STEPHANIE SHAVER

 

Stephanie war und ist wohl eine meiner jüngsten Autorinnen. Sie hat mir, statt meinen üblichen Lebenslauffragebogen auszufüllen, einen köstlichen Brief geschrieben, dessen Geschwätzigkeit sie zu entschuldigen bat und im übrigen darauf schob, daß sie (während der Schulferien) zuviel »Teenage Mutant Ninja Turtles« (»Kleine Monsterschildkröten«) gesehen habe. Laß dir deshalb keine grauen Haare wachsen, Stephanie - die wenigsten von uns können zwischen Realität und Horrorfilm unter-scheiden!

Sie sei noch nie bei einem Konzert, einer Lesung oder einem Folk-Festival gewesen, beklagt sie sich. Aber neulich, da sei sie auf einen Frühlingsmarkt gegangen und habe von dort auch so einiges mitgebracht: »ein nerviges, aber schmuckes Musikinstrument, das Okarina oder mittelalterliches Kazoo heißt, ein Langschwert aus Holz (das nun an meiner Wand hängt) und eine Drachenkralle, die einen Kristall hält (und jetzt an meinem Hals hängt). Und eine Menge Kirsch-Wein, Brot und Wurst.« Sie habe auch Dunkelbier probiert, es aber nicht gemocht. Oh, wieder fünfzehn zu sein und zum erstenmal auf den Maimarkt zu gehen! Oder zum erstenmal eine eigene Geschichte bei einem Verlag unterzubringen … Aber dann müßte ich auch wieder in Texas leben, mit meinem ersten Mann und einem dreijährigen Kind. Nein, ich glaube, da bleibe ich doch lieber sechzig! Aber sehen Sie doch, wie gekonnt und farbig Stephanies Story geschrieben ist … was beweist, daß Alter auch nicht alles ist.

Oh, Stephanie hat mir noch mitgeteilt, sie widme ihre Geschichte »Judith Louvis und Leslie Crawford, die schon wissen, warum«. -MZB

 

 

 

 

 

 

 

STEPHANIE SHAVER

 

Kristallsplitter

 

Schatten stiegen und wogten, als sie eintrat, und der Steinboden erdröhnte unter ihren eisenbeschlagenen Stiefeln. Das Zauberlicht der glühenden Kugeln tanzte und flackerte wie von einem kalten Zug erfaßt, als sie an ihnen vorüberschritt, und ihr bizarrer Schatten fiel auf die auf dem Umbra-Thron sitzende Gestalt und tauchte sie in noch tieferes Dunkel. Auf den blanken Griffen der beiden Schwerter, die sie gekreuzt auf dem Rücken trug, schimmerte trübes oranges Licht, und die bloßen Dolche in ihrer Schärpe gleißten so hell wie die Schienen um ihre Handgelenke. Der einzige Laut, den man in der Halle vernahm, war das Klick-klick ihrer Sohlen auf den goldgeäderten Marmorfliesen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und ihr Haar, das bis auf die zwei von den Schläfen ausgehenden Silbersträhnen pechschwarz war, trug sie straff nach hinten gebunden … Die fahre und der Schmerz hatten tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben. Sie war keine junge Frau mehr.

Ihre kalten Augen funkelten wie grünes Eis, als sie sich dem Umbra-Thron bis auf wenige Schritte näherte. Nun blieb sie stehen. Stille.

Und dann …

»Du, meine Feindin?«

Nicht aus dem Dunkel des Thrones, aus der Höhe darüber war dieses Fauchen gekommen.

Sie lächelte nicht, sie nickte nur. »Ja, Imadrail, ich bin es.« Dann war wieder Stille. Sie wartete, wartete lange. Und langsam, unnatürlich langsam, hob sich das Dunkel, dem dieser Thron seinen Namen verdankte. Als erstes sah sie zwei in Sandalen steckende knochige Füße und dann einen Rock in Silbertönen, deren Schimmern und Changieren ihm den Anschein von Bewegung gaben. Nun wurden zwei auf den Armlehnen ruhende Spinnenhände sichtbar, dann der dünne faltige Hals und, unter Resten einst blonden Haars, ein Gesicht mit Wangen so hohl und Jochbeinen so spitz, als ob es nur aus Haut und Knochen wäre. Das einzig Lebendige daran waren diese strahlendblauen Augen, die ein unnatürliches Glühen erfüllte, und der in die Stirn gesetzte kreisrunde, rauchig-blutrote Edelstein, dessen Feuer bedrohlich pulsierte.

»Du bist also zurückgekehrt?« fragte diese Stimme, die nicht aus seinem Mund kam. Da nickte die Kriegerin erneut. »Ja«, sagte sie dann, wies ihre leeren Hände und fuhr kalt fort: »Die Dei-Gilde ist so tot wie ihre Göttin. Und du bist jetzt ohne jeden Rückhalt und Schutz, Imadrail.«

Jetzt glomm etwas vage Menschliches in Imadrails Augen auf, wurde aber gleich wieder von deren kaltem, inhumanem Licht überstrahlt.

»Du bist gekommen, um mich zu töten«, stellte er fest, ohne jeden fragenden Unterton. Sie gab ihm trotzdem eine Erklärung: »Ja. Ich muß dich töten. Denn das habe ich, wie du ja weißt, vor vielen Jahren geschworen.« Damit zog sie einen der Dolche aus der Schärpe, die sie schräg über der Brust trug. »Aber meine Ehre … gebietet mir, dir zu erlauben, dich selbst umzubringen.« Imadrail starrte auf die scharfe Schneide. Da schwebte der Dolch zu ihm. Er faßte ihn mit zitternder Hand, musterte flüchtig seine stählerne Klinge und schüttelte leicht den Kopf. Sogleich zerfiel der Dolch wie ein trockener Erdklumpen zu Staub. »Du bist eine alte Närrin, kleine Nemesis, und nun auch ohne jede Chance und Hoffnung.«

Die Frau senkte ihren Kopf und sprach: »Ich werde … ich muß … dich töten.«

Ein dünnes Lächeln huschte über sein Gesicht, und er antwortete:  

»Wie willst du das anstellen? Ich bin unsterblich, und das auch ohne die Gilde.« »Du warst einmal ein Mensch.«

Er nickte kaum merklich. »Vielleicht. Aber seit ich den habe …« - der Stein in seiner Stirn sprühte rote Funken des Zorns - »… kann mir der Tod nichts mehr anhaben. Ich war einst ein Mensch und daher auch dem Tod unterworfen, aber das ist vorbei… Denn das ist der Stein des Lebens.« »Der Stein des Todes.«

»Der Stein des Lebens, den ich von Tetkiris selbst empfing, gibt mir Unsterblichkeit und immerwährende Macht über mein Volk.«

»Oh, dieser Stein des Todes, von Deis Hand, hat dich zum lebenden Leichnam gemacht, deine Seele an diesen Leib aus Staub gefesselt. Sieh dich doch an! Du bist zu schwach, um auch nur deine Hand zu heben, und für ewig an diesen Thron gekettet. So hast du dich nun schon dreißig Jahre selbst überlebt …«, sagte sie kopfschüttelnd und faßte nach einer der Silbersträhnen, die ihr Haar durchzogen. »Selbst ich bin darüber schon alt geworden.« Jetzt zeigte sie mit dem Finger auf ihn. »Sollte ich heute scheitern … meine Tochter wird es wohl nicht.«

Seine Augen flackerten erneut auf. »Du hast eine Tochter?« fragte er mit körperloser Stimme.

Die Frau nickte. »Sie heißt Ysanne. Nach ihrer Großmutter.« Die Stille, die nun eintrat, schien die ganze Halle zu füllen. »Dann versuche doch, mich zu töten.«

Die Kriegerin zog ihre schimmernden Schwerter und machte sich zum Angriffbereit.

Langsam, langsam umkreiste sie nun die skelettartige Kreatur, die unbeweglich auf dem Thron saß, ihr bloß mit den Augen folgte, und dann schlug sie blitzschnell zu.

Aber die beiden Klingen prallten von einer unsichtbaren magischen Mauer ab und brachen in tausend Stücke. Die Frau warf es so hart zu Boden, daß ihr alle Rippen schmerzten - und sie überzeugt war, daß zumindest eine gebrochen war. Da lachte er, daß es von den Wänden widerhallte. Aber sie machte sich zornroten Gesichts zur nächsten Attacke bereit. Sie zog ihre Dolche und warf sie nach ihm, einen um den anderen. Aber denen erging es wie ihren Schwertern, nur daß sie zu Staub - statt in scharfe, ihr um den Kopf fliegende Splitter - zerfielen. Als ihr nur noch einer blieb, mußte sie sich auf ihre letzte, die verborgene Waffe besinnen.

Während er ihr noch ins erhitzte und gerötete Gesicht lachte, zog sie aus einer am Leib getragenen Geheimtasche einen wasserklaren Kristall, der im selben Rhythmus pulsierte wie jener Stein in der Stirn des Königs. Sie sah, wie sich seine Augen weiteten, als er eine der heiligen Waffen Tetkiris’ in ihrer Hand erblickte, sah, daß der blutrote Stein zornentbrannt aufflackerte, und hörte, wie Ima-drails Gelächter erstarb - und da schleuderte sie den Kristall wie einen Dolch nach ihm.

Der helle Stein sauste durch die Luft, durchbrach die unsichtbare Wand, zerschellte dann aber, eine Handbreit vor seinem Gesicht.

»Du siehst«, schrie er, »selbst die mächtigsten Waffen können mir nichts anhaben. Ich bin die Macht und die Unsterblichkeit … Ich bin ein Gott!«

Da erhob die Frau ihre Stimme gegen die des Todessteins und rief:  

»Du warst mein Vater!«

Damit sprang sie vor, den letzten Dolch zum Stoß erhoben, und die Augen des Königs erglühten ob ihrer Worte … Es waren Lichter von einem Blau so hell, daß sie fürchtete, von ihrem Strahl geblendet zu werden. Aber sie wußten, ja, diese … menschlichen … Augen wußten, was sie vorhatte, was sie tat, als sie durch die Bresche schlüpfte. Der Dolch stieß auf Silberflügeln hinab, hinab … so tief hinab, und teilte die Luft, durchschnitt das Dunkel, und das Licht des Steins pulsierte heller und heller … Sie hörte, wie der Dolch knirschend gegen etwas stieß, und hörte, wie aus der Brust des alten Mannes der Atem entwich. Dann war wieder Stille, diese schreckliche, fürchterliche Stille. Imadrail sank ihr schlaff in die Arme.

Er atmete rauh, aber wieder menschlich. Und seine Augen verloren dieses übernatürliche Glühen und wurden zu den trüben Augen eines alten Mannes.

Da schossen ihr, drei Jahrzehnten des Hasses zum Trotz, Tränen in die Augen. Durch deren glitzernden Schleier sah sie ihre Zähren, eine nach der anderen, in seine hohlen Wangen fallen.

Nun sprach Imadrail, mit eigenem Mund und mit vor Alter brüchiger Stimme: »Ysanne … sagst du?«

Sie nickte, blinzelte sich die Tränen fort und bettete den heftig blutenden Vater zu Füßen des Throns auf die kalten Fliesen. »Hat sie … hat sie … deine Augen?« flüsterte er, und sie sah, daß das Licht des Lebens rasch aus seinem traurigen Gesicht wich. »Ja, die hat sie.«

Da nickte er sacht und holte ein letztes Mal Atem. »Sie hat die Augen deiner Mutter… Kalyra.« Damit starb Imadrail, Kalyras Vater.

Sein Körper zerfiel in ihren Armen zu Staub, und seine leere Robe sank auf den Marmorboden und wurde im Nu zu einem Haufen Lumpen.

Aber der rote Stein, der ihr in den Schoß gefallen war, pulsierte unbeirrt weiter.

Sie nahm ihn sanft, hob ihn hoch und starrte tief in ihn hinein. Ein eiskaltes Feuer der Macht lohte in ihm. Für sie war er eine Versuchung so stark wie für ihren Vater dreißig Jahre zuvor … Ja, damals hatte die Dei-Gilde ihn ihm geschenkt, die Gilde, die sie seither unermüdlich bekämpft und vor kurzem denn auch vernichtet hatte. Viele Fragen gingen ihr durch den Sinn. Vor allem aber die eine …

Hatten diese Augen wirklich gewußt und womöglich sogar gebilligt, was sie vorgehabt hatte? Oder war das alles nur eine Lüge gewesen?

Sie würde es nie erfahren. Denn er konnte ihr jetzt ja nicht mehr antworten.

Kalyra starrte noch immer diesen Stein an, hob ihn so hoch empor, daß seine vielen Facetten wütend tanzten, und warf ihn mit aller Kraft auf die Steinfliesen, daß er in tausend Stücke zerbrach. Die Splitter glitzerten im schwindenden Zauberlicht. Die Tochter Imadrails aber stand auf und wandte sich jäh zum Gehen, ohne sich auch nur den Staub vom Gewand zu klopfen. Ein kalter Wind schien ihr zu folgen - erlosch doch jede der zischenden Zauberlampen, an der sie auf dem Weg zur Hallentür vorüberschritt.

Der Umbra-Thron, ein Denkmal in Obsidian, stand nun endlich, nach drei Jahrzehnten, leer und verwaist. Zu seinen Füßen jedoch lagen ein Häufchen Staub und ein paar verschossen-graue, fadenscheinige Lumpen.

Und als hinter Kalyra die Tür zufiel, erlosch auf den klaren wie auf den blutroten Kristallsplittern das Licht.