Juli 1153 – Jerusalem
Gero verabschiedete sich von Hertzberg mit dem Versprechen, gleich morgen früh nach ihm zu sehen. Danach eilte er durch ein hohes Spitzbogenportal in den staubigen Innenhof des Hospitals und nahm von dort aus den direkten Weg zur Davidsstraße, wo Johan, Tanner und Arnaud, die bereits vorausgegangen waren, im Schatten eines Tamarindenbaumes auf ihn warteten. Schweigend beobachteten sie das bunte Treiben auf den Gassen. Menschen allen Alters und beiderlei Geschlechts eilten in einfachen wie in kostbaren Gewändern an ihnen vorbei. Viele von ihnen bepackt mit Holz, Brot, Büchern, Stoffen und nicht selten Waffen, zumindest wenn es sich um Ordensritter, Wachleute oder Abenteurer handelte. Die Luft war erfüllt von feinem, gelblichem Staub und einer exotischen Mischung aus Blumendüften, Gewürzen, Räucherwerk, Kamelmist und ungewaschenen Menschen.
Hier und da sah Gero Sarazenen, die man an ihren gestreiften Stoffen und einem Turban erkennen konnte oder zumindest einem Tuch, das sie von einem Strick gehalten auf dem Kopf trugen.
Arnaud lächelte einer Frau hinterher, deren große, dunkle Augen ihn im Vorbeigehen anstrahlten. Mund und Nase waren von einem dunklen Schleier bedeckt; ihr Körper wurde ganz und gar von einem schwarzen, mit silbernen Fäden bestickten Umhang verhüllt.
»Diese Kleidung nennt man Jilbab«, erklärte Arnaud immer noch ganz fasziniert, als er an Tanners Grinsen bemerkte, dass sein flüchtiger Flirt nicht unbemerkt geblieben war. »Meine Großmutter trug außerhalb des Hauses immer ein solches Gewand. Sie war die Tochter eines syrischen Wesirs«, sprach er weiter, als Tanner fragend eine Braue hob. »Mein Großvater Baron Roger de Mirepaux war Katharer und hat sie im Jahre des Herrn 1246, von König und Klerus in Franzien verfolgt, nachdem er Zuflucht im Haus ihres Vaters gefunden hatte, zur Frau genommen.«
|360|»Kein Wunder, dass du aussiehst wie ein Einheimischer und fließend deren Sprache beherrschst«, bemerkte Jack anerkennend.
»Die Frauen hier sind unglaublich«, murmelte Arnaud und starrte der nächsten hinterher. »Allein der Anblick ihrer Augen ist eine Sünde wert. Was würde erst mit einem Mann geschehen, wenn er den Rest zu sehen bekäme?«
»Arnaud kann nicht verleugnen, dass in seinen Adern Sarazenenblut fließt«, spöttelte Johan amüsiert. »Diese Heiden sind so heißblütig, dass sie sogar die Gesichter ihrer Weiber verbergen müssen, weil sie ansonsten bereits auf der Straße über sie herfallen würden.«
»Was weißt du schon!«, grollte Arnaud verärgert, obwohl er wusste, dass Johan seine Bemerkung scherzhaft gemeint hatte. Trotzdem verpasste er seinem flämischen Bruder einen Stoß in die Seite, den dieser mit erhobenen Händen und einem entwaffnenden Lachen kommentierte. Es war nicht das erste Mal, dass Arnaud sich wegen seiner levantinischen Abstammung gehänselt fühlte. Seine Familie hatte in Franzien jahrelang um die Wiederanerkennung als provenzalische Adlige kämpfen müssen. Selbst Arnaud hatte das noch zu spüren bekommen und allein deshalb um Aufnahme bei den Templern ersucht. Dort hatte man ihm jene Anerkennung und Akzeptanz entgegengebracht, die seine wunde Seele so dringend benötigte.
»An dieser Tradition wird sich auch in Zukunft nicht viel ändern«, bemerkte Jack grinsend. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Gero. »Und? Hast du mithilfe der kleinen Brünetten herausfinden können, wo sich euer geheimnisvoller Templerbruder versteckt?«
»Sie sagte, dass Montbard sich seit der Enthebung aus allen Ämtern die meiste Zeit im Königspalast aufhält«, konstatierte Gero und straffte seine beeindruckenden Schultern. »Angeblich hat die Königin ihm eine Art Exil gewährt. Und er scheint tatsächlich etwas über den Verbleib der Frauen zu wissen.«
»Wer sagt das?« Johan, der nichts von dem Gespräch mitbekommen hatte, sah ihn überrascht an.
»Die blaugewandete Dienerin, die dem griechischen Medikus bei seiner Arbeit behilflich ist.«
Arnaud lächelte milde. Er kannte diese Sorte von Frauen, und er |361|hatte gesehen, wie sie Geros stolze Erscheinung regelrecht mit den Augen verschlungen hatte. »Und du denkst nicht, dass sie dir einfach imponieren wollte?«
»Warum sollte sie?« Gero verzog den Mund zu einem ironischen Grinsen. »Ich habe ihr weder Geld noch sonst was versprochen.«
Tanner blickte in Richtung Königspalast, der direkt hinter dem Hospital an den Garten des Patriarchen von Jerusalem angrenzte. »Kommen wir da einfach hinein, oder müssen wir eine Einladung vorweisen?« Das Gebäude, in dem die Könige von Jerusalem seit einem knappen halben Jahrhundert residierten, erschien ihm ziemlich gewaltig.
Es handelte sich um ein gemauertes, mehrstöckiges Labyrinth von Stiegen, Gängen, Türmchen und Balkonen, gekrönt von goldenen Kuppeln und glänzenden Dächern, die von einer mächtigen Zitadelle überschattet wurden. Noch relativ jung und hellblau getüncht, hatte der mit bunten Ornamenten bemalte Prachtbau nichts mit der verfallenen Ruine im einundzwanzigsten Jahrhundert zu tun, von der man noch nicht einmal wusste, ob dort je christliche Könige residiert hatten.
Dass der Palast gut bewacht war, konnte sich jeder denken, der die blaugewandeten Soldaten beobachtete, die, mit Lanzen und Armbrüsten bestückt, unter dem Banner des Königs von Jerusalem auf dem Turm ihren Dienst versahen.
»Wir müssen es wagen, bevor sie uns im Hauptquartier zu irgendeinem Einsatz einteilen«, überlegte Gero laut, wobei sein Blick zum Davidsturm glitt, hinter dem die rotgoldene Sonne versank. »Warum sollte es uns als Templer verwehrt sein, André de Montbard aufzusuchen?« Entschlossen richtete er seinen Blick auf Arnaud. »Komm, Poulani«, sagte er knapp. »Du sprichst als Einziger alle hier gebräuchlichen Sprachen, du wirst mich begleiten.«
»Und was ist mit uns?« Johan sah ihn beinahe vorwurfsvoll an.
»Du gehst mit Jack zurück nach al-Aqsa und berichtest den anderen, was wir herausgefunden haben. Sie sollen die Suche nach den Frauen im Hauptquartier vorerst einstellen. Irgendetwas ist faul an der Geschichte. Deshalb erscheint es mir nicht von Vorteil, wenn wir bei Peter de Vezelay und seinen Leuten den Verdacht erwecken, an etwas anderem interessiert zu sein als an der Verstärkung ihrer Truppen. Vielleicht |362|sind wir nach unserem Besuch bei Montbard schlauer und wissen, wo und wie wir am besten vorgehen können.«
Tanner verspürte eine ungeheure Neugier, als er mit Johan die Davidsstraße zurück zum Tempelberg ging. Wann würde er noch mal Gelegenheit haben, das mittelalterliche Jerusalem zu durchqueren? Während Johan interessiert das Angebot auf den blanken Holzläden studierte, stieß Jack der Geruch von Kot, Blut und nassen Federn in die Nase. Der nächste Stand bot allem Anschein nach frisch geschlachtetes Geflügel an. Ein Huhn, das von einer korpulenten Frau aus einem Bastkäfig ausgewählt worden war, wehrte sich nach Leibeskräften, als sein Kopf unversehens auf einem Holzblock landete. Wenig später wurde das Tier von einem hageren Händler mit dem gezielten Schlag einer Axt geköpft. Beine und Flügel zuckten noch im Todeskampf, als der blutende Kadaver in einen Jutesack gesteckt und an seine neue Besitzerin übergeben wurde. Ein Stück weiter röstete eine Händlerin Hühnerkämme auf Holzspießen über einem offenen Feuer. Die Frau fing Jacks interessierten Blick auf und zeigte ein zahnloses Lächeln. Auffordernd hielt sie ihm einen der Spieße vor die Nase. Dabei brabbelte sie irgendwas in Arabisch. Jack hatte während des Überlebenstrainings beim US Marines Corps schon einiges gegessen, was für gewöhnlich nicht auf den Tisch gehörte, aber beim Anblick der halbverkohlten, purpurfarbenen Hahnenkämme schüttelte er dankend den Kopf.
Johan hob seine Nase und zog ihn weiter abwärts zu einem Laden, von dem ihnen der Duft frisch gebackenen Brotes entgegenwaberte. »Wir sollten uns was zu essen kaufen«, erklärte er. Dann richtete er seinen Blick auf den Tempelberg. »Später möchte ich noch im Felsendom beten. Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich eine anständige Kirche von innen gesehen habe.«
»Denkst du, dieser Montbard könnte uns helfen?« Jack interessierte diese Frage mehr als ein anständiges Essen. Schließlich hing davon ab, ob ihre Mission erfolgreich sein würde.
»Keine Ahnung«, brach es aus Johan hervor. »Aber ganz gleich, was noch wird, in jedem Fall kann der Beistand des Allmächtigen nicht schaden, und in Jerusalem sind wir ihm näher als irgendwo sonst auf der Welt.«
|363|Obwohl Jack nicht religiös war, wagte er nicht, dem Templer zu widersprechen.
Johan blieb an einem Stand mit Brot stehen. Mit kritischem Blick prüfte er die Ware und nickte erst zufrieden, nachdem ihm die Händlerin verschiedene Brote gezeigt und er eines davon gekostet hatte. Dann entschied er sich, sechs Laibe zu kaufen, und zählte der Frau das ausgehandelte Geld in die Hand.
»Ich weiß nicht viel von Montbard«, erklärte er, während er vier Laibe Brot in einen kleinen Jutesack steckte, den die Frau ihm überlassen hatte. Einen der Laibe behielt er für sich und den anderen gab er Jack, bevor sie sich anschickten, den Weg fortzusetzen.
»Er hat den Orden mit einigen anderen berühmten Namen gegründet«, fuhr Johan kauend fort, während er in Richtung Tempelberg marschierte. »Für uns alle war und ist er ein Held und ein Heiliger zugleich. Er hat den Orden mit gegründet, und er hat ihm nach der Niederlage von Askalon zu neuem Glanz verholfen. Keiner weiß so genau, warum er zuvor seiner Ämter enthoben wurde. An seinen Fähigkeiten als Ordensritter liegt es sicher nicht. Man sagte, er habe der falschen Herrin gedient. Die spannende Frage ist, ob er weiterhin Oberhaupt des Hohen Rates geblieben ist, einer geheimen Bruderschaft des Ordens, die es sogar zu unserer Zeit noch gegeben hat, über die man allerdings als gewöhnlicher Ordensritter nicht einmal sprechen durfte. Wenn die beiden Frauen sich noch in der Obhut der Templer befinden, muss Montbard wissen, wo sie sich aufhalten.«
Jack biss ein Stück von seinem Brot ab, das eine Füllung mit Schafskäse und Kräutern enthielt. Für einen Moment glaubte er, nie etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Gemeinsam durchquerten sie ein Spitzbogentor, von denen es in den verwinkelten Gassen von Jerusalem Hunderte zu geben schien. Johan blieb vor einer Taverne stehen und orderte zwei Krüge mit rotem Wein, ziemlich süß und wie üblich mit Wasser verdünnt, den sie im Stehen und vor den Augen des Wirtes hastig hinunterkippten.
Nachdem Johan die leeren Becher zurück auf den Tresen gestellt hatte, entdeckte er eine Schale mit frisch geschnittenen, kleinen Zweigen, von denen er zwei erwarb.
Jack schaute verblüfft, als Johan eines der dünnen Holzstäbchen an |364|ihn weiterreichte und ihm erläuterte, es sei ein Miswak, mit dem man sich nach dem Essen die Zähne putzen konnte.
Im weiteren Verlauf der Straße, die zum Hauptquartier der Templer führte, wehrte Johan mit einem müden Lächeln die gierigen Hände mehrerer Mädchen ab, die sich ihnen grell geschminkt, halbnackt und mit offenem Haar in den Weg stellten. Nachdem sie vorbeigegangen waren, drehte sich Jack noch einmal um, weil die letzte von ihnen wirklich hübsch gewesen war, wenn auch nicht unbedingt sauber. Dabei entblößte sie ihre großen Brüste, wippte sie mit den Fingern und streckte ihm frech die Zunge heraus.
Jack grinste zurück. Anscheinend gab es eine Menge mehr Dinge, die sich in Hunderten von Jahren nicht änderten.
Am Tor der Kette, das zum Felsendom führte, sagte Johan bei den Wachen die ihnen von de Vezelay anvertraute Losung auf. Die Männer ließen sie ohne Probleme passieren, und sie marschierten zunächst in Richtung al-Aqsa, weil die Glocken zum Vespergebet in der Kapelle des Ordens läuteten. Johan wollte auf keinen Fall die Messe verpassen. Jack folgte ihm kopfschüttelnd. Dieses ewige Beten ging ihm, nicht erst seit sie hier angekommen waren, auf die Nerven.
Bereits in der Vorhalle der Kapelle wartete eine böse Überraschung. Struan und Stephano saßen gefesselt am Boden. Dem Schotten hatte irgendjemand ein heftiges Veilchen verpasst. Aus seiner großen Nase sickerte Blut. Stephano war nicht ganz so übel zugerichtet und sah im Gegensatz zu Struan, der vor Wut schnaubte, eher verstört aus. Um die beiden hatten sich zwanzig Ordensritter versammelt, deren Lanzen sich auf den Schotten richteten. Vier weitere Brüder, die Johan und Jack bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatten, standen nicht weniger ramponiert daneben, doch sie hatte man nicht gefesselt. Ihre Wunden an Armen und Beinen wurden von einem Sanitätsbruder mit Essigwasser und Verbandsmaterial versorgt. Doch bevor Jack und Johan herausfinden konnten, was sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte, waren sie ebenfalls von finster dreinblickenden Templern umzingelt.
»Legt sofort eure Waffen nieder!«, befahl einer von den Männern mit strenger Stimme. Seiner stämmigen Statur, seines groben Gesichts und seiner rötlichen Haarfarbe nach zu urteilen, handelte es sich um einen Normannen. Er hatte offenbar vor einiger Zeit die Hälfte seines |365|rechten Ohres eingebüßt, was ihn zusammen mit dem breiten Kiefer wie einen römischen Kampfhund aussehen ließ.
Dass der Kerl die Befehlsgewalt hatte, verrieten neben der unterwürfigen Haltung seiner Truppe seine Chlamys, die besser verarbeitet war, sowie die halbhohen Stiefel aus feinstem Ziegenleder.
»Was wirft man uns vor?«, fragte Johan in bestem levantinischem Alltagslatein, wobei er sein Augenmerk auf Peter de Vezelay richtete, der just hinzugekommen war. »Und warum wurden unsere Kameraden so zugerichtet?« Seine Stimme zitterte vor Empörung. Doch bevor er eine Antwort erhielt, stürmten auf ein Zeichen des normannischen Templers zwei jüngere Ordensritter herbei und packten den breitschultrigen Flamen derb bei den Oberarmen, um ihn zur Herausgabe seiner Waffen zu zwingen.
Im Gegensatz zu Johan, der ohne Gegenwehr seinen Waffengurt ablegte, hatte Jack seine Reflexe nicht unter Kontrolle und warf den erstbesten Angreifer mit einem geschulten Griff zu Boden. In seiner Not besann er sich auf seine Heckler & Koch, doch sie steckte zu tief unter seinem Wappenrock, um schnell genug an sie heranzukommen.
De Vezelay und der Normanne zogen blitzschnell ihre langen Klingen und bedrohten Jack, indem sie die Schwertspitzen auf dessen Herz und dessen Kehle richteten.
Einen Moment lang überlegte Jack, sich in gleicher Weise zu wehren, doch dann dachte er an seine Lektionen mit Struan und Johan, und die Vernunft siegte. Bevor er mit der Wimper zuckte, würde er tot sein. Also erhob er die Hände.
»Ganz ruhig bleiben, Jungs«, erwiderte er in bestem Texanisch, obwohl er sich denken konnte, dass ihn niemand verstand.
»Nehmt ihm die Waffen ab und durchsucht ihn!«, befahl der Normanne in harschem Ton.
Johan ließ ohne weiteren Protest zu, dass man ihm die Hände auf den Rücken band. Jack hoffte inständig, dass man die Pistole nicht fand. Aber diese Typen waren längst nicht so dumm, wie er dachte. Es reichte nicht, dass er sein Schwert hergab, und so förderten sie wenig später die Heckler & Koch zu Tage, die er zum Glück nicht entsichert hatte.
De Vezelay betrachtete den fremden Gegenstand wie ein Rieseninsekt, von dem eine unheimliche Bedrohung ausging. Trotzdem fand er |366|den Mut, die Pistole anzufassen, und reichte sie an den Normannen weiter. Sein Anführer drehte und wendete den ihm unbekannten Gegenstand, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Als Jack seinen fragenden Blick auffing und nichts erwiderte, legte der Anführer die Pistole mit einem misstrauischen Ausdruck in den Augen auf de Vezelays Schreibpult zurück.
Johan wagte etwas zu sagen und konzentrierte sich dabei auf den Anführer. »Darf ich erfahren, Seigneur, wer Ihr seid und worum es hier geht?«
»Selbstverständlich«, erwiderte der rotblonde Templer mit einem falschen Lächeln. Er verbeugte sich theatralisch, und als er sich wieder aufrichtete, war sein Blick so eiskalt wie seine grimmige Ausstrahlung. »Berengar von Beirut, Bruder des Guido von Beirut und Komtur von Jerusalem und damit Herr dieses Hauses.«
Johan nickte und verbeugte sich ebenfalls, soweit es seine Fesseln zuließen, dabei hielt er seinen Blick die ganze Zeit auf sein Gegenüber gerichtet. »Gott sei mit Euch, Beau Seigneur«, erwiderte er mit erstaunlich fester Stimme. »Hier muss ein Irrtum vorliegen. Wir sind Templer wie Ihr und haben eine solche Behandlung gewiss nicht verdient.«
Jack überlegte einen Moment, ob auch er sich vor dem Idioten verbeugen sollte, und kam zu dem Schluss, dass es schließlich nicht schaden konnte.
Berengar von Beirut blieb davon vollkommen unberührt. Ohne nähere Erklärung gab er ein Zeichen. Kurz darauf trugen zwei weitere Ritter einen Mann auf einer Trage durch die offene Tür herein.
Die Lippen blutleer, die Haut beinahe weiß, die Augen von tiefen Ringen umschattet, erinnerte der Kranke Jack an einen erlegten Pandabären. Allem Anschein nach war der Mann schwer verletzt. Die Templer hatten ihn so gut es ging versorgt, indem sie seinen Kopf und seine Brust mit weißem Leinen verbunden hatten. Jack hätte ihm aus seinem Equipment eine kreislaufstabilisierende Infusion verpassen und ihn mit Sauerstoff beatmen können, aber hier musste eine fachmännisch angelegte Bandage ausreichen. Plötzlich dämmerte ihm, was hier gespielt wurde. Der Typ sah aus wie einer der Männer, auf die er in der Wüste jenseits von Bethanien geschossen hatte. Sie hatten geglaubt, dass niemand überlebt hatte, und Gero hatte befohlen, die Leichname |367|der verkleideten Templer in der weiten Geröllebene den Wölfen und Löwen zu überlassen.
»Sie sind es«, hauchte der Verletzte. »Diese Männer haben das Dorf der Juden überfallen und unsere Brüder auf dem Gewissen.« Dann richtete er seinen matten Blick auf Jack Tanner und dessen Pistole, die immer noch auf dem Schreibpult lag. »Er ist der Dämon«, flüsterte der Todgeweihte beinahe andächtig. »Ihr müsst mir Glauben schenken! Mit diesem Ding da …« Der Mann schluckte krampfhaft, bevor er atemlos weitersprach und schwach auf die Pistole deutete. »… hat er die anderen lautlos und ohne Anstrengung in den Tod geschickt. Sogar vor den Pferden hat er nicht haltgemacht.«
Berengar von Beirut hob den Kopf. »Ist das wahr?«, fragte er gefährlich leise und richtete seinen stechenden Blick auf Tanner.
Jack blieb stumm und versuchte das Gesagte für sich zu übersetzen. Einiges konnte er verstehen, schließlich hatte er auf der Highschool Latein und Französisch gelernt. Aber Altfranzösisch verstehen und reden war nicht das Gleiche, und ein simples »non« wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen.
»Ist das wahr, Soldat?« Berengar brüllte so laut, das Jack zusammenzuckte, während er sich augenblicklich an Staff Sergeant Alex Daltry erinnert fühlte, der ihn während seiner Ausbildung bei den U.S. Marines mindestens genauso unmissverständlich um Aufmerksamkeit gebeten hatte.
Es fehlte nicht viel, und er hätte »Sir, Yes, Sir!« zurückgebrüllt. »Keine Ahnung, Sir«, presste er mühsam auf Französisch hervor. »Ich könnte Ihnen zeigen, wie es funktioniert.« Hoffnung keimte in ihm auf. Er streckte seine Hand vorsichtig nach der Pistole aus. Der Kerl würde doch nicht so blöd sein und ihm … die Waffe geben?
Berengar zögerte nicht lange und zückte einen eisernen Kampfhammer, der, mit einem Lederband versehen, an der Wand gehangen hatte, und schlug zu.
Reflexartig schloss Jack die Augen, doch statt ihn zu erschlagen, hatte Berengar die Pistole zertrümmert, samt Peter de Vezelays Schreibpult, was diesen nicht gerade zu erfreuen schien.
Jack starrte ungläubig auf das, was der Kampfhammer von der Heckler & Koch übrig gelassen hatte. Die Waffe sah aus, als wäre sie durch eine Schrottpresse gegangen.
|368|»Bringt sie in den Kerker!«, presste Berengar hervor. »Das Kapitel am Sonntag wird entscheiden, ob sie geköpft, gevierteilt, gehängt oder verbrannt werden.«
Arnaud stand staunend in der Empfangshalle des Königspalastes. Überall wallten Seidenvorhänge entlang der bleiverglasten, hohen Fenster. Große Teile der glatt gemauerten Wände waren mit kunstvollen orientalischen Teppichen verkleidet. Auf den Böden hatte man kostbaren italienischen Marmor verlegt. Von der Decke baumelten gigantische Silberampeln, über und über mit gläsernen Öllichtern bestückt.
Hohe, mit Schnitzereien und silbernen Beschlägen verzierte Holztüren, die zum Teil offen standen, führten in weitere, prunkvoll ausgestattete Gemächer.
Geros Miene ließ darauf schließen, dass ihn diese Pracht genauso beeindruckte, obwohl er schon einige Königshäuser von innen gesehen hatte.
»Ich muss Euch erst bei Meister André anmelden, bevor ich Euch zu ihm führen darf«, wisperte ein Diener in Pluderhosen, dessen Stimme vermuten ließ, dass er zur Kaste der Eunuchen gehörte.
Arnaud verkniff sich ein breites Grinsen. Mit seinen seidenen Pantöffelchen hastete der Diener mit kurzen Schritten die breiten Stufen ins Obergeschoss hinauf.
Dass sie bis zu seiner Rückkehr keine Erlaubnis hatten, sich von der Stelle zu rühren, verstand sich von selbst. Und dass sie sich daran hielten, dafür sorgten die martialisch aussehenden Wachen am Eingangstor, die ihnen ab und an prüfende Blicke zuwarfen. Ansonsten schien der Palast ziemlich ausgestorben. Bis auf eine kleine Reserve an Männern befanden sich sämtliche Soldaten vor der Festung Gaza, unweit von Askalon.
Hier und da huschte eine Kammerfrau vorbei oder ein Page.
»Was willst du Montbard zuerst fragen?«, flüsterte Arnaud. »Ob er das Geheimnis des Kelches kennt oder ob er vielmehr weiß, wo die Frauen stecken?«
Gero lächelte matt. »Denkst du ernsthaft, weil wir es sind, wird Montbard uns auf Anhieb seine tiefsten Geheimnisse offenbaren?« Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Arnaud. Trotz aller Hoffnung, die ich in diesen Mann setzte, bleibt uns auch bei ihm nichts anderes |369|übrig, als strategisch vorzugehen. Ich frage mich die ganze Zeit, wie er reagieren wird, wenn wir ihm sagen, wo wir herkommen und wer wir sind. Wir müssen in jedem Fall besonnen vorgehen und dürfen ihn nicht verschrecken.«
Montbard war längst nicht mehr das, was er in den Köpfen zahlloser zukünftiger Templer verkörpert hatte, die ihn nur vom Hörensagen kannten und als strahlenden Helden verehrt hatten. Er wirkte zwar immer noch stolz und erhaben, aber längst nicht so jung und dynamisch wie erwartet. Und auch die Klause, in denen der ehemalige Templerseneschall seine Gäste empfing, erschien Gero zwar geräumig, war aber ansonsten recht spartanisch.
Montbards Haar war graumeliert, ebenso wie der dichte Bart, und ein wenig erinnerte seine hagere Gestalt an Henri d’Our.
»Was verschafft mir die Ehre?« Montbard streckte sich, um größer zu wirken, und Gero glaubte Misstrauen in seinem Blick zu erkennen.
»Gott sei mit Euch, Beau Seigneur!« Der deutsche Ordensritter verbeugte sich ehrerbietig und küsste Montbard den Siegelring an der rechten Hand. Dann sah er auf und blickte ihm direkt in die wachsamen Augen.
»Gero von Breydenbach«, stellte er sich vor und trat zurück, um Arnaud Platz zu machen, der nun auch den vorgeschriebenen Kniefall vollführte, bevor er ebenfalls die Hand des Mannes ergriff und den Ring mit zitternden Lippen berührte.
Als Älterer übernahm Gero die Vorstellung. »Das ist mein provenzalischer Bruder, Arnaud de Mirepaux.«
»Gott sei mit Euch, Beau Seigneur!« Arnauds Stimme bebte ein wenig. Schließlich stand man nicht tagtäglich einer lebenden Templer-Legende gegenüber.
Schlagartig wurde Gero bewusst, wie bedeutungsvoll das alles war. Es übertraf sogar seine Erlebnisse in der Zukunft. Nun lag es alleine in seiner Hand, dieser einzigartigen Begegnung einen tieferen Sinn zu verleihen.
Vielleicht war es tatsächlich möglich, den Orden zu retten und darüber hinaus sein eigenes Schicksal und das jener, die ihm anvertraut waren, in erlösende Bahnen zu lenken.
»Habt Ihr einen Moment Zeit für uns?« Gero schaute Montbard immer noch an.
|370|»Selbstverständlich, ich habe immer Zeit, wenn es um Angelegenheiten des Ordens geht«, erwiderte der ehemalige Seneschall mit angespannt freundlicher Miene und deutete auf einen Tisch an dem mehrere Scherenstühle standen. Durch die hohen, verglasten Spitzbogenfenster fielen die letzten Strahlen der Abendsonne. Montbard setzte sich und wies ihnen einen Platz zu.
»Seid Ihr eben erst angekommen?« Montbards Blick huschte über Geros leicht verstaubte Chlamys. »Schickt Euch Bernard von Tramelay?«
»Nein«, begann Gero zögernd. »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Wir kommen von weit her und sind auf der Suche nach zwei Frauen, die sich in Eurer Obhut befinden sollen. Ihre Namen lauten Rona und Lyn. Könnt Ihr uns sagen, wo sie sich zurzeit aufhalten?«
Montbard sah ihn mit undurchsichtiger Miene an. »Warum wollt Ihr das wissen?«, murmelte er.
»Wir müssen dringend mit ihnen sprechen und dachten, Ihr könnt uns vielleicht zu ihnen bringen.«
Montbard lächelte spöttisch und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, da seid Ihr bei mir an den Falschen geraten. Das ist eine interne Angelegenheit des Ordens, und unser verehrter Großmeister weiß genau, dass ich – wenn überhaupt – nur mit ihm persönlich darüber spreche.«
»Es ist nicht so, wie Ihr denkt«, warf Arnaud ein, ohne von Montbard die Erlaubnis zum Sprechen erhalten zu haben. »Wir sind von weit hergereist. Wir haben einen äußerst wichtigen Auftrag zu erfüllen.«
»Aha?« Montbard hob eine Braue. »Und wie lautet dieser Auftrag? Bringt uns die beiden Frauen, damit wir sie so schnell wie möglich an den Statthalter von Damaskus verkaufen können?«
»Damaskus?« Gero schaute ihn fragend an.
»Wir kommen aus der Zukunft«, erklärte Arnaud leidenschaftlich, dem das offensichtlich alles zu lange dauerte.
»Arnaud!« Gero hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Wir wollen die beiden dorthin zurückbringen, wo sie hergekommen sind.« Arnaud schien es gleichgültig zu sein, ob er sich lächerlich machte. »Wir kommen aus dem Jahr des Herrn 2005. Auch wenn das vollkommen absonderlich klingt. Ihr müsst uns einfach glauben!«
»Ehem …« Montbard warf ihm einen quälend langen Blick zu, der durchaus den Anschein erweckte, dass er ihn für verrückt hielt.
|371|Gero wagte es nicht, etwas dazu zu sagen. Aber der Blick, den er Arnaud zuwarf, sprach Bände. Er hatte es vermasselt.
Montbard klatschte, anstatt etwas zu erwidern, zweimal in die Hände, und ein hochgewachsener Diener kam herbeigeeilt.
»Bring die beiden Ordensbrüder zum Ausgang, Fayed.« Mit einer knappen Geste gab er Gero und Arnaud zu verstehen, dass das Gespräch beendet war, indem er sich selbst erhob und mit der rechten Hand zur Tür zeigte. »Sagt Tramelay, es hat keinen Sinn, mir irgendwelche Narren zu schicken, die mir seltsame Märchen auftischen, um mich zu einem Kompromiss zu bewegen. Die beiden Frauen gehören nun der Mutterkirche, und daran wird sich nichts ändern, selbst wenn er mir den Teufel persönlich schickt.« Er schaute Gero durchdringend an. »Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Aber …« Arnaud wollte protestieren, doch Gero legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Das habt Ihr«, bestätigte er tonlos.
Während sie hinausgingen, machte Arnaud einen weiteren Versuch. »Wir kennen die Zukunft, auch wenn Ihr es nicht glauben wollt«, rief er mit trotziger Stimme. »Ich kennen sogar Euer Todesdatum. Wollt Ihr es wissen?«
»Eure Gaben erscheinen mir durchaus erstaunlich, aber ich hoffe, Ihr werdet Gnade walten lassen«, sagte Montbard mit einem gefälligen Lächeln, das lediglich verriet, dass er ihn für einen Narren hielt, »und es mir nicht verraten.«
Gero warf Arnaud einen strengen Blick zu. »Halt endlich die Klappe«, raunte er ihm zu. »Oder ich mache dich einen Kopf kürzer, spätestens, wenn wir draußen sind.«
Arnaud schwieg, weil er begriff, dass er zu weit gegangen war. Beschämt beugte er den Kopf und kniff die Lippen zusammen.
»Dachte ich es mir doch«, entgegnete Montbard. »Und nun geht, bevor ich die Wachen rufe.«
Nachdem die beiden gegangen waren, löste sich eine schlanke Gestalt aus dem Schatten eines steinernen Pfeilers und ging zu Montbards Gemach.
Sie trug einen blauen Kapuzenumhang, aus dem hennagefärbtes Haar herausloderte. Einen Moment lang sah sie den beiden stattlichen |372|Templern nach, bevor sie von einem Diener die Treppe hinab zum Ausgang geführt wurden.
Nicht, dass sie Montbard und seine Gäste belauscht hätte, aber neugierig war sie schon. Denn wer würde – außer Bernard von Tramelay – zwei Brüder des Tempels in den Palast entsenden, wenn nichts geschehen wäre, das einer sofortigen Mitteilung bedurfte? Normalerweise korrespondierte der amtierende Templergroßmeister in offiziellen Angelegenheiten mit Montbard per Depesche.
Als die Templer außer Sichtweite waren, huschte sie in das Gemach ihres Vertrauten hinein. Montbard stand am Fenster und schaute hinaus, als ob er vor den Toren Jerusalems nach irgendetwas Ausschau halten würde.
»Wer war das, und was wollten die beiden von dir?«
»Melisende?« Montbard fuhr herum. »Spionierst du mir hinterher?«
»Nein.« Sie lächelte wie eine Katze, die um einen Rahmtopf herumschlich. »Mich interessiert alles, was dich und dein Verhältnis zu Bernard von Tramelay betrifft.«
»Die Templer wollten wissen, ob ich ihnen eine Audienz mit meinen beiden Schutzbefohlenen verschaffen kann.«
»Und? Hast du es ihnen gesagt, wo sie zu finden sind?«
»Warum sollte ich? Tramelay weiß längst, wo sie sich aufhalten. Die Frage ist, ob er es wagen wird, sie von dort fortzuholen. Immerhin gehören sie nun offiziell dem Nonnenkonvent von Sankt Lazarus an. Er hätte nur eine Chance, diese Tatsache zu übergehen, wenn sie gegen die Regeln verstoßen und ihren Habit niederlegen müssten.«
»Denkst du, Tramelay hat etwas mit dem Besuch der beiden Templer zu tun? So, wie sie aussahen, könnte man ja glatt sein Keuschheitsgelübde vergessen.« Sie lachte spöttisch auf. »Vielleicht hat er sie entsandt, um die beiden Frauen in Versuchung zu führen und dann der Unkeuschheit zu bezichtigen?«
Melisende schlug die Augen nieder, und als sie Montbard von unten herauf anschaute, hatte sie diesen gewissen Blick, dem kaum ein Mann widerstehen konnte.
»Unsinn«, schnaubte Montbard. »Ich habe diese Männer nie zuvor gesehen. Es muss etwas anderes dahinterstecken. Ich weiß nur noch nicht was.«
»Du hast mir nie gesagt, warum diese beiden Mongolinnen für dich |373|etwas so Besonderes sind, abgesehen von ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Allerdings kenne ich dich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass es bestimmt nicht an deiner Begierde liegt, dass du dich so sehr für sie einsetzt.«
»Sie sind mir zu Freundinnen geworden, in all den Jahren, in denen wir sie als Geiseln gehalten haben. Genauso wie du, meine Liebe. Vielleicht liegt es an meinem Faible für in Not geratene Frauen, dass ich sie auf keinen Fall Tramelay und deinem kriegslüsternen Sohn überlassen möchte, um sie für ein paar Golddinare an irgendeinen dahergelaufenen Emir zu verscherbeln.«
Melisende hob eine Braue und nahm Montbards bärtiges Gesicht zwischen ihre schmalen Hände. Ohne Rücksicht auf sein Gelübde küsste sie ihn zart auf die Lippen. Er stand wie erstarrt und ließ sie gewähren. »Du bist ein wahrhaftiger Ehrenmann«, flüsterte sie. »Schade, dass du niemals für mich zu haben warst.«
»Das nennt man einen Rausschmiss«, sinnierte Gero betrübt, als sie sich unvermittelt im Palasthof wiederfanden.
»Es ist meine Schuld«, bekannte Arnaud und ließ den Kopf hängen.
Gero warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Diplomatie war ja noch nie deine Stärke, aber musstest du gleich wieder mit der Tür ins Haus fallen? Kein Wunder, dass er so reagiert hat. Wir kommen aus der Zukunft«, äffte er Arnaud nach. »2005. Wirklich wunderbar. Du kannst froh sein, dass er nicht nach seinen Wachen gerufen hat, um uns wegen gefährlichen Irrsinns einsperren zu lassen.«
»Er weiß etwas«, brummte Arnaud, als sie in die Davidsstraße einbogen. »Ich konnte es spüren. Er wollte nur nicht damit herausrücken.« Die Dämmerung war hereingebrochen, und an den Toren wurden Fackeln und Feuerkörbe entzündet. »Er hätte alles Mögliche dazu sagen können. Sein Schweigen hat ihn verraten.«
Gero stieß einen Seufzer aus und schaute sich um, als ob zwischen umhereilenden Händlern und Kirchgängern die Antwort zu finden sei. »Aber wir können ihn nicht zwingen, mit der Wahrheit herauszurücken. Solange er uns nicht vertraut, kannst du ihm sämtliche Begebenheiten auftischen, die dir in den letzten Monaten in der Zukunft widerfahren sind, er wird von seiner Haltung nicht abweichen.«
»Und was hast du jetzt vor?« Arnauds braune Augen spiegelten seine |374|Ratlosigkeit wider. »Wie willst du nun das Geheimnis des Kelches lösen, wenn Montbard dich noch nicht einmal mehr vorsprechen lässt?«
»Lass uns erst einmal beten und dann zu den anderen zurückkehren. Mit Gottes Hilfe werden wir eine Lösung finden.«
Schweigend gingen sie über die Marmorplatten vor dem erst kürzlich errichteten Kuppelbau der Basilika zu Ehren des Heiligen Grabes durch ein zweitüriges Portal ins Innere der Kirche. Ihre Schritte hallten von den bunt bemalten Wänden wider, als sie den direkten Weg zum Allerheiligsten nahmen, das jeder Ordensbruder kannte, auch wenn er noch nie hier gewesen war.
Beinahe gierig sog Arnaud den Duft des Weihrauchs ein, der in schwingenden Kesseln unter der riesigen Kuppel verteilt wurde und dessen Schwaden hinauf zu einem offenen Rundkreis zogen, durch den man bei Nacht die Sterne sehen konnte und bei Tag die Sonnenstrahlen, die wie himmlische Speere auf den Altar herabfielen. Im Zwielicht der brennenden Kerzen kniete er an Geros Seite am Grab Jesu nieder.
Im Hintergrund sang ein gregorianischer Chor mit sonoren Stimmen einen Psalm.
Arnaud glaubte zu spüren, wie ihn die Kraft dieses Platzes durchströmte und ihm Jesus samt seiner Mutter erschien. Mit diesen beiden an seiner Seite würde er jede Hürde zu nehmen wissen.
Gero betete zunächst für Hannah und dann für Matthäus, auf dass es ihnen gut erging. Erst dann bat er um Erleuchtung, was den Kelch betraf, die ihm weit wichtiger erschien als das Auffinden der beiden Frauen. Als er die Hände vom Gesicht nahm und sich erhob, stand Arnaud neben ihm. Ohne sich zu bekreuzigen, gingen sie gemeinsam in den Abend hinaus.
Die Wachen, die sie am schönen Tor empfingen, hatten einen seltsam distanzierten Ausdruck in den Augen, als sie Gero die Losung aufsagen ließen, um Einlass zu erlangen. Arnaud schob das Flackern in ihren Pupillen auf das Feuer, das in Eisenkörben neben dem Eingangsportal loderte. Dabei stellte er sich die Frage, ob es ein Willkommensdienst sein sollte, dass sie die Treppe hinauf zu al-Aqsa von zwei weiteren Brüdern mit Fackeln begleitet wurden.
Einer von ihnen hatte einen Bluthund an der Leine, der einen Maulkorb aus einem mit Leder umhüllten Stahlgeflecht trug und unentwegt |375|knurrende Laute von sich gab. Niemand sprach ein Wort, was unter Ordensbrüdern nicht ungewöhnlich erschien. Trotzdem konnte auch Gero die Spannung zwischen ihnen und den beiden anderen Brüdern beinahe körperlich spüren.
Oben angekommen, gesellten sich im Halbdunkel immer mehr uniformierte Gestalten hinzu, und Gero wurde das Gefühl nicht los, dass man sie einkreiste. Unwillkürlich griff er zu seiner Waffe, obwohl es ihm absurd erschien, gegen die eigenen Brüder zu kämpfen. Arnaud hatte seine Schritte verlangsamt und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Dass hier etwas nicht stimmte, sah sogar jemand, der gründlich geblendet worden war.
Sein Verdacht bestätigte sich, als sie auf einen Schlag von zwölf Fackelträgern umringt wurden, die sie zum Ablegen ihrer Waffen aufforderten.
Mit einem singenden Metallgeräusch zog Gero seinen Anderthalbhänder aus der Scheide und sah sich kampflustig um. Arnaud stand mit dem Rücken zu ihm, sein Schwert mit beiden Händen gefasst, und während sie sich langsam Schritt für Schritt um die eigene Achse bewegten, mussten sie erkennen, dass man ihnen eine Falle gestellt hatte.
»Gebt auf!«, rief eine schneidende Stimme aus dem Dunkel. »Eure Brüder sitzen bereits im Kerker.«
»Nicht, bevor man uns sagt, was man uns vorwirft!« Geros dunkle Stimme signalisierte Entschlossenheit.
»Auf Eurem Weg hierher habt Ihr ein jüdisches Dorf überfallen, alle Einwohner getötet und ein ganzes Bataillon Templer, das ihnen zur Hilfe eilen wollte, in den Tod geschickt. Außerdem seid Ihr mit dem Teufel im Bunde, weil Ihr eine seltsame Waffe mit Euch geführt habt, die Ihr nur vom Satan empfangen haben könnt. Das sollte ausreichen, um Euch am Sonntag im Kapitel zum Tode zu verurteilen.«
Verdammt, dachte Arnaud, irgendjemand wusste um das, was in der Nähe von Bethanien geschehen war. Doch wie war es zu Tage gekommen? Vielleicht hatten die Ordensschwestern von Sankt Lazarus den Templern von ihrem plötzlichen Auftauchen berichtet. Oder die beiden Jüdinnen, die ihnen ihre Rettung verdankten, hatten sie entgegen aller Beteuerungen verraten. Oder die beiden Geflüchteten waren zurückgekehrt und hatten sie erkannt.
»Wir sind unschuldig«, erklärte Gero mit Nachdruck in der Stimme. |376|»Und das wisst Ihr selbst am besten. Wenn Ihr uns also verurteilen wollt, müsst Ihr es zunächst mit uns aufnehmen. Wir werden uns nicht freiwillig für etwas ergeben, was wir nicht zu verantworten haben.«
Der offensichtliche Anführer der Templer trat vor. Im Schein der Fackel kam ein grobschlächtiges Gesicht mit einem rötlichblonden Bart zu Tage. »Ergreift sie!«, rief er mit sich überschlagender Stimme. Sofort stürzten sich zehn Ritterbrüder auf Gero und Arnaud, um sie in Ketten zu legen. Die Klingen der Männer blitzten im Schein des Feuers auf. Stahl prallte auf Stahl. Gero und Arnauds Bewegungen kamen beinahe synchron, als sie nach allen Seiten ausschlugen. Ihre Waffen waren dank Hertzbergs Einsatz stabiler und weitaus flexibler als die ihrer Gegner. Seine Hoffnung, dass wenigstens einer von ihnen beiden fliehen konnte, stieg, als ein paar Klingen der Angreifer unter seinen Hieben zu Bruch gingen.
Während Gero eine Attacke nach der anderen abwehrte, gab er Arnaud kurze Anweisungen. »Sieh zu, dass du verschwindest«, rief er ihm zu und wirbelte herum, dabei zerteilte er einem seiner Gegner mit einem Streich den Kettenhandschuh. Blut spritzte, und um Haaresbreite hätte es Gero in der Flanke erwischt, weil ein anderer Ritterbruder seine Unaufmerksamkeit zu nutzen wusste, doch er rollte sich im letzten Moment zur Seite, so dass die Klinge des Gegners lediglich sein Kettenhemd streifte.
Arnaud war es inzwischen vollkommen gleichgültig, ob er Tote zurückließ, so verzweifelt fühlte er sich in die Enge getrieben. Wie ein Berserker drosch er auf seine Gegner ein und hielt sie damit auf Abstand. Zug um Zug versuchte er sich der Westmauer zu nähern, der einzigen Stelle, die einen Ausweg versprach. Die Angreifer ahnten, was er vorhatte, und setzten zu einer weiteren Attacke an, indem sich der Kreis der Schwertkämpfer öffnete und einige Lanzenträger herbeigeeilt kamen. Arnaud sprang aus dem Stand auf einen hüfthohen Mauervorsprung, von wo aus er sich besser zu verteidigen glaubte, doch damit hatte er Gero den Rückhalt genommen, und im Nu war sein deutscher Bruder von Lanzen umzingelt, die ihn wie einen wilden Eber abzustechen drohten.
Mit einem Blick erkannte Arnaud, wie aussichtslos ihre Situation geworden war. Todesmutig steckte er seine Waffe zurück in die Scheide und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den nächsthöheren Wall, wo |377|er sich an einem hervorstehenden Balken festhielt und geschickt daran emporhangelte. Unter ihm brach derweil das Chaos aus. Man hatte die Bluthunde von der Leine gelassen, und nun sprangen sie wie von Sinnen in die Höhe und schnappten nach Arnauds freihängenden Stiefelspitzen. Es gelang ihm, sich auf das Dach der Kapelle hochzuziehen. Sein Herz hämmerte wie wild, als er von oben auf die keifenden Bestien blickte, doch die Tiere waren zu schwer und zu ungelenk, um wie Katzen auf die Dächer zu springen.
Unzählige Stimmen brüllten aufgebracht durcheinander. »Schnappt ihn euch endlich! Lasst ihn nicht entkommen! Besser tot als lebendig!«, schallte es ihm hinterher. Im Hintergrund tauchten zwei Turkopolen auf und spannten ihre Bögen. Bogenschützen hatten ihm gerade noch gefehlt.
Arnaud kam auf die Füße und rannte über die wackligen Tonschindeln zum Ende der Westmauer hin. Mit ausgestreckten Armen balancierte er einen Moment auf der Mauerkrone, während die Turkopolen aus dem Stand auf ihn zielten. Panisch suchte er nach einem Ausweg. Unter ihm gähnte ein mindestens fünfzehn Meter tiefer Abgrund. Einen Moment stockte er, doch als der erste Pfeil haarscharf an ihm vorübersauste, sah er inmitten des tobenden Mobs Gero, der halb niedergerungen am Boden verharrte. »Spring endlich!«, brüllte der ihm atemlos zu. »Du musst es zum Treffpunkt schaffen!«
Arnaud wusste, was Gero damit meinte. Es kam einer Kapitulation gleich. Er sollte zurückkehren, dorthin, wo Tom sie mit seinem Timeserver in zwei Tagen abholen wollte. Aber was dann? Sollte er etwa bei Lafour eine neuzeitliche Armee anfordern, die ihn in diese Zeit begleiten würde und ihm half, Gero und seine Kameraden zu befreien? Fieberhaft versuchte Arnaud seine Gedanken zu ordnen. »Na und?«, sagte er zu sich selbst. »Wenn es die einzige Möglichkeit ist, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen, soll es eben so sein.« Ein zweiter Pfeil sauste an ihm vorbei, so knapp, dass er den Luftzug an seiner Nase hatte spüren können.
»Heilige Maria Muttergottes, verleihe mir Flügel«, betete er stumm und stürzte sich mit leicht angewinkelten Knien ins scheinbare Nichts. Dass ihm die Muttergottes keine Flügel beschert hatte, bemerkte er spätestens, als er ungebremst durch das nächstbeste Strohdach raste und mit seinem rechten Oberschenkel auf einen morschen Holzbalken |378|prallte, der gnädigerweise nachgab, statt ihm den Knochen zu zerschmettern.
Unvermittelt blickte er in die erschrockenen Augen eines zahnlosen Sarazenen. Geistesgegenwärtig rappelte sich Arnaud auf die Beine und stürmte im spärlichen Schein eines flackernden Öllichts zur einzigen Tür. Dabei stolperte er über einen dreibeinigen Schemel, stieß Krüge und Töpfe zur Seite und gelangte, nachdem er das hölzerne Portal aufgerissen hatte, in eine enge, menschenleere Gasse. Hastig schaute er nach allen Seiten. Über ihm erklang ein Signalhorn, und auf den Zinnen der Westmauer erschienen zahlreiche Fackelträger, die nach ihm Ausschau hielten. Es würde nicht lange dauern, bis die Templer hier unten auftauchen und nach ihm suchen würden. Soweit er wusste, lebten an diesem ärmlichen Ort ausschließlich Sarazenen, die in den Diensten der Christen standen und weder über Vermögen noch über Bürgerrechte verfügten. Arnaud konnte sich denken, dass er kaum Chancen hatte, unversehrt aus diesem Schlamassel herauszukommen. Erst jetzt dämmerte ihm, was die Anschuldigungen, die man ihnen im Hauptquartier entgegengeschleudert hatte, bedeuteten. Die Ordensleitung hatte den Spieß einfach umgedreht. Bevor Gero und seine Männer auf die Idee kommen konnten, ihre grausame Entdeckung in der Wüste publik zu machen, beschuldigte man sie kurzerhand, die Tat selbst begangen zu haben.
Vielleicht war es sogar André de Montbard, der ein solches Verhalten deckte und – vielleicht war er es, der sie am Ende verraten hatte, weil er Gero und seine Mitstreiter als Gefahr für seine Interessen empfand.
Schlagartig wurde Arnaud bewusst, wie blauäugig sie an die Geschichte herangegangen waren und dass auch ihre Auftraggeber bei der Suche nach den Frauen keine größeren Schwierigkeiten einkalkuliert hatten, weil der Zeitraum bis zu ihrer eventuellen Rückreise im Verhältnis zu den hier herrschenden Bedingungen äußerst kurz gefasst worden war. Was, wenn es den Frauen aus der Zukunft ähnlich ergangen war wie ihnen selbst, nachdem sie im Jahr 2004 gestrandet waren und von den Amerikanern regelrecht versklavt worden waren? Vielleicht hatte man sie irgendwo in einem finsteren Loch verschwinden lassen, damit niemand ihr Wissen und ihre Fähigkeiten nutzen konnte. Kein Wunder, wenn Montbard angesichts eines solchen Vorgehens nicht darüber sprechen wollte, wo die Frauen zu finden waren.
|379|Plötzlich huschte eine verhüllte Gestalt in gut zwanzig Fuß Entfernung über die Gasse und verschwand wie eine entfliehende Küchenschabe hinter einer hölzernen Tür. Das Geräusch herannahender Stiefel gab Arnaud den Impuls, ihr zu folgen. Als er die Tür öffnen wollte, verspürte er einen Widerstand, weil von innen jemand dagegenhielt. Arnaud stemmte sich mit der Schulter gegen das Holz, bis es nachgab. Im Innern der Hütte stieß er auf eine schwarz verschleierte Frau, deren aufgerissene Augen ihn im rotglühenden Licht eines Ofenfeuers panisch anstarrten. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als sie Arnauds Templerchlamys und die Waffen an seinem Gürtel erblickte. Arnaud überlegte nicht lange, er schloss die Tür und packte das Weib. Seine schwielige Hand legte sich über ihren Mund und brachte sie augenblicklich zum Schweigen.
»Zieh deinen Jilbab aus«, raunte er ihr auf Arabisch zu.
Plötzlich stand eine viel kleinere Gestalt vor ihm, mit dämonischem Blick und erhobenem Krummsäbel und starrte ihn bösartig an.
»Im Namen des Dschihad, du elender Christ. Lass sofort meine Schwester los, oder ich werde dich töten!« Das schwarzgelockte Kerlchen erinnerte Arnaud an sich selbst, wie er etwa im Alter von acht Jahren ausgesehen hatte. Arnaud, der die Frau mit nur einem Arm umklammert vor sich hielt, zückte seinen Anderthalbhänder und hielt ihn dem Jungen entgegen. »Und jetzt, du Rebell? Was machst du jetzt? Sag bloß, du willst mit mir kämpfen?«
Unsicherheit keimte im Blick des Jungen auf, während die Frau in Arnauds Armen zu wimmern begann. »Ich bitte Euch, mein Bruder ist noch ein Kind, und Ihr seid ein Ordensritter, der vor Gott und all seinen Heiligen ein Gelübde abgelegt hat! In Allahs Namen, was wollt Ihr von uns?«
»Ich bin kein Ordensritter«, log Arnaud in perfektem Arabisch. »Ich sehe vielleicht so aus, aber in Wahrheit bin ich ein fatimidischer Spion, der von Templern verfolgt dringend Eure Hilfe benötigt.«
»Was soll ich tun?«, wisperte die Frau, immer noch am ganzen Körper zitternd.
Arnaud steckte sein Schwert in die Scheide, wobei er den Jungen im Blick behielt, und lockerte ein wenig den Griff, damit die Frau durchatmen konnte.
»Allah ist groß und erhaben, ich bin ganz gewiss nicht hier, um dich |380|zu entehren«, versuchte er sie zu beruhigen. »Gib mir deinen Jilbab, damit ich die Stadt unerkannt als muslimische Frau verlassen kann, und ich werde dich reichlich entlohnen.«
»Samira, glaub ihm kein Wort!«, schleuderte ihm ihr kleiner Bruder entgegen. »Er ist ein Templer. Er will dich auf die Probe stellen.«
Arnaud löste seinen Griff und entließ die Frau zum Beweis seiner ehrlichen Absichten in die Freiheit, dabei schaute er ihr tief in die Augen und setzte sein charmantestes Lächeln auf.
»Ich bitte Euch«, flüsterte er. »Allah ist mein Zeuge, und mit ihm all seine Propheten, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe. Wenn die Ordensbrüder mich schnappen, bin ich ein toter Mann. Mein Leben liegt also in deiner Hand.«
»Jusuf, nimm den Säbel herunter!«, befahl sie dem Jungen, der sofort tat, was sie verlangte, auch wenn sein Blick auf Arnaud weiterhin höchst argwöhnisch blieb.
Wortlos schälte sich die Frau aus ihrem schwarzen Umhang. Darunter kam ihr hüftlanges, blauschwarzes Haar zum Vorschein und ein bodenlanges, türkisfarbenes Seidengewand, das ihren biegsamen Körper betonte. Arnaud staunte nicht schlecht, als er realisierte, wie unglaublich jung und gleichzeitig hübsch sie war.
»Nehmt ihn« sagte sie und drückte ihm das zusammengelegte Stück Stoff in die Hand. »Ich will nicht die Schuld daran tragen, dass man Euch hängt.«
Arnaud zückte aus seinem Lederbeutel einen Goldbyzantiner, von dem sie sich gut zwanzig solcher Gewänder schneidern lassen konnte. Sie vollführte mit der Rechten eine abwehrende Geste, aber der Kleine war schneller und schnappte sich die Münze. Fachmännisch biss er auf den Rand, um den Goldgehalt zu prüfen. »Die ist wirklich echt!«, frohlockte er.
»Gib ihm das Geld zurück«, rief die Frau. »Denkst du, ich will, dass der Orden es bei uns findet. Vielleicht hat er es gestohlen?«
»Es ist nicht gestohlen«, bekundete Arnaud mit beleidigtem Blick, während er versuchte, sich in den schwarzen Jilbab zu wickeln. »Und ihr bekommt noch eine, wenn Ihr mir etwas Proviant überlasst und mir den sichersten Weg hinaus aus der Stadt aufzeigt.«
Samira betrachtete ihn amüsiert. »Du siehst aus wie eine zu groß geratene Raupe in einem Seidenkokon.«
|381|Arnaud hatte den Jilbab viel zu straff um seine Uniform gezogen. Das Gewand saß nicht nur zu knapp, sondern war auch zu kurz. Seine derben Lederstiefel schauten bis zu den Waden heraus und hatten nichts von den feinen Seidenpantöffelchen so mancher sarazenischen Schönheit. Samira seufzte und nahm ein ähnlich aussehendes Kleidungsstück von einem Haken. Es war länger und wesentlich weiter geschnitten. »Das ist der Jilbab meiner Mutter«, erklärte sie mit belegter Stimme. »Sie ist vor ein paar Wochen von uns gegangen, Allah möge ihr den Weg ins Paradies weisen und Fatima an ihrer Seite sein.
«Das kann ich nicht annehmen«, erwiderte Arnaud, der sich denken konnte, wie sehr sie an dieser Erinnerung hing.
«Doch, du musst, wenn du leben willst.« Ihr Blick ließ keinen Zweifel zu, und mit einer gebieterischen Geste forderte sie ihn auf, das viel größere Kleidungsstück so anzulegen, damit die Templerchlamys samt seinen Stiefeln unter dem Stoff verschwand. Selbst von seinen Waffen war nichts mehr zu erahnen. Nicht einmal Arnauds kurzgeschorener Bart war zu sehen, nachdem sie ihm den schwarzen Gesichtsschleier mit einer Schnur hinter den Ohren befestigt und ihm den Kopfschleier darüber mit Haarnadeln festgesteckt hatte. Nur seine braunen Augen leuchteten heraus.
»Setz dich!«, befahl sie und dirigierte Arnaud auf einen Hocker. Kaum, dass er saß, umrandete sie seine Lider mit schwarzem Khol, was ihm die Tränen in die Augen trieb. Als er sie wegwischen wollte, fing sie sein Handgelenk ab und hielt es fest. »Du darfst den Khol nicht verreiben, sonst sieht es zum Fürchten aus. Du hast wunderschöne Augen«, bemerkte sie lächelnd und wischte mit dem Zeigefinger ein paar verlaufene Stellen hinweg, » und Wimpern wie ein Mädchen. Mit einer solchen Maskerade wird niemand ahnen, dass du in Wahrheit ein Mann bist. Aber denk daran, deinen Blick zu senken, sobald dich ein Kerl anschaut, ansonsten könnte er es als ein Angebot verstehen und dir zu nahe treten.«
Im nächsten Moment krachte es, und die Tür flog auf. »Im Namen des Königs!« Zwei Stadtwachen standen im Rahmen und ließen ihre ungehaltenen Blicke durch die kleine Hütte schweifen, die nur einen einzigen Raum besaß. Samira und Arnaud zuckten zusammen. Instinktiv klammerte sie sich mit beiden Armen an Arnauds breite Schultern und schützte mit ihrem Kopf sein Gesicht.
|382|»Habt ihr einen schwarzbärtigen Templer gesehen, der sich auf der Flucht befindet?«, rief der größere der beiden Soldaten. »Er ist bewaffnet und ziemlich gefährlich.«
»Nein«, stieß Samira mit ängstlicher Stimme hervor, und auch Arnaud schüttelte unter seiner schwarzen Verkleidung hastig den Kopf.
Die Männer sahen sich weiter in der Hütte um und entdeckten Jussuf, der sich hinter Samira und Arnaud versteckte, wie ein Lämmchen, das Schutz bei seiner Herde sucht. »Und du?«, fragten sie barsch.
»Nein«, sagte der Junge und kam zögernd hervor. Dabei schlotterte er so überzeugend, dass die beiden Wachleute unmöglich auf die Idee kommen konnten, dass er sie anlog.
»Meldet es den Spähern des Stadtkommandanten, sobald ihr etwas Verdächtiges feststellt!«
Samira nickte eifrig und schloss die Tür, nachdem die beiden Soldaten kehrtgemacht hatten.
Arnaud stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Allah wird dir für deine Güte einen Platz im Paradies frei halten.« Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie vor lauter Dankbarkeit geküsst. Doch er hatte ihre Geduld und ihr Entgegenkommen schon genug strapaziert.
»Solange mir dort keine falschen Templer in Frauenkleidung begegnen«, spöttelte sie, »bin ich einverstanden.«
Jussuf führte Arnaud im Dunkeln durch die engen Gassen zu einem nicht weit entfernten Kamelhändler. Der schmierig aussehende Kerl war bereit, ihnen für einen Goldbyzantiner eine junge Stute samt Sattel für die nächsten Tage zu vermieten. Auf die Frage, wo der Junge so viel Geld herhatte, erklärte Jussuf recht überzeugend, Arnaud sei seine vermögende Tante, die anlässlich der Beerdigung seiner Mutter auf Besuch gekommen sei und die er nun ins benachbarte Dorf zurückbringen müsse, damit sie sich dort einer Karawane nach Damaskus anschließen könne. Ohne Eile entfernten sich die beiden mit dem Kamel, und erst als sie außer Reichweite des Händlers waren, legten sie an Geschwindigkeit zu, um über verschlungene Wege zum südlich gelegenen Zionstor zu gelangen.
Arnaud hatte Mühe, nicht über den Jilbab zu stolpern.
»Bei Allah!«, herrschte Jussuf ihn an, als sie sich den Stadtwachen näherten. »Halte deine Füße bedeckt und senke den Blick, sonst wird |383|noch einer der Kerle auf dich aufmerksam, und wir landen gemeinsam in der Hölle!«
Beim Läuten der Nachtglocke, die um zehn vom Heiligen Grab über die ganze Stadt hinweg zu hören war, würden alle Tore der Stadt zur selben Zeit geschlossen werden. Dann konnte man Jerusalem nur noch mit einer Sondergenehmigung betreten oder verlassen. Viel Zeit blieb ihnen also nicht, Arnaud in die Freiheit zu bringen. In den Straßen waren inzwischen etliche Soldaten aufgezogen, die wahllos Passanten kontrollierten, ohne zu erklären, dass sie nach einem Templer fahndeten. Allem Anschein nach hatte man sich darauf besonnen, das Ansehen der weißgewandeten Ordensbrüder nicht unnötig in den Schmutz zu ziehen.
Als Jussuf und Arnaud mit dem Kamel zum Tor hinausziehen wollten, wurden sie von einem Wachsoldaten angehalten. »Wo soll’s denn hingehen?«, fragte der Soldat und fixierte nicht nur die etwas zu groß geratene, verschleierte Frau, sondern auch das gesattelte Kamel.
Jussuf nannte den Namen eines südlich gelegenen Berberlagers. Als sich der Soldat Arnaud zuwandte, um ihn nach seinem Namen zu fragen, kam ihm Jussuf zuvor. »Meine Tante ist seit dem Tod ihres Ehemannes taub und stumm. Verzeiht ihr, wenn sie nicht antworten kann. Ich werde es gerne an ihrer Stelle tun.«
Arnaud hielt den Blick die ganze Zeit über sittsam gesenkt, wie Jussuf es ihm befohlen hatte.
Während es hinter ihnen immer lauter wurde, schüttelte der Wachhabende ungeduldig den Kopf. »Macht euch davon!«, grummelte er und gab ihnen mit einem Wink zu verstehen, dass sie entlassen waren.
Arnaud atmete erleichtert auf, als sie sich endlich ein Stück weit jenseits der Stadtmauern befanden.
Ein kühlender Nachtwind fuhr ihm durchs Gewand. Außer Sichtweite der Wachen fasste Arnaud unter den seidenen Umhang und gab dem Jungen zwei weitere Münzen. »Sag deiner Schwester, sie ist ein Juwel!«
Im Schein der Fackel setzte Jussuf ein diabolisches Grinsen auf. »Sag es ihr selbst, wenn du eines Tages in diese Stadt zurückkehrst und die Christen zum Teufel jagst!«
Arnaud konnte sich denken, wie die Zukunft des Jungen verlaufen würde, sobald er das Alter hatte, sich einem fatimidischen Heer anzuschließen.
|384|»Du wirst sicher einmal ein tapferer Soldat«, sagte er und klopfte dem Jungen zum Abschied anerkennend auf die Schulter.
Obwohl Arnaud keinerlei Erfahrung im Reiten von Kamelen besaß, kam er erstaunlich gut voran. Es würde knapp zwei Tage dauern, bis Tom den ersten Rückholversuch startete. Arnaud gingen die wildesten Gedanken durch den Kopf, während ihn sein Kamel durch die mondhelle Wüstenlandschaft wiegte. Er wusste, zu welchen Gräueltaten sein eigener Orden fähig war, und hoffte, dass seine Brüder durchhalten würden, bis er deren Rettung organisiert hatte.
Arnaud orientierte sich an den Sternen. Seit Gero ihre genaue Position berechnet hatte, war es für ihn kein Problem zu wissen, wo er sich genau befand. Bethanien und das Kloster der schönen Frauen, wie er für sich Sankt Lazarus nannte, ließ er links liegen. Von dort aus war das Übel wahrscheinlich gekommen, und er würde nicht den Fehler begehen, noch mal dort anzuklopfen, damit man ihn kurze Zeit später an Montbard und seine Verbündeten auslieferte.
Beinahe lautlos erreichte er gegen Morgen sein Ziel. Schon von weitem sah er die Dattelpalme mit dem eingeritzten Kreuz. Jetzt musste er nur noch eine Nacht und zwei Tage warten, dann würde Tom ihn in die Zukunft zurückholen.
Arnaud band das Kamel an den Stamm und setzte sich zu seinen Füßen. In der Hast hatte er vergessen, Wasser zu kaufen, und so blieb ihm nur die kleine Flasche, die ihm Samira mit auf den Weg gegeben hatte.
Er nahm einen Schluck und gab auch der Kamelstute etwas zu trinken. Der Wind blähte seinen Jilbab auf, in dem er sich auf eine seltsame Weise geborgen fühlte. Als der Morgen anbrach, dachte er an Hannah, Freya und Amelie und was sie wohl dazu sagen würden, wenn er solch schlechte Nachrichten überbrachte. Den Tag über verkroch er sich hinter einem halbhohen Dornenstrauch vor der sengenden Hitze und auch vor möglichen Reisenden, die ihm Fragen stellen konnten. Doch in dieser Einöde ließ sich niemand freiwillig blicken.
In der darauffolgenden Nacht hallten unheimliche Tierlaute durch die Ebene. Vorsichtshalber entzündete Arnaud ein Feuer, das ihn wärmte, aber nicht tröstete. Der Gedanke, als Einziger in die Zukunft zurückkehren zu müssen und dabei seine Freunde einem ungewissen Schicksal zu überlassen, machte ihn halb wahnsinnig.
|385|Daran änderte auch der beeindruckende Sternenhimmel nichts, der über ihm aufgezogen war. Lediglich die leuchtend helle Mondsichel erinnerte ihn an die Muttergottes, die darauf bei manchen Heiligendarstellungen balancierte. In seiner Verzweiflung begann er wieder zu beten. Stunde um Stunde wechselten das Ave-Maria mit dem Vaterunser. Die Zeit verrann in unerträglicher Langsamkeit, und der Tag wechselte erneut zur Nacht. Arnaud versuchte möglichst nicht einzuschlafen, weil er nicht wissen konnte, ob ihm Ordensritter und Stadtsoldaten nicht doch auf die Spur gekommen waren. Jedoch als eigentlicher Feind entpuppte sich seine zunehmende Mutlosigkeit, die immer stärker wurde, als zum vereinbarten Zeitpunkt kein Zeichen von Toms Teufelsmaschine zu entdecken war. Seine Zunge klebte am Gaumen, weil ihm das Wasser inzwischen ausgegangen war.
Bei Anbruch der Dunkelheit beschloss Arnaud, noch eine weitere Nacht in dieser Einöde zu verbringen, auch wenn er kaum noch Hoffnung hatte und fast umkam vor Durst. Die Kamelstute schien den Wassermangel nicht im Geringsten zu spüren, sie knabberte munter an dem trockenen Dornenbusch. Arnaud tätschelte, von Müdigkeit gezeichnet, ihren Hals, dabei spürte er unter dem Fell das sanfte Pulsieren ihres Blutes. Wie in Trance zog er sein Messer und schabte die kurzen, braunen Härchen an ihrem gebogenen Hals ein wenig ab und ritzte die schwach darunter hervorstehende Ader nach einer alten Ordensempfehlung. Das Tier zuckte ein wenig, beruhigte sich dann jedoch wieder, als Arnaud gierig das herausrinnende Blut zu lecken begann. Es schmeckte warm und metallisch.
Als der Strom langsam versiegte, strich er mit der flachen Hand über die Wunde und dankte dem Tier mit ein paar beschwichtigenden Worten für seine Großzügigkeit. Vollkommen erschöpft setzte er sich an seinen angestammten Platz unter die Palme und betete noch inbrünstiger als in den Tagen zuvor, dass endlich etwas geschehen möge. Vor seinem geistigen Auge manifestierte sich der türkisfarbene Nebel, der ihn an jenen Ort zurückbringen würde, der ihm einzig Rettung versprach. Aber als er sich mühsam erhob, um ihn zu berühren, musste er sich eingestehen, dass ihm sein Geist einen bösen Streich gespielt hatte.
Ein dumpfes, grollendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Leider war es nicht Toms Maschine, die ihn erlöste, sondern das Fauchen eines wilden Tieres, das auch sein Kamel in Unruhe versetzte. Sofort |386|war Arnaud hellwach und sprang auf die Füße. Er zog sein Schwert und musterte aufmerksam seine Umgebung. Das Feuer war beinahe heruntergebrannt. Die unklare Situation ließ es ratsam erscheinen, mehr Holz aufzulegen und einen Stecken in eine brennende Fackel umzufunktionieren. Währenddessen riss die Kamelstute wie von Sinnen an ihren Stricken. Arnaud registrierte zwei umherlaufende Schatten, die nicht nur sein Kamel in Panik versetzten, sondern auch ihn selbst. Löwen! Es waren zwei – mindestens –, und sie besaßen ein buschiges, braungoldenes Fell. Er hatte schon einiges über die Löwen von Judäa gehört, sich aber nie vorstellen können, dass sie so gewaltig sein würden. Die beiden Löwen begannen ihre Kreise um ihn und das Kamel immer enger zu ziehen. Ihre knurrenden Laute ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie ebenso hungrig waren wie er selbst. Wobei diese Bestien bestimmt keinen Unterschied zwischen Kamelfleisch und Menschenfleisch machen würden, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu bot.
Arnaud hatte noch nie gegen ein Tier gekämpft. Gewiss waren ihm in seiner Heimat Wölfe und Bären begegnet, aber entweder hatten er und seine Kameraden sie mit Lanzen und Steinschleudern verscheuchen können, oder sie hatten sie mit einer Armbrust erlegt.
Doch diesmal würde der Kampf ein anderer sein, weil er allein war und außer einem vier Fuß langen Schwert und einem Dolch nichts besaß, womit er sich hätte verteidigen können. In einer Hand den Anderthalbhänder, in der anderen einen brennenden Stock, stellte sich Arnaud vor die Kamelstute, die zu spüren schien, dass er sie schützen wollte. Doch die Löwen zeigten sich wenig beeindruckt. Inzwischen war das Knurren in ein bedrohliches Brüllen übergegangen, und plötzlich konnte Arnaud den größeren sehen, wie er geduckt vor ihm saß und fauchend sein Maul aufriss. Sein verstorbener Komtur Henri d’Our hatte nicht untertrieben, wenn er ihnen des Öfteren von seinen seltenen Begegnungen mit dieser Art von Dämonen berichtet hatte, denen es angeblich nichts ausmachte, einen Ritter samt Rüstung zu verschlingen. Unter den rosigen Lefzen des Löwen blitzten elfenbeinfarbene Dolche, die darauf brannten, sich in Muskeln, Knochen und Sehnen eines Opfers zu bohren.
Arnaud nahm all seinen Mut zusammen und streckte der Bestie die Schwertspitze entgegen. Aber der Löwe hatte augenscheinlich Blut gewittert. |387|Er setzte zu einem Sprung an. Arnaud duckte sich, um den ausgefahrenen Krallen zu entgehen. Als die monströse Katze direkt über ihm war, rammte er seine Klinge tief in ihren Leib hinein. Warmes Blut regnete auf ihn herab, und es stank übel nach fauligen Verdauungssäften. Das Tier überschlug sich hinter ihm und brüllte vor Wut. Mit seinen Tatzen hatte es im Fallen Arnauds linke Hand gestreift und ihn ins Straucheln gebracht. Er fiel auf die Knie, versuchte aber schnell wieder auf die Beine zu gelangen. Dabei ignorierte er die tiefe Fleischwunde auf seinem Handrücken. Er machte einen Satz nach vorn und stach wie von Sinnen auf den im Todeskampf strampelnden Löwen ein, bis dieser alle vier Tatzen von sich streckte und leblos liegen blieb.
Arnaud war im Eifer des Gefechts die Fackel in den Sand gefallen, und er betete zu Gott, dass es ihm gelang, sie in den spärlichen Flammen des Lagerfeuers abermals zu entzünden.
Aus den Augenwinkeln erspähte er, wie der zweite Löwe in einiger Entfernung lauernd zum Sprung auf die völlig verängstigte Kamelstute ansetzte. Die Raubkatze schlug ihr die Krallen in die Flanken und biss sich in ihrem schmalen Hinterteil fest. Das Kamel bäumte sich auf vor Schmerz und versuchte vergeblich zu entkommen. Arnaud sprang herbei und stach auf den Rücken des Löwen ein. Es überraschte ihn, als er mit einem wütenden Fauchen sogleich von der Stute abließ, herumschnellte und ihm seitlich entwischte. Einen Moment lang verlor Arnaud im Halbdunkel die Orientierung. Keuchend vor Anstrengung und am ganzen Körper zitternd, taumelte er zum Feuer, um mehr Holz aufzulegen. Der Löwe war immer noch in der Nähe, und es blieb abzuwarten, ob Arnaud ihn schwer genug verletzt hatte.
Plötzlich wurde es hell. Türkisfarbenes Licht flammte auf. Gebannt starrte Arnaud auf den Schein, der sich ein paar Schritte vor ihm zu einer kleinen, metallischen Kiste formte und dann zu seiner großen Enttäuschung wieder erlosch.
Mit rasendem Herz näherte sich Arnaud dem aus dem Nichts aufgetauchten Gegenstand, und obwohl er ahnte, dass es nur eine Botschaft seiner Auftraggeber sein konnte, dauerte es eine ganze Weile, bis er sich überwand, die Kiste zu öffnen. Darin lag ein Papier – keine Pistole, wie er sie im Augenblick so dringend hätte gebrauchen können. Mit zitternden Händen nahm er das Papier, bemüht darum, den Text nicht mit Blut zu beschmutzen. Darauf stand eine Botschaft.
|388|Paul, schoss es ihm spontan in den Sinn.
Warum hatte man ihn nicht zurückgeholt, sondern nur eine Nachricht übersandt? Als er sich hinunterbückte und die Glut des Feuers mit einem trockenen Ast befeuerte, um die Botschaft besser entziffern zu können, ließ ihn ein Lufthauch hochfahren. Ein plötzlicher Aufprall hob ihn regelrecht von den Füßen. Der Löwe hatte ihn aus dem Dunkeln angesprungen. Arnaud landete auf dem Bauch und versuchte sogleich, seinen Dolch zu ziehen und sich zu drehen, was dazu führte, dass das Raubtier sich nicht in sein Genick verbiss, sondern in seiner linken Schulter. Trotz des Kettenhemdes rammten sich die spitzen Zähne bis auf die Knochen in sein Fleisch. Es gelang ihm noch, seinen Hirschfänger zu ziehen und sich mitsamt der gut eineinhalb Zentner schweren Katze auf die Seite zu rollen. Der Löwe rammte derweil seine Krallen in Arnauds rechten Arm und sein linkes Bein. Arnaud spürte kaum einen Schmerz, nur ein Gefühl warmer Nässe von dem Blut, das sich in seiner Hose ausbreitete. In blinder Panik, den Kampf zu verlieren, stach er zu. Wieder und wieder. Der Löwe schlug fauchend nach ihm. Verzweifelt wehrte Arnaud den Kopf des Tieres mit den bloßen Händen ab. Wie eine Sturmkugel rollte er mit der Katze herum, und für einen Moment verlor er die Orientierung für oben und unten. Arnaud stach weiter zu, ohne darauf zu achten, wo er die Bestie traf. Hauptsache, sie ließ von ihm ab. Ihm selbst erschien es wie eine Ewigkeit, bis es endlich still um ihn herum wurde und kein Muskel des Tieres mehr zuckte.
Mühsam richtete er sich auf. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, und er schwankte, dabei ahnte er, dass er eine Menge Blut verloren haben musste.
Samiras Jilbab hatte er gleich zu Beginn des Kampfes eingebüßt. Doch auch die Templerchlamys hing in Fetzen an seinem geschundenen Körper, über und über mit Blut besudelt. Er spürte, wie seine Knie nachgaben. Die Kamelstute blökte kläglich, und von irgendwoher sagte ihm eine Stimme, dass noch mehr wilde Tiere kommen würden, wenn sie all das Blut witterten. Nicht weit von ihm lag die Botschaft, blutig, schmutzig und nur mit Mühe zu entziffern. Doch er musste ihrer habhaft werden, um zu erfahren, warum man sie so jämmerlich im Stich gelassen hatte. Nun war er der Einzige, der seinen Kameraden zur Flucht verhelfen konnte.
|389|Als er sich, mühsam auf seine Waffe gestützt, aufrichtete, übermannte ihn das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Vor Schwäche halb ohnmächtig überwand er die wenigen Schritte, bis hin zu der Stelle, wo die Botschaft lag, hob sie auf und steckte sie an seinen Gürtel. Dann humpelte er zur Palme und band mit blutnassen Fingern die Zügel des Kamels vom Baum. Heiser und kaum hörbar gab er dem Tier den gleichen Befehl, den ihm sein Besitzer in der Karawanserei gegeben hatte. Trotz der Furcht, die der Stute immer noch in den Augen stand, und der Schmerzen, die ihr die klaffenden Wunden am Hinterteil bereiteten, gehorchte sie und ging auf die Knie.
Mit letzter Kraft kroch Arnaud auf ihren Rücken und trieb sie, nachdem sie sich mit ihm erhoben hatte, in die gleiche Richtung, aus der sie gekommen waren. Ihr Instinkt schien zu wissen, dass es endlich nach Hause ging. Völlig erschlafft hing er im Sattel, und seine Hände krallten sich wie von selbst in das Fell des Tieres, als es sich in Bewegung setzte. Der wiegende Schritt des Kamels tat sein Übriges, und Arnaud bemerkte nicht, wie er das Bewusstsein verlor.
»Zieh ihn aus!«, rief eine hektische Frauenstimme. Wie durch einen Nebel hindurch vernahm Arnaud die aufgeregten Anweisungen. »Wir müssen ihn mit kaltem Wasser waschen.« Jemand zerrte an seiner Kleidung, Stoff zerriss, und seine Muskeln krampften sich zusammen, als kaltes Wasser auf seinen nackten, von tiefen Wunden übersäten Körper traf. Unfähig, die Augen zu öffnen, spürte er, wie man ihn trocken rieb und verschiedene Stellen seines Körpers mit einem beißenden Alaunpulver bestreute, dann pressten zahlreiche Hände Stoff auf die schmerzenden Stellen und versahen ihn mit einem Verband.
»Bin gespannt, ob die Opiumdosis ausreichend ist«, meinte eine weibliche Stimme direkt über ihm. »Hier, Schwester Lyanna, halt das für mich. Einige Wunden sind zu groß, ich muss sie nähen, nachdem du sie mit Alkohol ausgewaschen hast. Aber erst musst du ihm noch etwas von dem Mohnsaft einflößen.«
Jemand führte einen metallischen Tubus zwischen seine Lippen bis in den Schlund. Er hätte würgen mögen, doch ihm fehlte selbst dafür die Kraft. Eine Flüssigkeit lief ihm in den Rachen, ohne dass Arnaud schlucken musste.
Nach dem Entfernen des Tubus pinselte jemand seinen Körper ein. |390|Es brannte fürchterlich. Anschließend spürte Arnaud jeden einzelnen Stich. Aber er konnte nicht schreien. Offenbar war er in einer Art Vorhölle gelandet, und man quälte ihn, weil er zu viel Schuld auf seine Seele geladen hatte, um direkt ins Paradies einzugehen. Herr, vergib mir meine Sünden, betete er und dachte an die vielen Widerworte, die er als Junge seiner Mutter gegeben hatte. Oder an das Fass mit teurem, rotem Wein, das er dem Küfer seines Vaters bis heute schuldig geblieben war und für dessen Verlust man den armen Mann anschließend ausgepeitscht hatte. Oder an Alix, eine hübsche Magd, die er als vierzehnjähriger Knabe mehrmals zur Fleischeslust verführt hatte – nicht irgendwo im Heu, sondern im Schlafgemach seiner Eltern. Außerdem dachte er an eine Reihe flüchtiger Liebschaften, denen er noch nach seinem Eintritt in den Orden gehuldigt hatte, kaum der Rede wert, aber immerhin hatte er gegen die heilige Regel verstoßen. Ein wenig Unsicherheit befiel ihn bei jenen Toten, die er im Kampf auf sein Gewissen geladen hatte.
Wahrscheinlich erhielt er nun die Rechnung für all seine Verfehlungen.
»Das hat doch keinen Sinn«, krächzte eine ältere Stimme. »Er wird sterben. Er wurde von einem Tier angefallen. Vielleicht war es ein Gepard oder ein Löwe. Der Speichel der Tiere wird sein restliches Blut vergiften. Außerdem hat er viel zu viel Blut verloren, um je wieder auf die Beine zu kommen.«
»Das werden wir sehen«, erwiderte eine weitere Stimme energisch.
»Schwester Lyanna, ich will, dass du ihm stündlich tiefroten Traubensaft einflößt und seine Verbände kontrollierst. Haben wir uns verstanden?«
»Natürlich, Äbtissin«, gab eine feste Stimme zurück.
Arnaud spürte noch, wie ihm jemand erneut den Tubus tief in den Rachen führte. Kurz darauf driftete er in eine andere Welt.
Flugzeuge, Autos, gigantische Schiffe tosten an ihm vorbei. C.A.P.U. T. stand in großen Lettern auf einem glatten, rechtwinkeligen Betongebäude geschrieben. Er sah Tom, wie er verzweifelt versuchte, die merkwürdige Maschine in Gang zu setzen, um ihn und die anderen zurückzuholen, aber es gelang ihm nicht. Aus dem durchscheinenden Frauenkopf schlugen Flammen, und Tom und seine Helfershelfer gingen in Deckung, als ein heller Blitz die gesamte Szenerie mit einem |391|gleißend blaugrünen Licht erfüllte. Caput 58, das Wort hallte in seinem Geist nach.
»Was redet der Kerl?« Eine wohlklingende, weibliche Stimme erhob sich neben ihm. Ihr Tonfall drückte Erstaunen aus.
»Ich kann mich täuschen«, sagte eine andere, ähnlich klingende Stimme. »Aber für mich hörte es sich tatsächlich so an wie Caput 58.« Die Frau schien überrascht, ganz so, als ob sie mit dem Begriff etwas anfangen konnte. »Es würde zu dem merkwürdigen Zettel passen, den du an seinem Gürtel gefunden hast.«
»Das bedeutet, er kennt unseren Server?« Das Erstaunen steigerte sich.
Obwohl er nichts außer dem Wort »Server« verstanden hatte, wurde Arnaud von der irrwitzigen Hoffnung ergriffen, dass die Rückreise mit der Höllenmaschine vielleicht doch geklappt hatte.
»Wo ist Tom?«, flüsterte er mit geschlossenen Augen. »Der Heiligen Jungfrau sei Dank … ich dachte schon, das blaue Licht hätte mich verfehlt. Es tut mir leid, wir haben … Frauen … nicht gefunden. Der Professor liegt verwundet im Hospital … und Gero und die anderen wurden einige …« Seine Stimme versagte.
»Lyn?« Die Stimme über ihm klang aufgeregt. » Hast du das gehört? Was will er damit sagen?«
»Keine Ahnung, er redet ganz bestimmt nicht das, was ich von einem schwer verletzten Templer erwarten würde. Warte!« Die Stimme hielt inne. »Ist das nicht der Kerl, den du vor ein paar Tagen in der Küche …«
»Ja, das ist er«, sagte die andere, und für einen Moment klang sie unsicher. Eine Hand berührte sein Gesicht und strich ihm zärtlich über die Wange. »Wir müssen sein Leben retten, sonst erfahren wir weder, was das mit dem Zettel zu bedeuten hat, noch, was er uns sagen will. Lyn, hast du noch eine von den Nanokapseln?«
»Noch zwei, eine für dich und eine für mich.«
»Gib ihm meine! Ich will, dass er geheilt wird.«
»Rona, bitte sei vernünftig! Wenn uns beiden etwas zustößt, können wir uns selbst nicht mehr helfen.«
»Als ob das noch etwas ausmachen würde«, sagte die andere. »So, wie es aussieht, sind wir bis an unser Lebensende in diesem Zeitabschnitt gefangen. Und so viele Kapseln kann man gar nicht besitzen, um allen Gefahren in diesem Wahnsinn zu entgehen.«
|392|»Er könnte einer von Tramelays Spionen sein.«
»Unsinn, er gehörte zu dieser Truppe, die Birah und ihre Tante bei dem Überfall vor ein paar Tagen gerettet haben«, stellte Rona in scharfem Ton klar. »Außerdem – Khaled hast du gleich einen ganzen Beutel unserer Kapseln überlassen.«
»Er war etwas Besonderes.«
»Genau deshalb benötige ich jetzt eine Kapsel. Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Mann auch etwas Besonderes ist. Also beeil dich und gib mir eine, bevor jemand kommt und es bemerkt.«
Arnaud ahnte nicht einmal, worüber sich die beiden unterhielten. Aber was er deutlich heraushören konnte, waren ihre Namen. Rona und Lyn.
Genauso hießen die beiden Frauen, die sie finden und ins Jahr 2005 bringen sollten. Das konnte kein Zufall sein. Es sei denn, er halluzinierte. O heiliger Gott, betete er stumm. Lass nicht zu, dass ich meinen Verstand verliere.
Zwei Finger schoben sich zwischen seine Lippen, um ihm eine kleine Perle zwischen die Zahnreihen zu legen. In einem Reflex wollte er das Ding ausspucken, doch jemand presste ihm mit Gewalt Ober- und Unterkiefer aufeinander und zwang ihn, die Kapsel zu zerbeißen. Er wollte sich wehren, war aber zu kraftlos. Die Kapsel zerplatzte in seinem Mund, und ein angenehmes Kribbeln stellte sich ein, das sich von der Zunge aus über seinen gesamten Körper ausbreitete. Ein Ruck ging durch seine Eingeweide, wie ein leichtes Erdbeben. Glühende Hitze und eisige Kälte folgten in raschem Wechsel. Plötzlich war es ihm, als schwappte eine Welle über ihn hinweg und füllte jede Faser seines Körpers mit Kraft. Gleichzeitig spülte sie sämtliche Schmerzen hinweg. Von weitem blickte er in ein gleißendes Licht, und als er die Augen vollends öffnete, schaute er in die angespannten Gesichter zweier Engel, die schöner nicht hätten sein können. Himmel, sie sahen sich verdammt ähnlich, und er hatte sie schon einmal gesehen. Bei seiner Ankunft im Sankt-Lazarus-Kloster. Es waren die beiden merkwürdigen Nonnen, die er in der Küche getroffen hatte. Wie vor ein paar Tagen trugen sie eine Schwesterntracht. Beim Heiligen Christophorus, warum war er nicht schon damals darauf gekommen, dass sie die Gesuchten waren? Ihre außergewöhnliche Schönheit, die der Frau im Hologramm so verblüffend ähnlich schien, war weiß Gott nicht von dieser Welt.
|393|»Seid ihr Rona und Lyn?«, flüsterte Arnaud heiser. An die Frau mit den grünen Augen, die rechts von ihm stand, erinnerte er sich noch ziemlich genau. Ihr Kuss war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Also musste er sich tatsächlich wieder im Sankt-Lazarus-Kloster befinden. Mit einem raschen Seitenblick versuchte er sich zu orientieren. Er lag in einer winzigen Klause, auf einer harten Pritsche. Durch den schmalen Schacht, der das einzige Fenster bildete, fiel goldenes Abendlicht herein.
Vorsichtig richtete Arnaud sich auf. Während er an sich herabschaute, weil sein Körper keine einzige Verletzung mehr aufwies, stellte er fest, dass er bis auf ein Lendentuch vollkommen nackt war.
»Du bist geheilt«, sagt die junge Frau mit den grünen Augen. Staunend beobachtete Arnaud, wie ihre makellosen Hände ihn von den nun überflüssigen Leinenstreifen befreiten. Und obwohl er augenscheinlich nicht in der Zukunft gelandet war, fühlte er sich großartig.
»Woher kennst du unsere Namen, und was weißt du über den Caput 58?« Die grünen Augen fixierten ihn wie bei einem Verhör. Dass sie eine Katze war, die nicht nur fauchen, sondern auch kratzen konnte, wusste er schon aus ihrer Begegnung in der Küche.
»Das ist eine längere Geschichte«, erwiderte er. »Und ich hoffe, dass ihr sie mir glaubt.«