NANCY  L. PINE

 

Daß Glücksspielgeschichten so viele Leute faszinieren, überrascht mich immer wieder. Dion Fortune hat meines Wissens einmal gesagt: Je sanftmütiger ein Mensch, desto blutrünstiger seine Lektüre - und was dieser Mann mit dem sonnenverbrannten Weltumseglergesicht da eben liest, ist bestimmt ein Gärtner-Magazin …

Wie wahr! Nancy Pine ist Bibliothekarin. Was, milde ausgedrückt, ja nicht auf ein Abenteurerleben schließen läßt. Sie versichert, sie sei weder ein Vampir noch ein Mensch mit zwei Köpfen: »Nein, danke! Ein Kopf beschert mir schon genügend Probleme.« Nancy ist ledig, wohnt in Kingston, arbeitet in der Stadtbücherei und ist Mitglied im Kirchenchor - hat also die besten Voraussetzungen, um eine Story über einen Glücksspieler zu schreiben. Sie arbeitet an einem Roman, der, »nach meinen geringen derzeitigen Fortschritten zu urteilen (ich werde ja ständig durch so törichte Dinge wie die berufliche Arbeit vom Schreiben abgehalten), wohl irgendwann um die Mitte des nächsten Jahrhunderts fertig werden wird«.  

Dieses Gefühl ist, denke ich, vielen von uns nur allzu vertraut. — MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

NANCY  L. PINE

 

Ein Glücksspiel

 

Der Rauch in der Schankstube ließ Karis die Augen tränen und die Kehle brennen, so daß sie blinzeln und sich räuspern mußte. Sie versuchte, mit scharfem Blick die Schwaden zu durchdringen, wobei sie sich wünschte, der Wirt hätte seinen Kamin endlich einmal in Ordnung bringen lassen. Und wenn er einige Kerzen anzündete, wäre das auch nicht so schlecht! Dann könnte man vielleicht endlich etwas sehen …

Jarale müßte hier irgendwo sitzen. Aber es waren so viele Männer da, und der Raum war so dunkel und verräuchert, daß es schwierig war, jemand Bestimmten auszumachen. Sie sah eigentlich nur viele Köpfe, über Tische gebeugte Köpfe.

Dort! Sie hatte seinen Blondschopf an einem Würfeltisch inmitten vieler ihr unbekannter Köpfe entdeckt und zwängte sich zu diesem Tisch hindurch, wobei sie ihre Röcke gerafft hielt, um weder die Männer noch die Dielen zu streifen. Die Würfeltische waren einer der Gründe gewesen, warum Jarale in diesem miesen Gasthaus hatte absteigen wollen, statt in einem guten Hotel Quartier zu nehmen. Das war ihr von Anfang an klar gewesen. Natürlich hatte auch der Umstand, daß in ihrer Reisekasse fast Ebbe herrschte, bei dieser Entscheidung eine Rolle gespielt - aber die Gelegenheit zu einem Spiel hatte den Ausschlag gegeben.

Als sie endlich vor ihm stand, konnte sie dem Schweigen, das sich im Raum ausgebreitet hatte, entnehmen, daß nun jeder Mann in der Schankstube sie anstarrte … Hochgewachsene Blondinen sah man in dieser Gegend wohl nicht alle Tage!

»Jarale? Alles in Ordnung?« fragte sie. Sein Gesicht war vom Wein gerötet, und er hatte seinen Stuhl etwas zurückgeschoben, so als ob er drauf und dran gewesen sei, zu gehen und zu ihr ins Zimmer hochzukommen. Vielleicht störte sie ja und war im falschen Moment erschienen.

Er sah zu ihr auf und lächelte - ein dünnes, flackerndes Lächeln, das gar nicht dazu angetan war, sie zu beruhigen. Er war so viel jünger als die anderen Männer am Tisch. Hatte er beim Würfelspiel denn überhaupt eine Chance gegen die? Karis sah die hungrigen Blicke all der Männer auf sich gerichtet und sah sich in ihren Pupillen gespiegelt: Groß, schlank, blond, von makelloser Schönheit und mit Augen von einem leicht ins Violette gehenden Kornblumenblau, stach sie aus dieser Gästeschar hervor wie ein Klipper aus einer Fischkutterflotte. Sie wich diesen Blicken aus und sah auf den Spieltisch hinab, und da fielen ihr einige Dinge ins Auge. Etwa, daß einer der Spieler, ein schmieriger, großer Kerl, einen ganzen Stapel von Münzen vor sich stehen hatte. Er war wohl der große Gewinner dieses Abends!

»Mach dir keine Sorgen, Karis, mir geht es gut«, sagte Jarale. So sah er aber gar nicht aus! Er wirkte so bekümmert, daß ihr Unheil schwante. Womöglich hatte er ihr ganzes Reisegeld verspielt. Dann müßten sie demnächst im Freien übernachten und sich von der Jagd ernähren. Aber falls das so wäre, würde er das noch lange von ihr zu hören bekommen! Vielleicht täte sie gut daran, die Geldbörse künftig in ihre Obhut zu nehmen. »Bestimmt, lieber Bruder?«

»Bestimmt.« Er hatte derweil wohl den Gesichtsausdruck der Männer ringsum wahrgenommen - Mienen, die sie nervös machten und ihr das Gefühl gaben … nun in aller Öffentlichkeit mit Blicken förmlich ausgezogen zu werden - und fuhr fort: »Warte doch besser oben auf mich. Ich komme bald nach.« Oben, fern von dieser Gesellschaft. Ja, eine ausgezeichnete Idee. »Gut. Wenn du bestimmt…«

»Nur noch eine Minute.« Ja, vielleicht würde er sich gleich bei seinen Mitspielern entschuldigen und nachkommen, wenn sie jetzt ginge. Und die Miene mancher dieser Männer gefiel ihr überhaupt nicht. Sie ging, und aller Augen folgten ihr.

Fast eine halbe Stunde später kam Jarale endlich. Als sie ihn auf sein Klopfen einließ, sah sie, daß er jemanden bei sich hatte – den großen, schmierigen Kerl, der beim Würfeln so schwer gewonnen hatte.

»Karis«, sagte Jarale zögernd. »Ich … ich muß dir etwas sagen. «

Da lief es ihr eiskalt den Rücken hinab. Was hatte er getan? Und warum musterte der Fremde sie so von Kopf bis Fuß, als ob er eine Neuerwerbung begutachte?

»Ich schwöre dir«, fuhr Jarale fort. »Die müssen mir etwas in den Wein getan haben. Oh, ich muß total verrückt gewesen sein, darauf einzugehen.« Was hatte er getan?

Er wies auf den Fremden. »Das ist Marant… Wir haben miteinander gewürfelt, und er hat gewonnen. Er hat den ganzen Abend immer nur gewonnen.«

Das hatte sie bereits aus jenem Münzstapel geschlossen.

»Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist, aber ich habe immer mehr Geld gesetzt.«

Ihre Reisekasse. Sie hatte es doch geahnt. Welche Strafe stand in diesen Landen eigentlich auf Brudermord? »Und schließlich habe ich alles verloren, was wir besaßen.« Alles? Sogar die Pferde?

»Und dann hat Marant mir einen Vorschlag gemacht.« Karis fiel da mehr als nur einer ein.

»Und ich, ich ließ mich breitschlagen, ich weiß nicht, warum, so unglaublich es klingt…« Was hatte er getan?!

»Ja, da habe ich dich gesetzt… und wieder verloren.« Einen Moment lang verstand sie nur den ersten Teil seines Satzes. Mich gesetzt? Mich am Würfeltisch zum Einsatz gemacht? Warum hat er mich da nicht gleich auf dem Marktplatz feilgeboten? Und dann verloren? Nun erst begriff sie ganz, was Jarale da gesagt hatte.

Und Marant musterte sie wie ein Stück Vieh!

»Du hast mich gesetzt? Du hast um mich gewürfelt?« rief Karis mit bebender, sich überschlagender Stimme. Jarale nickte.

»Das soll ein Scherz sein, oder? Bitte, Jarale, sag mir, daß das nur ein Scherz war. Ich werde es dir verzeihen …« Er schüttelte bekümmert den Kopf. Also war das doch sein Ernst gewesen. Furcht mischte sich in ihr mit Zorn.

»Was ist nur über dich gekommen? Wie konntest du so etwas tun?  

Jarale, warum?« Ich soll jetzt diesem schrecklichen Menschen da gehören?!

Sie hätte speien mögen. Sie hätte weinen und wüten und Teller an die Wand werfen mögen. Dem da sollte sie gehören?

Niemals.

»Ich schwör’s dir … das muß der Wein gewesen sein … schau, es tut mir so leid.« Es tut ihm leid!

»O Götter, o Mutter!« Tränen traten ihr in die Augen … Bei einem Würfelspiel an diesen entsetzlichen Kerl verloren, den sie nicht ansehen konnte, ohne daß ihr übel wurde. Alle ihre Hoffnungen und Pläne und Träume und ihre ganze Zukunft, mit einem einzigen Wurf weggefegt … Das Atmen wurde ihr schwer, und ihr verschwamm alles vor den Augen.

Als sie jetzt wieder zu Marant hinübersah und seinen zufriedenen Blick gewahrte, erschauderte sie bei dem Gedanken an das, was ihr bevorstand.

Eine klamme Kälte umfing sie, drang ihr durch Mark und Bein, und sie spürte zu ihrem großen Schreck, daß ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

»Wie konntest du das nur tun? O Jarale, bitte, du bist doch mein Bruder. Wie konntest du dich darauf einlassen?« Da sie noch nicht volljährig war, hatte er die Verantwortung für sie, und er konnte nach dem Gesetz mit ihr tun, was ihm beliebte - aber auch sie zum Einsatz beim Glücksspiel machen?

Er stammelte nur etwas vor sich hin und starrte dann zu Boden. Da sah sie Marant lächeln, und sie wich jäh vor ihm zurück. Das kann doch nicht wahr sein, gleich werde ich aufwachen und feststellen, daß dies alles nur ein Traum war. Selbst in diesen schrecklichen Zeiten mit all ihren Scheußlichkeiten kann es doch nicht angehen, daß ich plötzlich diesem Monster zu eigen werde! »Komm, meine Liebe, du wirst bald merken, daß ich sehr umgänglich und großzügig bin. Ich bin ein reicher Mann und schenke dir allen Schmuck, den dein Herz begehren mag.« Er war entsetzlich. Schmierig, selbstzufrieden und arrogant. Sie hätte ihn am liebsten auf der Stelle in Stücke gerissen. Ja, der bloße Gedanke, ihm weh zu tun, tat ihr wohl.

»Aber, oh, bitte … Jarale, wie konntest du das bloß tun?« Nun stand sie mit dem Rücken zur Wand, wie ein gestelltes Reh, und ballte und öffnete nervös die Hände. Der erste Schock war vorbei, und sie fühlte sich einem Zornausbruch näher als den Tränen. Oh, ihr Zorn wuchs von Minute zu Minute. Sie hätte am liebsten alle beide umgebracht.

Und bevor sie sich von diesem Mann anfassen ließe, würde sie das auch machen: sie beide töten.

»Schwester! Karis, es tut mir so leid. Aber ich werde dich bald auslösen, das verspreche ich dir. Ich gelobe es! Ich werde bald zurückkommen. Vertraue mir, Karis.«

»Dir vertrauen, dir!« Nachdem er sie beim Würfeln eingesetzt und verspielt hatte, sollte sie ihm vertrauen?! »Aber, meine Liebe!« sagte Marant salbungsvoll. Ihr Zornausbruch schien sein schmieriges Lächeln immer breiter werden zu lassen. Vielleicht hätte ich so sanftmütig wie ein Schaf bleiben sollen, dachte sie, mich fügen sollen. Aber wer könnte sich in solch eine Ungeheuerlichkeit schon sanftmütig fügen? Wenn ich doch bloß an seinen Dolch herankäme…

Aber während sie noch erwog, alle beide anzugreifen, trat Marant schon auf sie zu und packte ihr Handgelenk. Er starrte ihr lange in die Augen, und bald fühlte sie sich von einer seltsamen Schwäche überkommen. Sie war benommen, wurde zunehmend willenlos, und es dämmerte ihr wie von fern, daß sie sich seinem Willen beugen und tun mußte, was er von ihr verlangte.

Sie konnte noch denken, wenn auch nicht klar. Aber … sie fühlte nichts mehr. Nur eine Taubheit, als ob ihr Körper jemand anderem gehöre.

»Hol deinen Umhang, mein Liebes, wir wollen aufbrechen.« Umhang. Sie nahm ihr Cape, und Marant half ihr, es umzulegen und zu schließen. Das holte sie halbwegs aus der Ferne zurück.

Seine Berührung war ihr widerlich: wo er sie am Arm streifte, bekam sie eine Gänsehaut - aber sie spürte einen Zwang, ihm zu gehorchen … Da begann sie zu ahnen, wie er Jarale gezwungen haben mußte, sie beim Spiel einzusetzen. Ja, er verfügte über hexerische Kräfte. Aber wie stark waren sie?

Als sie gingen, hörte sie Jarale wie aus meilenweiter Entfernung sagen: »Du wirst ihr doch nicht weh tun, ja? Du wirst sanft mit ihr umgehen?«

»Sie wird sich nicht beklagen, das versichere ich dir.« Sich nicht beklagen. Natürlich nicht, da er sich ihren Willen ja unterworfen hatte. Aber sie kannte den Ausdruck in seinen Augen, und der sagte ihr, daß Schmerzen ihrer harrten, viele Schmerzen.

Jetzt führte er sie durch die dunklen Straßen. Es war weit bis zu seinem Haus, und sie fragte sich in einem noch denkfälligen Winkel ihres Hirns, warum er des Würfelspiels wegen einen so weiten Weg auf sich genommen hatte. Sein Haus war groß und prachtvoll …

Ach ja, er hatte sich ja als reichen Mann gerühmt. Benommen sah sie ihm zu, wie er die Haustür hinter ihnen wieder mit Abwehrzaubern versah; aber sie begriff, daß er so Jarale hindern wollte, ihr zu Hilfe zu kommen und sie zu befreien. »Komm, meine Liebe.« Sie war noch seinem Willen unterworfen, und so folgte sie ihm gehorsam die Treppe hinan. Dicke, weiche Läufer dämpften ihre Schritte. Überall waren prächtige Möbel und andere Einrichtungsgegenstände zu sehen - er mußte wirklich steinreich sein. Aber warum hatte er dann diesen ganzen weiten Weg durch die Stadt machen müssen, um sich eine Bettgefährtin zu beschaffen?

Natürlich. Ein Teil des Puzzles fügte sich zum Bild. Er mußte sie heute abend in die Stadt einreiten gesehen haben, sie und Jarale, und dann auf der Suche nach ihr in die Taverne gekommen sein … oder auf den Tip eines Spitzels, den er da sitzen hatte. Und die Würfel waren sicher verhext gewesen. Ihr schwante, daß Schönheit am Ende vielleicht ein unheilträchtiges Geschenk war. Marants Schlafgemach war riesig und sein Bett von atemberaubenden Ausmaßen. Wozu braucht er so ein Lager? Auf einer Kommode unweit davon standen allerlei seltsame Utensilien, die sie lieber nicht genauer in Augenschein nehmen wollte. Jetzt sicherte er auch die Schlafzimmertür mit etlichen Zaubern, wandte sich dann zu Karis um, lächelte sie an und entließ sie aus seinem Willensbann.

Endlich war sie wieder frei. »Nein! O liebe Götter, liebe Mutter, schützt mich!« Sie wich zurück, stolperte nun über die Bettkante, flog in hohem Bogen über diesen Pfühl, rappelte sich aber auf der anderen Seite wieder hoch. Da lächelte er sie bloß noch eine Spur breiter an.

»Hast du Angst, schöne Karis?«

Ihre Kapuze war zurückgefallen, und das Haar hing ihr wirr über Gesicht und Schulter. Sie strich sich die Strähnen fort, fuhr zu Marant herum und sah ihn starr an. Ihre Augen weiteten sich, und er starrte wie gebannt zurück.

Jemandem das Bewußtsein zu rauben, ist nicht schwer, wenn man die Kraft dazu hat - und Karis hatte sie. Marant brach bewußtlos über dem Bett zusammen.

Sie berührte ihn mit leichter Hand. Nun würde er lange schlafen. Und die Dienerschaft? Ach, der hatte er sicher befohlen, ihn am nächsten Morgen nicht zu stören. Ihr bliebe also viel Zeit. Als erstes leerte sie ihm die Taschen, nahm sie ihm die gezinkten Karten und die verhexten Würfel ab - und dann das Geld, das er an diesem Abend gewonnen hatte. Ein Teil davon gehörte ihm, und ein Teil hatte ihr und Jarale gehört. Aber ein weiterer gehörte wohl seinen Freunden und Kumpanen, die bei dem Betrug mitgemacht hatten … denn daß das eine abgekartete Sache gewesen war, stand für Karis außer Zweifel. Marant würde also seinen Partnern einiges erklären müssen, wenn er ihnen ihren Anteil morgen früh nicht zurückgeben könnte.

Nun durchsuchte sie sorgsam den ganzen Raum. Eine Truhe, die für sich in der Ecke stand, interessierte sie besonders. Sie löschte die drei darauf liegenden Abwehrzauber, hob den Deckel hoch -und riß Mund und Augen auf und pfiff leise durch die Zähne. In dieser Schatulle verwahrte Marant wohl den Großteil seiner Spielgewinne.  

Da lagen Münzen zuhauf, Gold- und Silberstücke aller Arten, aber auch zahllose ungefaßte Edelsteine: Dies war mehr als genug, um Jarale und sie über viele Monate gut bei Kasse zu halten! Keine miesen Absteigen mehr, nur noch die besten Gasthäuser … und die Freiheit, auch einmal Aufträge abzulehnen und nur die lohnendsten anzunehmen. Hervorragend. Diesen Coup würden sie mit einer guten Flasche Dermianwein feiern! Sinnend nahm sie eine Handvoll Münzen und ließ die funkelnden Silberlinge und Goldfüchse zwischen ihren Fingern hindurch auf den großen Haufen zurückfallen. Das war mehr … weitaus mehr, als sie erwartet hatten. Sie lächelte, und ihre Zähne schimmerten hell im Kerzenlicht.

Aber das war so viel Geld, daß es gar nicht in ihren Gürtelbeutel paßte. So durchsuchte sie schnell Gemach und Garderobe - bis sie zwei Säckchen fand, die den ganzen Schatz faßten. Die waren dann aber so schwer, daß sie sie nur mit Mühe tragen konnte. Aber sie nahm nichts, was einen Zauber trug, und nichts, was auf dieses Haus wies. Marant bekam nur, was er verdiente - aber sie hatte nicht die geringste Lust, als Diebin überführt zu werden. Als Karis fertig war, starrte sie Marant erneut an und holte sich von ihm das Wissen, das sie jetzt noch benötigte. Schon zum Gehen gewandt, hatte sie noch einen Einfall … Und sie beugte sich über ihn, legte ihm die Hand auf den Kopf (wie eklig es ihr war, auch nur sein Haar zu berühren!) und sandte ihm Impulse ins Hirn. So verharrte sie etwa eine Minute lang. Dann erhob sie sich und ging zur Tür. Sie lächelte noch immer. Aber es war kein freundliches Lächeln.

Als Karis die Tür hinter sich zugezogen hatte, brachte sie gleich die Abwehrzauber wieder an. Die würden die Diener eine ganze Zeit am Betreten des Zimmers hindern. Und je mehr Vorsprung sie beide hätten, desto besser!

Trotz des von ihm erhaltenen Wissens brauchte sie einige Minuten, um sich von der Anlage des Hauses ein Bild zu machen. Aber dann wußte sie mit einem mal, welchen Weg sie gehen mußte, und so huschte sie die Treppe hinauf, die zu einer Reihe kleinerer Räume führte. Vor einem Zimmer, dessen Holztür über und über mit Schutzzaubern bedeckt war, blieb sie stehen und sondierte die Wellen von Pein und Verzweiflung, die daraus drangen.

Das Schloß zu knacken, war nicht so leicht. Aber schließlich war auch das geschafft. Da zog sie die Tür so geräuschlos wie möglich auf. Das Gesinde würde wohl bald auf den Beinen sein, und ihr war gar nicht nach langen, komplizierten Auseinandersetzungen zumute, die ja immer sehr unerfreulich enden. Auf dem Bett in dem Zimmer sah Karis eine schlafende junge Frau liegen, eine große, schöne Blondine, die ihr selbst sehr ähnelte, aber rötlicheres Haar als sie hatte. Der Raum war etwas schäbig, bei weitem nicht so kostbar eingerichtet wie Marants Gemach, aber doch komfortabel genug für einen langen Aufenthalt. Hätte Marant auch sie in solch einem … Gefängnis verwahrt, sobald er mit ihr fertig gewesen wäre?

Sie schloß die Tür hinter sich, zündete zwei Kerzen an, ging zum Bett und berührte die Schlafende mit sanfter Hand. Da schlug die junge Frau die Augen auf, strahlendgrüne Augen, und sah erstaunt und mißtrauisch um sich. Ängstlich blickte sie drein und, als sie die Fremde gewahrte, verblüfft und fragend. »Wer bist du?«

»Eine Freundin. Ich bin gekommen, um dich hier herauszuholen.  

Tu einfach, was ich dir sage. Dann wird alles gut. Ich heiße Karis.    

Und du?« »Shelara.«

»Schön. Zieh dich rasch an und komm dann mit. Und sei so leis wie möglich. Die Diener werden bald aufstehen, und ich möchte aus dem Haus sein, bevor sie hier herumschwirren.« Shelara säumte nicht, sich anzukleiden, starrte dabei aber Karis verwirrt an. »Ich verstehe nicht, wie du hierherkommen konntest. «

»Marant hat mich beim Würfelspiel gewonnen.« Da bekam Shelara einen harten Zug um den Mund, und in ihren Augen erglomm ein altes Leid. »Das ist auch mir geschehen. Mein Bruder hatte mich beim Spiel eingesetzt.«

»Aber sei ihm nicht allzu gram deshalb. Marant ist ein Hexer, von niedrigem Grad zwar … und doch mächtig genug, um eines Menschen Bewußtsein zu beherrschen. Er hat deinen Bruder dazu gezwungen. «

Shelara schien nicht überzeugt. Aber sie zog sich vollends an und nickte dann. Nun nahm Karis ihre Geldsäcke wieder auf und führte Shelara die Treppe hinunter.

Um von der Haustür all die Sperrzauber Marants zu heben, brauchte sie wieder einige Minuten. Dieser Hexer muß ein sehr ängstlicher Mensch sein, dachte sie, wo ich doch die Zimmer oder Lagerplätze, die Jarale und ich benutzen, bloß mit einem Bann schütze … Dann befahl sie den Türriegeln zurückzugleiten, und sie öffneten sich geräuschlos - so geräuschlos, wie Schnee auf Schnee fällt.

Sie stieß die Tür weit auf und trat, mit Shelara im Gefolge, in die Nacht hinaus. Als sie die schwere Tür wieder verriegelte und die Wahrzauber erneuerte, hörte sie hinter sich Shelara tief Luft holen.

»Das ist seit Monaten das erste Mal, daß ich aus dem Haus komme. Er hat mich so eingeschlossen gehalten, daß ich nun nicht einmal weiß, wie lange ich seine Gefangene gewesen bin.« »Du wirst staunen! Können wir los?« »Ja, aber wohin gehen wir?« fragte Shelara.

»Zum Stadttor. Es wird in einer Viertelstunde geöffnet, und dann können wir das Weite suchen«, sagte Karis und musterte sie genau.  

»Zieh dir deine Kapuze so weit wie möglich ins Gesicht.« Als Shelara getan, wie ihr geheißen, übernahm Karis die Führung durch die dunklen Straßen und Gäßchen. Jarale hatte Monate darauf verwendet, ihr beizubringen, wie man sich in einer fremden Stadt zurechtfindet. Das kam ihr nun gut zustatten. Die Straßen und Gassen waren fast ganz verwaist, und die wenigen Nachtschwärmer, die die beiden sahen, waren zu betrunken, um sie zu sehen.

Schon ragte das Stadttor vor ihnen auf. Karis sah sich um und zog Shelara dann schnell in eine finstere Seitengasse. Die junge Frau fragte nach dem Warum und Wieso … aber Karis war dabei, sich zu sammeln, und hatte keine Zeit für Erklärungen. »Später«, wisperte sie nur, und da verstummte Shelara.

Da erklang Hufegetrappel, das rasch näherkam, und ein leiser Ruf ertönte:

»Karis?«

»Hier.«

Nun kam Jarale um die Ecke. Er zog vier Pferde hinter sich her. Eines davon trug ihr Gepäck, die anderen drei waren gesattelt - bei ihrem Einzug in die Stadt war deren eines noch mit Säcken und Kisten als weiteres Packpferd getarnt gewesen. Als Jarale Shelara gewahrte, nickte er ruhig. »Du hast sie also rausgeholt, gut. Gab es irgendwelchen Ärger?« »Nein. Da ist meine Beute«, sagte Karis und lächelte ihn an. »Nun brauchen wir ein paar Monate lang nicht mehr hinter jedem Auftrag herzurennen.«

Jarale wog die Geldsäckchen in seinen Händen. Er bekam ganz große Augen und erwiderte ihr Lächeln. »Diese Nachtarbeit hat sich aber gelohnt. Wahrlich ein Auftrag, den wir feiern können. «

Im Gegensatz zu den vorigen zwei, dachte sie ironisch. Schmunzelnd verstaute er den Schatz in ihren Satteltaschen, und Karis sammelte sich von neuem. Ein Licht erglomm, und sie fühlte ein vertrautes Kribbeln, und dann verwandelte sie sich wieder in sich selbst: eine kleine, stämmige junge Frau mit einem schwarzen Wuschelkopf. Nur die Augen behielten jenes Kornblumenblau mit der violetten Tiefe. Hexenaugen, hatte jemand einmal gesagt.

Nun mußte sie sich aber Shelara vornehmen, die ihr ganz erstaunte Blicke zuwarf - ihr freundliches Lächeln aber gar nicht erwidern konnte. »Versuchen wir doch das«, murmelte Karis, hob ihre Hände und konzentrierte sich auf ihr inneres Bild. Da war ein Schimmern … und an Shelaras Statt stand nun ein fünfzehnjähriges Mädchen mit hellbraunem Haar und rundlicher Gestalt vor ihr. Das dürfte als Verwandlung genügen, um jeden Verfolger zu täuschen, dachte sie. Und Shelara blickte staunend an sich hinab, bekam wieder so große Augen und flüsterte schließlich voller Bewunderung: »Eine Illusionistin!«

Nun, Karis war mehr als nur eine Illusionistin. Aber sie ließ es ihr

durchgehen und gab dann auch Jarale seine normale Erscheinung zurück: die eines großen, schlanken Mittdreißigers mit schwarzem Haar, einem schiefen Lächeln und zynischem Blick. Nicht mehr ihr Bruder, sondern ein entfernter Vetter, den sie ganz zufällig auf der Landstraße wiedergetroffen hatte. Als es vollbracht war, seufzte Jarale: »Ich bin froh, wieder ich selbst zu sein.« Er hatte sich anfangs etwas gesträubt, sich dann aber in die Verwandlung gefügt. Denn mit diesem Äußeren da hätte er niemandem als leichtes Opfer gedeucht… Auch die Pferde befreite Karis vom Illusionszauber und gab ihnen ihr übliches Aussehen zurück. Sie und Jarale waren diesmal aber wirklich vorsichtig gewesen!

Nun wandte sie sich Shelara zu und sagte: »Fertig zum Aufsitzen?«

»Ja … aber ich weiß immer noch nicht, warum ihr hierhergekommen seid.«

Da erscholl ein Trompetensignal. Sogleich wurde das Stadttor mit viel Geschrei und Gepolter aufgemacht, und die Straßen und Gassen hallten von dem Lärm der Menschen wider, die ihren Tag begannen. Jarale und Karis führten Shelara zu dem für sie bestimmten Pferd und halfen ihr aufsitzen. Im stillen hofften sie, daß die Kleine trotz der langen Gefangenschaft das Tempo durchhalten könnte, das sie nun, ob sie wollten oder nicht, vorlegen müßten. 

Während sie dann ihrerseits zu Pferde stiegen, erläuterte Karis ihr in aller Kürze, wer sie und Jarale waren und weshalb sie hier waren:

»Dein Bruder hat uns gedingt, dich zu befreien. Er hatte nach dem unglückseligen Spiel gelobt, nicht zu rasten, bis er dich wieder zurückgeholt hätte. Aber all seine Versuche schlugen fehl, und da dachte er, eine Hexe und ein Krieger wären der Aufgabe wohl eher gewachsen als er.«

Die drei Reiter reihten sich hinter anderen frühen Reisenden ein und wurden auch bald durchs Tor gewinkt. Als Shelara nun in die Freiheit hinausritt, erschauderte sie und fragte bang. »Ob Marant versuchen wird, uns zu folgen?«

»Gut möglich. Aber er kennt uns nur in anderer Gestalt. Hör, ich muß dir was erzählen«, sagte Karis und kicherte bei dem Gedanken an das, was sie Marant mit ihrem letzten Handauflegen da beschert hatte. »Und was?«

»Er wird nicht mehr so zum Spielen kommen. Weil ihm künftig, wenn er einen Kartensatz oder Würfelbecher in die Hand nimmt, sogleich das Wort >Falschspieler< auf der Stirn erscheint.«