, brach der entsetzliche Gesang mit einemmal ab. Terri nahm nun die Hände herab, schlug langsam die Augen auf und blickte sich um - aber da war kein Storos mehr zu sehen! In Panik musterte sie das Rund, vergeblich. Dann lief sie auf die Lichtung hinaus, stellte sich an den Platz, an dem Storos gestanden hatte, und holte mit fliegenden Händen ihr Amulett hervor. Es gab keinen Schimmer von sich. Sie drehte sich so ruhig wie möglich im Kreis, aber der Stein wollte und wollte nicht erglühen. Der Zauberer war wahrhaftig spurlos verschwunden. Verzweifelt ließ sie sich zu Boden fallen. Nun war sie kaum eine Stunde hinter ihm her gewesen und hatte ihn schon verloren, hatte schon versagt. Die Jungs hatten recht gehabt. Sie würde nie eine rechte Zauberin werden. Wutentbrannt riß sie sich das Amulett vom Hals und warf es weit von sich. Es war ja jetzt nutzlos geworden! Dann hockte sie sich ins Gras und weinte bitterlich. All ihre in diesen zwei Monaten aufgestaute Wut und Enttäuschung brachen sich nun Bahn. Mit riesigen, quälenden Schluchzern weinte sie über die Grausamkeit der Jungs in der Schule und über die ungerechte Welt, die Mädchen das Zeug zum Zaubern absprach. Schließlich weinte sie auch über sich und ihren größten Wunsch - den Wunsch, einmal eine Zauberin zu werden.

Als ihre Tränen dann endlich versiegten, fühlte sie sich zu ihrer Überraschung besser als je zuvor in den zwei Monaten - erschöpft, aber erleichtert. Doch was soll ich nun tun? dachte sie dann, ich kann den Jungs nicht so bald wieder unter die Augen treten. Aber als sie im Rucksack ein Taschentuch suchte, mit dem sie sich die Augen hätte trocknen können, kam ihr ihr Zauberbuch in die Hände. Da dämmerte ihr, was sie tun mußte. Vielleicht würde ihr ja einer ihrer Zauber weiterhelfen, wo das Amulett versagte.  

Fieberhaft schlug sie einen Spruch auf, mit dem man angeblich den Weg, den ein Verfolgter genommen, aufleuchten lassen konnte. Sie erhob sich schnell, nahm das Buch in die Rechte, verdrängte alle anderen Gedanken und las den Spruch mit lauter Stimme ab.  

Daraufblickte sie langsam um sich, um festzustellen, ob er gewirkt habe - aber da war nichts zu sehen. Sie versuchte es erneut, auch ohne Erfolg. Enttäuscht schlug sie die nächste Seite auf und probierte es mit einem anderen, komplizierteren Spruch, den sie da fand. Aber auch er hatte nicht die geringste Wirkung. Da legte sie das Buch hin und rief sich in Erinnerung, was Colin über diese von Storos verwendeten Gegenzauber erzählt hatte. »Erst nachdenken«, hätte Storos gesagt. Und bei der Vorstellung, wie er sie mit erhobener Braue gemahnt hätte, sich nicht wie ein Schafskopf anzustellen, mußte sie einfach lächeln. Sie versuchte, sich zu sammeln, und ließ den bisherigen Ablauf noch einmal Revue passieren. Erstens: Storos war mit seinem Spazierstock und seinem Schultersack in den Wald gegangen. Dann hatte er auf der Lichtung gehalten und sein Zauberlied gesungen - und war jäh verschwun-den. Darauf hatte sie all die einschlägigen Spürzauber rezitiert, aber keiner davon hatte angeschlagen. Keiner meiner Zauber hat angeschlagen, wiederholte sie bei sich. Aber wer sagt denn, daß ich hier auf Magie bauen müßte? Vor ihrem inneren Auge sah sie Storos mit seinem Spazierstock vor sich - er kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben, dachte sie in plötzlicher Eingebung, er muß diese Lichtung zu Fuß verlassen haben. Und wenn er das getan hat, muß er auch Spuren hinterlassen haben, die zu finden es keiner Magie bedarf. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können, daß sie darauf nicht gleich gekommen war - war aber dennoch stolz auf sich und ihren Gedankenblitz … Sie konnte vielleicht nicht zaubern, hatte aber soeben weit mehr Scharfsinn bewiesen als Colin oder die anderen Jungs in all dieser Zeit.

Terri verstaute ihr Zauberbuch, schulterte ihren Rucksack und sah sich nach Fußspuren um. Da es bereits dunkelte, zauberte sie sich noch schnell eine magische Fackel, die nun neben ihr her schwebte und ringsum alles erhellte. Dort, da war doch ein Fußabdruck und da ein zweiter, ein dritter … Das mußte seine Spur sein! Terri folgte ihr von der Lichtung in den Wald, ganz wie sie mit ihrem Vater nur wenige Monate zuvor einer Fuchsfährte nachgegangen war. Der Spur meines Lehrers zu folgen, ist auch nicht viel schwerer, dachte sie frohgemut.

Immer tiefer in die Nacht hinein schlich Terri. Geknickte Zweige und hier und da ein Kiesel, den ein Fuß beiseite gestoßen hatte, wiesen ihr den Weg, und ihr Vater führte sie sacht. Nachdem sie Stunden so durch den Wald gespürt hatte, sah sie vor sich im Hang eines Hügels eine Höhle - die ihr bestimmt entgangen wäre, wenn diese Fußspur nicht direkt darauf zugeführt hätte und darin verschwunden wäre. Sie gönnte sich erst noch eine Atempause und wagte sich nun in den gähnenden Schlund. Ihre magische Fackel leuchtete ihr bestens, ließ jedoch unheimliche Schatten über die Höhlenwände tanzen. Terri schritt sehr langsam und vorsichtig voran, um ja nicht unverhofft in Storos hineinzulaufen … Die einzigen Geräusche, die sie da vernahm, waren das ihres Atems und das der ringsum ständig herabfallenden Wassertropfen. Als es weit voraus plötzlich hell wurde, löschte sie schnell ihre Fackel.

Sie schlich gebückt auf das Licht zu, tastete sich dabei mit den Händen an den Wänden entlang und trat vorsichtig auf, um sich ja nicht durch Geräusche zu verraten. Als sie um eine Ecke bog, sah sie, daß die Helle kein Feuerschein, sondern der Nachthimmel war, auf den sich die hier endende Höhle öffnete. Terri trat ins Freie und verbarg sich hinter einigen großen Felsblöcken. Nun gewahrte sie, daß sie sich auf einer schmalen Bergnase befand, die unweit vor ihr schroff zum Tal abfiel. Zu ihrer Rechten lagen noch mehr Felsblöcke, die von irgendeinem Bergrutsch herrühren mochten. Und zu ihrer Linken stand Storos. Da hielt Terri den Atem an. Aber Storos hatte sie offenbar nicht bemerkt. Er stand mit dem Rücken zu ihr hart am Abgrund, und sein schwarzer Umhang flatterte im Wind. Er hielt etwas in den Händen, das sie aber nicht zu erkennen vermochte, und reckte es gegen den bestirnten Himmel. Terri hörte, daß er ein Lied in einer fremden Sprache sang … und sie hatte das Gefühl, Zeugin einer zutiefst persönlichen Zeremonie zu sein. Jetzt lugte der Mond hinter einer Wolke hervor. In seinem Schein erkannte sie, was Storos in seinen Händen hielt: einen goldenen Kelch. Er setzte ihn langsam ab und begann dann, immer lauter zu singen. Da ihr Schlimmes schwante, hielt sie sich rasch die Ohren zu und schloß fest die Augen. Er sang tatsächlich noch lauter, aber doch nicht so fürchterlich laut wie beim vorigen Mal … Nun war es ein melodischer Singsang, der durch die Nachtluft zu ihr herschwebte, sie mit nie gefühlter Traurigkeit erfüllte und ihr ihre eigenen Sorgen als belanglos und kindisch erscheinen ließ. Sie spürte mit einemmal eine schreckliche Sehnsucht in sich aufsteigen. Ein Sehnen nach Menschen und Orten, die sie nie in ihrem Leben kennenlernen oder gar verstehen würde. Dieser Gesang war zugleich wunderschön und fürchterlich. Terri spürte, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen, und ihr ganzer Körper vibrierte mit jedem Ton mit.

Da brach der Gesang ab. Terri keuchte auf vor plötzlicher innerer Leere. Sie wischte sich die Tränen ab und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken. Für einen Augenblick lag die Bergwelt stumm und reglos da. Dann erscholl das Flattern von abertausend Vögeln, und es erhob sich eine Bö, die Staubwolken aufwirbelte und die Kiesel wild tanzen ließ. Als Terri um einen Felsen spähte, sah sie bloß Schwärze vor sich. Aber bald glommen rings um die Schwärze einige Sterne auf und dann noch mehr. Da begriff Terri, daß die Schwärze ein Ding war. Es bewegte sich anscheinend von ihr fort, wobei das Geräusch der Vogelschwingen leiser wurde … Irritiert sah sie zum Steilabhang hinüber - Storos war verschwunden. Dieses Etwas mußte ihn verschlungen haben. Terri faßte sich ein Herz und lief zu der Stelle hin, wo er soeben noch gestanden hatte. Das schwarze Ding schien ihrer nicht zu achten.

Als Terri in den Abgrund blickte, sah sie etwas, das ihr erneut den Atem nahm: einen Goldschatz, der in einem Spalt der Steilwand lag.  

Den hatte bestimmt Storos zusammengetragen! Da lagen goldene Kelche, Teller, Armreifchen und Ringe und vielerlei Kostbarkeiten mehr. Terri hob einen der prächtigen Kelche auf und sah dann zum Himmel empor. Das schwarze Ding hatte sich nun so weit entfernt, daß sie es erkennen konnte: Es war ein riesiger Drache.

Er war das schönste Wesen, das sie je zu Gesicht bekommen hatte. Andächtig sah sie ihm zu, wie er über dem Berghang kreiste. Seine schwarzen Schuppen glitzerten im Mondlicht und brachen es in alle Regenbogenfarben auf. Mit seinen majestätischen Schwingen ließ er sich von den Luftströmungen tragen. Anfänglich flog er so langsam und unbeholfen wie nach einer ganz langen Flugpause. Dann flog er schneller, sicherer und verspielter. Er stieß steil ins Tal hinab und fing sich knapp über dem Bogen, um sich dann lustvoll wieder emporzuschwingen, und wirbelte und tanzte in der Luft umher …  

Er schickte gar einen lauten Schrei zum Mond empor, so als ob er ihm verkünden wollte: »Ich bin frei, ich bin frei!« Nun lachte Terri laut auf und klatschte vor Begeisterung in die Hände.

Darauf drosselte der Drache sein Tempo und kam langsam, suchend herbeigeschwebt. Während sie ihm noch entgegenblickte, wandte er den Kopf und blickte sie an. Da sah sie seine Augen und wich vor Schreck zurück. Diese Augen kannte sie. Das waren die Augen von Storos.

Da ließ sie in heller Angst den goldenen Kelch fallen und rannte los. Sie rannte so schnell sie konnte - nur fort von Storos dem Drachen! Sie rannte durch den Höhlengang und in den Wald hinein, ohne auch nur daran zu denken, die Fackel wieder anzuzünden. Sie rannte, bis ihr die Lunge wie Feuer brannte und ihre Beine weich wie Gummi waren. Er hatte sie gesehen, also mußte sie das Weite suchen, ohne zu ruhen und zu rasten. Wer weiß, wie wütend er nun war! Wenn sie nicht mehr rennen konnte, eilte sie im Laufschritt weiter, und wenn sie das auch nicht mehr konnte, floh sie eben im Schritt weiter durch die Nacht.

Mit dem ersten Sonnenstrahl erreichte Terri ihre Schule - war sie wirklich erst nachmittags zuvor von dort aufgebrochen? Einige der Jungs standen bereits im Garten herum und kamen sogleich zum Tor, um sie zu empfangen. Sie zogen sie hinter eines der Schulgebäude, setzten sie auf ein altes Faß und eilten dann, Dugan und Colin zu holen.

Als Terri die zwei ankommen sah, wußte sie, daß sie es geschafft hatte. Sie hatte Storos aufgespürt und sein Geheimnis gelüftet… Sie hatte vollbracht, wozu keiner ihrer Mitschüler fähig gewesen war.    
  Jetzt müßten die Jungs sie als ebenbürtig anerkennen. »Nun, was hast du herausgefunden?« fragte Dugan höhnisch lachend. Für ihn war es offenbar schon klar, daß sie versagt habe. Terri holte tief Luft. Weil sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, fiel ihr das Denken nun etwas schwer. Aber ein Reigen von Erinnerungen wirbelte durch ihren Kopf. Sie sah Storos den Kelch zum Mond hochhalten.  

Sie hörte den schrecklich traurigen Gesang, der sie tief in ihrem Inneren noch immer schmerzte. Sie spürte den Nachtwind und vernahm das Flügelschlagen der Vögel. Und sie sah Storos den Drachen schweben und niederstoßen - majestätisch jetzt und dann wieder verspielt.

Nun musterte Terri die neugierigen Gesichter ringsum. Wie könnte sie es ihnen sagen … so, daß sie es verstünden? Wenn sie ihnen offenbarte, daß Storos ein Drache war, würden sie ihr dann noch zuhören, wenn sie von der Schönheit seines Flugs und seiner Lust daran erzählte … oder sich nur noch für den Schatz im Felsspalt interessieren? Terri wußte nicht, weshalb Storos an ihrer Schule Lehrer war, dachte sich aber, daß er schrecklich traurig darüber sein müsse, an die Erde gefesselt zu sein, wo er doch viel lieber fliegen würde. Hatte sie das Recht, sich in seine Angelegenheiten einzumischen? Und was würde mit ihm geschehen, wenn sie das täte ?

Die Jungs warteten ungeduldig darauf, daß sie berichte. »Was ist passiert?« fragte Colin.

»Gar nichts«, sagte sie endlich. »Dieses Amulett hat versagt. Ich hab’s mit ein paar Zaubersprüchen versucht, aber vergeblich. Dann habe ich mich auf den Heimweg gemacht.« »Das paßt ja genau!« rief Dugan triumphierend. »Habe ich es euch nicht gesagt? Mädchen sind eben nicht zum Zaubern gemacht.« Und damit machte er auf dem Absatz kehrt und schlenderte zur Schule zurück.

Mißbilligend den Kopf schüttelnd, trollten sich auch die übrigen Jungs. Nur Colin warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, bevor er ging. Aber Terri war das jetzt alles gleichgültig. Sie wollte nur noch eins: schlafen. So schlich sie sich auf schwankenden Beinen auf ihr Zimmer.

Einige Tage danach sah sie Storos, wieder in Menschengestalt, zum Schultor hereinkommen. Daher nahm sie allen Mut zusammen und ging ihm entgegen. Als sie ihn auf halbem Weg traf, wandte er ihr den Kopf zu. Da kreuzten sich ihre Blicke wie damals, in jener Nacht. Aber diesmal hielt Terri seinem Blick stand. Und für einen Moment herrschte ein stummes Verstehen zwischen ihnen, ein aus dem gemeinsamen Wissen um ein Geheimnis und aus gegen-seitigem Respekt genährtes Verstehen. Aber dann zog Storos eine Augenbraue hoch, drehte sich um und ging ins Schulgebäude hinein.