LAURELL K. HAMILTON

 

 

Laurell K. Hamilton betrachte ich als eine meiner »Entdeckungen«. Ihre erste Story veröffentlichte sie in Spells of Wonder - einer den Magischen Geschichten verwandten Anthologie, die ich vor ein paar Jahren herausgab. Ihre zweite und dritte erschien in Marion Zimmer Bradley’s Fantasy Magazine. Sie war zudem in Memories and Visions, einem Band mit Fantasy- und Science-fiction-Geschichten von Frauen, vertreten und hat auch schon einen Roman (NightseerJ publiziert. Sie schreibt, sie sei »glücklich verheiratet«, und zu ihren Hobbys zählten »Lesen, joggen und das Auflesen anscheinend nutzloser schwerer Objekte« … Sie sammelt auch »Drachenfigürchen und bestimmte Arten von Teddybären«. Ich sage ja immer: Für eine glückliche Kindheit ist es niemals zu spät! Und Teddybären können einem prächtige Geistergeschichten erzählen. (Wußten Sie das etwa nicht? Was glauben Sie, wo ich meine alle herhabe?)

Laurell hat auch einen Papagei - eine Gelbkopfamazone - und einen Kanarienvogel namens Hobbes (nach »Calvin und Hobbes«) und sagt, »mein Hausgeist ist ein kleines Kakadu-Weibchen, das sich liebend gern den Kopf kraulen läßt«. Ich hatte sie an sich fragen wollen, warum sie so sicher sei, daß es sich um ein Weibchen handle — das Geschlecht eines Vogels ist gewöhnlich nur anderen Vögeln bekannt (oder interessant) -, aber irgendwie ist mir das jetzt nicht mehr so wichtig. – MZB

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

LAURELL K. HAMILTON

 

Gänse

 

Die Gänse lagen in den nachmittäglich langen Schatten, putzten ihr graues, raschelndes Gefieder und reckten sich ab und an, um heftig mit den Flügeln zu schlagen. Ich döste mitten unter ihnen, den langen Hals nach hinten gebogen und den schwarzen Schnabel in meine Federn gesteckt, und beobachtete sie durch meine schwarzen Knopfaugen. Aber bald schloß ich meine Lider und gab mich völlig dem Frieden der ruhenden Herde hin. Vielleicht war ich nun schon zu lange Gans gewesen … vielleicht war es ja höchste Zeit für mich, wieder meine menschliche Gestalt anzunehmen. Aber irgendwie war mir der Gedanke fern und vage. Ich war nicht mehr sicher, ob ich wieder ein Mensch sein wollte, und konnte mich andererseits nicht mehr so recht erinnern, warum ich mich als Gans unter Gänsen verborgen hatte. Ich spürte, daß ich meine menschliche Identität zunehmend verlor. Aber sie hatte mir so viel Pein eingebracht … So als Gans fühlte ich mich besser. Ich wurde jeden Tag satt, konnte mich mit meinen Schwingen frei in die Lüfte erheben, hatte die Weite des Himmels für mich und die Geborgenheit in der Herde. Als Mensch lebte es sich nicht so einfach, friedlich und geruhsam. Der Wunsch, Mensch zu sein, war mir abhanden gekommen. Und das hätte mich eigentlich erschrecken müssen. Daß dem aber nicht so war, war ein schlechtes Zeichen.

Neben mir lag, den Kopf fast im Rückengefieder verborgen, Gyldan. Das war natürlich nicht sein richtiger Name, sondern der, den ich ihm nach Menschenart gegeben hatte. Das Bedürfnis, die Dinge und Lebewesen ringsum zu benennen, war mir, mit wenigen anderen, noch geblieben. Es war ein sehr menschlicher Zug. Und so nannte ich mich bei mir selbst noch immer Alatir. Solange man noch einen Namen hat, ist man noch ein menschliches Wesen.

Gyldan war ein junger Ganter, der nun aber schon seit zwei Jahren mein Gefährte war. Er war ein schöner Vogel mit pechschwarzer und wolkengrauer und gelblichweißer Zeichnung von einer Klarheit und Vollkommenheit, die fast künstlich wirkte. Er hatte mich als sein Weibchen erwählt, aber ich konnte ihm nur eine Freundin sein. 

Ich fühlte mich doch noch zu sehr als Mensch, um mit ihm Gänsenachwuchs haben zu wollen. Aber er war bei mir geblieben, und das, obwohl es andere Weibchen gab, die ihn genommen hätten. Wir beide hatten zwei lange Sommer auf einsamen Seen verbracht und uns auch ein Revier erobert, aber nicht genistet. Wenn ich das erst täte, würde ich nie mehr Mensch werden. Und das wollte ich denn doch, jedoch nicht heute, sondern irgendwann einmal.

Dann kamen die Kinder, Bauernkinder mit schwarzen Haaren und mit dunklen Augen. Sie mußten von einem reichen Hof sein, denn sie brachten uns immer Gemüse- und Brotreste zum Fressen. Sie hatten uns mit der Zeit fast gezähmt, fast.

Das älteste war ein etwa vierzehn Jahre altes Mädchen, dem zwei dicke schwarze Zöpfe um das schmale Gesicht baumelten. Und das nächstälteste ein Junge, der schon elf Lenze zählen mochte. Die übrigen waren um einiges jünger und hatten lachende braune Augen und sanfte Hände.

Ich hatte schon häufig über der Mühle ihres Vaters meine Runden gedreht und zugesehen, wenn sie der Mutter im Garten halfen oder vor dem Haus Fangen spielten.

Sie kamen heute früher - früher, nach Menschenmaßstäben, denn die Tage wurden bereits herbstlich kürzer. Nach Gänsemaßstäben hatte die Sonne immer noch denselben Stand. Das Brot, das sie uns zuwarfen, war altbacken, knusprig und gut. Ich erinnerte mich an anderes, zu Zöpfen und Figuren geformtes Brot, das ich einst an Festtagen gegessen hatte. Gyldan drängte mich heute nicht, die Brocken mit ihm zu teilen. Er spürte wohl, in welcher Stimmung ich war, und wußte, daß ich sehr ungehalten werden könnte.

Da erklang von der Straße her ein Hufegetrappel, das sich rasch näherte. Und wir Gänse reckten den Hals, um zu sehen, ob Gefahr drohe. Das Mädchen fragte darauf: »Was ist denn los?« - so als ob wir der menschlichen Sprache mächtig sein müßten. Als nun die Reiterschar zum See abbog, flogen wir mit donnernden Schwingen auf. Die Kinder erschraken davon und waren wie betäubt. Das große Mädchen faßte sich als erstes wieder und schrie ihren Geschwistern zu: »Lauft weg! Versteckt euch!« Sie rannten Hals über Kopf los. Aber dem Mädchen und dem ältesten Jungen, der ihr nicht von den Fersen wich, verstellte ein Reiter mit seinem tänzelnden Pferd den Weg.

Mit Gyldan neben mir flog ich in weitem Kreis wieder zurück. Ich landete in sicherer Entfernung von der Schar, um zu horchen. Ich brauchte magische Kräfte, um die Reiter zu verstehen, und stellte fest, daß mir die Fertigkeit, meinen Gehörsinn zu dehnen, mühelos wiederkehrte.

Die Männer trugen Baron Madawcs Wappen auf dem Wams: einen weißen Stier auf silbernem Grund, das Herz von einem Schwert durchbohrt. Ich kannte diesen Lord Madawc gut. Quälende Erinnerungen an mein Menschenleben überfielen mich. Blut, das zwischen den toten Augen meiner Mutter hervorsik-kerte. Und die klaffende Brustwunde meines Vaters, Blut, so viel Blut … Ich war gerade erst Zaubermeisterin geworden, als Madawc mir die Eltern erschlug und sich unser Land aneignete. Das war fünf fahre her. Ich war damals ein Kind, gebot aber schon über große Macht. Lord Madawc lachte mich aus, als ich ihn zum Duell forderte. Er ließ mich am Leben und legte mir einen Zwangzauber auf. Den Zwang, ihn zu töten - wobei ich selber, wie er glaubte, den Tod finden würde. Daß ein Kind einen so mächtigen Zauberer wie ihn zu töten versuchen müßte, belustigte ihn. Also hatte ich Tiergestalt angenommen, weil sie mich gegen seinen Zauber feite … Nun tobte mein Menschengeist durch mein Tierhirn. Ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich. Einer der Soldaten hatte das Mädchen aufs Pferd gehoben und quer über den Sattelbogen gelegt. »Die Kleine wird dem Lord gefallen«, grölte er und schlug dem weinenden Ding mit der flachen Hand auf den Hintern.

»Laß meine Schwester gehen!« schrie der Junge wütend.

Jetzt beugte sich ein anderer Söldner zu ihm herab, packte ihn am Kragen und warf den sich verzweifelt Wehrenden vor sich über sein Pferd. »Da gibt es einige Leute am Hof«, lachte er laut, »die auf kleine Jungen stehen. Du kannst mitkommen, wenn du magst!«

Das durfte ich nicht zulassen. Aber in Vogelgestalt konnte ich es nicht verhindern. Ich verbarg mich im Schilf. Gyldan, der meinen Zauber einsetzen spürte, zischte irritiert, wich jedoch nicht von meiner Seite.

In Menschengestalt war mir schlagartig kalt. Ich spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht rannen. Tränen um meine Eltern, an die ich so lange nicht gedacht hatte. Nun schmiegte ich mich tiefer ins Schilf, in den Schlamm. Meine Haut war bleich, mein schwarzes Haar hüftlang … und meine Augen, das wußte ich, waren blau, so fahlblau wie die Frühlingshimmel. Daher konnte ich leicht für den Bastard irgendeines Adligen durchgehen und ebenso leicht für eine reinblütige Aristokratentochter. Bauernblut ist Bauernblut -für manche jedenfalls.

Gyldan strich mit seinem harten Schnabel über meine … Gänsehaut und schnatterte zärtlich. Da streichelte ich ihm den gefiederten Kopf und flüsterte: »Wenn ich das überstehe, komme ich zurück, um dir richtig Lebewohl zu sagen. Versprochen!« Er watschelte noch eine Zeitlang hinter mir her, als ich nun das leicht ansteigende Ufer hinauf auf die Soldaten zuschritt, blieb dann jedoch zurück und flog in einer Wolke von Federn und Furcht jäh zum Himmel auf.

Die verdutzten Söldner sahen nur eine nackte junge Frau auf sich zukommen. Ich war älter geworden, war kein Mädchen mehr, sondern eine Frau. Madawc würde mich wohl kaum wiedererkennen. Aber weil ich nun wieder unter seinem Bann stand, mußte ich ihn finden und töten - so ich es vermochte. Mir krampfte sich der Magen zusammen vor Angst. Aber für Angst war jetzt nicht die Zeit. Ich mußte ja den beiden helfen. »Laßt die Kinder laufen! «

»Aber natürlich, hohe Frau«, brüllten sie und lachten schallend. Ich hob die Hand, nur leicht aus dem Handgelenk, und schon ließen sie die beiden zu Boden gleiten und sprachen zueinander: »Kinder, wer braucht denn Kinder? Wir werden unserem Lord lieber eine Frau bringen!« So als ob es ihre Idee gewesen sei, sie freizulassen …

Die verängstigten Kinder drängten sich an mich, und ich flüsterte ihnen zu: »Lauft nach Hause! Habt keine Angst … Vielleicht komme ich später nach, um bei euch Schutz zu suchen!« Das Mädchen machte, ein wenig unbeholfen, einen Knicks und sagte: »Wir erwarten dich, hohe Frau. Und sei vorsichtig.« Ich entließ sie mit einem Nicken.

Einer der Soldaten warf mir seinen Umhang zu, weil nun ein kühler herbstlicher Nieselregen einsetzte. Ich gab ihm den Gedanken ein, mich vor sich aufs Pferd zu nehmen und mich so, in seinen Umhang gehüllt, als ein besonderes Geschenk für Lord Madawc mitzuführen. Er war ihr Hauptmann … und der einzige hier, über den ich Macht erlangen mußte. Ich hatte Glück gehabt: Keiner der Männer war ein Zauberer. Es wäre nicht so glatt abgegangen, wenn ich gegen Magie hätte ankämpfen müssen. Bis zur Burg waren es etliche Meilen Wegs, und als wir anlangten, war der Hauptmann fest überzeugt, all das sei seine Idee gewesen. Es hatte zu meinem Schutz keiner Magie bedurft. Das Burgtor wurde von lodernden Fackeln erhellt. Außer uns waren viele andere Gruppen eingetroffen. Viele hatten Kinder gebracht, Mädchen wie Jungen. 

Ein furchtbar junges Bürschchen von vielleicht sechs Jahren war darunter. Der Kleine klammerte sich schluchzend an den Soldaten, der ihn angeschleppt hatte. Der Mann schien sich in seiner Schergenrolle unwohl zu fühlen. Deshalb prägte ich mir sein Gesicht ein … aber wenn ich wirklich Hilfe brauchte, wäre es wahrscheinlich schon zu spät. Zu spät … bedeutete: Tod. Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen. Wenn ich durchdrehte, wäre ich verloren. Es mußte mir einfach gelingen, Madawc zu töten. Und wenn ich dabei selbst zu Tode käme! Man führte uns in den Rittersaal, in dem ein wildes Fest im Gang war. Ich hörte einen der Soldaten murren: 

»Schweine sind das. Der eine wie der andere.«

Der Hauptmann flüsterte ihm zu: »Laß das nicht Madawc hören!

Er ist imstande, dich bei lebendigem Leibe häuten zu lassen, nur so zum Spaß!«

Aber ein anderer Gemeiner knurrte: »Wenn meine Zeit um ist, kehre ich diesem Sumpf den Rücken.« Und viele seiner Kameraden nickten beifällig.

Madawc hatte sich in den fünf Jahren - seit mein Vater ihm nicht mehr Einhalt gebieten konnte - wohl nicht sehr beliebt gemacht.

In der Halle roch es nach vergossenem Wein, Erbrochenem und Sex. 

Betrunkene, Männer wie Frauen, grölten wüste Zoten. Und in Seide gewandete Damen standen Schlange vor einem in der Mitte des Raums angeketteten, vielleicht fünfzehnjährigen Jungen, um an ihm ihre Gelüste zu befriedigen.

Ich wandte mich schaudernd ab, und der Hauptmann stieß mich rüde weiter. Die Angst lag mir wie ein Stein im Bauch; ich fühlte mich zum erstenmal nackt unter meinem Umhang … Sicher, ich gebot über Zauberkräfte, aber das tat auch Madawc - und er hatte mich schon einmal besiegt.

Da trat ein alter Mann vor, um den kleinen Jungen in Empfang zu nehmen. Der Söldner schien selbst den Tränen nahe, als er ihn von sich losriß. Der adlige Greis schenkte dem Jungen Zuckerwerk und umarmte ihn sanft, um sein Zutrauen zu gewinnen. Nun erkannte ich den Alten. Es war Lord Trahern. Ein Päderast, den mein Vater ob seiner Neigungen des Hofes verwiesen hatte. Der Hauptmann führte mich am Arm durch die Menge. Hier und da zog jemand an meinem Umhang und schrie: »Eine Schönheit! Hast du sie schon mal ausprobiert, ehe du sie herbrachtest?« Aber er kümmerte sich nicht darum und hielt erst vor Madawc, der an der großen Tafel thronte. Madawc war um die Leibesmitte dik-ker geworden, ansonsten aber ganz der alte. Sein Haar war so schwarz wie das jedes Bauern hier, aber seine Augen hatten das harte Blau der Herbsthimmel. Heißer Zorn durchzuckte mich vom Kopf bis zum Zeh. Haß. Erinnerungen. Die Hilferufe meiner Mutter. Ihr Schrei:  

»Lauf, Alatir, lauf!« Aber wo hätte ich hinlaufen sollen? Nein, ich bedurfte keines Zwangzaubers, um auf seinen Tod zu sinnen.

Der Hauptmann ließ sich auf ein Knie nieder und zog auch mich zu Boden. Ich wartete kniend und das Gesicht Madawcs Blick entzogen. Würde er mich wiedererkennen? Ich hatte Angst und suchte nicht, sie zu verbergen. Ich war eine Beute wie jede andere, ein Stück Fleisch. Da durfte ich doch wohl Angst zeigen! Endlich geruhte Madawc zu sprechen. »Ja, was ist?« fragte er. »Ein besonderer Leckerbissen für dich, gnädiger Herr«, erwiderte der Hauptmann und zog mir den Kopf ins Genick, um dem Lord mein Gesicht zu zeigen.

»Ah! Blaue Augen!« versetzte Madawc. »Du hast wohl wieder einen meiner eigenen Bastarde für mich aufgespürt?« »Ich glaube, ja, mein Herr.«

Der Lord lächelte, beugte sich vor und zeichnete mit den Fingern meine Gesichtszüge nach. »Hübsch. Gut gemacht, Hauptmann. Ich bin entzückt«, lobte er und hielt ihm einen Goldring mit einem großen Rubin hin. Der Hauptmann verbeugte sich, nahm seine Belohnung und empfahl sich. Ich blieb kniend zurück. Nun riß Madawc mir den Umhang vom Leib und warf ihn zu Boden. Ich beugte mich vor und verbarg mich hinter der Flut meiner schwarzen Haare. Angst schnürte mir die Kehle zu. Madawc lachte schallend. 

»Nackt, alle Reize entblößt … ganz, wie ich meine Frauen liebe. Und verschämt, auch das liebe ich an ihnen«, sagte er und faßte nach meiner Brust. Ich zuckte zurück. Ich würde es nie zulassen, daß er mich berührte. Eher brächte ich mich selbst um. Aber nein, sein Zwangzauber würde das verhindern. Ich mußte versuchen, ihn zu töten. Aber ich konnte doch hier und jetzt keinen Todeszauber weben. Madawc war nicht betrunken; er würde mich stören, ehe ich den Zauber vollendet hätte. Ich konnte ihn nur verletzen, nicht töten. Ich brauchte Abstand von ihm, ich brauchte Zeit.

Da fiel mir ein, was ich tun mußte. Ich hatte zu lange nicht mit Adligen zu tun gehabt und daher wohl vergessen, wie töricht auch noch die Besten unter ihnen sein konnten.

Sogar Madawc, so verderbt er auch war, würde eine Forderung zum Duell nicht zurückweisen, vor allem nicht die einer Frau, die er schon einmal besiegt hatte.

Ich nahm den Umhang, legte ihn mir um die Schultern und sprach: 

»Ich bin Alatir Bannbrecherin, wie du mich nanntest. Die Tochter von Garrand und Allsun.« Damit erhob ich mich, in tiefstes Blau gehüllt und von meiner langen schwarzen Mähne umflutet. Ich war Elfenbeinhaut und Saphiraugen und fühlte in mir die Zauberkraft der aus gerechtem Zorn und jahrelanger Magieabstinenz geborenen Wahrforderung. Meine Furcht war wie weggezaubert.

Madawc stand so brüsk auf, daß sein Sessel nach hinten umkippte und dröhnend über die Marmorfliesen schlidderte. »Was ist das denn für ein Trick?« brüllte er.

»Das ist aber kein Trick, Madawc von Roaghnailt. Ich bin Alatir Bannbrecherin, und ich fordere dich zum Zweikampf heraus.« Wäre Madawc mit dem Schwert ebenso vertraut gewesen wie mit der Magie, hätte ich mich gehütet, ihn zum Duell zu fordern, da ich mit solcher Waffe nicht umzugehen verstand. Aber zum Glück galt das ebenso für ihn. Er glaubte nämlich, daß Magie immer genüge. Und das würden wir ja sehen …

Schweigen breitete sich in der Menge aus. Alle Blicke richteten sich auf den Lord. Er konnte mich nicht abweisen. Denn hätte er das getan, hätte er selbst in den Augen dieses in Seide gehüllten Packs seine Ehre verloren. Ein Lord ohne Ehre aber wird nicht an des Königs Hof geladen. Ein Lord ohne Ehre wird zur Zielscheibe des Spotts boshafter Dichter und Sänger.

Ich erinnerte mich, was es hieß, ein Mensch und ein Aristokrat aus Meltaanien zu sein.

»Natürlich nehme ich die Herausforderung an. Aber du kannst nicht Garrands Tochter Alatir sein. Die habe ich mit einem Bann belegt, aufgrund dessen sie mich schon vor Jahren hätte töten müssen.«

»Das weiß ich wohl. Überzeuge dich doch selbst und prüfe, ob ich ihm noch unterliege.«

Schon spürte ich einen Hauch von einem Zauber, so leicht wie der Luftwirbel eines Schmetterlingsflügels. Und der Lord sprach: »Auf dir liegt wirklich mein Bann! Aber wie konntest du dich ihm nur entziehen?«

«Durch Verwandlung, Madawc. Diesen Zauber beherrschte ich schon als Kind am besten, und die Tiergestalt feit gegen den Bann.«

»Was führte dich hierher zurück?«

»Du hast mich gerufen. Ich bin, könnte man sagen, was du aus mir gemacht hast… eine, die dich haßt und dich töten muß, und wenn es sie das Leben kosten sollte! Ich muß dich wegen deines Zaubers tot vor mir liegen sehen.«

Er biß die Zähne zusammen; alles Staunen, alle Angst war von ihm abgefallen. »Ich habe dich schon einmal mühelos besiegt«, sagte er.  

»Das werde ich wieder tun. Aber diesmal lasse ich dich nicht am Leben!«

»Diesmal«, erwiderte ich, »hast du keine Chance …« Die Meltaanier lieben Spektakel über alles. So steckten sie im Nu vor Madawcs Burg mit Fackeln einen kreisrunden Kampfplatz ab. Man läßt Zauberer nicht innerhalb der Mauern kämpfen, denn die fallen bei solchen Duellen nur allzu leicht ein. Aber selbst der Gedanke daran erschreckte mich nicht. Der Zauber der Herausforderung gab mir noch immer Sicherheit. Meine Furcht war erloschen, jedenfalls für den Moment.

Ich zog das Kleid an, das mir eine der Damen gebracht hatte. Es war aus blauer Seide, passend zu meinen Augen. Mein Haar flocht ich mit silbernen Bändern zum langen Zopf, den ich mir über den Rücken warf. Silber blitzte auch am Mieder, den Ärmeln und der Knopfleiste meines Kleids. Es war, nach meltaanischen Maßstäben, ein sehr schlichtes Gewand; aber die Leute mußten beeindruckt und auf die Bedeutung des Kommenden eingestimmt werden.

Madawc trat mir in einem schwarzen, mit Silberfäden durchwirkten Gewand entgegen, das bei jeder seiner Bewegungen wie Eis in der Sonne glitzerte. Als wir so wartend dastanden, sprach er zu mir: »Ja, du bist Alatir.« »Hattest du daran gezweifelt?« »Ich dachte, du seist schon seit langem tot.« »Da hast du falsch gedacht!«

Er verbeugte sich leicht, lächelte dabei seltsam selbstironisch und erwiderte: »Ich denke, liebes Fräulein, daß du ein hübsches Phantom bist, gekommen, um mich heimzusuchen.« »Ich bin aus Fleisch und Blut und Magie.«

Magie schwoll im Fackelkreis. Magie strich mir über die Haut und zerrte, wie ein unverhoffter Wind, an meinem Haar. Ich rief meine Zauberkräfte, hütete mich aber noch, sie in einer bestimmten Form zu bündeln. Zuerst mußte ich diesen Mann, gegen den ich kämpfte, richtig einschätzen. Damals, in meinem Entsetzen, war er mir wie ein Riese mit unerschöpflichen magischen Kräften erschienen. Nun war er einfach ein Mann, und ich war kein Kind mehr.

Feuer lohte rings um mich auf, ein orangeroter Tod. Die Luft war erstickend, lastend und glühendheiß. Das Feuer erstarb, und ich stand gut beschützt hinter einem Schild. Madawc schleuderte mit den Händen Blitze nach mir. Aber sie prallten an meinem Schild ab und zerstoben in einem blendend hellen Feuerwerk. Ich schrumpfte hinter dem Schild und zauberte mich in eine andere Gestalt. Nun war ich klein und dünn. Eine winzige Viper, die dem Fackelschein entging. Ich spürte die Erde unter Madawcs Schritten erzittern. Er ging umher und fragte verwirrt: »Wo ist sie?«

Ich fühlte seine Magie über mich hinweggleiten - mich vergeblich suchend, denn als Schlange war ich für sie unfindbar. Madawc kam meinem schlaff auf dem Boden liegenden Seidenkleid nicht zu nahe. 

Aber ich schlüpfte aus einem Ärmelloch und glitt vorsichtig, gut im Gras verborgen, auf ihn zu. Als so kleine Schlange konnte ich ihm den Stiefel nicht durchbeißen. Aber als er, mit dem Rücken zu mir, vorüberging, schwoll ich an und war jetzt eine ausgewachsene Schlange, so dick wie das Handgelenk irgendeines Mannes. Hier und da keuchte jemand in der Menge. Da drehte Madawc sich nervös um - und ich biß zu. Er schrie auf, als ich die Zähne in sein Fleisch schlug und mein Gift hineinspritzte, und schüttelte mich wie wild ab, so daß ich hart auf dem Boden aufschlug und für einen Moment wie betäubt war.

Ich begann, mich zurück zu verwandeln, sehr langsam. Und er schrie: »Holt einen Heiler, rasch!«

Da rief der Söldner, der jenen kleinen Jungen hergebracht hatte: 

»Der Heiler darf erst nach dem Kampf tätig werden, Lord Madawc. 

So ist die Regel.« »Aber sie hat mich vergiftet!«

Die Söldner, die er schikaniert und zu Hurenböcken gemacht hatte, reihten sich zu einer stählernen Mauer, und einer von ihnen rief:  

»Du wirst den Kreis erst verlassen, wenn der Kampf zu Ende ist.  

Nicht wahr, Hauptmann?«

Der Hauptmann, der mein Häscher war, hatte mit Madawc zwar keine Rechnung zu begleichen, aber auch keine Lust, sich mit all seinen Männern anzulegen, und leckte sich daher bedächtig die Lippen und nickte. »Der Heiler muß warten, Mylord«, sagte er dann schroff.

»Dafür werde ich euch alle auspeitschen … nein, hängen lassen !«

Das hätte er besser nicht gesagt. Die Söldner setzten ein hartes, kaltes Gesicht auf. Sie warteten, daß einer hier stürbe. Ich stand wieder als nackte junge Frau da. Nun mußte ich nur noch so lange am Leben bleiben, bis das Gift wirkte, und das konnte ja nicht mehr lange dauern.

Madawc drehte sich jäh zu mir um und knurrte: »Ich nehme dich mit mir ins Grab, du Schlange!«

Und er zauberte ein Seelentier aus Magie, Haß und Angst … einen riesigen Wolf, der im Dunkel der Nacht rot erglühte. Ich hatte bis dahin noch nie ein Seelentier geschaffen. Denn das erfordert viel Kraft, und wenn es getötet wird, stirbt mit ihm auch der Zauberer, der es hervorgebracht hat. Aber jetzt war die Zeit gekommen. Ich formte das meine aus Macht und Rachedurst, aus der Trauer über fünf verlorene Zauberinnenjahre, aus dem Frieden und der Stille der Seen und der grenzenlosen Freiheit der Lüfte. Es strömte blau und blauer und nahm mit einem Schlag Gestalt an, als der Wolf zum Sprung ansetzte. Es war ein Wesen mit Federn und Klauen, aber ein Tier von unbekannter Art. Ich fühlte die Macht wie nie zuvor und ließ mich von ihr tragen. Sie hob mich in einem Tanz des Todes und der Freude empor. Ich war ein Hagel scharfer Krallen und ein Wirbel von Federn aus Gold und Saphiren. Ich hackte mit hartem Schnabel auf den Wolf ein und zerfleischte ihm mit scharfen Klauen die Flanken. Und ich blutete zwischen seinen Reißzähnen und taumelte unter dem Gewicht seines Körpers.

Der Wolf schwand zusehends. Und je mehr Substanz er verlor, desto mehr von seiner Magie raubte ich ihm. Ich sog ihm seine Macht aus wie durch ein Loch in Madawcs Seele. Ich saugte ihn aus, bis ich, machttrunken und wie betäubt, in die Knie brach. Die Seelentiere waren verschwunden. Als ich mit einiger Mühe den Kopf nach hinten drehte, sah ich Madawc im Gras liegen. Er wand sich in Krämpfen … und blutiger Schaum rann ihm von den Lippen. 

Ja, der Biß der grünen Viper ist tödlich! Ich war stärker als noch vor fünf Jahren, hatte aber in all jener Zeit meine Zauberkunst nicht pflegen können. Ohne das Gift hätte Madawc mich vielleicht töten können. Aber vielleicht auch nicht.

Der Bann war gebrochen. Ich fühlte mich frei. Aber statt Triumph, wie ich erwartet hatte, empfand ich bloß Erleichterung und eine große Traurigkeit und Leere.

Irgend jemand erklärte den Zweikampf für beendet und rief mich, Alatir, zur Siegerin aus.

Dann gab es nur noch Händeschütteln, einen Umhang, um meine Blöße zu bedecken, die gute Wärme der Heilmagie und einen Becher heißen Tee.

Das Morgenlicht fand mich munter und genesen in dem Schlafgemach, das bislang Madawc zu eigen gewesen war. Nach meltaanischem Recht gehörte mir nun das Land, das er meinem Vater geraubt hatte, aber auch sein Grund und Boden. Er hatte ja keine legitimen Kinder, da ihn keine Tochter aus königlichem Haus hatte heiraten wollen, und hatte es auch versäumt, einen seiner vielen Bastarde zum Erben zu bestimmen.

Es klopfte. Der Hauptmann trat in Begleitung jenes Soldaten ein, der den kleinen Jungen angebracht hatte. Sie knieten nieder, und der Hauptmann sprach zu mir: »Hohe Frau, was geruhst du über uns zu beschließen? Unser Vertrag hat noch ein paar Wochen Laufzeit, und du könntest ihn übernehmen, wenn du möchtest.«

Habt ihr vor meiner Tür eine Wache postiert?« fragte ich. »Ja, Mylady«, erwiderte der jüngere der beiden. »Ein paar Freunde des verblichenen Lords sind ja über den Ausgang des Duells alles andere als erfreut.«

Da lächelte ich und fragte: »Weilt Lord Trahern noch in diesen Mauern?«

»Nein, hohe Frau«, antwortete der Hauptmann beflissen.

Ich ignorierte ihn und wandte mich an seinen Untergebenen:

»Dein Rang und Name?«

»Schwertträger Kendrick, Mylady!«

»Ab heute Hauptmann Kendrick …«

»Zu Befehl, hohe Frau.«

Der andere Hauptmann wollte protestieren, aber ich bedeutete ihm zu schweigen und herrschte ihn an: »Verschwinde und laß dich hier nie wieder blicken! Und nimm auch die vier Kerle mit, die gestern mit dir auf Menschenjagd waren!«

Irgend etwas in meinen Augen muß ihm geraten haben, besser nicht zu widersprechen, denn er erhob sich stumm, verbeugte sich steif und verließ den Raum.

»Also, Hauptmann Kendrick, wann ist Trahern abgereist?« »Erst vor wenigen Minuten, hohe Frau.«

»Dann nimm dir so viele Männer mit, wie du für nötig hältst, und reite ihm nach. Nimm ihm den kleinen Buben ab, den er gestern in seine Fänge bekam. Laß den Kleinen gesund pflegen und zu seinen Eltern zurückbringen, und gib ihnen einen Beutel Goldmünzen zum Geschenk.«

»Ja, Mylady«, erwiderte er lächelnd.

»Und laß all die anderen frei. Das sind jetzt meine Leute, und niemand mißhandelt meine Untertanen. Niemand!«

Da verbeugte er sich lächelnd und sagte: »Ganz, wie du befiehlst, Alatir Lordtöterin!«

»Lordtöterin?« fragte ich erstaunt.

»Ja, Mylady, wegen gestern nacht.«

»Geh nun, Kendrick«, versetzte ich und ergänzte, als er sich eben entfernen wollte: »Ich muß etwas erledigen und bin vielleicht bis morgen weg. Aber ich erwarte, daß meine Anordnungen bis zu meiner Rückkehr ausgeführt sind.«

»Ich werde die Burgleute über deine Abwesenheit unterrichten und tun, was du mich geheißen«, erwiderte er mit einer Verbeugung und ging hinaus.

Da trat ich ans offene Fenster, ließ mir vom Herbstwind die Stirn kühlen, nahm die mir so vertraute Gestalt wieder an und stieg auf grauen Schwingen in die Lüfte auf.

Bald erblickte ich meinen kleinen See unter mir und ließ mich auf seinen dunklen Wassern nieder. Ich hielt nach Gyldan Ausschau. 

Natürlich konnte ich nicht mehr zur Herde zurückkehren. Dazu war inzwischen zu viel geschehen. Aber ich hatte ihm ja ein Lebewohl versprochen.

Er rief mich vom Ufer aus - seinen Schrei hätte ich unter tausend anderen erkannt… Ich paddelte hinüber und hopste ins Ufergras. Ja, ich liebte ihn, in welcher Gestalt ich auch sein mochte. Wir begrüßten uns zärtlich mit Hals- und Schnabelreiben. Wie könnte ich ihn verlassen? Und wie ihn mit mir nehmen? Darauf wich er einige Schritte zurück, und ich sah einen Zauber, einem silbernen Regen gleich, über ihm schimmern. Da erwachte die Herde. Sie schnatterte unruhig und flog auf und davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Gyldan verwandelte sich vor meinen Augen, langsam, aber unaufhaltsam. Sein Zauber war stark und sicher. Nun lag er als nackter junger Mann da - mit einer Haut wie Milch und Haaren weiß wie das Mondlicht. Seine Augen funkelten so schwarz, daß sie pupillenlos schienen. Er blinzelte mich mit seinen weit offenen, unsicheren Augen an, und seine Stimme war tief und voller Lieder, voller Windgebraus und Flügelschlag, als er nun anhob zu sprechen:  

»Ich habe beobachtet, wie du dich verwandelt hast.«

Schon stand ich neben ihm, eine weinende junge Frau, und sah ihm zu, wie er mit den Händen seinen neuen Körper erkundete, von Kopf bis Fuß. »Als Vogel könnte ich nicht mit dir gehen«, murmelte er, »aber als Mensch.«

Gerührt kniete ich mich neben ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Du bist aber kein Mensch«, flüsterte ich.

Er ergriff meine Hand. »Ich bin dein. Und ich folge dir, welche Gestalt auch immer du annimmst.«

Wir umarmten uns im Licht der aufgehenden Sonne, und wir liebten uns wie Frau und Mann. Danach lag er dann schwer atmend und mit unschuldigen Augen an meiner Seite. Wieviel er doch noch lernen mußte! Ich könnte ihm die Erinnerung an meine Magie, an seine Magie, einfach nehmen. Ich könnte ihn in seiner früheren Gestalt zurücklassen, dachte ich und fuhr ihm mit der Fingerspitze zärtlich den schweißnassen Leib entlang. Und er erschauerte.

»Dein Name ist Gyldan … und der meine Alatir.« Er versuchte sich mit seiner neuen Menschenzunge daran. »Gyldan, Alatir«, sagte er bedächtig. »Sind das schöne Namen?«

»Für mich schon«, erwiderte ich und erhob mich. »Los, für heute können wir in der Mühle unterkommen. Man wird uns dort zu essen und etwas zum Anziehen geben.«

Er nickte. Ich half ihm auf, half ihm, auf seinen noch unsicheren Beinen zu stehen, und führte ihn an der Hand jenen Pfad entlang, auf dem die Kinder immer zum Gänsefüttern kamen. Wir fröstelten im dünnen Schein der Herbstsonne. Ohne Gefieder war es erheblich kühler.