Die wahre Geschichte des Mittelalters steht zwischen den Zeilen der historisch überlieferten Texte geschrieben. Das Leben damals war anders, als wir es uns durch die Lektüre der wenigen noch vorhandenen Texte erschließen können, denn der Großteil der Dokumente existiert nicht mehr – oder wurde niemals verfasst. Das, was wir also unter dem Begriff »Geschichte« verstehen, ist nur ein Bruchteil der Wirklichkeit, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben mag.
Dieser Grundsatz gilt vor allem für den legendären Orden der Tempelritter. Die moderne Geschichtsschreibung ist sich sicher, dass die Aufgabe der Tempelritter darin bestand, die Pilgerwege zwischen Jaffa und Jerusalem zu sichern. Nach der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter im Jahre 1099 schien es notwendig zu sein, Heerscharen von Pilgern, die nach unsäglichen Strapazen mehr oder weniger lebend im Heiligen Land ankamen, vor Mördern und Dieben zu schützen. Doch lässt sich der Templerorden wirklich auf diesen Allgemeinplatz reduzieren? Schauen wir uns die Fakten an.
Der Gründer des Ordens, Hugo, wurde 1080 in Payns, wenige Kilometer nordwestlich der Stadt Troyes in der Champagne, geboren. Den überlieferten Dokumenten zufolge war er Besitzer von Ländereien in Montigny-Lagesse und Tonnerre. Er diente während des Ersten Kreuzzugs dem Grafen von Blois und Champagne und kehrte ein Jahr nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 1100 in seine Heimat zurück. Hugos Vetter Balduin von Bourg war der Graf von Edessa und sollte später als Balduin II. König von Jerusalem werden. Hugos Frau Katharina hingegen war mit der Familie Montbard verwandt.1
Der Ort Payns befand sich auf dem Land des Grafen Hugo I. von |759|Champagne. Der Graf ernannte Hugo von Payns zu seinem Offizier.2 Dieser Freund Hugos war der mächtigste Adlige seiner Zeit, der über größere Ländereien verfügte als der französische König.3 Um 1074 als dritter Sohn von Theobald I. geboren, durfte er sich erstmals Graf von Champagne nennen. Er trieb regen Handel mit den jüdischen Kaufleuten der Region. Auch schenkte Graf Hugo I. den Templern gewaltige Grundstücke südöstlich von Troyes.
Beide Hugos schienen ein lebhaftes Interesse an Jerusalem zu teilen. Um 1104 brachen Hugo von Payns, sein Bruder Stephan und Graf Hugo I. von Champagne nach Jerusalem auf (auf Letzteren wurde vorher ein Attentat verübt, das er überlebte). Erst 1108 kehrten sie in die Champagne zurück. Unmittelbar danach suchten Hugo von Payns und Graf Hugo I. von Champagne den dritten Abt des Klosters des benediktinischen Reformordens der Zisterzienser in Cîteaux, Stephan Harding, auf. Zu diesem Zeitpunkt war Harding damit beschäftigt, die Fehler der lateinischen Bibel – der Vulgata – anhand von Originaltexten aus dem Hebräischen zu korrigieren.4 In einer Zeit, in der Juden verfolgt wurden, ist es äußerst bemerkenswert, dass Stephan Harding angab, mit den burgundischen Rabbinern jüdische Texte des Talmud zu studieren.5 Stephan Harding wurde so in jüdische Geheimnisse eingeweiht – Geheimnisse, die Hugo von Payens und sein Herr Hugo I. von Champagne nun ebenfalls erfuhren. Mit diesen neuen – unbekannten – Informationen machten sich die beiden Hugos im Jahr 1114 erneut auf den beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Jerusalem. Doch Hugo von Payns blieb nun in Jerusalem, während der mächtige und reiche Graf Hugo I. nach Frankreich zurückkehrte.
Um 1120 kam es dann in Jerusalem zu einer geheimnisvollen Zusammenkunft.6 Hugo von Payns und sein Stellvertreter, der Ritter Gottfried von St. Omer, baten König Balduin II., seinen Palast als Wohnstätte nutzen zu dürfen – was ihnen der König merkwürdigerweise ohne Umschweife gestattete. Der König verließ den Palast Ende 1120 sogar völlig, um sich in der Davidsburg niederzulassen.7 Hugo und Gottfried folgten die Adligen Andreas von Montbard, Payen von Montdidier, Archambaud von St. Amand und Gottfried Bisol – sowie drei weitere Männer mit den Namen Roral, Gundemar und Gottfried.8
Andreas von Montbard war verwandt mit dem Grafen von Burgund und durch seine Schwester ein Onkel von Bernhard von Clairvaux. |760|Gottfried von St. Omer, Payen von Montdidier und Archambaud von St. Amand entstammten dem mittleren Adel der Picardie. Über die Herkunft von Gottfried Bisol, Roral, Gottfried und Gundemar ist so gut wie nichts bekannt. König Balduin II. gestattete Hugo von Payns und seinen Männern, sich im einem Teil seines Palastes in der ehemaligen al-Aqsa-Moschee einzurichten, die sich auf den Ruinen des Salomonischen Tempels befindet.9
Die acht Ritter bezeichneten sich als Arme Bruderschaft Christi vom Salomonischen Tempel zu Jerusalem10. Heute kennt man sie unter dem Begriff »Templer« oder »Tempelritter«. Die Templer gelobten Keuschheit, Armut und Gehorsam, gemäß den asketischen Regeln des Benediktinerordens.
Zwischenzeitlich unterstützte Graf Fulko V. von Anjou, der künftige König von Jerusalem von 1120 bis 1121, die Templer mit dreißig angevinischen Silberstücken.11 Von Armut kann hier nicht die Rede sein, denn dreißig angevinische Silberstücke entsprechen mehreren tausend Euro heutiger Währung. Auch schien Hugos von Payns Vetter Balduin II. den Templerorden finanziell zu unterstützen.12
1125 taucht dann Graf Hugo I. von Champagne in Jerusalem auf.13 Er hatte zuvor seinen gesamten Besitz an seinen Neffen Theobald II. übertragen und seine Frau verstoßen, die ein Kind von ihm erwartete, indem er ihr mitteilte, dass sie eigentlich unfruchtbar sei und er daher niemals Vater des Kindes war, das sie erwartete …
Noch merkwürdiger ist jedoch, dass sich die neun Ritter an keinerlei Kämpfen beteiligten. Anlässe gab es genug: 1119 attackierten die Seldschuken und Fatimiden das Königreich Jerusalem. König Balduin II. schlug die feindlichen Truppen zurück – jedoch ohne die »Kampfkraft« der acht Templer um Hugo von Payns. Von 1123 bis 1124 nahmen die Seldschuken den König von Jerusalem gefangen – doch die Templer schien diese Notsituation nicht zu interessieren. Als Balduin II. das syrische Aleppo belagerte, hielten sich die Templer ebenso zurück. Ein Jahr später, im Jahr 1125, besiegte Balduin II. die Seldschuken in Azaz. Auch hier »drückten« sich die Templer. Tatsächlich sind die neun Templer um Hugo von Payns nicht im Geringsten an der Sicherung der Pilgerwege interessiert gewesen. Wie konnten auch neun Ritter Tausende von Wegelagerern und feindliche Armeen abwehren? Eine Absurdität, die von der Geschichtsschreibung unhinterfragt |761|übernommen wurde und eigentlich jeden vernunftbegabten Historiker aufhorchen lassen muss. Die Templer lebten stattdessen zurückgezogen in den Gemäuern der al-Aqsa-Moschee. Sie kämpften nicht.
Erst 1137 berichtete der Burgkastellan von St. Omer, dass der Patriarch Garimond und die Barone der Fürstentümer den Templern angeboten hätten, Jerusalem zu verteidigen – siebzehn Jahre nach der Templergründung.14 Die ursprüngliche Mission der Templer war also eine völlig andere, als sie sich auf dem Tempelberg niederließen. Dafür spricht, dass König Balduin II. ohne Umschweife seinen Palast räumte. Dafür spricht auch, dass Graf Hugo I. von Champagne dreimal eiligst nach Jerusalem reiste und seinen Eid auf Hugo von Payns als ersten Großmeister des Ordens schwor. Der mächtigste Mann Frankreichs gelobte seinem ehemaligen Vasallen Hugo von Payens nun Treue und Gehorsam? Eine weitere Absurdität. Was unternahmen also Hugo von Payns und seine Männer in der Zeit zwischen 1120 und 1128 in Jerusalem?
Zeitgenössische Chroniken wie die von Fulcher von Chartres berichten, dass die Templer einen großen Teil des westlichen Tempelbezirks baulich veränderten. Auch gruben sie die sogenannten Ställe des Salomo unterhalb der al-Aqsa-Moschee frei. Diese Ställe konnten den Aussagen des Pilgers Johannes von Würzburg zufolge etwa 2000 Pferde und 1500 Kamele fassen.15 Die Räumlichkeit sei so groß, dass ihn selbst ein Pfeil eines Langbogens nicht durchmessen könne, so Theoderich, ein anderer Pilger. Außerdem hätten die Templer in und westlich der al-Aqsa-Moschee Bauarbeiten durchgeführt.16
So ist es nicht verwunderlich, dass der israelische Archäologe Meir Ben-Dov in den 1980er Jahren unterhalb des Tempelberges einen Tunnel auf das 12. Jahrhundert datierte, der zuvor im 19. Jahrhundert vom Londoner Palestine Exploration Fund unter der Leitung von Charles Warren entdeckt worden war. Der Gang verläuft direkt unterhalb des ehemaligen Hauptquartiers der Templer und diente zur Erkundung der Höhlensysteme des Tempelbergs von Jerusalem17. Meir Ben-Dov interpretierte den Gang als geheimen Tunnel – er verläuft unterhalb der Ställe des Salomo – und identifiziert ihn zweifelsfrei als das Werk der Templer.18
König Balduin II. entsandte Hugo von Payns im Jahre 1127 mit einem Empfehlungsschreiben, um Adlige in ganz Europa für den neu gegründeten Orden anzuwerben. Darunter waren solche erlauchte Persönlichkeiten wie etwa König David I. von Schottland. Kurz darauf |762|wurden Andreas von Montbard und Gundemar mit einem Sendschreiben in die Champagne zurückgeschickt. Ziel der Reise war es, Bernhard von Clairvaux dafür zu gewinnen, eine Verfassung für den Templerorden zu formulieren.19
Schließlich versammelten sich sieben der acht Templer am 13. Januar 1129 in Troyes, um an der dortigen Bischofssynode teilzunehmen – Graf Hugo I. von Champagne war im Jahr 1126 gestorben. Sein Neffe Theobald II. wohnte jedoch dem Konzil bei. Hier wurden die von Hugo von Payns vorgetragenen Regeln des Templerordens von den höchsten Würdenträgern des Landes abgesegnet und durch einen Schreiber protokolliert. Die Regeln orientierten sich an den strengen Statuten des Zisterzienserordens, die Keuschheit, Armut und Gehorsam vorschrieben und strikte Verhaltensregeln enthielten. Ein besonderes Privileg wurde dem Templerorden mit dem Besitz von eigenem Grundstück, der Annahme von finanziellen Zuwendungen und der Erhebung eines eigenen Zinses zugesprochen. Der unermessliche Reichtum, der am 13. Oktober 1307 zur gewaltsamen Auflösung des Ordens durch die Milizen von König Philipp IV. sorgen sollte, wurde mit diesen großzügigen Paragrafen begründet.
Bemerkenswert ist jedoch, dass die Sicherung der Pilgerwege in der zunächst 72 – und später über 686 – Paragrafen umfassenden Templerregel mit keinem Wort erwähnt wurde. Es findet sich auch kein einziger Hinweis auf die Sicherung der Pilgerwege durch die Templer in der sogenannten Lobrede des Bernhard von Clairvaux. Hugo von Payns hatte Bernhard darum gebeten, einige vorteilhafte Worte zur Gründung der neuen Ritterschaft zu verfassen. Das Resultat war Liber ad milites templi – De laude novae militiae. Ein Lob auf die neue Ritterschaft.
Bernhard, der zu seiner Zeit mehr politischen Einfluss als alle Könige und der Papst zusammen genoss, ging darin mit dem weltlichen Rittertum hart ins Gericht und schwärmte von der neuen Aufgabe der Templer: den Kampf für Gott. Er sah die Templer als »neue« Israeliten – jene zwölf Stämme der Hebräer, die durch den Sinai irrten und deren Anführer Moses auf dem Sinai von Gott die Steintafeln mit den Zehn Geboten empfing, die anschließend in die Bundeslade gelegt wurden. So wundert es nicht, dass Bernhard in seiner Lobrede den Salomonischen Tempel, wo später die Bundeslade mit den anderen Schätzen im Allerheiligsten aufbewahrt wurde, als oberstes Ziel anpreist, den es zu sichern |763|gilt – weit vor der Grabeskirche oder der Geburtstätte Jesu in Bethlehem. Bernhard von Clairvaux rief in De Laude Novae Militae die Templer auf, die Schätze des Heiligen Landes zu sichern, bevor sie den vermeintlich ungläubigen Moslems in die Hände fielen. Ein klarer Aufruf zur Reliquienjagd. Die Adligen Europas jauchzten vor Begeisterung und überhäuften den Orden mit Land- und Geldgeschenken.
Von nun an ging es Schlag auf Schlag: Papst Innozenz II. veröffentlichte am 29. März 1139 seine Bulle Omne datum optimum, in der die Templer nur noch der Weisung des Papstes unterstanden. Außerdem wurden sie vom Zehnten befreit, so dass sie keine Steuern mehr entrichten mussten. In seiner Bulle Militia Dei gestattete Papst Eugen III. den Templern am 7. April 1145 eigene Kirchen zu errichten. Der Aufstieg des Ordens zum ersten europäischen Kreditinstitut, das den bargeldlosen Zahlungsverkehr einführte und dadurch unermesslich reich wurde, schien nicht aufzuhalten zu sein. Hugo von Payns starb zwar 24. Mai 1136 im Kampf gegen sarazenische Truppen – und die Templer fochten und verloren viele Schlachten in den kommenden zweihundert Jahren bis zu ihrer Auflösung –, doch Hugos Erbe ist noch immer die Quelle für viele Spekulationen. Eines ist gewiss: Die neun Templer um Hugo von Payns sicherten nicht die Pilgerwege, wie uns das die Geschichtsschreibung weismachen will. Vielmehr suchten sie unter dem Tempelberg nach einem unbekannten Objekt, vielleicht einer Reliquie.
Tobias Daniel Wabbel
Mehr unter: www.tobiasdanielwabbel.com
Barber, Malcolm, The Origins of the Order of the Temple, Studia Monastica 12, 1970, S. 221–224
Demurger, Alain, Die Templer, München, 2000, S. 22
Dinzelbacher, Peter, Bernhard von Clairvaux, Darmstadt, 1998, S. 22; vgl. Auberger, Jean-Baptiste, L’Unanimité Cistercienne Primitive – Mythe Ou Réalité, Achel, Belgium, 1986, S. 327; Zaluska, Yolanta, L’Enluminure et le Scriptorium De Cîteaux au XIIe Siècle, Cîteaux, 1989, S. 274 f.
Stephen Harding, The Admonition of Stephen Harding, in: The Cistercian World: Monastic Writings of the Twelfth Century, übersetzt und herausgegeben von Pauline Matarasso, London, 1993, S. 11 f.
|764|Hiestand, Rudolf, Kardinalbischof Matthäus von Albano, das Konzil von Troyes und die Entstehung des Templerordens, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 99, 1988, S. 295 ff. Rudolf Hiestand glaubt, nachgewiesen zu haben, dass die Templer sich im Jahr 1120 formierten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Templer bereits 1114 existierten, als Hugo von Payns und Graf Hugo I. von Champagne nach Jerusalem reisten. Die »Militia Christi« wird bereits 1114 erwähnt.
Fulcher von Chartres, Historia, I., 26, S. 291
Die Schreibweise der Namen der Templergründer variiert. John Charpentier bezeichnet Archambaud von St. Amand in seinem Werk »Die Templer« als Archambaud von St. Agnan. Manfred Barthel bezeichnet Gottfried Bisol in seinem Werk »Die Templer« als Gottfried Bisot. In der Templerregel von 1128 werden jedoch die Namen Gottfried Bisol und Archambaud von St. Amand genannt.
Bulst-Thiele, Marie-Louise, The Influence of St. Bernard of Clairvaux on the Formation of the Order of the Knights Templar, in: The Second Crusade and the Cistercians, New York, 1992, S. 7
Die lateinische Bezeichnung lautet: Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis.
Wilcke, Ferdinand, Die Geschichte des Ordens der Tempelherren, Wiesbaden, 2005, S. 44
Ebd., S. 43
Barber, Malcom, Die Templer, Düsseldorf, 2005, S. 18
Dokument CG, Nr. 141, S. 99, genannt in Barber, Malcolm, Die Templer, Düsseldorf, 2005
Johannes von Würzburg, Descriptio, Kapitel 5, S. 129–130
Fulcher von Chartres, Historia, 1. 26, S. 291
Der Tunnel ist im sogenannten Cambria-Manuskript aus dem 12. Jahrhundert verzeichnet, wo auch eine Tür genannt wird, die mit Poterna angegeben ist.
Ben-Dov, Meir, In the Shadow of the Temple, New York, 1985, S. 346 f. Vgl. auch: Gibson, Shimon und Jacobsen, David M., Below the Temple Mount in Jerusalem, Oxford: Tempus Reparatum, 1996 (BAR International Series 637); Palestine Exploration Fund, London bzw. Wilson, Charles, Ordnance Survey of Jerusalem, Authority of the Lord’s Commissioners of her Majesties Treasurers, London, 1886
Wilcke, Ferdinand, Die Geschichte des Ordens der Tempelherren, Wiesbaden, S. 44