Kapitel 24

Im Tal der Unendlichkeit

August 1153 – Sinai

 

Zwei Tage vergingen, in denen sie unentwegt auf den Pferden saßen, in der Hoffnung, Khaled und die anderen zu finden.

Währenddessen hatte sich Hannah an Geros Rücken geschmiegt, als ob er eine Festung wäre, hinter deren Mauern sie Schutz suchen |690|konnte. Gegen die angsteinflößende Weite des Landes, gegen die unerbittliche Hitze, gegen Tod und Verderben, aber vor allem gegen die Vorstellung, dass ihre Flucht in diese Zeit und an diesen Ort vollkommen umsonst gewesen war und sie einfach irgendwo in diesem Labyrinth aus Tälern und Bergen verdursten würden.

Dabei hatte sie nicht geglaubt, dass es ihnen gelingen konnte, den Assassinen und die restliche Truppe in diesem Nirwana zu finden. Gero und Arnaud hatten jedoch einmal mehr bewiesen, dass in ihnen nicht nur Schwerter schwingende Barbaren steckten.

Anhand des Sonnenstandes und der Sterne war es ihnen gelungen, sich zu orientieren, und jede noch so kleine Spur am Boden hatte ihnen die Gewissheit gegeben, auf dem richtigen Weg zu sein.

Trotzdem empfand Hannah es als kleines Wunder, als sie in einer Senke plötzlich auf zwei Kamele und mehrere Pferde stießen und Anselm, der nicht weit davon entfernt mit den anderen an einem Lagerfeuer gesessen hatte, ihnen mit Erleichterung in der Stimme verkündete, dass man schon voller Ungeduld auf sie gewartet habe.

 

Eine weitere Woche benötigten sie, bis sie gemeinsam den Watia-Pass überquerten.

»Wir werden immer noch verfolgt«, bemerkte Khaled, während er nach ein paar weit entfernten Staubwolken Ausschau hielt. Am Horizont zeigte sich eine Spiegelung von mindestens dreißig Pferden mit Kriegern, die mit Lanzen bewaffnet waren.

»Denkst du, es ist Abu Aziz?« Lyn sprach aus, was alle befürchteten.

Khaled zog das Tuch, das ihn gegen Hitze und Staub schützte, bis über seine Nase, als ob er damit rechnete, dass sein Gegenspieler ihn selbst aus dieser Entfernung erkennen könnte. »Das grüne Banner lässt lediglich darauf schließen, dass es sich um Sarazenen handelt.« Ohne eine weitere Einschätzung zu treffen, wendete er sein Kamel und gab die Richtung vor, in der sich womöglich das von allen ersehnte Geheimnis verbarg.

»Warum müssen wir auch immer so ein Glück haben?«, beschwerte sich Arnaud, der neben Khaled ritt.

»Was hast du erwartet?«, entgegnete Khaled und grinste ironisch. »Die zerklüftete Landschaft des Sinai gehörte nun mal zum ägyptischen Kalifat. Es wäre ungewöhnlich, an jeder Ecke auf Christen zu treffen. Und es würde unsere Mission nicht eben leichter machen. Ich |691|traue keinem über den Weg, ganz gleich, ob Christ oder Muslim. Es sei denn, es handelt sich um mein eigenes Volk.«

Arnaud warf ihm einen spöttischen Blick zu. Doch von den Templern reagierte niemand auf diesen unterschwelligen Angriff. Der Assassine nannte die Dinge gerne beim Namen, und es wäre töricht gewesen, sich ausgerechnet in dieser Situation mit ihm zu streiten. Denn das größte Problem waren nicht die Fatimiden – das größte Problem war der Durst. Die wenigen Wasserlöcher, die Khaled als Sohn der Wüste für sie ausmachen konnte, reichten kaum aus, um die dreizehn Menschen und zehn Tiere ausreichend zu versorgen. Und die großen Oasen waren zu gefährlich, weil dort entweder fatimidische Späher lauerten oder Wegelagerer, die es in der Umgebung der Wasserlöcher auf unvorsichtige Kaufleute abgesehen hatten. Erst am Tag zuvor hatten sie potentielle Angreifer mit Pfeil und Bogen in die Flucht geschlagen.

Ein Pferd war bereits verdurstet. Gegen den massiven Protest der Frauen hatte sein Kadaver den Speiseplan aller bereichert, der ansonsten vornehmlich aus getrockneten Datteln und steinhartem Fladenbrot bestand. Khaled, Struan und Arnaud hatten sogar das Blut getrunken, solange es noch warm war. Nun mussten Hannah und Freya, Lyn und Rona zu zweit auf einem Pferd reiten, weil sie leichter waren als die Männer. Stephano hatte man auf einem der zwei Kamele festgezurrt, damit er in seinem Fieberwahn nicht hinunterfiel. Auf dem anderen Kamel thronte Khaled, der mithilfe des Kelches für die richtige Orientierung sorgte.

»Ich würde mir weniger Sorgen machen«, brummte er, »wenn ich sicher wüsste, dass unsere Verfolger auf Abstand bleiben oder es gar nicht auf uns abgesehen haben. Aber bis zum Sinai sind wir noch gut eine Tagesreise unterwegs, und bis dahin kann noch vieles geschehen.«

»Du hast recht«, seufzte Gero. Die Sonne war schon fast untergegangen, doch es war immer noch brütend heiß. Aufrecht saß er auf seinem Hengst und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick fiel auf den Wasserschlauch, der an seinem Sattel befestigt war und ihn – knapp halbvoll – an ein gehäutetes, totes Tier erinnerte. Obwohl ihn der Durst plagte, entschloss er sich, nicht zu trinken. Als Templer war Gero es gewohnt, lange ohne Wasser auszukommen. In Zypern hatten endlos erscheinende Märsche durch die glühende Sonne zu ihrer Ausbildung gehört. Aber schließlich war er nicht allein unterwegs. Hannah |692|war von ihrem Pferd abgestiegen, das sie sich mit Freya teilte, und setzte sich erschöpft in den Schatten. Ihr Turban hatte sich gelöst, und sie fuhr mit den Fingern durch ihr langes, kastanienbraunes Haar.

»Wir rasten hier«, entschied Khaled, trotz seiner Sorge, von den Männern mit dem grünen Banner eingeholt zu werden. Der Felsvorsprung, an dem sie angelangt waren und der sie wie ein schützendes Dach von Angriffen schützte, war ideal, um ein paar Stunden Schlaf zu finden.

 

Gero war von seinem Hengst abgestiegen und beschwerte die Zügel des Tieres mit einem dicken Stein. Hannah beobachtete, wie er sich etwas Wasser in die hohle Hand goss und dem Tier mehrfach daraus zu trinken gab. Erst danach kam er zu ihr und reichte den Schlauch an sie weiter. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen an, und sie hatte Kopfschmerzen, was sicher eine Folge des chronischen Wassermangels war. Sie war versucht, alles zu trinken, nahm aber nur einen Schluck, weil sie wusste, wie kostbar jeder einzelne Tropfen war. Dankend reichte sie Gero den Schlauch zurück, und anstatt selbst zu trinken, schnürte er ihn wieder zu. Dabei konnte es ihm kaum besser ergehen als ihr selbst. Sie fühlte sich vollkommen erledigt, und die Hoffnung auf Besserung schwand von Stunde zu Stunde. Ihre Reserven waren völlig verbraucht. Was konnte ein Mensch alles aushalten? Diese Frage begleitete sie, seit sie aus Askalon geflohen waren. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und die Angst, das Kind zu verlieren, wurde größer, je länger sie unterwegs waren. Ein Blick in die Runde versicherte ihr, dass die anderen Männern und Frauen genauso litten.

Freya und Amelie hingen in den Sätteln und holten sich Trost bei Struan und Johan, die ebenfalls zu Gunsten ihrer Pferde und Frauen auf Wasser verzichteten.

Lediglich Rona und Lyn hielten sich wacker. Ihre Körper waren genetisch so konstruiert, dass sie tagelang ohne Nahrung und mit kaum Flüssigkeit auskommen konnten. Aber am schlimmsten hatte es Stephano erwischt.

Er fieberte stark und war total dehydriert. Immer wieder verlor er das Bewusstsein. Aus Anselms ängstlichem Blick las Hannah, wie viel ihn mit dem jungen Templer verband. Stephano war zum Sterben verurteilt, falls kein Wunder geschah.

|693|Khaled organisierte in routinierter Weise die Aufstellung der Wachen. Seine Miene war dabei wie versteinert. Wahrscheinlich hatte er sich diese Reise auch einfacher vorgestellt. Oder er hatte sie absichtlich im Unklaren gelassen, wie schwierig die Bedingungen waren, damit sie keinen Rückzieher machten.

Nachdem er beschlossen hatte, selbst die erste Wache zu übernehmen, hielt er nach Lyn Ausschau, die erklärt hatte, zu Fuß zusammen mit ihrer Schwester nach Gestrüpp und Feuerholz suchen zu wollen. Arnaud hatte sie begleitet, um auf sie aufzupassen, wie er beiläufig erklärte. Dabei wusste jeder, dass die beiden Frauen hervorragend auf sich selbst achtgeben konnten. Khaleds Blick traf auf Gero, der inzwischen die Pferde abgesattelt hatte und Hannah eine Decke unterschob, damit sie es auf dem glatten Felsplateau bequemer hatte.

»So Allah, er ist groß und erhaben, es will, werden wir morgen, um diese Zeit unser Ziel erreicht haben«, erklärte Khaled, und Hannah kam es so vor, als ob er mit seiner Aussage allen noch einmal Mut machen wollte.

»Wo müssen wir überhaupt hin?« Sie schaute aus müden Augen zu ihm empor. Langsam verlor sie die Geduld. Zu Anfang hatte es geheißen, man wolle zum Berg Sinai, dann hieß es, das Geheimnis sei ganz in der Nähe des Berges, aber man müsse es mithilfe des Kelches erst einmal finden. Nun war man kaum einen Tagesritt vom Kloster der heiligen Maria Theotókos entfernt, dem Katharinenkloster, wie es später einmal genannt werden würde, und es stand immer noch nicht fest, wo der Kelch sie genau hinführen würde. Einzig der Gedanke, dass im Kloster Hilfe zu erwarten war, hielt sie noch aufrecht.

»Bis dahin müssen wir noch durchhalten.« Gero setzte sich neben Hannah und legte einen Arm um ihre Schultern. »Dann haben wir es fürs Erste geschafft.« Er küsste sie vor Khaleds Augen auf den Mund, obwohl ihre Lippen spröde waren wie Reibeisen. »Ich bin mir sicher, dass das Wunder der Bundeslade uns beschützen wird«, sagte er zuversichtlich. »Immerhin hat es den Kindern Israels den rechten Weg aufgezeigt, also warum nicht auch uns?«

Khaled nickte, als ob er ihm zustimmen würde, und wandte sich ab, um ein eigenes Lager aufzuschlagen.

»Dumm ist, dass wir nicht die Kinder Israels sind.« Hannah beobachtete mit zusammengekniffenen Lippen die feindliche Umgebung.

|694|»Gott lenkt all seine Kinder«, erwiderte Gero unbeirrt. »Selbst wenn es Heiden sind.« Er nahm ihre Hand in seine großen Hände und drückte sie sanft. »Denk an unser Kind. Was sollte es von uns halten, wenn wir einfach aufgeben?«

Sie strich ihm besänftigend über die bärtige Wange, deren blonde Stoppeln sich durch Staub und Schweiß dunkel verfärbt hatten.

»Es tut mir leid«, sagte sie und ließ ihren Kopf auf seine breite Schulter sinken. »Ich wollte nicht sarkastisch sein. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie uns ein Wunder aus dieser Misere helfen soll. Irgendwie ist alles schiefgelaufen. Und ich frage mich inzwischen, ob wir je eine Wahl hatten, es besser zu machen, und ob ich vielleicht eine Mitschuld trage, dass alles so gekommen ist.«

»Ich habe immer auf Gott vertraut«, sagte er leise. »Und ich habe es bisher nicht bereut. Dabei sind mir im vergangenen Jahr mehr Wunder widerfahren als manch einem Menschen im ganzen Leben.«

Er blickte auf sie herab, und seine Augen leuchteten aus seinem verdreckten Gesicht so blau wie der Himmel. »Du bist eines davon.« Seine von Narben gezeichnete Hand fuhr sacht über ihren noch flachen Bauch. »Und da wächst gerade das nächste heran.« Er schwieg einen Moment. Dann küsste er sie und drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch atmen konnte. Sie schmeckte das Salz auf seiner Haut und spürte, wie seine Kehle erzitterte. »Er muss uns einfach helfen. Seine Güte, dass er uns über die Grenzen der Zeit zueinandergeführt hat, kann doch nicht vergebens gewesen sein.«

Hannah dachte, was er dachte. Dieser Gott, auf den er so schwor, hatte ihm schon einmal alles genommen. Seine Frau, sein Kind und all seine Hoffnung – sie waren allesamt eines unglaublich barbarischen Todes gestorben.

»Nein«, sagte er fest, und schaute sie an, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. »Diesmal wird Er mir nicht alles nehmen. Denn dann wäre er wirklich ein grausamer Gott und mein Vertrauen nicht wert.«

»Ich werde ihn persönlich zur Verantwortung ziehen«, flüsterte sie. »Wenn er nicht das tut, worum du ihn bittest.«

Gero bot Hannah noch etwas von dem Wasser an, das sie vor zwei Tagen gesammelt hatten. Dankend lehnte sie ab. »Trink du etwas«, bat sie ihn. »Du hattest noch gar nichts, und mein Magen schlägt Purzelbäume, wenn ich mir laufend diese Brühe einverleibe.«

|695|Beunruhigt dachte sie daran, was sie ihrem Körper in dieser Einöde alles zumutete. Inzwischen fühlte sie sich wie eine Hundertjährige. Wie die anderen Frauen hatten sie massiv an Gewicht verloren, und ihre Gesichter waren von der Sonne verbrannt.

Khaled schien beunruhigt, weil Lyn, Rona und Arnaud immer noch nicht zurück waren. Und obwohl er seinen Teppich bereits ausgebreitet hatte, um zu Allah zu beten, machte er sich zu Pferd auf, um nach ihnen zu suchen. Hannah erschien es wie eine Ewigkeit, bis sie endlich Hufgetrappel hörte.

»Wir haben eine Wasserstelle gefunden!«, rief Khaled. Die Begeisterung über dieses unverhoffte Glück war in seiner Stimme zu hören. Etwa achthundert Meter entfernt plätscherte eine natürliche Quelle direkt aus dem Felsen, der von einer kleinen, verfallenen Moschee umbaut war.

Im Nu brachen die Männer auf, um die Tiere zu tränken und die Schläuche zu füllen. Trotzdem beschloss man, das Lager nicht zur Quelle zu verlegen, um der Gefahr einer Entdeckung durch Soldaten und Räuber zu entgehen.

Hannah trank wie eine Ziege, als Gero zurückkehrte und ihr den prall gefüllten Schlauch an die Lippen setzte. Das Wasser schmeckte leicht säuerlich, wahrscheinlich weil es mit Mineralien angereichert war, aber im Vergleich zu dem, was ihr bisher zur Verfügung gestanden hatte, war es herrlich.

Als die Nacht hereinbrach, nutzten Gero und seine Kameraden die Stille und stimmten am Feuer einen leisen Gesang zu Ehren der Heiligen Jungfrau an, indem sie ihr dankten und um weitere Unterstützung baten.

Anselm hockte zusammen mit Tanner, der ihn offenbar mit fachmännischen Ratschlägen aus seiner Zeit als Armeesanitäter nervte, bei Stephano und flößte ihm das frische Wasser ein. Danach wusch er ihn mit nassen Lappen ab. Freya half ihm dabei, indem sie dem Schwerverletzten immer wieder kühlende Umschläge bereitete. Als ehemalige Beginenschwester war sie eine erfahrene Krankenpflegerin und wusste, wie man mit solchen Fällen umzugehen hatte.

»Wie geht’s ihm?«, fragte Hannah, obwohl jeder sehen konnte, dass Stephano mit dem Tod rang.

Anselm nahm ihre Hand und führte sie zu Stephanos Stirn. Der |696|junge Templer war glühend heiß. »Ich bin kein Arzt«, flüsterte Anselm, weil er wohl befürchte, Stephano könne ihn hören, »aber wenn es so weitergeht, wird er den morgigen Tag kaum überstehen. Ohne ärztliche Hilfe und Medikamente kann er nicht überleben.«

»Morgen erreichen wir das Kloster«, gab Hannah zu bedenken. »Ich bin mir sicher, dass man ihm dort helfen kann.«

Als sie zu Gero ans Feuer zurückging gewann sie den Eindruck, dass mit Ausnahme von Stephano, dessen Zustand trotz des Wassers unverändert blieb, nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere schlagartig lebendiger geworden waren.

»Und?«, fragte Gero, als er sich mit ihr gemeinsam in ihre Decke schmiegte. »Glaubst du immer noch nicht an Wunder?«

»Möglicherweise hast du eine bessere Verbindung nach oben als ich«, gab sie unumwunden zu. »Zumindest das Beten scheint geholfen zu haben. Aber richtig glücklich bin ich erst, wenn wir unseren Auftrag erledigt haben und Matthäus wieder bei uns ist.«

»Mir geht es genauso«, murmelte er und beugte sich zu ihr hinab, um ihren Hals zu küssen. Um sie herum war es plötzlich still geworden.

Struan und Amelie schmusten ein wenig abseits so heftig auf ihrem Lager, dass Gero meinte, sich räuspern zu müssen. »He, Schotte, denk dran, dass du besser schlafen solltest, du hast die zweite Wache.«

Struan brummte einen unverständlichen, gälischen Fluch und ließ sich nicht weiter beirren, Amelie ein wenig Ablenkung zu verschaffen.

Die erste Wache hatten Khaled und Lyn übernommen, aber auch sie turtelten mehr, als dass sie die Umgebung im Blick hielten. Mit einem Mal war eine ausgelassene Stimmung angebrochen. Die Aussicht, dem Ziel so nahe zu sein und dabei nicht mehr verdursten zu müssen, ließ alle euphorisch werden. »Lass Struan und Amelie in Frieden«, murmelte Hannah und schmiegte sich schläfrig an Geros harten Körper. Ihre Hand wanderte abwärts, und er atmete tief und konzentriert, als sie begann, seine Erektion zu streicheln.

»Ohne Wasser wäre das kaum möglich gewesen«, scherzte er und lächelte schwach. »Doch wir sollten ein Opfer bringen und keusch bleiben, bis wir alle in Sicherheit sind.«

»Was du nicht sagst«, flüsterte Hannah amüsiert und schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, es hilft uns weiter, wenn wir auf Zärtlichkeiten verzichten.«

|697|»Nein, du hast recht«, erwiderte er und zog sie ganz nah zu sich heran.

 

Am nächsten Tag durchquerten sie im Morgengrauen ein zerklüftetes Tal. Der Weg hindurch war schmal und steinig, und die Felswände ragten seitlich mehr als einhundert Meter hoch. Bis zum Kloster waren es laut Khaled nur noch wenige Meilen, als ein paar herabfallende Steine die Pferde scheuen ließen. Obwohl nichts auf einen Angriff deutete, zogen Gero und die übrigen Männer ihre Waffen. Von einem zum anderen Moment spürte Hannah, wie ihr Herz davonraste.

»Bleibt zurück!«, rief Gero, und mit Struan und Khaled übernahm er eine kleine Vorhut, die sich auf ein breites Plateau zuwagte, das am Ende des schmalen Passes lag.

Ein paar arabisch klingende Flüche hallten durch die Schlucht, und im Nu wurde die Geräuschkulisse zu einem brodelnden Stimmenvulkan.

Zögernd begriff Hannah, dass sie von fremden Reitern umzingelt waren.

Tanner schoss in vollem Galopp an ihr vorbei. »Araber«, brüllte er heiser. Kurz danach folgte Johan. »Mindestens fünfzig Mann«, rief er ihnen zu. »Seht zu, dass ihr verschwindet!«

»Leichter gesagt, als getan«, flüsterte Hannah zu sich selbst und lenkte ihr Pferd in einen seitlichen Felskorridor hinein, um Anselm zu helfen, der sich hektisch um Stephano und das Kamel kümmern musste, das ihn trug.

Mit vereinten Kräften zerrten sie das Tier in das notdürftige Versteck hinein.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Freya, die hinter Hannah aufgesessen war, nachdem sie ihren Verfolgern fürs Erste entkommen waren.

»Am liebsten würde ich Gero und den Männern hinterherreiten«, antwortete Hannah, »aber das wäre in Anbetracht der Lage wohl ziemlich töricht. Sie müssen sich erst einmal selbst verteidigen.«

Als Hannah sich umschaute, sah sie, wie eine ganze Horde von Fatimiden an dem schmalen Zugang vorbeigaloppierten. Johan hatte nicht übertrieben, es waren mindestens fünfzig. Der Hengst schien ihre Panik zu spüren, jedenfalls gehorchte er anstandslos, als sie ihn |698|durch die Furt hindurch in ein unscheinbares Seitental trieb. Anselm folgte ihnen schweigend.

»Und nun?«, fragte Hannah, als sie unvermittelt ein sonnendurchflutetes Plateau erreichten.

»Das Kloster liegt südlich von uns«, keuchte ihr Freya ins Ohr. »Wenn wir nicht nur unser eigenes, sondern auch Stephanos Leben retten wollen, müssen wir nach Süden.«

 

Gero wusste nicht, ob er überrascht oder maßlos wütend sein sollte, weil weder er noch die anderen die Annäherung der Fatimiden bemerkt hatten. Im Nu waren sie eingekreist.

»Ergebt euch, und legt die Waffen nieder!«, hallte es von den Felswänden. »Dann wird euch nichts geschehen.«

»Eine Lüge«, murmelte Tanner, der anstatt Stephano zusammen mit Anselm in Sicherheit zu bringen, unversehens mit in die Falle getappt war. Natürlich würden die Sarazenen sie erledigen, sobald ihnen danach war.

»Wir können uns nicht ergeben«, sagte Gero, »denn das bedeutet nichts anderes als den sicheren Tod.« Die Entscheidung, um jeden Preis zu kämpfen, wäre einfacher gewesen, wenn Stephano und die Frauen nicht dabei gewesen wären. Wobei, wenn er sich unter seiner verbliebenen Truppe umschaute, entdeckte er nur Amelie, die sich völlig verängstigt an Struan klammerte. Von Hannah, Freya und den beiden Frauen aus der Zukunft fehlte jede Spur, auch Anselm und Stephano schien die Flucht aus dem Kessel gelungen zu sein. Sollten sie es tatsächlich geschafft haben, den Fatimiden zu entkommen?

 

Resigniert beobachtete Khaled, wie in den zerklüfteten Felsen oberhalb des Tals fatimidische Bogenschützen Aufstellung genommen hatten.

Eine Delegation von zehn Reitern quoll zudem durch den einzig möglichen Ausgang, so dass an Flucht nicht zu denken war. Die feindlichen Truppen waren von zwei Seiten gekommen, somit stand fest, dass man sie verfolgt und beobachtet hatte.

An ihrer Spitze ritt Abu Aziz Maulā. Er saß auf einem prachtvollen, schwarzen Araber, umringt von seinen Offizieren und Fahnenträgern.

»Allahu akbar«, brüllte er ihnen entgegen. »Gott hat uns entsandt, |699|um den Mörder Malik al-Russaks seiner gerechten Strafe zuzuführen. Zudem sind wir gekommen, um die feigen Diebe seiner Schätze zu richten!«

Khaled schnaubte und spuckte verächtlich zu Boden. Dann trat er hervor, um sich dem Fatimidenführer zu stellen.

»Sag, dass du meinen Kopf willst, und lass die anderen gehen!«

Abu Aziz brach in schallendes Gelächter aus. »Denkst du ernsthaft, Assassine, ich wäre so einfältig, dir einen schnellen und gnädigen Tod zu schenken? Ich weiß, dass du und deine Brüder nicht umsonst hier seid. Ich werde dir nicht den Gefallen tun, euch zu töten, bevor ihr mich nicht in eure Geheimnisse eingeweiht habt.«

Khaled dankte Allah, dass Lyn und Rona allem Anschein nach entkommen waren. Er hatte die Ankunft der Verfolger befürchtet, aber niemandem davon etwas gesagt. Es hätte keinen Sinn ergeben, so, wie es nun keinen Sinn ergab, sich gegen eine Übermacht von fünfzig Kriegern zu stellen. Es sei denn, sie wollten schnell sterben.

Wenn sie sich ergaben, hatten wenigstens einige von ihnen die Möglichkeit zur Flucht. Danach würde alleine Allah darüber entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hatte.

Dass die fünf Templer seine Überlegungen nicht teilten, verrieten ihre entschlossenen Blicke und wie sie ihre Schwerter und Schilde hielten.

Johan hatte demonstrativ seine Armbrust gespannt.

»Was willst du damit ausrichten?«, fragte ihn Khaled und ließ seinen Blick über die zahllosen Bogenschützen schweifen, die Abu Aziz hatte aufstellen lassen. Dann schaute er auf Amelie. »Denk an das Mädchen! Sie wird die Erste sein, die stirbt.«

 

Hannah zögerte noch, mit Anselm und Stephano zum Kloster zu reiten, solange sie nicht sicher sein durfte, ob auch den anderen die Flucht gelungen war.

»Wir haben Lyn und Rona verloren«, rechtfertigte sie sich gegenüber Anselm, der vor Sorge ganz bleich war. »Ich habe gesehen, wie sie den Fatimiden entkommen konnten. Aber dann waren sie plötzlich verschwunden. Wir müssen sie suchen!«

»Wir werden uns noch verirren«, jammerte Freya, die ansonsten ganz und gar nicht zaghaft war.

»Werden wir nicht«, erwiderte Hannah und lenkte den Hengst |700|zurück in die Berge, dorthin, wo sie hergekommen waren. »Gero wird uns dort suchen, wo wir uns zuletzt gesehen haben.«

Umso erschrockener reagierte sie, als sie plötzlich den Hufschlag eines weiteren Pferdes hörte. »Das müssen unsere Männer sein«, flüsterte Freya aufgeregt. Hannah war sich da nicht so sicher. »Es ist nur ein Pferd und nicht mehrere.« Hastig drängte sie den Hengst in eine Nische und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, um die anderen zum Schweigen aufzufordern.

Das Pferd trabte vorbei, und obwohl sie enttäuscht war, dass es sich nicht um Gero handelte, erfasste sie eine freudige Erregung. »Rona! Lyn!« Rasch brachte sie den Hengst auf den Weg zurück.

»Wo sind Amelie und unsere Männer?«, fragte sie aufgebracht.

»Nicht weit von hier«, bemerkte Rona tonlos. »Abu Aziz hat sie und das Mädchen in seiner Gewalt. Wenn wir ihnen helfen wollen, müssen wir bis zum Abend warten. Nur in der Dunkelheit können wir uns nahe genug an das Lager heranschleichen, um sie zu befreien.«

»Auch das noch!«, entfuhr es Anselm, der verzweifelt nach einem Platz Ausschau hielt, wo er mit Stephano warten konnte, bis der Weg hinunter ins Tal wieder frei sein würde.

»Um …Himmels willen«, stotterte Hannah, als sie Lyns versteinerte Miene bemerkte. »Was haben sie mit ihnen gemacht?«

»Komm!«, sagte Lyn und forderte Hannah auf, ihr lautlos zu folgen.

Während Anselm sich um Stephano kümmerte, indem er den bewusstlosen Templer im Schatten eines Überhangs lagerte, schlichen Hannah und Freya den beiden Schwestern hinterher.

Als sie sich über die Abbruchkante des Felsens beugten, zu der Lyn sie in geduckter Haltung geleitet hatte, drehte sich Hannah der Magen um. Inmitten von johlenden Fatimiden lag Khaled nackt auf dem steinigen Wüstenboden. Ausgestreckt auf dem Bauch liegend, hatte man ihn an Händen und Füßen an Pflöcke gefesselt. Ein fatimidischer Söldner stand neben ihm und hielt eine gewaltige Axt in der Hand.

»O mein Gott«, flüsterte Freya. »Wird er ihn töten?«

Khaleds Rücken war mit blutigen Striemen übersät.

»Sie haben ihn gefoltert«, verriet Lyn mit belegter Stimme, »und wenn er ihnen nicht gesteht, was sie in dieser Einöde zu suchen haben, will man ihn vor den Augen der Templer enthaupten lassen.«

Hannahs panischer Blick glitt über das Lager hinweg zum anderen |701|Ende der schmalen Schlucht, in der man Gero und seine Kameraden, an Händen und Füßen gefesselt, sich selbst überlassen hatte. Wegen ihres langen, blonden Haares hatte Amelie, so, wie es aussah, die besondere Aufmerksamkeit der Feinde erfahren. Abu Aziz wusste anscheinend, dass sie aus dem Harem geflohen war, und beanspruchte sie nun für sich. Es war eine Frage der Zeit, bis er ihr gegenüber seine Männlichkeit unter Beweis stellen würde. Für Struan musste es unerträglich sein, zu beobachten, wie man sie, völlig apathisch, dem fatimidischen Anführer überließ.

»Wieso leben sie noch?«, fragte Hannah mit bebender Stimme. Es musste einen Grund geben, warum der Fatimidenführer sie nicht einfach abgeschlachtet hatte. Lyn, die neben ihr in der Deckung lag, kramte in ihren Kleidern und holte ein goldschimmerndes Gefäß hervor. Der Kelch.

»Wissen sie, was er wert ist?« Hannah überlief ein Schauer bei dem Gedanken, dass Khaled den Angriff der Fatimiden offenbar vorausgeahnt hatte, als er den Kelch Lyn überließ.

»Sie wissen nicht einmal, was genau gestohlen wurde, nehme ich an«, antwortete Rona anstelle ihrer Schwester. »Aber wer kann schon glauben, dass es um nichts geht, wenn man bereit ist, dafür einen Wesir vor seiner weit geöffneten Schatzkammer zu töten und ansonsten nichts mitgehen lässt, obwohl man die Gelegenheit dazu gehabt hätte.«

»Immerhin ging es um mich«, fiel Freya ihr empört ins Wort.

»Glaub mir, ich bin lange genug in dieser Zeit«, entgegnete Rona ein wenig spöttisch, »um zu wissen, dass Typen wie Abu Aziz den Wert einer Frau ein wenig anders einschätzen als zum Beispiel ein fränkischer Ritter – oder ein Assassine, dem die Vielweiberei aus Überzeugung ein Fremdwort ist.«

Unter ihnen hatte der von Abu Aziz abgestellte Folterknecht zur nächsten Runde geblasen. Lyn kniff die Lider zusammen und wandte sich ab, als er Khaled in die Haare fasste und seinen Kopf in den Nacken riss. Ein Schwall arabischer Bosheiten schwappte über ihn hinweg, und ein Dolch wurde an seine Kehle gesetzt.

»Sie werden ihn umbringen«, keuchte Hannah.

»Nicht solange sich niemand von dieser Vorführung beeindrucken lässt und Gero und seine Begleiter dichthalten.« Rona spähte in den blauen Vormittagshimmel und rechnete, wie lange es wohl dauern |702|würde, bis sich der Abend herabsenkte, als Freya plötzlich aufzuspringen versuchte. Lyn riss sie geistesgegenwärtig zu Boden.

»Bist du verrückt? Duck dich!«, zischte Rona verärgert.

»Ich habe Pferde gehört! Viele Pferde!«, verteidigte Freya ihr Vorgehen.

»Das kann nicht sein«, beschwichtigte Lyn sie. »Mein Gehör ist weitaus ausgeprägter als das eines normalen Menschen. Ich hätte es auch hören müssen.«

Freya ignorierte ihren Widerspruch und zog den Dolch vom Gürtel, den Johan ihr überlassen hatte. Mit einer gewissen Gnadenlosigkeit im Blick rammte sie ihn in den Boden und legte ihr Ohr an den metallischen Knauf. »Hah!«, triumphierte sie, »ich kann das Donnern von Hufen hören, auch wenn sie noch weiter weg sind.« Mit einer herrischen Geste forderte sie Lyn auf, es ihr nachzutun.

»Tatsächlich, Reiter«, tat Lyn ihre Verblüffung kund, die, dieser uralten Methode folgend, nun auch etwas vernommen hatte. »Leider lässt sich nicht sagen, ob es weitere Fatimiden sind oder nur eine Horde Berber, die sich an schutzlosen Kaufleuten gütlich tun wollen.«

»Vielleicht sollten wir nachsehen«, empfahl Hannah. »Möglicherweise sind es Christen, die uns helfen können.«

»In dieser Gegend halte ich das für ziemlich ausgeschlossen«, erwiderte Rona. »Du hast doch gehört, was Khaled erklärt hat. Dieses Land steht unter der Herrschaft des ägyptischen Kalifen. Falls sich christliche Kreuzritter in diese Gegend wagen, müssen sie schon einen triftigen Grund haben.«

»Womit du recht behalten könntest.« Für einen Moment glaubte Hannah, an einem gegenüberliegenden Bergkamm das Banner der Templer gesehen zu haben. »Vielleicht ist es André de Montbard, der uns zu Hilfe eilen will.« Hoffnung keimte in ihr auf. »Wir sollten ihnen entgegenreiten, damit sie sich beeilen.«

Nachdem Lyn diesem Vorschlag zugestimmt hatte, lief Hannah zu Anselm hin, der ganz in der Nähe hockte.

»So gern ich euch und den anderen helfen würde«, flüsterte Anselm heiser, wobei sein Blick auf den todkranken Templer fiel. »Ich muss mit ihm hierbleiben und auf eure Rückkehr vertrauen. Ich will nicht, dass er einsam und allein sterben muss.«

Lyn, die für Anselms Haltung Verständnis aufbrachte, wusste nicht, |703|ob es eine gute Idee war, auf unbekannte Reiter zu vertrauen, als sie zu Pferd eine Kuppe erreichten, von der aus der Trupp mit den Ordensrittern gut zu sehen war. Im Schutz eines Überhangs beobachteten sie die Weißmäntel mit den roten Kreuzen auf Brust und Schulter, die wie eine Zielscheibe leuchteten.

»Es muss einen Grund haben, warum die Truppen des Königs plötzlich auf mindestens zwanzig Templer verzichten können«, bemerkte Rona leise.

»Wenn es stimmt, was Gero gesagt hat«, gab Hannah zu bedenken, »müsste Askalon inzwischen erobert worden sein.«

Plötzlich hellten sich Ronas Gesichtszüge auf. »Vielleicht weiß Abu Aziz noch gar nichts von seinem Glück und ist uns nur deshalb gefolgt, weil er dachte, die Christen hätten es aufgegeben, seine Stadt einnehmen zu wollen?«

»Und du denkst, er hat die Revanche verpasst, und nur deshalb haben die Christen gewonnen?« Lyn sah sie fragend an.

»Möglich ist alles.« Rona übergab die Zügel des Pferdes an ihre Schwester.

Behände kletterte sie auf einen Vorsprung und spähte in die Ferne.

Der Verdacht, dass die Männer ihnen nicht wohlgesinnt sein könnten, bestätigte sich, als sie in gut tausend Meter Entfernung das vernarbte Gesicht von Berengar von Beirut erkannte. An seiner Seite ritt die dürre Gestalt des Peter de Vezelay, der keinen Argwohn zu haben schien, dass hier irgendwo eine Bedrohung lauern könnte. Wahrscheinlich folgten sie den Spuren der Fatimiden und glaubten, dass es sich um Gero und seine Truppe handeln musste.

»Wenn sie auf die Fatimiden treffen, sind wir gerettet«, frohlockte Rona.

»Meinst du nicht, wir sollten sie warnen?« Hannah verstand die Welt nicht mehr. »Ich meine, es sind schließlich Templer. «

»Diese Templer«, erklärte Lyn mit abschätzigem Blick, »wollten Gero und seine Männer hängen, wegen eines Verbrechens, das sie gar nicht begangen haben. Man hat versucht, ihnen den Mord an einigen Ordensbrüdern anzulasten, die ihrerseits als Sarazenen getarnt ein jüdisches Dorf überfallen und sämtliche Einwohner getötet haben. Allein Montbard haben eure Männer es zu verdanken, dass es nicht so weit gekommen ist.«

|704|Hannah stockte der Atem. »Davon hat Gero mir gar nichts erzählt.«

»Wahrscheinlich wollte er dich nicht beunruhigen.« Lyn warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Außerdem macht er mir nicht den Eindruck, als ob er gern über Dinge spricht, die für ihn längst erledigt sind.«

»Also steht André de Montbard doch auf unserer Seite?« Hannah war sich nicht im Klaren darüber, was sie von diesem Mann zu halten hatte. Einerseits hielt er Matthäus und Hertzberg in seiner Gewalt, anderseits hatte er Gero das Leben gerettet?

»Wenn du mich fragst, besitzt er einen schillernden Charakter«, bestätigte ihr Lyn. »In erster Linie geht es ihm um den Kelch und in zweiter um das Widererlangen seiner Macht im Orden. Manchmal zweifle ich daran, ob er für die Menschen, die ihm helfen, zu bekommen, was er will, tatsächlich Verantwortung empfindet.«

»Und wie steht er zu unseren Verfolgern?«

»Berengar von Beirut und sein Vertreter Peter de Vezelay sind für André de Montbard nichts weiter als gefährliche Konkurrenz. Sie haben es zusammen mit dem getöteten Großmeister zu verantworten, dass Montbard vor drei Jahren seines Postens enthoben wurde. Würde mich nicht wundern, wenn der gute André sie nach Tramelay aus dem Feld schlagen will und ihnen einen Tipp gegeben hat, uns zu folgen.«

»Denkst du, so etwas würde er tun?« Hannah warf Lyn einen fragenden Blick zu. »Ich meine, was wäre, wenn so ein Plan schiefgeht und der Kelch in feindliche Hände gerät?«

»Keine Ahnung.« Lyn beschirmte ihre schrägstehenden Augen vor der Sonne und warf einen weiteren Blick in die Ferne. »Ich weiß nur, dass Vezelay und Berengar ebenso hinter dem Kelch her sind wie alle anderen. Zumindest das haben sie mit Montbard gemeinsam.«

Mit einer gewissen Anspannung, was als Nächstes geschehen würde, kehrten die vier Frauen zu ihrem Ausgangspunkt zurück und lauerten darauf, dass das Templercorps und die Fatimiden zwangsläufig in der nächsten halben Stunde aufeinandertrafen. So viele Ausweichmöglichkeiten, um auf den Heiligen Berg oder zum Kloster der Heiligen Mutter zu gelangen, gab es nicht, als dass sie einander verfehlen konnten.

Wie Hyänen lauerten Rona und Lyn oberhalb des Gefangenenlagers der Fatimiden, um – wenn es zum Kampf zwischen Christen und Sarazenen kommen sollte – hinabzustoßen und Khaled aus seinen Fesseln |705|zu erlösen. Dann wollten sie Gero und seine Kameraden befreien und mit ihnen fliehen.

Freya, Hannah und Anselm blieben bei Stephano und hielten ihre Tiere in einem Unterstand versteckt, um sie bei einer Flucht so rasch wie möglich zum Ausgang der Schlucht führen zu können. Hannah hatte die ehrenvolle Aufgabe übernommen, den Kelch zu hüten.

Ein Horn warnte Abu Aziz vor den anmarschierenden Ritterbrüdern, und da er keine Ahnung hatte, ob ihm seine Gefangenen beim bevorstehenden Überfall der Christen gefährlich werden konnten, befahl er deren sofortige Hinrichtung.

Lyn dachte nicht lange nach, als der Sarazene die Axt hob, um Khaled zu köpfen. Mit ausgebreiteten Armen sprang sie mindestens sechs Meter hinab, dem Fatimiden, der seine Waffe erhoben hatte, in den Nacken. Obwohl sie kein Schwergewicht war, stürzte der Mann mit ihr zu Boden. Seine Axt schrammte im Fallen haarscharf an Khaleds linker Hand vorbei und kappte die Fessel. Hastig befreite er sich von den anderen Stricken, indem er dem am Boden liegenden Söldner den Dolch abzog.

Bevor der Mann sich aufrichten konnte, um sich auf Lyn zu stürzen, hatte Khaled ihm rasch und lautlos die Kehle durchschnitten.

Rona hatte von der anderen Seite angegriffen und mit einem heftigen Tritt zwei der Wachen außer Gefecht gesetzt, die Gero und seine Männer beinahe mit ihren Krummsäbeln ins Jenseits geschickt hätten. Dann zückte sie einen Dolch und durchschnitt sämtliche Seile.

Gero, Struan, Johan und Arnaud griffen sich die am Boden liegenden Schwerter. Mit brutaler Entschlossenheit schlugen sie eine Bresche in die herandrängenden Männer. Beiläufig registrierte Gero, dass sie unverhoffte Verstärkung bekommen hatten. Plötzlich strömte gut ein Dutzend Templer in den Kessel und lieferte sich mit den völlig überraschten Fatimiden ein erbarmungsloses Gemetzel. Zu seiner Verblüffung sah Gero, dass Berengar von Beirut unter den Angreifern war.

Lyn rannte mit Khaled, der Hose und Stiefel seines getöteten Feindes übergezogen hatte, quer über den Platz. Sie nutzte den Tumult, um einen Bogen samt Köcher an sich zu reißen, und hielt Khaled und Geros Leuten mit dieser Waffe weitere Feinde vom Hals. Gemeinsam kämpften sie sich zu den Pferden vor.

|706|Struan war bereits bei den Tieren angekommen, er trug Amelie auf dem Arm und hatte Blutspritzer im Gesicht, ein Zeichen dafür, dass ihre Befreiung nicht kampflos verlaufen war.

»Los, los, los!«, rief Rona und bändigte die scheuenden Tiere, damit die Männer aufsitzen konnten.

Gero, Johan und Arnaud hatten Tanner in ihre Obhut genommen.

Plötzlich erscholl ein markerschütternder Schrei. »Breydenbach!«, brüllte Berengar von Beirut quer über den Platz und stieß einen Fluch aus, als er an der Verfolgung des deutschen Kreuzritters durch Abu Aziz gehindert wurde. Die beiden lieferten sich einen gnadenlosen Kampf, bei dem Berengar von Beirut überraschend den Kürzeren zog. Abu Aziz’ Krummsäbel rammte sich tödlich in seine Brust. Röchelnd fiel Berengar zu Boden, und bevor er noch einen Laut von sich geben konnte, enthauptete der Fatimidenführer den verhassten Templer.

Durch Berengars Ruf war Abu Aziz auf die Flüchtenden aufmerksam geworden.

»Sieh an!«, brüllte er. »Der Assassine will sich aus dem Staub machen. Wird höchste Zeit, dass ich dir eine Lektion erteile, damit du wieder weißt, wer du bist und wo du hingehörst.« Dann entdeckte er Lyn, die ihn hasserfüllt anstarrte. »Deine kleine Freundin wird entzückt sein, wenn sie sieht, mit welcher Wonne du es dir von meinen Männern besorgen lässt.«

Er lachte hässlich, und ungeachtet der Schlacht in seinen eigenen Reihen, die sich seine Männer mit den Templern lieferten, hob er seinen Krummsäbel. »Komm her«, krächzte er heiser. »Und lass dich von meinen Männern in den Arsch ficken!« Sein Blick richtete sich triumphierend auf Lyn, die plötzlich Mühe hatte, ihren Bogen zu spannen, so sehr zitterten ihre Hände. »Ich habe dafür gesorgt, dass man ihn zur Frau gemacht hat«, höhnte Abu Aziz boshaft in ihre Richtung und schwang den Säbel. »Du hättest sehen sollen, wie es ihm gekommen ist, als ich seine Rosette von meinem stattlichsten Hengst entjungfern ließ. Er hat geschrien wie ein Mädchen. Offenbar liebt er es, von harten Kerlen genommen zu werden.«

Lyn biss sich die Lippe auf, als Khaled auf Abu Aziz losging, wie ein Löwe, der wochenlang nichts zu fressen gehabt hatte.

»Khaled, bleib stehen!«, zischte sie. Endlich war es ihr gelungen, den Bogen zu spannen. »Geh aus dem Weg! Ich werde ihn töten.«

|707|»Nein«, raunte Khaled, »das ist eine Sache zwischen ihm und mir, ich will nicht, dass du dich da einmischst!«

Abu Aziz war ein exzellenter Kämpfer. Und während Gero und die anderen gegen weitere Fatimiden kämpften, raste Abu Aziz’ Krummsäbel auf Khaled hernieder, und nur mit Allahs Hilfe gelang es ihm, rechtzeitig zu parieren.

Wie zwei tanzende Libellen umrundeten sich die Männer und forderten sich Schlag auf Schlag. Lyn zog Luft durch die Zähne, als Khaled eine Verletzung am Rippenbogen davontrug, weil er im Gegensatz zu Abu Aziz kein Kettenhemd anhatte, sondern mit nacktem Oberkörper kämpfte. Hieb auf Hieb revanchierten sich die Männer für ihren Hass, den sie füreinander empfanden. Jedoch Khaleds Hass musste größer sein. Als Abu Aziz einen Moment unkonzentriert war, erwischte Khaled ihn an der Halsschlagader. Im hohen Bogen spritzte das Blut, und Abu Aziz, dem die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand, hielt sich im Reflex die Hand auf die Stelle, an der das Schwert des Assassinen ihn getroffen hatte. In heftigen Stößen pulsierte das Blut aus der Wunde. Khaled war wie in einem Rausch und hob sein Schwert, um den Kommandeur der Fatimiden, der wie ein hilfloser Käfer am Boden zuckte, zu enthaupten.

Doch dann traf sein Blick auf Lyn, und er hatte das Bild im Kopf, das sie ein Leben lang in ihren Gedanken tragen würde, wenn sie zusehen müsste, wie er einen Wehrlosen köpfte.

Erschöpft ließ er das Schwert sinken und packte Lyn wortlos beim Arm, um den anderen zu folgen. Er sprach kein Wort, aber Lyn wusste, was in ihm vorging. Er schämte sich, weil er es hatte zulassen müssen, dass man ihm vor ihren Augen die Würde genommen hatte und sie nun wusste, was mit ihm geschehen war. Er hatte ihr einiges erzählt, was ihm in seiner Gefangenschaft widerfahren war, aber nicht, dass man ihn zu Beginn beinahe täglich vergewaltigt hatte, um seinen Stolz zu brechen.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie und küsste ihn zärtlich. »Du musst die Narben annehmen und dann vergessen, auch die auf deiner Seele«, sagte sie sanft.

Niemand folgte ihnen, während hinter ihnen immer noch eine Schlacht zwischen Fatimiden und Templern tobte, in der auch Peter de Vezelay sein Leben verlor.

 

|708|Hannah hatte den Kampf zusammen mit Freya in atemloser Anspannung verfolgt. Erst nachdem es Gero und den anderen gelungen war, ein paar Pferde zu ergattern und zum Ausgang der Schlucht zu reiten, stieg sie auf einen der Hengste und galoppierte mit Freya zu Tal, während Anselm mit Stephano bereits vorausgeritten war.

»Gepriesen sei der Herr«, jubelte Gero, als er die beiden entdeckte und kurz danach Hannah und Freya auftauchten und ihnen mit grenzenloser Erleichterung entgegenritten. Johan stieß einen Freudenschrei aus, als er Freya erblickte, und ließ es sich trotz der noch immer währenden Bedrohung nicht nehmen, seine Frau auf sein Pferd zu ziehen und sie mit einer leidenschaftlichen Umarmung zu begrüßen.

Hannah musste sich mit einem innigen Kuss von Gero begnügen, für ausgedehnte Liebesbeweise hatten sie keine Zeit.

Stephano benötigte dringend eine ausreichende Versorgung, und niemand konnte wissen, ob nach der Schlacht mit den Templern noch Fatimiden am Leben geblieben waren, die vielleicht Boten entsandten, die Verstärkung anforderten.

Lyn hatte den Kelch an Khaled zurückgegeben, der immer noch mit nacktem Oberkörper ritt und das Metall des heiligen Artefaktes an sich drückte, als ob er mit ihm eine unsichtbare Verbindung aufnehmen wollte. »Wir reiten zum Kloster«, befahl er kurzerhand, »um euren Bruder zunächst einmal in Sicherheit zu bringen.« Dass dies dringend notwendig war, sah er an der Staubwolke, die sich hinter ihnen gebildet hatte.

»Wahrscheinlich haben doch ein paar Unerschrockene das Gemetzel überlebt«, überlegte Johan laut und trieb seinen Hengst zur Eile an.

Gero vergewisserte sich immer wieder, ob es Hannah, die nun wieder hinter ihm saß, auch wirklich gutging. Und auch, ob Anselm mit Stephano auf dem Kamel folgen konnte. Gero wandte sich in eine seitliche Schlucht, die seiner Vision am Lac d’Orient zum Verwechseln ähnlich sah. Er hielt abrupt inne, so dass seine Kameraden beinahe in ihn hineingeritten wären.

»Verdammt!«, fluchte Jack Tanner, der das Kamel am Zügel führte, auf das man Stephano festgebunden hatte.

»Du bist falsch!«, brüllte Gero Khaled hinterher, der immer noch auf die südliche Achse Richtung Kloster zuhielt. »Da geht’s lang!« Es war, als ob er eine magische Anziehungskraft spürte, die ihn lenkte.

|709|Nach einem kurzen Moment der Besinnung folgte Khaled dem Tross in die von Gero angegebene Richtung. Hinter einem schmalen Pass lag ein breites Tal, das üppig mit Palmen bewachsen und von hohen, steil aufragenden Bergen umgeben war.

Plötzlich sah Gero den ganz in schwarz gekleideten Mann. Er trug ein langes Gewand und eine schwarze Kappe. Von weitem sah es in der spiegelnden Mittagshitze so aus, als könnte er über Wasser wandeln.

Wie in Trance hielt die Truppe aus völlig erschöpften Männern und Frauen auf ihn zu. Seine Gestalt blieb jedoch rätselhaft, weil sie ihre Größe nicht veränderte, selbst als sie ihr immer näher kamen.

Offenbar der Einsiedler, dachte Gero, den er in seiner Vision gesehen hatte. Der Mann war beleibt und grauhaarig. Mit einem einladenden Lächeln winkte er sie zu sich heran.

 

Hannah glaubte zu halluzinieren, als sich die Schemen des Mannes auflösten und er ihnen plötzlich aus einer völlig anderen Richtung zuwinkte.

War das eine Vision oder schlichtweg die Wirkung der Hitze?

Offensichtlich sahen die anderen das Gleiche, denn Gero und Khaled wendeten ihre Pferde und waren offenbar genauso irritiert wie Hannah. Merkwürdig war, dass die Gestalt nicht näher kam. Eher schien es, dass sie sich ihnen entzog, und zwar so weit, bis sie vor einer glatt aufragenden Felswand landeten. Ängstlich schaute sich Hannah um, ob ihnen die Fatimiden noch auf den Fersen waren. Noch war niemand zu sehen, aber gewiss würde man sie finden.

»Hier ist ein Einstieg«, rief Khaled, als sich hinter einem Busch plötzlich ein schmaler Spalt aufgetan hatte. Dem Assassinen war die Verwunderung über diese Entdeckung in der Stimme anzumerken.

»Wir müssen hindurchgehen«, entschied Gero, obwohl die Öffnung im Felsen so eng war, dass ein Pferd nur ohne Reiter hindurchpasste. »Der Durchlass wurde uns von Gott gezeigt«, flüsterte er Hannah zu. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis unsere Verfolger hier auftauchen.«

Der Pfad, der sich dem Durchgang anschloss, löste allgemeines Erstaunen aus. Er führte zu einer üppig bewachsenen Schlucht, die man angesichts all der Dürre, die sie umgab, niemals an dieser Stelle vermutet hätte.

|710|»Gero! Johan!«, rief Struan, der mit Amelie als Letzter durch die Öffnung hindurchgegangen war. »Das müsst ihr euch ansehen!« Seine Stimme klang – anders als sonst – nicht gelassen, sondern überaus nervös.

Gero und auch die anderen Männer wandten sich zu dem Schotten um und mussten erstaunt feststellen, dass die Felsspalte sich augenscheinlich geschlossen hatte. Jedenfalls war sie nicht mehr zu finden.

Die Männer bekreuzigten sich schweigsam, und Khaled richtete seinen Blick in den Himmel, wobei er ein paar für Hannah unverständliche arabische Worte aufsagte.

Hannah war mulmig zumute. Das alles war nicht real. Je weiter sie in die dichte Vegetation aus üppigen Bäumen und Büschen vordrangen, umso mehr verschlug es ihr den Atem. Die Felswände der Schlucht standen so eng zueinander wie die Wände einer riesigen Kathedrale, durch deren offenes Dach die Sonne senkrecht hereinbrach. Dort, wo die Strahlen den Boden berührten, blühten nie gesehene Blumen. Darüber hinaus bahnte sich das Licht seinen Weg hinab bis zu den schmalen Wasserfällen, die aus höheren Felsnischen herabstürzten, und zauberte im aufsteigenden Sprühnebel gleich mehrere Spektralbögen, über denen sich exotische Vögel in die Lüfte erhoben. Wohin waren sie nur geraten?

Ein Blick zur Seite verriet Hannah, dass Geros Augen von einem schimmernden Glanz erfüllt waren. Khaled erging es ganz ähnlich, und auch Arnaud und Johan gaben sich keine Mühe, ihre grenzenlose Faszination zu verbergen. Eine seltsame Stille umfing sie, die nur vom Rauschen des Wassers, dem Zwitschern einzelner Vögel und dem dumpfen Hufschlag der Pferde durchbrochen wurde. Niemand sagte ein Wort.

Nachdem sie ein natürliches Wasserreservoir mit einem kristallklaren Teich passiert hatten, kamen sie zu einem breiten Höhleneingang, an dem der vermeintliche Einsiedler, der wie ein Mönch gekleidet war, sie zur Überraschung aller mit einem breiten, gutmütigen Lächeln empfing.

»Tretet ein«, sagte er. »Ich habe bereits auf euch gewartet.«

»Wie kann das sein?«, ergriff Gero das Wort. »Wir haben doch selbst nur durch Zufall hierhergefunden.«

»In Gottes Reich gibt es keine Zufälle, mein Freund. Diese Lektion solltet ihr bereits gelernt haben.« In der Stimme des Mönchs schwang ein Hauch von Tadel, doch er lächelte gleich wieder. »Ihr wurdet mir |711|angekündigt«, klärte er die verblüffte Truppe auf. »Wenn ihr mir bitte folgen wollt.«

»Wir haben hier einen Schwerverletzten, der dringender Versorgung bedarf«, rief Anselm ihm zu.

Der Mönch reckte den Hals und begutachtete Stephanos erbarmungswürdigen Zustand. Rona kam hinzu, um die Vitalfunktionen des jungen Templers noch einmal zu überprüfen. »Er wird sterben«, sagte sie mit bleierner Stimme. »Er ist bereits so gut wie tot.«

Der Alte ließ sich nicht beirren. »Schnallt ihn ab und legt ihn auf den Boden.«

Tanner und Anselm taten, was er ihnen gesagt hatte, und legten den Templer direkt vor die Füße des Mönchs.

»Wer glaubt, dass allein Gottes Güte ihn heilen kann?«, fragte der Alte mit einem listigen Lächeln in die Runde.

»Ich«, sagte Anselm mit fester Stimme, wobei ihm anzusehen war, wie er mit den Tränen kämpfte.

»Warum glaubst du daran?«, fragte der Mönch.

»Weil …« Anselm lag augenscheinlich etwas anderes auf der Zunge, doch dann brach es regelrecht aus ihm heraus. »Weil ich ihn liebe!«

»Und wer glaubt noch daran?« Aufmerksam schaute der Mönch in die Runde, während Hannah beinahe das Herz stehenblieb, so sehr trauerte sie um den sterbenden Mann, der bleich und mit geschlossenen Augen am Boden lag.

»Ich glaube«, sagte Gero im Brustton der Überzeugung.

»Ich glaube«, folgte ihm Johan.

»Ich glaube«, sagte Arnaud.

»Ich glaube«, brummte Struan, ohne eine Miene zu verziehen.

»Was soll der Blödsinn?«, blaffte Tanner den Alten verärgert an.

»Anstatt ihm zu helfen, zelebrieren wir lieber das Glaubensbekenntnis?«

Der Alte sagte nichts, er lächelte nur, dann bückte er sich hinunter zum Teich und schöpfte mit der hohlen Hand etwas von dem klaren Wasser.

Ganz langsam ließ er es Stephano über das Gesicht rinnen.

Hannah bekam eine Gänsehaut, als sie sah, wie Stephanos eben noch bleiche Haut an Farbe gewann. Es dauerte nicht lange, und er schlug die Augen auf.

|712|»Wo sind wir?«, krächzte er heiser.

»Das wüsste ich auch gerne«, flüsterte Rona und warf ihrer Schwester einen verwunderten Blick zu.

Anselm weinte vor Freude, als er Stephano auf die Beine helfen durfte. Wackelig, aber immerhin am Leben stand er da und betrachtete fassungslos wie alle anderen die vollkommen geschlossene Wunde an seinem Bein.

»Kommt«, sagte der Alte, »ihr werdet erwartet.«

»Von wem?«, fragte Hannah leise an Gero gerichtet, doch er schien ihren Einwand überhört zu haben.

Ihr seltsamer Gastgeber bat sie im nächsten Moment, ihm weiter in die Höhle hinein und dann einen breiten Weg abwärts zu folgen, der alle drei Meter mit Fackeln beleuchtet war.

»Was ist mit unseren Tieren?«, fragte Gero, der nichts sah, wo man sie hätte anbinden können.

»Macht euch keine Gedanken«, versicherte der Mönch. »Ihr könnt eure Tiere frei umherlaufen lassen. Wir werden uns gut um sie kümmern.«

Hannah spürte, wie ihr das Adrenalin durch die Adern rauschte, als sie gemeinsam in dieses unterirdische Reich eintauchten und sie Rona und Lyn dabei beobachtete, wie sie sich gegenseitig auf die Anzeigen ihrer Armbänder aufmerksam machten. Ob es ein gutes Zeichen war, dass sie keinen Widerspruch einlegten und dem Mönch anstandslos folgten?

Der Mönch führte sie zu einem beleuchteten Platz, an dem die Höhlendecke wie die Kuppel eines Doms in die Höhe reichte. Von hier aus verzweigten sich die Wege in mehrere Gänge, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließen, dass sie in einem Labyrinth gelandet waren, dessen Ausmaß sich in einem Bildnis zeigte, das am Boden unterhalb der Kuppel in einem Mosaik aus glänzenden, verschiedenfarbigen Steinen ausgelegt war.

»Es sieht genauso aus wie das Labyrinth der Kathedrale von Chartres«, flüsterte Anselm andächtig.

Plötzlich schoss eine schlanke, blondgelockte Gestalt aus einem Schatten und warf sich Gero an den Hals, der erschrocken zusammenzuckte.

»Mein Herr!«, jubelte eine jugendliche Stimme.

|713|Gero packte den jungen Burschen und hielt ihn misstrauisch auf Abstand, doch dann klärte sich seine Miene, und er riss Matthäus mit Inbrunst an sein Herz.

»Mattes!«, krächzte er fassungslos. »Bist du es wirklich?«

Der Junge nickte. »Wir haben eine ganze Woche gebraucht, um hierherzukommen. Ich wäre beinahe verdurstet, und der Professor hat seit gestern einen Sonnenstich. Ich habe schon nicht mehr geglaubt, dass man uns wirklich zu euch bringen will.«

Gero schaute sich fragend um, weil er dem »uns« einen Namen geben wollte. Dabei schämte er sich nicht seiner Tränen.

 

Hannah war versucht, diese Idylle zu stören, weil sie glaubte, ihr Herz würde zerspringen, wenn sie Matthäus nicht augenblicklich in die Arme schließen durfte. Allem Anschein nach war der Junge gesund und munter, und das war das Wichtigste. Vergeblich versuchte sie, ihre Tränen zurückzuhalten, als Matthäus sie bemerkte und sich aus Geros Umarmung löste, um auf sie zuzustürmen. Es war, als ob sich in ihrem Innern eine Schleuse geöffnet hätte. Sie weinte hemmungslos, als der Junge in ihren Armen lag.

»Wie … wie kommst du hierher?«

Neben dem Mönch waren zwei weitere Männer aufgetaucht.

Mit ihren schlohweißen Haaren und den langen Gewändern nährten sie Hannahs Vorstellung von biblischen Heiligen, die zu dieser Gegend dazuzugehören schienen wie Dattelpalmen und Ziegen.

Einen davon kannte sie allzu gut, und obwohl er das passende Alter besaß und ihm nur noch der Druidenkelch fehlte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, ihn als Heiligen zu bezeichnen.

»Professor Moshe Hertzberg«, flüsterte sie, als müsse sie seinen vollständigen Namen aussprechen, um sicherzugehen, dass er nicht bloß eine Erscheinung war.

»Professor!« Tanner wirkte wahrhaft erleichtert.

Gero war an Hannah und den Jungen herangetreten und hatte seine mächtigen Arme um die beiden gelegt. Trotz aller Freude richtete er seinen misstrauischen Blick auf den zweiten Mann, der den Haushabit und die weiße Kappe der Templer trug, jedoch ohne Kreuz.

»Godefroy Bisol«, rief Khaled aus. Auch er konnte sein Erstaunen nicht zurückhalten. »Engster Vertrauter André de Montbards, Mitglied |714|des Hohen Rates und Hüter all seiner Geheimnisse. Was für eine Überraschung!«

Bisol nickte bedächtig. »Habt Ihr den Kelch?«

»Ja, wir haben ihn«, bestätigte Gero seine Frage in strengem Ton. »Aber erklärt mir eins: Wenn ihr bereits wusstet, wohin der Kelch uns führen würde, warum dieses ganze Spektakel? Ihr hättet uns und anderen viel Leid ersparen können, wenn Ihr den Kelch dort belassen hättet, wo er war! Warum mussten all diese Menschen sterben, obwohl Euch dieser Ort längst bekannt war?«

»Weil Montbard das Geheimnis des Kelches allem Anschein nach allein für den Hohen Rat des Ordens sichern wollte«, kam Lyn einer Antwort Bisols zuvor. »Er wusste nicht nur von dessen Existenz. Er wusste auch, was das Schicksal für ihn bereithielt, und wahrscheinlich auch, welche Rolle wir darin spielen würden. Das war der Grund, warum er vor fünf Jahren bei unserer Ankunft nicht überrascht reagiert hat. Allein bleibt die Frage, woher er sein Wissen bezog?« Ihr Blick fiel auf Khaled. »Hast du dich nicht auch immer gefragt, warum der gute Bruder André nicht mit Furcht oder Panik reagiert hat, als wir ihm die Bilder des Servers zeigten? Ebenso wenig wie Bruder Godefroy?«

Ihr Blick fiel auf Godefroy Bisol, von dem sich alle eine Bestätigung dieser Annahme und weitere Erklärungen erhofften.

»Das ist fürwahr eine interessante Theorie«, fügte Gero ungeduldig hinzu. »Könnt Ihr sie bestätigen, Bruder Godefroy?«

Godefroy hüllte sich in Schweigen, womit er Geros Zorn schürte und ihn ermutigte, sogar zum Schwert zu greifen. »Sprecht gefälligst, oder muss ich erst Eure Zunge lösen?«

Rona richtete sich zu voller Größe auf und überkreuzte die Arme, als Bisol trotz der Bedrohung zu lange mit einer Antwort wartete.

»Vielleicht weiß er es aus der Zukunft? Oder sollte ich lieber sagen: aus der Vergangenheit? Möglicherweise ist es uns doch gelungen, oder wird uns noch gelingen, noch weiter in die Vergangenheit zu reisen, ihn dort persönlich zu treffen und ihm unsere Erkenntnisse zu präsentieren?«

»Wenn es so wäre, wie du sagst«, spekulierte Gero, »muss Montbard gewusst haben, dass wir alle eine wichtige Rolle für seine weitere Karriere spielen.«

Die Erkenntnis, von André de Montbard eiskalt benutzt worden zu |715|sein, damit er allein an den Kelch gelangte und Tramelay aus dem Weg räumen konnte, um Großmeister zu werden, nahm ihm beinahe den Atem. »Dieser elende Hund!«, krächzte er. »Und er hat keinen Ton zu uns gesagt, um seine eigene Vorsehung nicht zu gefährden.«

 

Khaled verzog sein Gesicht zu einer ironischen Grimasse. »Das wird einer der Gründe sein, warum er nicht wollte, dass jemand anderes den Kelch findet und damit Zutritt zu dieser Höhle erlangt. Weder die Königin noch ihr Sohn und schon gar nicht Bernard von Tramelay, der mit seiner Habgier alles ins Gegenteil hätte verkehren können.«

Er hielt inne und schaute sich demonstrativ in der Höhle um, deren Gestein im Flackern des Feuers grüngelblich glitzerte. »Doch warum bilden wir eine Ausnahme? Oder sind wir am Ende hier, um die Zeche endgültig zu zahlen?« Khaled zog seinen Krummsäbel und versuchte, den Mönch in seine Gewalt zu bringen, um ihn stellvertretend für Bisol, der als Templer lieber sterben würde, zu einer Antwort zu zwingen.

Doch der Mönch hatte schneller seinen Platz gewechselt, als Khaled seiner habhaft werden konnte, und stand nun an einer völlig anderen Stelle, direkt hinter Lyn.

Khaled schlug das Herz bis zum Hals. Was wäre, wenn der unscheinbare Mann in der Lage war, Lyn kraft seiner übernatürlichen Fähigkeiten einfach zu töten?

»Fürchtet Euch nicht!«, wiederholte sich der Alte und lächelte dabei wie ein Engel. »Allein Euer Wille hat euch hierher geführt und wird Euch den rechten Weg weisen.«

»Der rechte Weg«, rief Arnaud verärgert aus. »Was ist denn der rechte Weg? Dass Montbard unser Leben aufs Spiel setzt, nur um seine Karriere im Orden zu befördern? Sagt mir nicht, dass wir achthundert Jahre hin und her gereist sind, um die Erfüllungsgehilfen von André de Montbard zu sein? Das wäre ja noch perfider als das, was die Amerikaner mit uns angestellt haben!« Er warf dem Einsiedler einen auffordernden Blick zu. »Und dann bleibt noch die spannende Frage, die uns bisher niemand beantwortet hat: Besitzt Ihr die Lade?« Arnauds aufgebrachter Blick glitt zwischen Godefroy Bisol und dem Mönch hin und her.

»Es gibt keine Lade«, klärte ihn der Mönch auf. »Sie wurde bereits im Jahr 586 v. Chr. beim Überfall auf den Tempelberg zerstört. Aber |716|die Tafeln, die sich darin befunden hatten, waren aus einem besonderen Stein geschlagen, dessen Wirkung schon damals nur Eingeweihten bekannt war.«

»Aus dem Gestein dieser Höhle?« Khaled kannte wie alle Anwesenden die Antwort, aber er wollte eine Bestätigung.

Der Mönch bejahte diese Frage nicht. Seine hellen Augen ruhten auf Arnaud, als ob er ihn beschwören wollte. »Der Stein besitzt eine ungeheure Macht, die mit nichts auf der Welt zu vergleichen ist. Er kann Berge versetzen und Meere teilen, Menschen über Wasser gehen lassen und Wasser zu Wein und Steine in Brote verwandeln. Er hilft euch, das möglich zu machen, woran ihr in euren kühnsten Träumen nicht zu glauben gewagt hättet.« Er machte eine Pause, bevor er hinzufügte: »Im Guten wie im Schlechten, wenn ihr versteht, was ich meine.«

»Ist das so?« Gero nahm nicht den Hüter des Geheimnisses, sondern Godefroy Bisol erbarmungslos in die Pflicht, dem er wohl am ehesten zutraute, die Aussage des Mönchs zu bestätigen.

»Dieser Ort ist nicht nur eine Quelle der Liebe«, bemerkte Bisol mit düsterem Blick. »Er kann sich unter dem falschen Einfluss in den Hort der Hölle verwandeln. Es kommt ganz darauf an, mit welchen Gedanken die Seele des einzelnen Besuchers behaftet ist.«

»Wollt Ihr damit sagen, dass der Mensch unter dem Gebrauch des Steins – in welcher Form auch immer – Einfluss auf die Geschehnisse in der Welt nehmen kann, die ihn umgibt?«

»Findet es selbst heraus«, antwortete Godefroy Bisol ungerührt. »Und nun möchte ich euch bitten, mir, wie verabredet, den Kelch zu übergeben.«

»Woher wusste Montbard, wer ich bin?« Diese Frage ließ Lyn keine Ruhe, und die plötzliche Erkenntnis, dass Bisol als Gründungsmitglied der Templer in den letzten fünfunddreißig Jahren jeden Schritt Montbards miterlebt hatte, ließ sie hoffen, dass er um die Gründe wusste.

»Findet es selbst heraus«, wiederholte Bisol mit kryptischer Gelassenheit, dabei hielt er fordernd die Hand auf.

Widerwillig überließ ihm Khaled den Kelch. Sie benötigten ihn ohnehin nicht mehr. Der Assassine senkte enttäuscht den Blick. Also keine Bundeslade, sondern nur ein Fels, dessen seltsame Einflussnahme er nicht verstand. Es war nicht das, was er erwartet hatte.

»Und was wird mit uns?« Arnaud machte einen Schritt auf Bisol zu. |717|»Sollen wir zum Dank für unsere Dummheit mit leeren Händen ins Nirgendwo gehen?«

»Nein«, antwortete der Mönch mit sanfter Stimme. »Nachdem Ihr Eure Bestimmung erfüllt habt, dürft Ihr mit vollen Händen nach Hause gehen. Falls dies immer noch Euer Wunsch ist.«

»Nach Hause? Wie meint Ihr das?« Gero schaute ihn ungläubig an.

»So, wie ich es sage. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?« Der Mönch lächelte wieder, wofür Gero ihn am liebsten erschlagen hätte.

Sein ratloser Blick traf auf die leicht verstörten Gesichter der übrigen Männer und Frauen. Während die Kameraden allesamt eine Hand an den Knauf ihrer Schwerter gelegt hatten, drängten sich die Frauen schutzsuchend zwischen sie. Sollten sie diesem undurchsichtigen Kerl tatsächlich vertrauen?

»Und was ist, wenn wir Euch nicht folgen wollen?« Geros entschlossener Blick ließ keinen Zweifel, dass er sich zu nichts zwingen lassen würde.

Der Alte schaute ihn nachdenklich an und sah dann in die Runde. »War es nicht so, dass Ihr ausnahmslos hierhergekommen seid, um einem anderen Übel zu entfliehen?«

»Woher könnt Ihr das wissen?« Gero betrachtete ihn misstrauisch.

»Hier gibt es keine Geheimnisse«, erwiderte sein Gegenüber. »Ihr könnt gerne gehen, wenn Ihr wollt. Aber Ihr wisst nicht wohin. Das ist es doch, oder?«

»Wenn Ihr es wisst, müsst Ihr nicht fragen«, antwortete Gero.

»Ich verspreche Euch«, versicherte der Alte. »Ihr werdet es nicht bereuen.«

Gero fragte mit stummem Blick seine Kameraden, und auch die Frauen und den Assassinen ließ er nicht aus.

»Wir sollten ihm eine Chance geben«, gab Johan zu bedenken. »Was er sagt, ist die Wahrheit. Zu Montbard können wir nicht, weil uns die Königin verfolgen lassen würde, wenn wir ihr den Kelch versagen. Und wer von uns hätte schon Lust dazu, sich zu dieser Zeit in irgendeinem christlichen Heer als Söldner zu verdingen? Am besten noch im Abendland, wo wir allesamt Ritter ohne Land wären. Oder denkt ihr ernsthaft, ich könnte bei meinem zwanzigjährigen Urgroßvater auftauchen und ihm sagen, dass ich sein Urenkel bin und die Grafschaft vorzeitig als mein Erbe beanspruche?«

|718|»Wohl kaum«, bestätigte Gero mit einem Seufzen. Die Miene des Mönchs blieb bemerkenswert neutral, als er ihm zunickte und ihm damit zu verstehen gab, dass sie seinem Vorschlag zustimmten.

Matthäus ging dicht an Gero gedrängt hinter dem Mönch her, der ihm freundlich zuzwinkerte.

»He, Moshe, was ist mit dir?«, fragte Gero, als er bemerkte, dass Hertzberg als Einziger bei Bisol zurückblieb. »Bist du nicht neugierig, was sich hinter dem Geheimnis verbirgt? Vielleicht kann es uns helfen, Kontakt zu Tom und seinen Leuten aufzunehmen, und dafür sorgen, dass auch du nach Hause zurückkehren kannst.«

»Nein.« Hertzberg schüttelte den Kopf. »Ich habe beschlossen, bei Bruder Godefroy zu bleiben und mit ihm zurück zu Montbard nach Jerusalem zu reisen. Ich durfte in den letzten Tagen Dinge sehen und hören, die ich in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe entschieden, eines Tages hier zu sterben, und bis dahin will ich nur noch echte Geschichte erleben. Allein hier finde ich Antworten auf all meine Fragen und muss mich nicht mehr mit Mutmaßungen zufriedengeben.«

Hannah zitterte am ganzen Körper, als sie immer tiefer hinunter in die Höhle gingen und es auch ohne Fackeln heller wurde.

»Fragt Euch auf dem Weg in den Felsen, was Euch wirklich am Herzen liegt«, empfahl der Mönch mit monotoner Stimme. »Dieser Ort ist in der Lage, Eure geheimsten Wünsche zu erfüllen. Deshalb solltet Ihr vorsichtig sein mit dem, was Ihr Euch vorstellt.«

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Hannah mit einem Blick auf Lyns Armband, das inzwischen regelrecht verrückt spielte.

»In diesem Felsmassiv existiert augenscheinlich eine gewaltige Schwingungsfrequenz«, erklärte Lyn sachlich. »Es würde mich nicht wundern, wenn diese Frequenz nicht nur eine kalte Fusion in Gang setzen kann, sondern auch die Quantenabläufe im menschlichen Gehirn zu beeinflussen vermag.«

»Ihr seid weise Frauen«, erklärte der Mönch und blieb stehen, als sie einen Raum erreichten, dessen unebene Wände taghell aufleuchteten. »Aber es verhält sich umgekehrt. Eure Gedanken bestimmen Euer Schicksal und werden durch den Einfluss des Steins lediglich so weit verstärkt, dass jeder Zweifel, der einer Umsetzung Eurer Wünsche entgegensteht, verschwindet. Ihr glaubt, dass der Felsen fest ist und das |719|Wasser weich und durchlässig. Doch das sind sie bloß in Eurer Vorstellung. Der Stein kann Euch helfen, diese Schranke zu überwinden und den Felsen weich und das Wasser so hart werden zu lassen, dass Ihr darüber gehen könntet, wenn Euer Vertrauen in Eure Macht groß genug ist.«

»Ihr wollt uns tatsächlich glauben machen, dass es so einfach ist?« Lyn blickte ihn erstaunt an.

»Glaube ist das richtige Wort«, erläuterte der Alte. »Alles, woran Ihr glaubt, kann wahr werden. Wenn Ihr Gott vertraut und Euren Weg klar genug vor Euch sehen könnt, wird Euer Glaube genau die Welt manifestieren, die Ihr im Herzen tragt. Aber Eure Gedanken sind nicht die Einzigen, die in diesem Meer von Licht und Schatten miteinander verschwimmen«, mahnte er. »Auch die Gedanken der anderen beeinflussen Eure Welt. Sie füllen sie nicht nur mit Liebe, sondern nicht selten mit Zweifeln, Ängsten, Hass und Verderbnis. Wenn sich diese Gedanken wie ein großer Schwarm silbriger Fische zu einem einzigen, großen Leib vereinen, können Revolutionen ausbrechen, große Kriege geführt werden und die Menschen zu wilden Bestien mutieren, die sich untereinander die schlimmsten Alpträume bescheren. Es ist allein die Kraft der Gedanken, die unsere Welt für jeden Einzelnen bis in den Untergang treiben kann. Erst wenn sich die Mehrheit der Menschen auf die Liebe besinnt, werden wir der Hölle auf immer entkommen.« Mit einem intensiven Blick sah er in die staunende Runde.

»Das bedeutet, selbst der Stein ist auch nur Teil einer selbstgeschaffenen Illusion?« Rona schien verstanden zu haben, was er ihr sagen wollte. Jeder bestimmte sein Schicksal selbst, war aber nicht fähig, gewisse Grenzen zu überschreiten, solange ihm die Macht des eigenen Einflusses nicht bewusst wurde.

Der Alte nickte bedächtig. »Jedoch vermag die Kraft dieses Steins Euch von jeglichen Zweifeln reinzuwaschen und Euch die Macht über Euch selbst und Euer Leben zurückzugeben und zugleich über das Leben anderer, die zur Erfüllung Eurer Glückseligkeit beitragen. Allein deshalb müsst Ihr verantwortungsvoll mit Eurem Wissen um diesen heiligen Ort umgehen. Er ist eine mächtige Waffe und zugleich die Eintrittskarte ins Paradies.«

»Das macht mir Angst«, gestand Freya, die Johans Hand fest umklammert hielt. Der Flame beruhigte sie, indem er sie an sich drückte |720|und sie auf den Scheitel küsste. »Alles ist in Gottes Hand«, erklärte er leise. »Nichts anderes hat er gesagt. Mein Herz sagt mir, dass wir ihm vertrauen sollten.«

Die Höhle wurde mehr und mehr zu einem Tunnel, von dessen Ende ein grünlich schimmerndes Licht zu ihnen heraufleuchtete.

»Dort müsst Ihr hindurchgehen«, empfahl ihnen der Alte, »Lasst Euch von Eurer reinen Seele leiten und denkt an das, was Euch wirklich glücklich macht. Es hat keinen Zweck, sich selbst zu belügen, deshalb solltet Ihr weder aus Pflichtgefühl noch aus Scham den für Euch falschen Weg einschlagen. Denn die Welt dort draußen ist Eure Welt, nicht die eines haltlosen Gottes. Ihr seid ein Teil dieser Welt, die in der Unendlichkeit des Alls aus Licht erschaffen wurde, und damit seid Ihr ein Teil dieses Lichts.«

Lyn hatte dem Mönch aufmerksam zugehört. »Ihr geht also tatsächlich so weit, zu behaupten, dass Materie nur eine Illusion ist, weil die Welt lediglich aus kollektiven Gedanken konstruiert wird. Das bedeutet, auch der Fels existiert in Wahrheit nur in unserer Vorstellung?«

Der Alte nickte. »Es zählt allein, was Ihr glaubt und dass Ihr die Widerstände, die diesen Glauben behindern, überwinden könnt.«

»Bedeutet das, ich könnte genauso gut eine gelbe Plastikente benutzen«, warf Tanner mit einem ironischen Grinsen ein. »Hauptsache, ich glaube daran, dass sie mir dazu verhilft, mein Denken und damit meine komplette Wahrnehmung zu beeinflussen?«

»Na ja …«, wandte Lyn ein und betrachtete immer noch voller Faszination die glitzernden Wände. Deren Schwingungen wurden, wie die Anzeige ihres Armbands signalisierte, immer stärker, je näher sie dem Leuchten kamen. »Sofern die Plastikente die Fähigkeit besitzt, das Schwingungsmuster deiner Gedankenströme zu beeinflussen und dich damit in die Lage versetzt, die Welt komplett nach deinen Vorstellungen zu kreieren.«

»Es würde erklären, warum Moses kraft seiner Steintafeln, die er auf dem Berg Sinai erhalten hat, das Meer teilen konnte.« Arnaud hatte die Debatte interessiert verfolgt. »Weil er an Gott glaubte und die Israeliten an ihn geglaubt haben.«

Die Kraft des immer stärker werdenden Lichts zog sie regelrecht an.

Wie Motten, die sich daran verbrennen können, wirbelte es Hannah durch den Kopf, während ihr Herz davonraste und ihr Atem schneller |721|ging. Irgendetwas Fremdes nahm von ihrem Bewusstsein Besitz und veränderte es. War der Timeserver schon beängstigend genug gewesen, so war dieses Monstrum hier noch tausendmal beängstigender.

»An was denkst du?«, fragte Gero sie leise, während sie Hand in Hand zusammen mit Matthäus in die gleißende Helligkeit schritten.

»An uns«, flüsterte sie. »An dich – und den Jungen und unser Kind – und dass ich irgendwo glücklich und zufrieden mit euch leben möchte.«

»Irgendwo?«, fragte er, und die Antwort wurde zusammen mit der materiellen Welt um sie herum von einem gigantischen Lichtermeer verschluckt, bei dem sie das plötzliche Gefühl überkam, mit allem, was je in ihrer Welt eine Rolle gespielt hatte, zu verschmelzen. Eine gewaltige Welle von Emotionen erfasste sie, und all das Leid und all die Freude, die ein jeder von ihnen jemals empfunden hatte, durchfluteten ihren Geist. Zurück blieb ein tiefes Gefühl der Liebe.