Juli 1148 – Jerusalem
Vor einem hohen, mit silbernen Ornamenten geschmückten Tor zog Khaled an einer dünnen Kette, die von einem steinernen Überstand hing, und brachte ein helles Glöckchen zum Läuten. Kurz darauf öffnete sich das Tor einen Spaltbreit, und eine junge Frau erschien, eine leuchtende Glaslaterne in der Hand. Im Schein der Kerze sah Lyn ihr puppenhaftes Gesicht, das von großen, dunklen Augen dominiert wurde. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem missmutigen Ausdruck, als ob sie durch das Läuten gestört worden wäre. Ihre kleine, schlanke Gestalt war in ein langes, rotes Kleid gehüllt, das sich eng an ihre üppigen Brüste schmiegte. Das braune Haar flutete in weichen Wellen bis zu den Hüften und wurde von einem feinen Goldreif gehalten, an dem ein durchscheinender, goldfarbener Schleier befestigt war.
»Gepriesen sei Fatima, du bist noch wach.« Khaleds Begrüßungsformel fiel kurz und förmlich aus. »Nesha, ich benötige deine Hilfe.«
Die Frau schien verwirrt, sie hob die Lampe und leuchtete Khaled zunächst ins Gesicht, als ob sie sich vergewissern müsste, dass er es auch wirklich war, dabei wechselte ihr Mienenspiel von stirnrunzelnder Besorgnis zu überraschter Erleichterung. Ein Seufzer entfuhr ihr, als |129|sie sicher war, wen sie vor sich hatte. Ungeachtet seiner fremden Begleitung legte sie Khaled einen Arm um den Hals, zog ihn zu sich herab und küsste ihn stürmisch auf den Mund. Merkwürdig steif ließ er sich diese eindeutige Geste der Zuneigung gefallen.
»Der heiligen Jungfrau sei Dank, du lebst«, stieß Nesha mit einer hohen, atemlosen Stimme hervor.
Khaled hatte eine leicht abweisende Haltung angenommen und nickte beiläufig. Ihr Gefühlsausbruch schien ihm unangenehm zu sein. Nach einem Moment erwartungsvoller Stille schob er sie sanft von sich weg, um ihr in die vor Freude glänzenden Augen zu schauen, wobei er eine Hand auf ihrer Schulter ruhen ließ. »Woher weißt du, was geschehen ist? Wir sind doch eben erst angekommen.«
»Ahmed war schon hier und hat uns Bericht erstattet«, erklärte die Frau. Die Aufregung in ihrer Stimme wollte nicht weichen. »Er sagte, ihr seid von Fatimiden angegriffen worden und dass einer der Templer durch einen Pfeil mitten ins Auge getötet wurde. Auch sagte er, es habe fünfzehn Leibeigene des Heiligen Grabes erwischt und Hakims jüngster Sohn sei ebenfalls von einem Pfeil durchbohrt worden, aber dann auf wundersame Weise von einer Fremden gerettet worden? Stimmt das?«
Khaled beantwortete ihre Frage nicht, sondern wandte sich kurz zu seinen Begleiterinnen um. »Ich habe jemanden mitgebracht.« Sein Blick fiel erneut auf Nesha. »Das sind Lyn und Rona. Ihre Karawane wurde durch den Angriff vollständig aufgerieben. Sie benötigen ein Lager für mehrere Nächte.«
Nesha taxierte die beiden so misstrauisch, als hätte sie wahrhaftige Hexen vor sich. »Können die beiden nicht in einer Herberge unterkommen?«
Khaled setzte eine ungeduldige Miene auf. »Nein. Sie besitzen nichts, womit sie eine Herberge bezahlen könnten. Außerdem sind sie adliger Herkunft«, log er. »Also, willst du uns nicht einlassen?«,
»Natürlich«, entschuldigte sie sich und trat mit vor Enttäuschung geschürzten Lippen zurück. Widerwillig öffnete sie das Tor, damit Khaled und seine Begleiterinnen in das Innere des Palastes gelangen konnten. In einem breiten, mit beigefarbenem Marmor verkleideten Vorraum, von dem aus ein Weg geradeaus in eine hohe, hellerleuchtete Halle führte, blieben sie stehen.
|130|Nesha hatte sie unter einen bedrohlich wirkenden Silberkranz geführt, der tonnenschwer, an Ketten befestigt, von der Decke baumelte. Auf den darauf angebrachten Spitzen steckten vierundzwanzig dicke Kerzen, die alle entzündet worden waren und damit eine beinah taghelle Umgebung schafften.
Lyn ließ ihren Blick schweifen und stellte fest, dass im weiteren Verlauf der Halle noch mehr Deckenleuchter zu finden waren, deren Kerzen jedoch nicht brannten. Lion hatte sie anhand holographischer Aufzeichnungen auf diese archaische Beleuchtung vorbereitet. Tatsächlich hatte sie nie zuvor eine brennende Kerze gesehen, deren Duft sie als ziemlich intensiv empfand.
Boden und Wände hatte man mit weichen, bunten Teppichen ausgelegt, und die vielen Ecken und Winkel füllten verschiedenartige Pflanzen in kunstvoll behauenen Steintöpfen. Rechts und links von der Vorhalle führten zwei blankpolierte, bernsteinfarbene Marmortreppen in weitere Obergeschosse.
Von weitem war leise Musik zu hören, irgendwer spielte auf einer Flöte. Neben dem Kerzengeruch lagen andere, verwirrend fremdartige Düfte in der Luft, süß und herb zugleich.
»Fantastisch«, murmelte Lyn und warf Rona einen begeisterten Blick zu. »Frag mich, warum ich gedacht habe, wir landen in der Steinzeit.«
»Zumindest was die Gebäude angeht, trifft es zu«, gab Rona stoisch zurück.
Im 22. Jahrhundert verwendete niemand mehr Steine. Carbon, Glas und Kunststoffe, die UV-Strahlung aus Sonnenlicht filterten und sie in Alltagsenergie umwandelten, waren das Mittel der Wahl.
Nesha war die Neugier ihrer Gäste nicht entgangen, auch sie selbst nutzte den Augenblick, um die beiden Frauen intensiv zu betrachten. Dabei hatte sie Mühe, ihre offensichtliche Missbilligung zu unterdrücken.
Kleines Luder, dachte Khaled. Wahrscheinlich glaubte sie, er habe die beiden aus rein körperlichem Interesse mitgebracht. Das hübsche, braunhaarige Mädchen war die erste Kammerdienerin der Königin. Neben der Tatsache, dass sie ebenso wie ihre Herrin recht schnell Gefallen an Khaled gefunden hatte und ihn von Zeit zu Zeit in seinen |131|Gemächern besuchte, um ihn zu einer sündigen Nacht zu verführen, war sie ein gerissenes Miststück, das es mit jedem adligen Kerl trieb, der ihr einen Aufstieg in der Jerusalemer Gesellschaft versprach.
Ihre Vorfahren gehörten zur zweiten Generation von Einwanderern aus dem Abendland, die sich mit den hier lebenden Einheimischen vermischt hatten, was ihr ein arabisches Äußeres verlieh, obwohl sie christlichen Glaubens war. Aus einem Grund, den Khaled nur erahnen konnte, hatte die Königin darauf verzichtet, sie mit nach Akko zu nehmen, und eine wesentlich unscheinbarere Zofe ausgewählt, die dort für die Instandhaltung ihrer Garderobe sorgte.
»Nun«, bemerkte Nesha spitz und rückte ganz nah an Khaled heran, dabei stellte sie sich auf die Zehenspitzen und verfiel in einen unhöflichen Flüsterton. »Sie müssen ziemlich hochgestellte Persönlichkeiten sein, wenn du meinst, dass Melisende sie empfängt.«
»Bei den beiden handelt es sich um mongolische Prinzessinnen«, log Khaled dreist. »Sie sind einzige Überlebende einer mongolischen Gesandtschaft, die sich auf dem Weg nach Ägypten befand.«
»Aber das würde ja bedeuten, dass sie Verbündete der Fatimiden sind – warum wurden sie dann angegriffen?« Nesha schaute ihn mit unschuldiger Miene an und schien zu ahnen, dass sie ihn mit ihren Fragen in Verlegenheit brachte.
»Wahrscheinlich ein tragisches Missverständnis«, erwiderte Khaled ungerührt. »Wenn man bedenkt, dass die Fatimiden offenbar alle ihre Begleiter getötet haben. Ich sah es als meine Verpflichtung an, diesen unschuldigen Frauen beizustehen, bis eine Karawane gegen Osten aufbricht, die sie nach Hause zurückbringen kann.« Dass in Wahrheit er und seine Leute den beiden Frauen ihr Leben zu verdanken hatten, würde er Nesha nicht preisgeben.
»Aber«, zischte sie, »was ist, wenn sie den Franken feindlich gesinnt sind? Ich meine, wenn die Mongolen gemeinsame Sache mit dem ägyptischen Kalifen machen, wäre das doch nicht so abwegig, oder?«
»Zügle deine Zunge«, gab Khaled ärgerlich zurück. »Du kannst ihnen nichts unterstellen, nur wegen einer Vermutung, die du nicht beweisen kannst.«
»Wie du meinst«, entgegnete Nesha knapp. »Schließlich trägst du die Verantwortung für die beiden, was bedeutet, dass du der Königin Rechenschaft ablegen musst, falls sie auf dumme Gedanken kommen.«
|132|Khaled behielt ein ungutes Gefühl. Die Zofe würde zuverlässig dafür sorgen, dass die Neuankömmlinge im Davidpalast schon bald so bekannt wie der Papst sein würden.
Nesha nickte Lyn und Rona mit einem katzenhaften Lächeln zu. »Na dann«, presste sie wenig überzeugend hervor. »Willkommen im königlichen Palast.« Im Vorbeigehen wandte sie sich noch mal an Khaled und rümpfte kaum merklich ihr feines Näschen. »Die beiden sehen recht anziehend aus«, bekannte sie leise. »Unser junger Prinz wird begeistert sein, wenn er zurückkehrt und sie hier vorfindet.«
Khaled schnaubte verächtlich. Balduin III. war jung und ungestüm und an so ziemlich allem interessiert, was Brüste hatte und nicht als hässlich galt. Auch Nesha kroch regelmäßig in sein Bett, obwohl er sich mit seinen achtzehn Jahren manchmal noch wie ein unreifer Knabe benahm.
»Ich glaube kaum, dass die beiden an einem unerfahrenen Jüngling interessiert sind«, erwiderte Khaled. »Also, was ist jetzt mit der Kammer?« Seine dunklen Brauen hoben sich ungeduldig, und Nesha schien zu ahnen, dass er keinen weiteren Widerspruch duldete.
»Soll ich sie neben dir einquartieren? Das Gästezimmer von Manasses ist zurzeit verwaist.« Nesha warf Khaled einen zweideutigen Blick zu, während sie ihn und seine beiden Begleiterinnen die breite Treppe hinaufführte. »Du könntest die beiden Tag und Nacht besuchen, ohne dass es jemand bemerkt.«
Khaled ahnte bereits, wen sie mit »jemand« meinte. Die Königin verfolgte eifersüchtig jeden Kontakt, den er zu anderen Frauen unterhielt.
»Was denkst du?«, fuhr Nesha munter fort, ohne darauf zu achten, dass Lyn und Rona alles mithören konnten. »Auf dem großen Bett würdet ihr alle drei eine Menge Spaß haben, und du könntest dich bei unserer Königin endlich einmal revanchieren. Schließlich hält sie dich auch ständig zum Narren.« Ihr Lächeln war unverschämt, vor allem vor dem Hintergrund, dass Manasses von Hierges als inoffizieller Liebhaber der Königin galt, obwohl er ihr Cousin dritten Grades war, und jeder wusste, dass Khaled bei Melisende nur dann zum Zuge kam, wenn der Konstabler auf seiner Burg Mirabel oder im Feld weilte. Weil Khaleds Zimmer tatsächlich neben dem des Konstablers lag, wurde er nicht selten Zeuge, wenn sich die Königin wieder einmal hemmungslos und ziemlich geräuschvoll mit ihrem Heerführer vergnügte. Khaled |133|kniff die Lippen zusammen. »Ich hätte nicht vermutet, dass du so mitfühlend bist«, spottete er. »Nachdem die beiden Frauen knapp dem Tod entronnen sind und alles verloren haben, geht ihnen sicher etwas anderes im Kopf herum, als ausgerechnet das Lager mit mir zu teilen.«
Nesha ersparte ihm eine Antwort. Im zweiten Stock blieb sie stehen und bog dann in einen langen Flur ab, dessen Boden von einem dicken, roten Läufer bedeckt war, der sämtliche Schritte dämpfte. Mehrere verschlossene, silberbeschlagene Türen führten zu verschiedenen Zimmern. Auch hier wurde alles von kleinen Glaslampen beleuchtet, die man mit silbernen Halterungen an den Wänden befestigt hatte.
Lyn gewann den Eindruck, dass sich der stetige Duft nach Kerzen, Kräutern und Gewürzen aus dem Parterre, je höher sie stiegen, noch verstärkte. Nesha blieb vor einer der Türen stehen und öffnete sie. Dann nahm sie eine der Lampen aus der Halterung und bat Khaled und die beiden Frauen mit einem Nicken, ihr zu folgen.
Als Lyn das prunkvoll ausgestattete Zimmer betrat, fiel ihr als Erstes ein nach oben spitz zulaufendes Fenster auf, das bis zum Boden reichte und von einer in der Mitte geteilten, kunstvoll geschnitzten hölzernen Tür verschlossen wurde, die Nesha nun schwungvoll aufklappte. Ein süßer, leichter Wind flutete herein und milderte den schweren Duft nach Holz und Ambra, der nicht nur über den samtigen Kissen und Decken des prächtigen Himmelbettes lag, sondern auch den bunten Teppichen auf dem Boden und an den Wänden entströmte. Während Nesha sich um das Aufschütteln der Kissen kümmerte und Rona darüber in Kenntnis setzte, wo sie läuten musste, wenn sie etwas zu essen oder zu trinken wünschte, oder wo man ein Bad nehmen konnte und seine Notdurft verrichtete, trat Lyn an das geöffnete Fenster heran und warf einen neugierigen Blick hinaus auf einen kleinen Balkon. In schwindelnder Höhe präsentierte er die Aussicht auf die darunterliegenden Dächer und die mit Fackeln und Feuerkörben erleuchteten Stadtmauern. Dahinter lag die Wüste, dunkel und unergründlich – aus der sie gekommen waren. Nur hier und da erhob sich ein Lichtschein über den Hügeln Jerusalems, die sie in der Düsternis erahnen konnte, und zeugte von Behausungen außerhalb der schützenden Mauern.
Rona trat an Lyns Seite, um sich ebenfalls einen Überblick zu verschaffen. Im nächsten Moment blies der aufkommende Wind die hellen |134|Seidengardinen zur Seite und ließ die dunkelroten Schabracken eines riesig anmutenden Baldachins über dem ebenso riesigen Bett geräuschvoll flattern. Auf der dicken, dunkelroten Seidenmatratze hatten leicht vier Menschen Platz. Nesha hatte die gesteppte Decke einladend aufgeschlagen und die zahllosen, gleichfarbigen Kissen auf dem Laken drapiert. Lyn hatte Mühe, ihr Erstaunen über all diese Pracht nicht allzu euphorisch zu zeigen. Ein verschwenderischer Luxus, wenn sie an die schmucklosen Pritschen in Lions Hauptquartier dachte – oder daran, wie sie früher Bett an Bett, mit steinharten Liegen und automatischer Weckfunktion in den Söldnerkasernen der Neuen Welt untergebracht gewesen waren.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes stand eine breite, kniehohe hölzerne Truhe, reich verziert mit Schnitzereien, deren Deckel mit einem beeindruckenden Eisenschloss versehen war. Darauf befand sich ein Waschgeschirr samt Seifenschale aus reinstem, poliertem Silber, ein Stapel dunkelroter Leinentücher lag einladend daneben.
Nesha deutete auf verschiedenfarbige Glasflaschen mit unterschiedlichen Duftölen, die ihnen zur Verfügung standen.
»Der silberne Nachttopf steht unter dem Bett«, erklärte sie. »Er wird dreimal täglich geleert. Das Hammam für die Frauen ist unten im Kellergeschoss, getrennt von den Männern. In direkter Nachbarschaft findet man einen weiteren Abort, ebenfalls nach Männern und Frauen getrennt.«
»Ich hoffe, es ist euch genehm?« Khaled war die Anspannung anzusehen, als er sich an Rona und Lyn wandte.
»Geht schon in Ordnung«, erwiderte Rona mit gewohnt gleichgültiger Miene.
»Es tut mir leid, wenn ihr Besseres gewohnt seid«, begann Khaled von neuem sich zu entschuldigen. »Es ist eines der komfortabelsten Zimmer im Palast. Normalerweise ist es für den Konstabler der Königin reserviert, wenn er in Jerusalem weilt.«
»Und wo ist er jetzt?« Lyns Frage kam unvermittelt, ihr Blick wanderte von Khaled zu Nesha.
»Wer?« Nesha sah sie aufgeschreckt an.
»Na – dieser Konstabler. Er ist hoffentlich nicht verärgert, wenn wir in seinem Bett schlafen und seine Seife benutzen?«
Lyn fragte sich, ob es die merkwürdige energetische Spannung dieses |135|Raumes war, die sie verunsicherte. Sie empfing die verwirrenden Signale menschlicher Emotionen recht deutlich, und im Gegensatz zu den tödlichen Schwingungen zuvor konnte sie das Ganze nicht in gespeicherte Dateibilder einordnen. Die zögernde Haltung des Mädchens und ihr aufgeschreckter Blick ließen vermuten, dass mit dem Zimmer irgendetwas nicht stimmte.
»Der Graf von Hierges ist ein enger Vertrauter der Königin«, erklärte Khaled sachlich, »der nur ab und an hier nächtigt. Im Moment weilt er mit dem Gefolge der Königin in Akko. Nach allem, was ich weiß, wird er in den nächsten Wochen nicht hierher zurückkehren. Ihr braucht euch also keine Sorgen zu machen, hier nicht willkommen zu sein.«
»Danke … für alles«, bemerkte Lyn mit einem zaghaften Lächeln.
»Wir werden eure Gastfreundschaft ohnehin nicht lange in Anspruch nehmen«, bemerkte Rona kühl. »Sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt, werden wir weiterziehen.«
Khaled schaute fragend auf, und Lyn zuckte ihm gegenüber leicht mit den Schultern, was bedeuten sollte, dass sie keine Ahnung hatte, worauf Rona hinauswollte.
Eine Dienerin huschte ins Zimmer und trug eine große Kanne mit Wasser herbei, damit sie sich waschen konnten. Eine weitere brachte eine Kristall-Karaffe mit Wein, dazu einen Teller mit Obst, Nüssen und frisch gebackenem Fladenbrot.
Lyn betrachtete stumm das reichhaltige Nahrungsangebot und kämpfte dabei mit ihren Emotionen. Melonen, Trauben, Orangen, Feigen, Aprikosen, Kirschpflaumen. Alles frisch gepflückt und so makellos wie ein genmanipulierter Apfel, den es in ihrer Zeit nur zu besonderen Anlässen gab.
»Das ist …« Ihr fehlten die Worte.
»Außerordentlich freundlich«, beendete Rona den Satz und ließ sich nicht anmerken, dass sie angesichts dieses ungewohnten Luxus genauso überwältigt war wie ihre Schwester. »Aber wäre es möglich, dass ihr uns nun alleine lasst? Es war ein anstrengender Tag, und angesichts dieses wunderbaren Betts fallen mir gleich die Augen zu.« Sie lächelte zuckersüß.
Khaled scheuchte die Dienerinnen mit einer knappen Handbewegung hinaus, und auch Nesha bedeutete er, dass ihre Anwesenheit nicht länger |136|benötigt wurde. Bevor er selbst den Rückzug antrat, verneigte er sich höflich, indem er die rechte Hand auf sein Herz legte und Rona sowie Lyn einen verbindlichen Blick zuwarf, der ihnen versichern sollte, dass sie sich jederzeit auf ihn verlassen konnten. »Allah sei mit euch und wache über eure Träume«, sagte er mit samtiger Stimme. Anschließend straffte er sich und warf Lyn einen letzten feurigen Blick zu, den sie offenbar nicht verstand und leider auch nicht erwiderte. Bei Allah, war sie schön! Der Gedanke, dass sie wenige Schritte entfernt von ihm schlief, würde ihn selbst den Schlaf kosten. Wenigstens lächelte sie zum Abschied so sanft, dass sich sein Pulsschlag beschleunigte. Khaled hoffte inbrünstig, dass seine Rechnung aufging und es ihm in den nächsten Tagen gelang, ihr Herz zu erobern, damit sie ihn vollends in die Geheimnisse ihrer Herkunft und ihrer Fähigkeiten einweihen würde.
Dabei musste er sich vor ihrer Schwester in Acht nehmen, sie war ein weitaus härterer Brocken, und wenn tatsächlich von den beiden eine Gefahr ausging, dann eher von ihr als von Lyn.
»Verriegle die Tür und schließ das Fenster.« Ronas Befehlston, nachdem Khaled den Raum verlassen hatte, verwunderte Lyn nicht weiter. Sie war es gewohnt, dass ihre Schwester das Kommando an sich riss.
»Was hast du vor?« Lyn kam ihrer Aufforderung ohne Protest nach und schloss neben der Zimmertür, die sich von innen verriegeln ließ, die beiden Flügel der Balkontür, so dass sie niemand von draußen beobachten konnte.
»Gib mir den Server.« Rona klang forsch, und als Lyn nicht tat, was sie sagte, sondern sie nur befremdet anschaute, fügte sie hinzu: »Ich will versuchen, einen Kontakt zu Lion oder seinen Helfern herzustellen. Es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, ob er den Drohnen entkommen konnte. Sollte es ihm gelungen sein, muss er erfahren, dass unsere Mission nicht so verlaufen ist, wie gedacht, auch damit er uns weitere Anweisungen geben kann.«
»Glaubst du ernsthaft, der Versuch einer Kontaktaufnahme hat Erfolg? Die Koordinaten stimmen nicht mehr, und wir wissen nicht, was nach unserem Verschwinden geschehen ist.« Der Zweifel stand allzu deutlich in Lyns blauen Augen, als sie den Server aus ihrem Rucksack holte und auf der Kommode abstellte.
|137|»Er sagte, es sei jederzeit möglich«, erwiderte Rona.
Lyn hoffte, dass ihre Schwester recht behielt. Rona war schließlich die technische Spezialistin in ihrem Team, während sie selbst hauptsächlich das historische Wissen abdeckte und für den Eröffnungscode des Servers zuständig war.
Rona kniete vor dem unscheinbaren Quantencomputer und sah Lyn auffordernd an. »Na los, worauf wartest du?«
Möglichst leise begann Lyn eine unkoordiniert erscheinende Abfolge von Tönen zu singen. Dass sie dabei exakt die richtige Tonlage traf, bewies das plötzliche Aufspringen des Titandeckels, der den Server vor Hitze, Kälte und Verunreinigungen schützte. Unmittelbar danach entströmte der glatten, zum Vorschein gekommenen Oberfläche ein türkisfarbenes Licht, das dem Zimmer sogleich eine gespenstische Atmosphäre verlieh.
Eine holographische Befehlskonsole baute sich Stück für Stück über dem Server auf, und Rona begann kraft ihrer Gedanken dem hochtechnisierten Gerät einen zweiten Code zu vermitteln, der einen Kontakt mit Lions Basis ermöglichen sollte.
»SG1 ruft Basis«, formulierte sie in Gedanken. Als keine Rückmeldung kam, versuchte sie es noch einmal.
Der Server wandelte ihre Stimme in reine Energie und schleuste sie mit Überlichtgeschwindigkeit in den benachbarten Hyperraum, der zwischen ihnen und einer tausendjährigen Zukunft stand.
Lyn beobachtete angespannt die leuchtende Voice-Control-Anzeige, doch der darin befindliche Graph blieb ohne Ausschlag. »Vielleicht ist der Server defekt«, meinte sie und hoffte gleichzeitig, dass sie unrecht haben möge. »Oder wir haben bereits alles verändert, und die Basis existiert gar nicht mehr.«
Rona bedachte sie mit einem düsteren Blick. »Wenn du dauernd dazwischenredest, kann es nicht funktionieren.« Noch einmal konzentrierte sie sich mit geschlossenen Augen und rief Lion in einem verzweifelten Appell, sich endlich zu melden.
Lyn schwieg betroffen. Als der Ausschlag sich dann doch unvermittelt zu einem dauerhaften Signal verdichtete, zuckte sie regelrecht zusammen. Aber es war nicht Lion am anderen Ende der Leitung, sondern Patrick McGee, Lions Vertreter im Hauptquartier.
»Wo seid ihr?«, dröhnte die Stimme in Lyns Kopf.
|138|»1148, Jerusalem«, hallte es mit Ronas Stimme zurück. »Was ist mit Lion? Geht es ihm gut?«
»Ganz gleich, wo ihr seid, ihr müsst euren Auftrag erfüllen«, schallte es blechern zurück. »Sonst haben wir keine Chance, ihn je lebend wiederzusehen!«
»Nicht bevor ich weiß, was mit Lion geschehen ist!« Ronas Stimme war unerbittlich.
»Die Agenten der Neuen Welt haben ihn erwischt und uns ein Ultimatum gestellt«, bekannte McGee mit krächzender Stimme, die im Rauschen der Verschlüsselung beinahe unterging.
»Geht es ihm gut, oder ist er schon tot?« Rona stand der Schrecken über diese Nachricht ins Gesicht geschrieben. Lyn wusste nicht, was besser sein sollte. Wenn Lion Gefangener der Neuen Welt sein würde, war sein Schicksal besiegelt. Deren Foltermethoden waren unvorstellbar grausam, und am Ende würde man ihn ohnehin eliminieren.
»Er lebt wohl noch«, erwiderte die Stimme zögernd in ihrem Kopf. »Man hat uns eine holographische Nachricht übermittelt …«
Es dauerte einen Moment, bis das hereinkommende Bild in den Köpfen der beiden Frauen Gestalt annahm. Auf dem Bild fehlte Lion der rechte Arm. Oberhalb des Ellbogens war er sauber abgetrennt und versiegelt worden: die präzise Arbeit eines herabgedrosselten Fusionslasers.
Lyn hielt den Atem an.
»Wenn wir nicht bis morgen früh um sechs unseren Standort verraten und uns alle ergeben haben, werden sie ihn Stück für Stück in seine Einzelteile zerlegen, bis er stirbt.«
»Das ist Wahnsinn.« Rona warf Lyn einen verzweifelten Blick zu. »Er würde nicht wollen, dass wir uns ergeben!«
»Die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen«, stieß McGee keuchend hervor, »besteht darin, dass ihr wie verabredet den Lauf der Geschichte beeinflusst.«
»Heißt das, bisher ist noch nichts dergleichen geschehen?« Rona konnte kaum fassen, dass der Tod der fatimidischen Angreifer und das Überleben ihrer Opfer so gar keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Zeit genommen haben sollte.
»Bisher konnten wir leider keinerlei Änderung feststellen.« McGee stieß einen Seufzer aus.
|139|»Wir sind irgendwie …« Rona wollte ihm erklären, dass das Experiment leider nicht so verlaufen war, wie zunächst beabsichtigt. Doch ebenso plötzlich, wie der Graph sich aufgebaut hatte, fiel er zusammen.
»McGee? Kannst du mich noch hören?«
Nichts.
»… falsch abgebogen«, führte Rona den Satz für sich selbst zu Ende. Verzweifelt versuchte sie die Verbindung wiederherzustellen, doch sie scheiterte.
Khaled hatte sich von seinen Kleidern und Waffen befreit. Nur mit einer weißen Hose bekleidet, hatte er sich Gesicht und Oberkörper gewaschen und sich dann erschöpft auf sein Bett geworfen. Morgiane kuschelte sich an seine breite Brust und ließ sich genüsslich ihr schneeweißes Fell kraulen, während Khaled mit geschlossenen Augen darüber nachdachte, was ihm im Laufe des Tages für unglaubliche Dinge widerfahren waren. In den nächsten Tagen würde er erneut eine Karawane nach Blanche Garde auf den Weg bringen müssen, weil die Ritter dort dringend Proviant benötigten. Darüber hinaus blieb abzuwarten, wie die Königin auf seinen misslungenen Auftrag reagierte und ob sie auch einen Zusammenhang zwischen dem Überfall und seiner geheimen Mission vermuten würde. Außerdem stellte er sich die Frage, wie er mit den beiden Frauen verfahren sollte.
Morgianes Fauchen und ein schmerzhafter Krallenhieb holten ihn aus seinen Gedanken.
»He, meine Morgenblume, was ist denn in dich gefahren?« Khaled packte die Katze mit zärtlicher Entschlossenheit und drückte sie an sich. Dabei streichelte er unaufhörlich über ihren buckelnden Rücken und sprach beruhigend auf sie ein. Gleichzeitig lauschte er aufmerksam.
Da Morgiane sich offenbar nicht beruhigen ließ, setzte er sie mit einem entschuldigenden Flüstern zurück aufs Bett und schlich zur Tür.
Irgendetwas ging hier vor sich, das die Katze in Unruhe versetzte. Vorsichtig spähte er in den halbdunklen Flur. In einiger Entfernung sah er eine Gestalt, die am Boden vor der Kammer seiner Schützlinge hockte und versuchte, durch den unteren Türspalt zu spähen. Kinn, Mund und Nase des Spions wurden von einem unnatürlichen, blauen Licht beleuchtet. Nesha! Was in Allahs Namen tat sie da?
|140|Lautlos schlich Khaled an sie heran, schnellte hinab und packte sie, wobei er ihr gleichzeitig den Mund fest mit seiner großen Hand verschloss. Er spürte, wie ihr panischer Schrei an seinen Fingern erstickte. Dann zwang er die strampelnde Frau ein Stück zurück auf den Flur. Erst als sie sich halbwegs beruhigt hatte, ließ er sie frei.
»Khaled!«, stieß Nesha heiser hervor. »Beim heiligen Georg, wie kannst du mir eine solche Angst einjagen?« Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als ob er der Teufel persönlich wäre.
»Kannst du mir verraten, was in Allahs Namen du hier gemacht hast?« Khaled klang streng.
Nesha schluckte aufgeregt und antwortete danach in einem verschwörerischen Flüsterton: »Ich wollte noch mal nach dem Rechten schauen, bevor ich mich zur Nachtruhe begebe. Doch dann …« Sie stockte, um nach Atem zu ringen. »… sah ich ein seltsames, blaues Licht unter der Tür hervorscheinen.« Sie schaute noch einmal zur Tür, hinter der sich Rona und Lyn befanden, als ob es eines Beweises benötigte, doch nun war der Lichtschein verschwunden.
Verwirrt schüttelte die Zofe den Kopf. »Es war unglaublich leuchtend, so wie ich mir einen Heiligenschein vorstelle. Ich habe es gesehen, ich schwöre es!«
Khaled erkannte, dass sie vor lauter Verzweiflung den Tränen nahe war, und er fühlte sich an sein Erlebnis vom Nachmittag erinnert, als er gesehen hatte, wie Rona die Fatimiden samt ihrer Pferde hatte verschwinden lassen. In einem Anflug ehrlichen Mitgefühls nahm er Nesha in den Arm und drückte sie sanft. Sogleich schmiegte sie sich wie Morgiane willfährig an seine Brust. »Ich wusste, dass du mir glauben würdest.« Mit dem Augenaufschlag einer waidwunden Gazelle sah sie zu ihm auf, und er war versucht, sie auf den Mund zu küssen, tat es aber nicht, weil er sich denken konnte, wo dieser Freundschaftsdienst enden würde. Außerdem interessierte ihn brennend, was hinter Neshas Beobachtung steckte, doch um dem nachzugehen, konnte er sie nicht an seiner Seite gebrauchen.
»Beruhige dich wieder«, erwiderte er und strich wie ein besorgter Vater über ihr weiches Haar. »Wahrscheinlich bist du übermüdet und hast das alles nur geträumt.«
Nesha sah ihn entgeistert an, dann stieß sie ihn von sich, wobei sich ihr zuvor sanfter Blick in den einer Furie verwandelte. »Du denkst, ich |141|spinne?«, zischte sie aufgebracht und schaute zur Tür. »Dann gehen wir beide jetzt da hinein und schauen nach.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, mit der festen Absicht, Manasses’ Zimmer im Sturm zu erobern. Khaled war jedoch schneller und hielt sie mit eisernem Griff zurück.
»Das wäre ziemlich unhöflich«, sagte er und führte Nesha wie eine Gefangene ein ganzes Stück weiter den Flur, bevor er von ihr abließ.
»Die beiden Frauen haben einiges durchgemacht«, erklärte er mit gedämpfter Stimme, »und stehen unter meinem Schutz. Alleine ich habe das Recht, deinen Beobachtungen nachzugehen. Wenn du sie zudem in aller Öffentlichkeit dem Verdacht der Unredlichkeit aussetzt, würde das auf mich zurückfallen. Und ich lasse mir meinen Ruf nicht ruinieren, weil du irgendwelche Lichter herbeifantasierst.«
»Nun gut«, erwiderte Nesha beleidigt. »Aber ich weiß, was ich gesehen habe, und Hiorda hat auch erzählt, dass es eine von ihnen war, die Hakims Sohn auf wundersame Weise vor dem Tode bewahrt hat.«
Einen Moment lang wusste Khaled nicht, was er darauf antworten sollte. Ja, es stimmte, Lyn hatte den Jungen auf eine Art gerettet, die niemand verstand, und das Licht hatte Khaled auch gesehen.
»Vielleicht sind sie Dschinns«, gab Nesha mit einem fatalistischen Grinsen zu bedenken. »Was ist, wenn sie am Ende den ganzen Palast verhexen, bevor wir etwas dagegen unternehmen können?«
»Red keinen solchen Unsinn!« Khaled überlegte krampfhaft, wie er das Weib zum Schweigen bringen sollte. »Vergiss nicht, du bist eine getaufte Christin! Wenn du nicht Acht gibst und überall so einen Blödsinn erzählst, könnte es sein, dass dich der Patriarch wegen Häresie aus der römischen Kirche verdammt.« Er ging einen Schritt auf Nesha zu und packte ihren linken Arm so hart, dass sie schmerzerfüllt zusammenzuckte.
»Lass mich sofort los«, protestierte sie. »Du tust mir weh!«
Khaled dachte nicht daran, ihrer Aufforderung zu folgen. »Also, wenn du etwas für mich übrig hast«, stieß er kraftvoll hervor, »wirst du schweigen, und wenn du etwas für dich selbst übrig hast, erst recht!« Seine Stimme war dunkel und bedrohlich.
»Und wenn ich mich dir widersetze und tue, was ich will?«
»Ich muss dir nicht erklären, wen oder was du vor dir hast, oder?«
Nesha zuckte zurück, als er seinen goldglänzenden Dolch hervorzog |142|und ihr die geschliffene Schneide vor Augen führte, die so scharf war, dass man den Schnitt nicht einmal spürte.
»Das würdest du nicht tun, oder?«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, knurrte er düster.
Nesha wusste, dass sich hinter Khaleds scheinbar sanftem Gemüt mitunter ein unbarmherziger Wolf verbarg, der zu so ziemlich allem fähig war, wenn er es für nötig hielt. Seine skrupellose Bruderschaft hatte nicht nur arabische Adlige auf dem Gewissen, sondern auch christliche Heerführer, und für die Königin waren Khaled und seine Leute ein finsteres Unterpfand, um notfalls ihre Macht mit hinterhältiger Gewalt durchzusetzen. Gerne vergaß Nesha, dass Khaled zu jenem Kreis kaltblütiger Mörder gehörte, die für ihre Interessen und die ihrer Auftraggeber über Leichen gingen. Und allem Anschein nach war sie soeben zu weit gegangen. Sie nickte ergeben. »Du kannst dich auf mich verlassen«, flüsterte sie ungewohnt demütig.
»Dann sieh zu, dass du in deine Kammer kommst«, befahl er ihr kalt. »Ich will dich erst wieder hier oben sehen, wenn ich dich habe rufen lassen. Verstanden?«
Wieder nickte sie. Als er sie freigab, drehte sie auf dem Absatz um und eilte die nächstgelegene Treppe hinab.
Khaled atmete tief durch und begab sich nun selbst vor das Gemach der Frauen. Vorsichtig legte er ein Ohr an die Tür. Im Moment war alles still, und er wagte es nicht, diese Ruhe zu stören, andererseits war er zu neugierig, als dass er die Sache mit dem Licht auf sich beruhen lassen konnte. Und so fasste er einen Entschluss.
Ronas Blick lag wie versteinert auf dem Server. Nun hing nicht mehr nur die Zukunft der Menschheit von ihrem Erfolg ab, sondern ganz konkret das Leben Lions. Vor einem solchen Augenblick hatte sie sich stets gefürchtet. Ein erster Impuls war der Wunsch, Lion zu warnen, indem sie eine Nachricht in die Zeit vor ihrer Abreise entsandte. Doch das war nicht möglich, weil sie zu diesem Zeitpunkt selbst Teil der angewählten Epoche gewesen waren. Ein Schutzmechanismus des universellen Energiekontinuums verhinderte offenbar, dass die energetischen Schwingungen ihrer Stimmen in Form von bekannten Frequenzmustern in einen parallelen Raum gelangten, wo sie bereits vorhanden waren.
|143|Lyn hatte den Mantel abgelegt, weil es ihr zu warm geworden war. »Glaubst du, dass wir noch nichts in der Zukunft verändern konnten, weil wir in der falschen Zeitebene gelandet sind?«, fragte sie ihre Schwester.
Rona blickte ins Leere. »Wenn ich das wüsste, wäre ich Gott – und da ich an keinen Gott glaube, geschweige denn einer bin, muss die Frage wohl unbeantwortet bleiben.« Sie senkte den Blick auf den Server und strahlte plötzlich Entschlossenheit aus. »Wir werden einfach tun, was uns aufgetragen wurde«, verkündete sie beinahe feierlich. «Wenn Lion uns nicht zur Verfügung steht, müssen wir eben selbst eine Entscheidung treffen und den Versuch wie geplant zu Ende führen.«
»Was hast du vor?« Lyn kniete neben Rona nieder und sah sie an.
»Wir starten den Server und gehen dann zurück ins Jahr 1119, dorthin, wo Lion uns hinhaben wollte. Schließlich hat er alles genau berechnet. Wenn wir erst dort angelangt sind, werden wir auch den entsprechenden Erfolg haben.«
»Sofort?« Lyn ließ sich auf den Teppich sinken und schlug die Beine übereinander zu einem Schneidersitz. Eine erneute Zeitreise war das Letzte, was sie im Moment wollte. Weg von Khaled, dem freundlichen Assassinen, weg von Mako, dessen sterbliche Überreste in dieser menschenfeindlichen, fremden Wüste verstreut lagen. Hin zu einer Zeit, die ihnen ebenso wenig Erlösung versprach. Leider hatte Rona vollkommen recht. Sie durften sich Lions Befehlen nicht widersetzen.
»Also gut«, stimmte sie zu. »Soweit ich weiß, müssen wir noch nicht einmal das Zimmer verlassen, das Gebäude hat sich in den letzten dreißig Jahren kaum verändert. Das Einzige, was passieren könnte, ist, dass wir wieder im Schlafzimmer irgendeines Konstablers landen.«
Khaled schwang sich mutig über den Fenstersims und warf einen Blick hinunter über die Dächer der Stadt. Danach inspizierte er den recht nahen, sich auf gleicher Höhe befindenden Vorbau, über den Manasses von Hierges hin und wieder verbotenerweise seinen Nachttopf ausleerte. Dazwischen lag eine Kluft von gut fünfzehn Königsellen Tiefe und vielleicht vier Königsellen Breite, die es zu überwinden galt. Khaled war ein geübter Kletterer, der keinerlei Angst kannte, wenn es um luftige Höhen ging. Auf Masyaf, der Stammburg seiner Bruderschaft, hatte er ein paar Jahre lang eine strenge Schule durchlaufen, bevor er als |144|Verbindungsoffizier der Nizâri an den königlichen Hof von Jerusalem zurückgekehrt war. Diese Ausbildung hatte ihn nicht nur körperlich, sondern auch geistig bis an die äußersten Grenzen des Menschenmöglichen geführt. Ein Blick nach oben versicherte ihm, dass es genug Mauervorsprünge gab, an denen er sich festhalten konnte, bis er die richtige Höhe erreicht hatte, um einen Sprung hinüber zum Vorbau wagen zu können. Im fahlen Mondlicht streckte er einen nackten Fuß aus, um den ersten Überstand zu erreichen, auf dem er Halt finden konnte.
Nachdem ihm das gelungen war, langte er nach oben und zog sich mit den Fingerspitzen an einem zweiten Stein in die Höhe. Auf diese Weise gelang es ihm, sich Zug um Zug von seinem eigenen Fenster zu entfernen und an der steinernen Fassade entlang in Richtung Balkon zu klettern. Unter ihm fand soeben eine Wachablösung statt. Lautstark gerufene Befehle hallten zu ihm hinauf, und er hoffte, dass die Männer zu abgelenkt waren, um sein Treiben beobachten zu können. Wie eine Spinne hangelte er sich höher und höher, bis er fast das dritte Stockwerk erreicht hatte, in dem Prinz Balduins Schlafgemächer lagen.
Ab und an erwischte Khaled eine bröselige Kante, die sich als tückisch erwies, weil er keinen sicheren Halt finden konnte. Nachdem er ein weiteres Mal beinahe abgerutscht war, entschied er, dass er sein Schicksal genug herausgefordert hatte. Einmal noch drehte er den Kopf, weil er die Entfernung taxieren musste, dann drückte er sich ab. Einen Atemzug lang schwebte er in freiem Fall, wie ein Flughund, bevor seine Hände zuverlässig das hölzerne Obergeländer des Vorbaus zu fassen bekamen. Der Schlag, den seine sehnigen Arme und Hände beim Aufprall abfangen mussten, war ziemlich schmerzvoll, doch Khaled überwand das Brennen in seinen Muskeln und Handflächen und zog seinen drahtigen Körper mit einer routinierten Bewegung blitzschnell über die Brüstung. Auf der inneren Plattform des Vorbaus angekommen, durfte er erleichtert feststellen, dass die Frauen die Tür zum Balkon geschlossen hatten. So würde es ihm in jedem Fall leichter fallen, sie auszuspionieren. Ja, vielleicht konnte er sogar, wenn sie schliefen, an ihr Gepäck herankommen und alles in Seelenruhe durchsuchen.
Rona wartete geduldig, bis sich das Hologramm einer türkisfarbenen Hand, bestehend aus Millionen kleiner rotierender Lichtpunkte über dem flachen Display, aufgebaut hatte. Erst dann bat sie Lyn, näher heranzutreten |145|und ihre Finger an den markierten Stellen in den wabernden Lichtnebel zu tauchen.
Zuvor hatte sie per Gedankenaustausch Ort und Zeit des Transfers bestimmt.
18. Juni 1119, ein Datum, das – aus welchen Gründen auch immer – von Lion ausgesucht worden war. Möglicherweise das Gründungsdatum des Templerordens, aber dafür war Lyn zuständig. Hauptsache, sie würden Hugo de Payens oder einen würdigen Vertreter vorfinden.
»DNA-Analyse läuft!«, sagte eine weiche, weibliche Stimme, die Lion aus reiner Sentimentalität der ihren nachempfunden hatte. Lyns Gesicht zeigte keinerlei Regung, obwohl der Test darüber Auskunft geben würde, ob sie überhaupt eine Zeitreise in diesen Abschnitt antreten konnte. Vor jedem Einsatz entsendete der Suchstrahler des Servers das Energiemuster einer molekularbiologisch kopierten Körperzelle des jeweiligen Probanden in einem Quantenimpuls in die angegebene Zeitebene und glich sie dort mit den Schwingungsfrequenzen bereits vorhandener Moleküle ab. Ergab sich kein Echo, wurde damit sichergestellt, dass der betroffene Organismus in der angewählten Ebene noch nicht existierte. Stellte sich ein Echo ein, wurde der Transfer automatisch abgebrochen, da ansonsten das universelle Kontinuum beim Aufeinandertreffen zweier gleich schwingender Frequenzen die Energie in den doppelt vorhandenen Molekülen so weit ansteigen ließ, dass sie miteinander reagierten. Als Hackfleisch hatte Lion den Zustand nach einer solchen Reaktion unfein bezeichnet.
Rona rechnete jedoch nicht mit einer solchen Komplikation, niemand von ihnen war schon einmal so weit in die Vergangenheit gereist, es sei denn, sie würden es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal tun, doch davon ging sie im Moment nicht aus.
Khaled schrak zurück, als er den Lichtschein sah, und dann hörte er Stimmen. Auf allen vieren kroch er an die Tür heran und spähte durch die unzähligen kleinen Aussparungen in den Raum.
Was sich ihm dort offenbarte, ließ ihn zunächst zurückschrecken, doch die Faszination, so angsteinflößend sie auch sein mochte, siegte am Ende. Fassungslos beobachtete er, wie Lyn ihre Hand in einen türkisfarbenen Nebel steckte. Alles verlief lautlos, und sie vermittelte ihm nicht den Eindruck, als ob sie sich fürchtete. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. Was, wenn sie doch eine Zauberin war und ihn verhexte, sobald |146|sie ihn als ungebetenen Zeugen dieses unheimlichen Vorgangs bemerkte? Mutlos gestand er sich ein, dass es wohl kaum eine andere Wahrheit geben konnte. In seiner Brust kämpften Zuneigung und Enttäuschung, als er daran dachte, wie schonend Lyn ihn davon hatte überzeugen wollen, dass er ihre Welt gewiss nicht verstand. Atemlos verfolgte er den weiteren Fortgang der Ereignisse.
»DNA-Analyse positiv«, verkündete die Stimme tonlos, »Transfer nicht gestattet.«
Lyn benötigte ein paar Sekunden, bevor sie begriff, was das zu bedeuten hatte. Ihr Blick löste sich von der Plattform, und ihr Kopf ruckte hoch. Verstört sah sie ihre Schwester an. »Heißt das, du müsstest ohne mich ins Jahr 1119 reisen?«
»Kommt gar nicht in Frage«, erwiderte Rona nervös und startete den Rechner erneut. »Wer weiß, vielleicht sind die Dateien gestört. Wir versuchen es noch mal.«
»Oder ich war schon mal dort?«
»Das halte ich für ausgeschlossen, denn dann hättest du etwas verändert, und das hast du nicht.«
»Rona …« Lyn warf ihr einen besorgten Blick zu. »Was ist, wenn sich gar nichts verändern lässt? Ganz gleich, wer wo und wann wohin reist. Hast du daran schon einmal gedacht?«
»Hör auf damit! Davon will ich nichts wissen. Lion war überzeugt, dass es möglich ist, etwas zu verändern, also sind wir es auch.« Rona biss sich auf die Unterlippe und wandte sich wieder dem Server zu. »Wir probieren es einfach noch mal, vielleicht klappt es ja, wenn wir Januar 1120 eingeben.«
Lyn hob eine Braue und stieß einen Seufzer aus. »In Ordnung, du bist der Boss.«
Geduldig ließ sie die ganze Prozedur noch einmal über sich ergehen.
Wieder keine Freigabe zum Transfer.
»Versuch es selbst einmal. Wenn es bei dir auch nicht funktioniert, liegt es vielleicht am Server.«
Rona machte den Test und ging ohne Beanstandung durch. Transfer gestattet.
»Verdammt!«, fluchte sie und packte sich grübelnd ans Kinn.
|147|Offenbar gab es Streit zwischen den Frauen, doch Khaled konnte ihre Sprache nicht verstehen. Er richtete sich ein wenig auf, um besser sehen zu können, als plötzlich eine Fanfare weiter oben auf der streng bewachten Zitadelle erklang. Vor Schreck zuckte er zusammen. Im selben Augenblick glitt etwas Helles, Heißes donnernd über ihn hinweg und schleuderte die Holztür komplett ins Innere der Kammer. Brandpfeile, so groß wie eine mittlere Lanze, unterhalb der Spitze getränkt mit griechischem Feuer! Eine unselige Mischung aus Schwefel, Pech, Salpeter und Petroleum, die sich nicht mit Wasser, sondern nur mit einer speziellen Mischung aus Sand, Essig und Wein löschen ließ.
Noch einmal blies die Fanfare, eine drängende Aufforderung an alle waffenfähigen Einwohner Jerusalems, sich unverzüglich zur Verteidigung der Stadt bereitzuhalten.
Die beiden Frauen schreckten jäh zurück, als der riesige Pfeil samt Tür an ihnen vorbeisauste und sich in die nächste Tür bohrte, die er damit verschloss. Ein zweiter Pfeil blieb in der Matratze stecken. Im Nu stand die halbe Kammer in Flammen.
Khaled sprang in das lichterloh brennende Zimmer und versuchte das Feuer, das rasch auf Teppiche und Bettdecken übergriff, mit einem Kissen zu ersticken. Eher beiläufig sah er, wie Lyns Rucksack ein Raub der Flammen wurde.
Rona stand da wie gelähmt und hielt das seltsame, schwarze Kästchen, das nunmehr keinen Laut von sich gab, so fest in den Armen, als ob sie damit verschmolzen wäre. Lyn nahm es ihr ab und sammelte in panischer Verzweiflung etwas vom Boden auf. Das ganze Bett brannte inzwischen, und Khaled schob die beiden Frauen zur offenen Balkontür hinaus. »Wir werden mit Brandpfeilen beschossen!«, brüllte er. »Wir müssen sofort hier weg!«
Mit all seiner Kraft versuchte er die beiden Frauen hinaus auf den geräumigen Balkon zu drängen.
»Wo ist der Fusionslaser?«, brüllte Rona wie von Sinnen und widersetzte sich ihrem Retter mit einer Kraft, die ihn verblüffte.
»Du hast ihn in meinen Rucksack gesteckt«, schrie Lyn gegen die prasselnden Flammen.
»Wo ist er?«
»Ich hatte ihn aufs Bett gelegt, aber dort stand schon alles in Flammen!« |148|Lyn zuckte verzweifelt mit den Schultern. Sie hatte die Tasche noch retten wollen, aber das Feuer hatte bis auf ihre medizinische Ausrüstung, die sie zuvor samt der Nanokapseln in ihren Brustbeutel umgefüllt hatte, bereits alles verschlungen.
Rona streckte Lyn den Server entgegen und verschwand im dichten Qualm.
»Ist sie wahnsinnig?« Khaled packte Lyn bei den Armen. »Geh du auf den Balkon und warte, bis ich euch helfen kann hinunterzuklettern. Ich muss mich um deine verrückte Schwester kümmern.« Mit diesen Worten ließ er Lyn an der Balkontür stehen und stürzte sich zurück in die Flammen.
»Rona!« Lyn stieß einen markerschütternden Schrei aus, und dann sah sie Khaled, wie er Rona zu ihr nach draußen zerrte.
»Den Rucksack«, protestierte sie, »ich brauche meinen Rucksack!«
Khaled stürzte sich hustend in die Rauchschwaden, um ihren Rucksack zu suchen. Plötzlich erhob sich ein ohrenbetäubender Knall. Die Druckwelle katapultierte Rona und Lyn hinaus auf den Balkon, und auch Khaled landete unvermittelt vor ihren Füßen. Dann wurde es mit einem Mal stockfinster, und schlagartig war es still. Irgendwie roch es nach verbranntem Fleisch. Rasch verbarg Lyn den Server in einer Innentasche ihres Mantels, erst dann leuchtete sie Khaled in die weit aufgerissenen Augen. Die Pupillen reagierten normal. Beiläufig registrierte sie, dass sein Gesicht und seine Hände bis hinauf zu den Ellbogen tiefgehende Verbrennungen aufwiesen.
»Wie ist das passiert?«, wollte er mit krächzender Stimme wissen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Lyn und machte sich an ihrem Brustbeutel zu schaffen. Er benötigte Hilfe, und zwar schnell.
Unterdessen überprüfte Lyn die Vitalfunktionen ihrer Schwester und stellte beruhigt fest, dass sie zwar zu viel Kohlenmonoxid inhaliert hatte, ihre Atmung aber inzwischen normal verlief. Rasch verpasste sie ihr eine Injektion, die nicht nur Blutergüsse und Knochenbrüche heilte, sondern auch Kreislauf und Psyche stabilisierte.
Khaleds schmerzverzerrter Blick fiel auf Rona, die keinerlei Verbrennungen davongetragen hatte.
»Ich habe versucht, sie davon abzuhalten, deinen Beutel aus den Flammen zu retten. Griechisches Feuer kannst du nicht so einfach löschen. Wenn es deine Haut benetzt, frisst es sich bis auf die Knochen.«
|149|Ihr fragender Blick fiel auf Khaled, der wohl glaubte, sich für das, was geschehen war, entschuldigen zu müssen. »Sie wollte nicht auf mich hören«, stöhnte er leise. »Mir blieb nichts anderes übrig, als sie zur Räson zu bringen. Erst danach konnte ich versuchen, den Beutel zu retten, dabei ist das Bett über mir zusammengebrochen. Was danach geschehen ist, weiß ich nicht mehr.«
»Und das alles wegen meines Rucksacks.« Lyn sah ihn kopfschüttelnd an. »Ihr hättet sterben können, alle beide.«
»Was mich betrifft«, ächzte er mit trübem Blick auf seine verheerenden Wunden, »ist wahrscheinlich ohnehin nicht mehr viel zu machen. Die Wunden sind zu tief. Selbst die Ärzte im Maristan von Damaskus könnten da nichts mehr tun.«
»Hier!« Lyn beleuchtete unbeeindruckt von seinem Gerede eine kleine, silberne Kapsel, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und Khaled entgegenstreckte. »Nimm das in den Mund und beiß darauf.«
Sie musste sich beeilen. Zum einen, weil es Khaled so schlecht ging, dass er jeden Augenblick kollabieren und sterben konnte, zum anderen weil es nicht lange dauern würde, bis Hilfe aus dem Palast herbeieilen würde. Bei dem, was sie mit den beiden vorhatte, konnte sie keine Zeugen gebrauchen, schon gar nicht, wenn diese ihren Einsatz für pure Zauberei halten würden.
»Wie bist du überhaupt hier hereingekommen?«, fragte sie ihn beiläufig. »Ich hatte die Tür verriegelt.«
Khaleds Mund zuckte vor Schmerz. »Deine Augen«, murmelte er und starrte sie an wie unter Schock. Die Antwort auf ihre Frage blieb er ihr schuldig.
»Was ist mit meinen Augen?« Lyn versuchte den Schein der Gleichgültigkeit zu wahren, obwohl sie sich denken konnte, was in ihm vorging.
»Sie leuchten wie die einer Katze. Liegt es an dem merkwürdigen Licht, das du in deinen Händen hältst? Bist du doch eine Zauberin? Sag es mir, bitte!«, stöhnte er. »Wahrscheinlich willst du mich töten, weil ich Dinge gesehen habe, die ich nicht hätte sehen dürfen?« Trotz seiner Schmerzen beäugte er misstrauisch die Kapsel, die sie immer noch auffordernd zwischen ihren Fingern hielt.
Lyn seufzte ergeben. »Bitte nicht jetzt, Khaled. Vertrau mir ein einziges |150|Mal. Ich werde dir später alles erklären. Ich werde dich heilen. Ich schwöre es dir, bei …« Ja, bei was? »Beim Leben meines Anführers!«
Ihre Worte schienen ihn zu beeindrucken, jedenfalls öffnete er die Lippen und biss auf die Kapsel. »Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, murmelte er. »Oder vielleicht bist du ein Engel?« Seine Lider flatterten. Ein normaler Vorgang, wenn der Heilungsprozess über die Nanokapseln einsetzte.
»Ach, Khaled«, raunte sie und strich ihm über sein dichtes schwarzes Haar, das von den Flammen verschont geblieben war, »du redest ziemlichen Unsinn. Ich will nur, dass du morgen noch genauso perfekt aussiehst wie heute Mittag, als ich dich zum ersten Mal sah.« Sie versuchte sich an einem Lächeln. Er schlug verwundert seine schönen braunen Augen auf, und sein gehetzter Atem beruhigte sich.
Lyn kam es vor wie eine Ewigkeit, bis sich all seine Wunden geschlossen hatten. Eine plötzliche, ungekannte Hitze durchflutete ihren Körper, als sein Gesicht in der gewohnten Schönheit erstrahlte und seine Augen grenzenloses Erstaunen widerspiegelten.
»Es tut nicht mehr weh«, murmelte er mit heiserer Stimme. Fassungslos betrachtete er seine unversehrten Arme und Hände. »Wenn man von meiner verbrannten Kleidung einmal absieht, könnte man denken, dass gar nichts geschehen wäre!«
Sein strahlendes Lächeln war Lyn Grund genug, dass sie das erste Mal nach langer Zeit so etwas wie Glück spürte.
»Danke«, krächzte er. Von Rührung ergriffen, zog er Lyn in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
Plötzlich fühlte sie sich wie gelähmt, während gleichzeitig ihr Herzschlag davongaloppierte. »Khaled …« Ihre Stimme war belegt. Sie hätte ihm so viel sagen wollen, aber ihr fehlten die Worte.
»Kümmere dich um deine Schwester«, sagte er. Sein Blick wanderte zu Rona, die sich stöhnend neben ihm aufsetzte und verstört um sich schaute. Als sie Khaled bemerkte, der sich neugierig über sie beugte, zuckte sie verärgert zurück.
»Wenn du es noch einmal wagen solltest, mich zu schlagen, bist du tot!«, herrschte sie ihn an. Dann stieß sie ihn mit merklicher Kraft zur Seite. »Und überhaupt …was ist geschehen?« Ihr Blick wanderte an Lyn vorbei, hinauf zur Zitadelle, wo in schwindelnder Höhe zum vierten |151|Mal die Fanfare ertönte und damit anzeigte an, dass die Bedrohung durch den unbekannten Angreifer noch nicht vorüber war. Im Hintergrund läuteten unzählige Glocken in einem wild durcheinanderlaufenden Rhythmus. Offenbar herrschte überall ein allgemeiner Alarmzustand. Unter dem Balkon hatte sich die Stadt in ein tosendes Wespennest verwandelt. Gleichzeitig zog ein wahrer Feuerregen über die Dächer der Stadt hinweg.
»Wir sollten uns ins Innere des Palastes zurückziehen«, riet ihnen Khaled, der inzwischen ohne Hilfe auf die Füße gekommen war. »Wenigstens so lange, bis die Gefahr vorüber ist.«
Rona versuchte unter einem Ächzen, das so gar nicht zu ihr passen wollte, aufzustehen. Khaled wollte ihr helfen, doch sie schlug sein Angebot mit einer missmutigen Geste aus und schaffte es schließlich alleine. Anscheinend dachte sie nicht daran, ihm zu verzeihen, dass er ihr einen Schlag unters Kinn verpasst hatte, um ihre Unvernunft zu bezwingen. Als sie in Manasses’ Zimmer zurückkehrten, bot sich ihnen ein Bild merkwürdiger Leere.
»Wo sind unsere Sachen?« Rona schnellte herum und sah Khaled anklagend an, als ob er Schuld daran trug, dass sich ihre Ausrüstung im wahrsten Sinne des Wortes in Luft ausgelöst hatte. Das Zimmer war vollkommen leer, dafür lag eine dicke Staubschicht auf dem Boden.
»Das musst du nicht mich fragen«, schleuderte er verständnislos zurück. »All das hier ist bestimmt nicht allein wegen des Feuers passiert.«
»Den Server habe ich hier«, beruhigte Lyn sie und deutete auf ihren Mantel, wo sie das kleine Gerät vor Khaleds neugierigen Blicken verborgen hielt. »… und das hier…« Sie schaute dorthin, wo vorher das prachtvolle Bett gestanden hatte und nun bloß noch Asche zu sehen war. »Ich nehme an, das war unser Fusionslaser, der sich selbst und alles, was sich an organischen Gegenständen in der Nähe befand, ins Nirwana gepustet hat«, fügte Lyn hinzu.
»Wie kann das sein?«, fragte Rona aufgebracht. »Sein Gehäuse ist hitzebeständig bis 5600 Grad Celsius!«
Plötzlich waren Schritte zu hören. Lyn schaltete das futuristische Licht aus und versteckte es in einer Falte ihres Kleides.
Zwei Wachleute stürmten mit brachialer Gewalt durch die Tür, die ebenfalls verschwunden war. Eine Fackel voran blieben sie abrupt mitten |152|im Zimmer stehen, als sie sich mit drei völlig unversehrten Überlebenden inmitten eines verheerenden Brandschadens konfrontiert sahen. Einer der Männer hatte zwei Holzeimer in der Hand, bis zum Rand mit einer Sand-Essig-Mischung gefüllt, wie man am Geruch erraten konnte.
»Alles in Ordnung«, versuchte Khaled mit erhobenen Händen die Situation zu klären, »das Feuer ist gelöscht, und uns ist nichts geschehen.«
»Gelöscht?«, wiederholte einer der beiden und betrachtete Khaleds verbrannte Kleidung, als ob man ihn zum Narren halten wollte. »Wie hast du das denn geschafft?« Während die Männer immer noch wie angewurzelt dastanden und Khaled anstarrten, drängte sich eine viel kleinere Gestalt herein. Nesha schienen lediglich zwei Dinge zu interessieren. Khaled, der allem Anschein nach unverletzt geblieben war, und …
»Wo ist das vermaledeite Bett?« Ihr Blick streifte fassungslos durch das leere Zimmer.
»So wie es aussieht«, erwiderte Khaled, wobei er sich ein Grinsen verkniff, »wird die Königin ihrem Heerführer nicht nur ein paar neue Türen und Teppiche, sondern auch ein neues Lager spendieren müssen, es sei denn, sie möchte zukünftig auf seine Gesellschaft verzichten.«