1148 – Jerusalem
Der Klang der Fanfaren und die begeisterten Rufe zahlreicher Menschen rissen Khaled aus einem kurzen, traumlosen Schlaf. Verdammt, er war tatsächlich eingenickt. Dabei hatte er sich nach seiner Rückkehr aus den Stallungen nur etwas ausruhen wollen, während er sich auf ein weiteres Treffen mit Lyn am späten Nachmittag im Schatten von al-Aqsa freute.
Seit einer Woche folgten Lyn und er stets dem gleichen Ritual. Während Khaled am Morgen die Pflicht im Palast rief, wo er mit seinen Männern regelmäßig militärische Übungen absolvierte, verbrachte er den späten Nachmittag bis in die Nacht hinein mit Montbards ausdrücklicher Erlaubnis auf dem gut bewachten Gelände des Templerhauptquartiers. Im Augenblick war dies die einzige Möglichkeit, Lyn regelmäßig treffen zu können. Zumindest bis die Genehmigung des Königspalastes vorlag, dass Khaled sich fortan mit Zustimmung des Hofes des Schutzes der beiden Frauen annehmen durfte.
Wankend erhob er sich von seinem Lager und rieb sich die Müdigkeit |229|aus dem Gesicht, bevor er auf den Balkon trat, um zu sehen, was unten im Palasthof vor sich ging. Der Nachmittag war heiß, und der Wüstenstaub, der bis in die engen Gassen Jerusalems wehte, drohte die Stadt zu ersticken. Nach einem Blick über die steinerne Brüstung sah Khaled, woher der Jubel kam, den der Wind über die Dächer trug.
Etliche Reiter auf Pferden und an die dreißig bepackte Kamele schritten nacheinander durch das Davidstor. Mitten in der Karawane erkannte Khaled die Königin auf einer aufwändig geschmückten hellbraunen Araberstute sowie ihren zwölfjährigen Sohn Aimery, der einen weißen Hengst ritt. Aimery war ein beleibter Bursche mit dunklen Locken, der weder seiner schlanken Mutter noch seinem stattlichen Vater glich und schon gar nicht Balduin III., seinem blendend aussehenden, älteren Bruder. Mit hoch erhobenem Haupt lenkte Aimery das Pferd an Melisende vorbei in den Hof. Schon früh hatte sich der Kleine die Arroganz seiner Mutter angeeignet, die sie immer an den Tag legte, wenn sie sich von einer größeren Menschenansammlung bedrängt fühlte. Den beiden folgte der greise Patriarch Fulcher von Angoulême. Der beinahe Hundertjährige kehrte erschöpft von den Verhandlungen mit dem deutschen Kaiser und dem französischen König Ludwig zum Chor des Heiligen Grabes zurück. Die Königin und ihr Sohn wurden von einem Heer königlicher Ritter umringt. An deren Spitze ritt der designierte Templergroßmeister Everhard de Barres auf einem schwarzglänzenden Hengst, dessen weiße Schabracke wie der Umhang seines Reiters das rote Kreuz des Ordens trug. Es hieß, de Barres habe aus Frankreich rund einhundert Ordensritter mit in den Zweiten Kreuzzug geführt. Auf Wunsch des Papstes und des Kapitels in Paris sollte er den todkranken Robert de Craon vertreten und ihn ersetzen, wenn dieser starb, was nur noch eine Frage der Zeit war. Lyn und Rona hatten das Todesdatum des Großmeisters sogar schon benannt; demnach konnte es nicht mehr lange dauern, bis de Barres die Macht über den Orden in Händen hielt.
Auf dem Weg durch das Gebiet der Seldschuken hatten der zukünftige Großmeister und seine Getreuen eine erste Feuerprobe bestanden, indem sie König Ludwig VII. und seiner Gemahlin Eleonore von Aquitanien bei einem Überfall einheimischer Krieger in Antalya durch ihr beherztes Eingreifen das Leben gerettet hatten. Damit hatten sie neben dem französischen König den gesamten Hofstaat der Heiligen |230|Stadt so sehr beeindruckt, dass man sie in Akko und Jerusalem tagelang als die wahren Helden des Outremers feierte – sehr zum Missfallen anderer Ritterorden.
De Barres verstärkte zudem mit jener glorreichen Truppe die dreihundert zurzeit in Jerusalem stationierten Templer, die wegen permanenter Einsätze mit vielen Verlusten unter chronischem Personalmangel litten. Offenbar hatte er es sich nicht nehmen lassen, die Königin und ihren Jüngsten sicher nach Hause zu geleiten, dabei hatte er jedoch nur etwa sechzig seiner Gefolgsleute mit aus Akko hierhergeführt. Der Rest war allem Anschein nach mit Prinz Balduin und seinen hochrangigen Vertretern in Akko zurückgeblieben, um dort den Feldzug auf Damaskus vorzubereiten.
Khaled beobachtete, wie die Templerkavallerie mit Ausnahme von de Barres und zwei Offizieren noch vor dem Stadttor ihre mächtigen Rösser nach Süden lenkten. Die schwarzweißen Schabracken der Pferde flatterten im aufwirbelnden Staub mit den weißen Umhängen der Templer um die Wette, als sie an der Stadtmauer entlang ins Kidrontal stürmten. Allem Anschein nach wollten die Ritter so rasch wie möglich zu den Ställen des Salomo gelangen, um ihre verschwitzten Tiere von den Knappen versorgen zu lassen und sich selbst endlich einem kühlenden Trunk hingeben zu können. Everhard de Barres und ein paar seiner Leibwachen begleiteten die Königin indes in den Palasthof.
Von seinem Fenster aus sah Khaled, wie Melisende, prachtvoll gekleidet in einen kostbaren Umhang aus blau schimmernder Seide, ihre Kapuze herunterzog und den hellen Seidenturban entblößte, der ihr langes, rotes Haar gegen Sand und Staub schützte. Noch im Sattel sitzend, erhielten Melisende und Aimery von einer Dienerin den traditionellen Begrüßungstrunk. Es war Nesha, wie Khaled erst erkannte, als sie sich in seine Richtung drehte. Nachdem Melisende den Becher in einem Zug geleert hatte, führten Pagen in bunten Gewändern ihre Stute zu einem gepolsterten Schemel, damit die Königin bequem absteigen konnte. Melisende glitt vom Rücken ihres Pferdes und unterhielt sich noch eine Weile angeregt mit Nesha, bis sie ihrer ersten Leibdienerin mit einer knappen Geste zu verstehen gab, dass sie sich um Aimery kümmern sollte und sich mit ihm entfernen durfte. Danach wandte sich die Königin dem zukünftigen Oberhaupt der Templer zu, |231|der auf ihre weiteren Befehle zu warten schien. Pflichtschuldig wechselte Melisende ein paar Worte mit dem verschlossen wirkenden Ritter. Obwohl de Barres durch seine Größe und seine weiße Chlamys aus der Masse hervorstach, schien die Königin nicht sonderlich an ihm interessiert zu sein, was wohl nicht allein an seinem nichtssagenden Aussehen lag. Eher war dessen bedingungslose Treue zu ihrem älteren Sohn ein Hinderungsgrund auf dem Weg zu einer Art Freundschaft, die es in den Reihen des Königshauses ohnehin selten gab.
Melisendes Instinkt schien zu funktionieren, denn nach allem, was Khaled inzwischen über den angehenden Templergroßmeister gehört hatte, war er zwar ein strategischer, aber kein leidenschaftlicher Kämpfer, sondern eher ein langweiliger, frömmelnder Mönch, der die Gesellschaft des noch jungen Königs gegenüber seiner Mutter bevorzugte. Wahrscheinlich hatte er Melisende begleitet, um den Schein der Loyalität zu wahren, weil sie, was die Eroberung von Damaskus betraf, eine ernstzunehmende Stimme besaß. Sein nervöser Blick bestätigte Khaled, dass de Barres die Nähe einer Frau – erst recht, wenn es die eigene Königin war – nicht behagte.
Kurz darauf verbeugte sich de Barres in höfischer Manier und küsste der Königin zum Abschied – mehr angedeutet, als mit Hingabe – den Ring, den sie als königliche Insignie am rechten Mittelfinger trug. Dann salutierte er kurz, drehte sich um und gab seinen Männern das Zeichen zum Abmarsch. Mit wehender Chlamys schritten sie gemeinsam zu ihren Pferden.
Melisende war unterdessen, begleitet von ihren eigenen Soldaten, im Palast verschwunden.
Manasses von Hierges, Melisendes Konstabler und Cousin dritten Grades, war offenbar nicht mit ihr aus Akko zurückgekehrt, was Khaled einen berechtigten Anlass zur Unruhe gab. Die Königin würde sich nicht lange bitten lassen, Khaleds regelmäßigen Tribut für ihre reichen Zuwendungen an ihn und seine Männer einzufordern, was sie immer tat, wenn Manasses nicht zugegen war. Es bedeutete nichts anderes, als dass sie mit Khaled das Lager teilen wollte, und zwar unverzüglich und nicht erst zur Nacht. Seit Fulko V. von Anjou vor fünf Jahren bei einem tragischen Jagdunfall tödlich verunglückt war und sie damit zur Witwe gemacht hatte, war sie wie ausgewechselt. Vor dessen Tod war sie eine fröhliche Frau gewesen, die keinen einzigen Gedanken an |232|einen anderen Mann verschwendet hatte. Danach war sie verbittert und, was das männliche Geschlecht betraf, unersättlich.
König Fulko war ein Vertrauter von Khaleds Vater gewesen. Nach der Ermordung des Wesirs in den Regierungsgemächern des Emirs von Damaskus hatte sich der Frankenkönig nicht nur unverzüglich um das weitere Schicksal von Khaled und seiner Schwester gekümmert. Zudem hatte er den aus Syrien vertriebenen Nizâri-Kriegern sogleich eine Zuflucht im Palast von Jerusalem angeboten. Nachdem die Männer zugestimmt hatten, sich fortan in den Dienst des fränkischen Königs zu stellen, überantwortete Fulko den fünfjährigen Khaled deren Anführer, weil er der Meinung war, dass es dem letzten Wunsch des Wesirs entsprach, den einzigen Sohn im Sinne der Nizâri zu einem ismailitischen Anführer erziehen zu lassen. Ein Akt des Vertrauens, das Fulko den als Mörder und Giftmischer verschrienen Assassinen auf diese Weise entgegenbringen wollte. Nicht allein deshalb hatte Khaled sich König Fulko verbunden gefühlt. In seiner fürsorglichen Art hatte der König ihm den schmerzlich vermissten Vater ersetzt. Hinzu kam, dass der König Khaleds kleine Schwester, im rechten Alter mit einer üppigen Mitgift ausgestattet, an einen betuchten Baron seines Reiches verheiratet hatte. Was Khaled verwunderlich fand, weil der König ein Christ und sie selbst Muslimin waren. Später, nach Fulkos Tod hatte Khaled sein Pflichtgefühl und die Dankbarkeit, die er seinem König gegenüber empfunden hatte, auf dessen Frau Melisende übertragen. Doch sie hatte ihre eigenen Vorstellungen, wie sich Khaled für die ihm erwiesene Gunst erkenntlich zeigen konnte. Seit seiner Ernennung zum Ritter nutzte sie jede Gelegenheit, um ihn in ihr Bett zu locken, wenn Manasses nicht im Palast weilte. Khaled hasste die unerbittliche Gier, mit der sie ihn forderte. Besonders, wenn sie sich längere Zeit nicht gesehen hatten, benahm sie sich wie eine läufige Hündin.
Doch diesmal würde es anders sein. Er wollte nicht länger den willigen Liebhaber spielen. Nun gab es Lyn, und obwohl er noch keine fleischliche Verbindung mit ihr eingegangen war, kam es ihm wie Betrug vor, wenn er es weiterhin mit anderen Frauen trieb, selbst wenn es die Königin war. Leider hatte er keine Idee, wie er Melisende diesen Sinneswandel beibringen sollte. Zumal er und seine Männer weiterhin auf ihre Gunst angewiesen waren.
Nervös prüfte er den Sitz seines langen, weißen Baumwollgewandes. |233|Dann ging er zu seiner Truhe und tränkte die kleine, weiße Duftkordel, die er gewöhnlich wie eine Kette um den Hals trug, mit einem Duftwasser aus Rosen und Sandelholz, das er wie noch andere Düfte in kunstvoll gearbeiteten, syrischen Glasflaschen aufbewahrte. Danach spülte er sich den Mund mit einem Sud aus Naneminze und tauchte die Fingerspitzen in angewärmtes Duftöl. Damit fuhr er sich durch sein halblanges, pechschwarzes Haar, bis es streng zurückgelegt in seinen Nacken fiel. Das Ergebnis betrachtete er mehr oder weniger zufrieden in einem blank polierten Silberspiegel, dem er zum Abschluss respektlos die Zunge entgegenstreckte.
Auch wenn er sich dabei vorkam wie ein eitler Eunuch, so musste alles perfekt sitzen, wenn er bei der Königin Gehör finden wollte. Sie war unzweifelhaft ein Kind des Morgenlandes. Als Tochter Balduins II. und seiner armenischen Frau, Prinzessin Morphia von Melitene, hatte Melisende in Jerusalem das Licht der Welt erblickt. Somit war sie mit den hygienischen Vorschriften der Muslime bestens vertraut, und obwohl einige ihrer Vorfahren aus Europa stammten, wo man es mit der Körperpflege nicht so genau nahm, verabscheute sie nichts mehr als einen ungewaschenen, übel riechenden Mann. Khaled und seine Kameraden gingen regelmäßig in den palasteigenen Hamam, um zu baden und die Körperbehaarung entfernen zu lassen.
Ob sein tadelloses Auftreten etwas nützen würde, um Melisende milde zu stimmen, stand in den Sternen. Und die waren ihm zurzeit nicht gerade wohlgesinnt, wie ihm ein muslimischer Astrologe vor seiner Abreise nach Blanche Garde versichert hatte.
Dabei fühlte Khaled sich trotz aller Unwägbarkeiten zurzeit wie in jenem Paradies, das den jungen Fida’i versprochen wurde, wenn sie bei der Vernichtung eines Feindes den Tod fanden. Er hatte sich in Lyn verliebt, ein seltsames, irrsinniges Gefühl, das ihm in seiner Intensität geradezu furchteinflößend erschien.
In den letzten drei Tagen waren Lyn und er sich auf ihren Spaziergängen ziemlich nahegekommen. Während Rona sich nicht sonderlich für ihn interessierte, lauschte Lyn seinen Worten. Khaleds Erläuterungen zur Ebene von as-Sahira, jenem Flecken Land hinter der östlichen Tempelmauer, das sowohl für die Muslime als auch für die Christen eine große Rolle spielte, hatte sie hingebungsvoll zugehört.
|234|»Man sagt, dieser Ort werde eines unbestimmten Tages die Stätte des Jüngsten Gerichts sein«, hatte er ihr erklärt, »dort, wo die Toten auferstehen, wenn Gottes Reich zu den Menschen zurückkehrt. Die Ungläubigen werden von dort aus über eine Brücke aus Eisen zum Tempelberg gehen und mit ihr ins Verderben stürzen, die Gläubigen jedoch gehen über ein Gespinst aus Seide, und allein ihr Glaube wird sie in das Reich Gottes tragen. Nicht wenige Pilger kommen nach Jerusalem, um dort zu sterben, weil sie im Augenblick des Todes dem Paradies so nahe wie möglich sein wollen.«
Lyn war fasziniert. In ihrer Welt hatte man von solchen Dingen nicht die geringste Ahnung, und sie fand es merkwürdig, dass man die Toten unter der Erde bestattete. In ihrem Reich wurden die Leichen zu Staub zerblasen, und die Toten ehrte man – wenn überhaupt – in einem Friedhof, den sie »World Wide Web« nannte. Khaled war nicht klar, was sie damit meinte. Viele Ausdrücke, die sie benutzte, konnte man beim besten Willen nicht ins Arabische übersetzen. Geduldig hatte er Lyn von den muslimischen Heiligtümern erzählt und ihr erläutert, welche davon im Schatten des Felsendoms lagen. Aber am meisten war sie an seiner Herkunft interessiert. Sie wollte alles über sein Leben und seine geheimnisvoll erscheinenden Traditionen wissen. Nicht ohne Stolz hatte Khaled ihr vom Stamm seiner Vorväter erzählt, einem anerkannten Adelsgeschlecht in Syrien, das sich nach dem Tod seines Vaters in alle Winde verstreut hatte. Mit wenigen Worten berichtete er von seiner Rettung durch König Fulko und vermied dabei jede Anspielung auf die verwitwete Königin, weil er fürchtete, Lyn könnte ahnen, welche Rolle er nach Fulkos Tod in deren Leben eingenommen hatte.
Später, als es bereits dämmerte, hatte er mit ihr ein zweites Mal in aller Heimlichkeit die Mauer hinunter zur Stadt überwunden und sie hinter dem Salomosportal zum Teich von Bethesda – oder auch Schafsteich – geführt. Eine beeindruckende, aus hellem Stein gemauerte Zisterne, an deren tiefster Stelle das glasklare Quellwasser sieben Königsellen hinab bis zum Grund reichte. Ein unterirdischer Zulauf sorgte dafür, dass das ausgedehnte Becken stets gefüllt war und an heißen Tagen zum Baden einlud. Bereits zu Jesu Zeiten sagte man dem Wasser heilkräftige Wirkung nach. Tagsüber tummelten sich dort Hunderte Pilger, doch am Abend wurde es ruhig unter den uralten Zypressen. Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit verirrte sich niemand |235|mehr zu der von antiken Säulen umrankten Gebetsstätte. Trotz des hellen Mondlichtes hatte Khaled besondere Vorsicht walten lassen, als er mit Lyn im Schatten der neu erbauten Sankt-Anna-Kirche ein erfrischendes Bad nahm. Vollkommen nackt waren sie ins Wasser gestiegen, nachdem Khaled sichergestellt hatte, dass niemand in der Nähe war, der sie beobachten oder ihre Kleider stehlen konnte. Lyns kleine pralle Brüste glichen frisch gepflückten Äpfeln, und ihre haarlose Scham war verlockend wie der Schoß einer Jungfrau, die sie nach eigenem Bekunden noch war. Beim Barte des Propheten – nie zuvor hatte er es als eine solche Qual empfunden, sich bei einer Frau zurückhalten zu müssen. Seine Erregung hatte er vor Lyn nicht verbergen können. Irgendwann war sie ihm so nahe gekommen, dass sie mehr unbeabsichtigt sein aufragendes Geschlecht berührt hatte. Atemlos hatte er es zugelassen, dass sie es streichelte und sich mit unschuldigem Blick erkundigte, ob ihm dieser Zustand Schmerzen bereitete. Es hatte Khaled beinahe übermenschliche Kräfte gekostet, sie nicht einfach an den Beckenrand zu drängen, ihre Beine zu spreizen und sie im lauwarmen Wasser zu nehmen.
Doch er wusste, dass ein solches Verhalten nicht nur verantwortungslos, sondern auch ungehörig gewesen wäre. Deshalb war er einfach abgetaucht, um sich abzukühlen, aber Lyn war ihm lachend gefolgt und hatte keine Gelegenheit verstreichen lassen, ihn zu necken und kleine Zärtlichkeiten mit ihm auszutauschen. Allem Anschein nach hatte sie nicht die geringste Ahnung, was ihr Verhalten bei ihm bewirkte. Aber gerade das war es, was sie neben ihrer Klugheit, ihrer Schönheit und ihrer außergewöhnlichen Herkunft begehrenswerter machte als jede Frau zuvor.
Khaled hegte die Hoffnung, Lyn mit der Zeit beibringen zu können, was echte Liebe zwischen einem Mann und einer Frau ausmachte und wie viel er für sie empfand. Zeit, die er allerdings nicht haben würde, wenn man ihn und seine Männer gegen die Empfehlungen des Seneschalls in einen aussichtslosen Krieg schickte.
André de Montbard, der wohl ahnte, was in Khaled vorging, hatte noch im Morgengrauen nach seiner ersten Begegnung mit Lyn und Rona zwei Boten mit einer geheimen Depesche im Auftrag des Ordens nach Akko entsandt. In dem Brief hatte er Melisende und ihren Sohn gebeten, Khaled und seine Krieger zur Verstärkung dem Hauptquartier |236|der Templer in Jerusalem zu entleihen. Als Argument brachte er vor, dass zu viele Templer in anderen Einsätzen gebunden seien.
Natürlich hatte Montbard der Königin den wahren Grund seiner Anfrage verschwiegen und nichts über das zu erwartende Desaster im bevorstehenden Krieg von Damaskus geschrieben. Denn er schmiedete bereits einen Plan, wie er die eigenen Leute möglichst ungeschoren aus der Sache heraushalten konnte. Vielmehr hatte er zu einer Notlüge gegriffen. Man habe besonders wichtige Gefangene zu beaufsichtigen, die einer bevorzugten Betreuung bedurften, weil sie bei einem zukünftigen Bündnis mit den Mongolen als Unterpfand eine wichtige Rolle spielen könnten.
Khaled hoffte, dass Balduin unter dem Einfluss seiner Mutter bereit war, diese Kröte zu schlucken, setzte er doch bei Kämpfen gegen sunnitische Herrscher hauptsächlich auf die Erfahrung der unerschrockenen Nizâri.
Eine Antwort Melisendes war jedoch – so weit Khaled wusste – bisher ausgeblieben.
Umso mehr interessierte ihn, was die Königin ihm nach ihrer Rückkehr aus Akko zu sagen hatte.
Als nach einer Weile die Tür zu Khaleds Gemach aufflog und die Königin in ihrem unermüdlichen Temperament auf ihn zustürmte, ahnte er bereits, dass seine Chancen, sie abzuweisen, gering standen. Sie trug ein rotes, eng anliegendes Seidengewand, das unter den Achseln geschnürt war und ihre immer noch festen Brüste betonte. Die Lippen mit Purpur gerötet, das rostrote hüftlange Haar so lange gekämmt, bis es glänzend über ihren wohlgeformten Hintern hinabflutete, sah sie nicht aus wie eine alternde Frau, die das Leben verhärmt hatte, sondern eher wie ein junges Mädchen auf der Suche nach einem Bräutigam. Ihre Haut war hell wie ein lichter Tag, nur ein paar Fältchen umspielten ihre graugrünen Augen und ihren schmalen Mund, der ihre Unerbittlichkeit erahnen ließ. Khaled fragte sich stets, wie Melisende es fertigbrachte, selbst nach einem langen Ritt so erholt auszusehen.
Sie bedachte ihn mit einem anzüglichen Lachen und entblößte dabei eine Reihe makelloser Zähne. Ihre gute Laune jedoch wirkte aufgesetzt, und Khaled fragte sich, ob sie bereits über die Attacke der Fatimiden auf die Karawane nach Blanche Garde informiert worden war. |237|Bisher war es ihm nicht gelungen, eine neue Karawane zusammenzustellen. Die einfachen Händler und Bauern, die für den Verkauf der Lebensmittelvorräte verantwortlich zeichneten, hatten sich geweigert, ohne ausreichenden Schutz noch einmal nach Blanche Garde aufzubrechen.
Auch die Sache mit dem fatimidischen Spion, den Khaled im Auftrag der Königin treffen sollte, hatte sich damit zerschlagen, gab es doch keinen erkennbaren Grund, mit dem er einen Alleingang zur abgelegenen Templerfestung hätte rechtfertigen können. Wegen der Geheimhaltung, die Melisende ihm auferlegt hatte, kam auch kein Bote in Frage, den er mit dieser heiklen Mission hätte beauftragen können.
Melisende schloss die Tür hinter sich und fiel ihm sogleich um den Hals. »Ma Chérie, wie sehr ich dich vermisst habe«, säuselte sie und stellte sich auf Zehenspitzen, während sie seinen Kopf mit der Duftkordel zu sich herabzog, als wäre er ein Hund, um ihn ungeniert auf den Mund zu küssen.
»Nach allem, was ich erfahren durfte, bin ich froh, dass du samt meiner Habe heil und an einem Stück zum Palast zurückgekehrt bist. Auch wenn ich es bedauere, dass das Treffen zwischen dir und meinem Vertrauensmann nicht stattfinden konnte.« Respektlos zerrte sie an seiner Kleidung und zog ihn mit einem verschwörerischen Blick zu seinem Bett. Morgiane, die bis vor ein paar Augenblicken eingerollt auf seinem Kopfkissen geschlafen hatte, ahnte die drohende Gefahr und sprang fauchend zur Seite, als die Königin ihrem Herrchen mit einem sanften Stoß zu verstehen gab, dass er ihr schon einmal die Matratze wärmen sollte, während sie sich entkleidete. Allein von ihrem wallenden, roten Haar bedeckt, stand sie schließlich vor ihm. Die Scham blank gezupft, die Brustwarzen mit rotem Ocker geschminkt, wie es bei muslimischen Konkubinen und asiatischen Lustsklavinnen üblich war, lockte sie ihn mit verzehrenden Blicken.
Als er jedoch stehen blieb, bemüht, ihre Nacktheit zu ignorieren, ging sie erneut auf ihn zu. Ihre Hände erforschten seinen halbsteifen Schritt, den er unter seinem dünnen Gewand kaum zu verbergen vermochte. Zum Teufel! Schließlich war er auch nur ein Mann, und er hatte es oft genug mit ihr getan, um zu wissen, dass sie über ausreichend Erfahrung verfügte, um selbst einen nichtsahnenden Trottel ins Paradies zu entführen.
|238|»Was ist mit dir?«, gurrte sie und massierte durch den Stoff sein stattliches Glied. »Bedrückt dich der Zwischenfall mit den Fatimiden immer noch so sehr, dass du noch nicht einmal Verlangen nach deiner Königin verspürst? Oder hat es einen anderen Grund, dass du nicht gerade erwartungsfroh erscheinst?«
Khaled wagte es kaum, Melisende in die Augen zu schauen. »Während Eurer Abwesenheit habe ich nachgedacht …«, begann er zögernd und ließ es gleichzeitig zu, dass sie weiterhin mit ihren geschickten Fingern verwöhnte.
»Nachgedacht?« Sie stieß ein kokettes, helles Lachen aus. »Ein Assassine ist am gefährlichsten, wenn er denkt, und am verletzlichsten, wenn er sich von den Verlockungen einer willigen Frau verführen lässt. Wusstest du das?«
»Meine Königin«, begann er stockend, während sie ihm ungeniert das Gewand hochzog. Als sie Anstalten machte niederzuknien, um ihn mit dem Mund zu befriedigen, entwand er sich ihr und stieß sie zurück.
Melisendes Lächeln erstarb. »Was ist?«, fauchte sie. »Hat dir während meiner Abwesenheit eine andere Frau den Kopf verdreht, oder ist dir die Zuwendung deiner Königin auf einmal nicht mehr gut genug?«
»Nein«, hörte Khaled sich selbst sagen. »Es ist nur … ich … finde, es ist nicht recht, dass Ihr Manasses mit mir hintergeht. Was ist, wenn Euer Cousin erfährt, dass Ihr ausgerechnet mit einem Anführer der Nizâri das Lager teilt, wenn er abwesend ist?«
Melisende riss vor Überraschung die Augen auf, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Als sie wieder zu Atem kam, machte sie einen Schritt auf ihn zu, und bevor er ahnte, was sie vorhatte, packte sie sein Gewand und zerriss es.
»Was ist mit dir los?«, zischte sie. »Erst war es Fulko, dem du dich verpflichtet fühltest, nun ist es Manasses. Und was ist mit mir? Zähle ich nicht?«
Halbnackt stand er vor ihr und unterdrückte den Impuls, die plötzliche Blöße vor ihr zu verhüllen. Melisende ignorierte seinen verhaltenen Zorn und taxierte respektlos seinen muskulösen Körper. Abermals packte sie ihn bei seiner Duftkordel und zog ihn ohne Widerstand zu sich heran. »Glaubst du ernsthaft, Manasses weiß nichts von unserem Verhältnis? Er hat sich längst damit abgefunden, dass er nicht der Einzige |239|ist, den ich in mein Bett lasse und nennt dich ungalant ›meinen jungen Assassinenbock‹ – womit er nicht unrecht hat, denn wenn es nach der Ausdauer geht, erfreust du mich weitaus öfter und länger als er es vermag.«
Verfluchtes Luder, schoss es Khaled durch den Kopf, ich sollte dich lehren, was es heißt einem Assassinen zu demütigen. Seine Hände zitterten, weil es ihn einiges an Kraft kostete, seinem Bedürfnis nach Rache nicht sofort nachzugeben.
Melisende bemerkte seinen Unmut und wurde mit einem Schlag ernst. »Denkst du wirklich, dass ich nicht über sämtliche Entwicklungen während meiner Abwesenheit im Bilde bin?«, verkündete sie kühl.
Sämtliche? Khaled vergaß beinahe zu atmen. Nesha kam ihm in den Sinn. Natürlich, sie hatte Melisende alles über die beiden fremden Frauen berichtet. Fragte sich nur, ob sie der Königin auch von dem mysteriösen, blauen Licht und dem merkwürdigen Unfall nach dem nächtlichen Überfall der Fatimiden erzählt hatte.
»Mir ist zu Ohren gekommen« begann Melisende mit einem durchbohrenden Blick, »dass du auf dem Weg nach Blanche Garde zwei mongolische Frauen vor den Fatimiden gerettet hast, deren Herkunft ein wahres Geheimnis zu sein scheint. Auch wird von einer wundersamen Heilung berichtet, die eine der Frauen dem Sohn meines Schneiders zuteilwerden ließ. Außerdem erzählt man sich, dass du diese seltsamen Mongolinnen unter den Schutz des Palastes gestellt hast, wo sie auf wundersame Weise einem verheeren Feuer in Manasses Gemächern entkommen sind.« Ihr Blick war entwaffnend. »Und dann erfahre ich von André de Montbard, dass er die beiden Frauen nun für den Templerorden in Anspruch nimmt, als Unterpfand bei eventuellen Verhandlungen mit mongolischen Herrschern – obendrein hat er mir mitteilen lassen, dass ich dich und ein paar deiner Leute zu deren Bewachung abstellen soll.« Sie schwieg einen Moment und sah ihn angriffslustig an. »Glaubst du etwas, ich merke nicht, dass hier etwas im Gange ist, über das ich unterrichtet sein sollte?« Ihre Lider verengten sich.
»Von all diesen Rätseln einmal abgesehen, kann ich mir nach der Entscheidung von Akko, wo ich von den meisten Würdenträgern überstimmt wurde, schwer vorstellen, dass der Prinz auf die Teilnahme deiner Truppe beim Feldzug auf Damaskus verzichten will.«
Khaled war auf einmal so wütend über ihre herablassende Art, dass |240|er nahe daran war, seine Erkenntnisse aus Lyns und Ronas Zauberkasten auszuspielen. Demnach würde Melisende im weiteren Verlauf der Geschichte mit dem Vorwurf des Verrats konfrontiert werden, den sie gegenüber ihrem eigenen Sohn und dessen Untertanen erst noch begehen musste, indem sie mit ihren getreuen Baronen und dem Emir von Damaskus ein Komplott gegen die fränkischen Eroberer schmiedete. Doch mit einer solchen Aussage würde Khaled die beiden Frauen erst recht gefährden.
Die Königin lächelte überlegen, als sie seine Sprachlosigkeit gewahrte, und zog ihn an der Kordel in Richtung Bett. »In jedem Fall kommt es auf mich an, ob mein Sohn dich und deine Männer vom Kriegsdienst befreit oder nicht.« Ihre Stimme klang bittersüß, und Khaled konnte sich denken, dass seine Chancen gering standen, diesem Krieg zu entgehen, weil Balduin grundsätzlich nicht tat, was sie von ihm verlangte.
Vielleicht aber war sie nur schlau und versuchte es mit einer List, indem sie ihrem Sohn Montbards Vorschlag als schlechte Idee verkaufte, was den jungen König durchaus veranlassen konnte, genau deshalb die Bitte des Seneschalls zu erhören.
Was die Manipulation von Menschen betraf, war sie ein Biest, genau genommen eins von der übelsten Sorte. Mit einem federleichten Streich ihres Zeigefingers berührte sie sein halbsteifes Glied. Khaled konnte nicht verhindern, dass es sich wieder aufrichtete.
»Eins kann ich dir in jedem Fall garantieren«, raunte Melisende gefährlich leise. »Wenn du nicht auf der Stelle mit mir schläfst, werde ich dich und Bruder André enttäuschen müssen.«
Ohne ein weiteres Wort ging sie auf die Knie. Er ließ es zu, dass ihre Lippen seine Eichel berührten, und als sie emsig fortfuhr, um ihn in Stimmung zu versetzen, stöhnte er ungewollt auf. Ihm gelang es nicht, seine aufkeimende Lust zu unterdrücken, auch wenn er die Fäuste ballte und sich wünschte, er hätte die Kraft, sie zu erschlagen. Die Königin kannte ihn einfach zu gut. Willenlos ließ er sich von ihr auf sein Lager ziehen, wo sie vor ihm auf die Knie ging und ihm einen auffordernden Blick zuwarf. Mehr widerwillig legte er seine Handflächen auf ihren Hintern und spreizte ihre makellosen Rundungen, als ob sie eine rossige Stute wäre. Dann verharrte er für einen Moment, immer noch mit sich kämpfend, weil er wusste, dass er besser aufstehen und das |241|Zimmer verlassen sollte. Lyn zuliebe. Sich selbst zuliebe. Doch er konnte es nicht. Weil er an seine Männer dachte und das grausame Schicksal, das ihnen bevorstand, wenn er Melisende verärgerte.
Der Kopf der Königin schnellte abermals zu ihm herum.
»Worauf wartest du?«, blaffte sie ungeduldig.
Khaled erwachte wie aus einer Trance und stieß sein hartes Glied in ihr Geschlecht, ohne Rücksicht darauf, ob sie wirklich bereit war. Während er sie erbarmungslos nahm, keuchte er wie ein Sklave, der ohne einen Laut der Klage seine Auspeitschung erduldet. Melisende schrie wie von Sinnen, als sie den Höhepunkt erreichten. Hastig hielt er ihr den Mund zu, während er sich in ihr ergoss, damit man seine Schwäche nicht in halb Jerusalem zu hören bekam.
Völlig erschöpft ließ er von ihr ab und fiel neben ihr in die Kissen und starrte an die Decke des Baldachins, bemüht, ihr nicht in die Augen zu sehen, weil er den Abscheu vor ihr und sich selbst verbergen wollte.
Blieb zu hoffen, dass sie nicht noch weitere Dienste von ihm verlangte, sonst würde er sich vergessen und ihr am Ende doch noch den Hals aufschlitzen.
Nie zuvor hatte jemand so sehr seinen Stolz verletzt.
»Du warst gut«, flötete sie und spielte respektlos mit seinem erschlafften Geschlecht. »Noch besser als sonst. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass ein wütender Assassine ein weitaus besserer Liebhaber ist als das Lamm, das du sonst vorgibst zu sein.«
Er widerstand dem Bedürfnis, einfach aufzuspringen und sie rauszuschmeißen, so wie sie war.
»Du schuldest mir noch etwas«, sagte sie tonlos.
»Ich wüsste nicht was«, raunte Khaled verärgert.
»Unser Spion in Blanche Garde hat vergebens auf dich gewartet. Ich will, dass du ihn noch einmal aufsuchst und ihn fragst, ob er noch an dem Geschäft interessiert ist.«
»Um welches Geschäft geht es hier eigentlich?«, erwiderte Khaled tonlos.
»Das geht dich nichts an. Du sollst lediglich den Handel einfädeln und das Geld überbringen.«
Mit einem Ruck erhob Khaled sich und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über Melisendes immer noch erhitzten Leib. Breitbeinig saß er nun auf ihren zuckenden Hüften, während er ihre |242|Handgelenke packte und sie über ihren Kopf zog. Unzweifelhaft war sie nun seine Gefangene und ihrem verzückten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien sie diesen Zustand sogar noch zu genießen. Auffordernd streckte sie ihm ihre Brüste entgegen.
»Tu mit mir, was du willst«, keuchte sie mit geschlossenen Augen, doch als sie die kalte Klinge eines Dolches an ihrer Kehle spürte, riss sie entsetzt die Lider auf.
»Khaled!«, entfuhr es ihr mit panischer Stimme. »Bist du nicht ganz bei Trost?«
Mit der frei gewordenen Hand umklammerte sie Khaleds Handgelenk und versuchte, die tödliche Waffe auf Abstand zu bringen. Plötzlich schien ihr bewusst zu werden, wie stark er in Wirklichkeit war und dass sie keinerlei Chance gegen ihn hatte, falls er sie töten wollte.
»Wenn du mich schon vor aller Welt als deinen Hurenbock bezeichnest«, raunte er böse, »und mein Leben in einer undurchsichtigen Mission aufs Spiel setzen willst, sollte ich wenigstens wissen, worum es dir geht!« Er verstärkte den Druck der Klinge auf ihren Hals.
»Der Kelch der Wahrheit«, krächzte sie heiser.
»Der Kelch der Wahrheit?« Khaled ging mit der Klinge auf Abstand, damit sie lauter sprechen konnte. »Was soll das sein?«
»In seinem Innern befindet sich ein Ornament«, flüsterte Melisende und versuchte noch einmal vergeblich, den Dolch auf Abstand zu bringen, »das den Verbleib der Bundeslade bekundet.«
»Du lügst.« Die Klinge ritzte beinahe ihre makellos weiße Haut. »Die Templer haben das Geheimnis der Lade längst gelüftet.«
»Nimm endlich das Messer weg!«, bettelte sie laut. »Dann will ich es dir erklären.«
Khaled gehorchte, wenn auch widerwillig.
Melisende atmete auf und brach in ein spöttisches Lachen aus. »Als die Byzantiner Askalon im Jahr 636 an die Araber verloren, mussten sie einen gewaltigen Schatz zurücklassen, darunter soll sich auch jener Kelch befunden haben, der den tatsächlichen Verbleib der Lade dokumentiert. Montbard und seine Leute haben zwar jahrelang unter dem Tempelberg danach gegraben, aber nichts von Bedeutung finden können. Ich habe mehr zufällig durch Montbard selbst erfahren, dass Hugo des Payens und seine Gefolgsleute nur ein paar eher unwichtige Reliquien entdeckt haben.«
|243|»Das glaubst du doch selbst nicht«, erwiderte Khaled mit hochgezogenen Brauen. »Warum sollten Montbard und die Templer dich in seine ihre tiefsten Geheimnisse einweihen?«
»Sie haben nicht mich eingeweiht.« Melisende lächelte selbstzufrieden. »Sondern meinen herzallerliebsten Vater, der mir die ganze Geschichte kurz vor seinem Tod anvertraut hat. Es war nichts weiter als eine peinliche Angelegenheit. Um den Schein gegenüber der christlichen Welt zu wahren und weiterhin Kreuzritter ins Königreich Jerusalem zu locken, wurden allerlei Geheimnisse um den Orden der Templer und die Heilige Stadt kreiert.« Melisende setzte eine resignierte Miene auf. »Demnach ist die Frage nach dem Verbleib des guten Stücks heute so aktuell wie eh und je.«
Khaled zog den Dolch zurück und richtete sich auf. »Und woher weißt du, ob dieser Kelch überhaupt existiert?«
Melisende rutschte unruhig hin und her. »Kannst du freundlicherweise von mir absteigen?«, maulte sie. »Auch wenn ich deine Muskeln zu schätzen weiß, schnürst du mir langsam die Luft ab.«
Ihr entwaffnendes Lächeln und ihre plötzliche Offenheit verwirrten ihn und ließen ihn schnaubend zur Seite rücken. Mit fragendem Blick blieb er zwischen den Kissen hocken, wobei er den Dolch weiter in Händen hielt. Als er spürte, dass die Königin immer noch lüstern auf seine Blöße starrte, zog er sich rasch das weiße Laken darüber.
»Kalif al-Hafiz müsste doch wissen, welchen Schatz er in Händen hält?«, argwöhnte er.
»Augenscheinlich weiß er nicht, was sich genau in seinen Schatzkammern befindet, wie meine Spione mir versicherten«, erklärte Melisende und räkelte sich lasziv in den Kissen. »Glaubst du tatsächlich, Askalon ist für die Christen bloß interessant, weil dort ein fatimidischer Herrscher hockt und die letzte muslimische Bastion in diesem Land zur offenen See blockiert?«
»Willst du mir tatsächlich weismachen, die Christen wissen um diesen Schatz und al-Hafiz weiß es nicht?« Khaled sah sie ungläubig an. »Auch bei den Muslimen sagt man, dass der lang ersehnte Erlöser am Besitz der Bundeslade zu erkennen sein wird.«
Melisendes Hand kroch wie eine Schlange seine Schenkel hinauf und versuchte vergeblich, das Laken beiseitezuziehen. »Ich weiß«, sagte sie und sah ihn von unten herauf an, als könnte sie kein Wässerchen trüben. »|244|Glaubst du, wenn al-Hafiz wüsste, welchen Schatz er in seinen Kammern beherbergt, dass er ihn noch nicht genutzt hätte, um die Bundeslade zu finden und sich als Herrscher der Welt aufzuspielen?«
»Schon möglich«, murmelte Khaled, während sein Kopf schwirrte. »Aber vielleicht ist der Besitz des Kelches auch bloß ein Gerücht.«
»Dann wäre mein Sohn nicht hinter diesem Gerücht her wie der Teufel hinter der armen Seele«, erwiderte Melisende mit einem unschuldigen Augenaufschlag. »Ich habe einen seiner engsten Berater bestochen, weil ich wissen wollte, warum Askalon so wichtig für uns ist. Von ihm weiß ich, dass Balduin über einen geheimen Zuträger aus Konstantinopel verfügt, der ihn in das Geheimnis eingeweiht hat. Die Griechen sind genauso interessiert wie wir, an den Schatz zu gelangen, aber ihnen fehlen die Möglichkeiten, al-Hafiz aus seiner Festung zu vertreiben. Sie benötigen die Unterstützung der Lateiner. Das ist der Grund, warum Balduin zehnmal lieber Askalon eingenommen hätte als Damaskus. Dummerweise ist dort außer dem Kelch nicht viel zu holen. Im Gegensatz zu Damaskus, das allen Beteiligten reiche Beute verspricht. Aber Balduin kann ja schlecht mit seinem Wissen bei seinen Verbündeten hausieren gehen und kundtun, was sich wahrhaftig hinter den Mauern von Askalon verbirgt. Damit würde er nicht nur die Griechen brüskieren, sondern auch die Templer und noch etliche andere Hyänen, die ihn zum Schweigen verpflichtet haben. Ehe er sich versieht, planen sie einen eigenen Angriff auf Askalon, mit dem Risiko, kläglich zu scheitern, wenn al-Hafiz ihre Pläne vorzeitig durchschaut.«
Khaled sah sie scharf an. Wenn sie recht behalten sollte, was er im Moment noch bezweifelte, konnten die Folgen weit schlimmer ausfallen als gedacht.
»Wenn dieser Hund von einem Kalifen ahnt, was sich hinter seinen Mauern verbirgt«, sagte er, » und die Bundeslade tatsächlich auf diese Weise findet, wird er keine Skrupel haben, sich selbst zum verborgenen Imam Mahdi oder sahib-ul-zaman – dem Fürsten der Zeit – ausrufen zu lassen. Zu den Insignien seiner Wiederkunft gehört, dass er das Schwert Dhu’l Figar und die Bundeslade mit sich führt und damit zahlreiche Wunder vollbringen wird. Und für die Christen würde es ebenso viel bedeuten – eine Rückkehr der Bundeslade ist mit der sehnsüchtig erwarteten Wiederauferstehung Jesu verbunden.«
|245|Khaled stockte einen Moment, während ihn die Vorstellung, dass al-Hafiz so unvermittelt eine solche Macht zufallen könnte, erschauern ließ. »Wenn die Bundeslade in die Hände des ägyptischen Kalifen fällt, ist die Katastrophe perfekt. Seine Macht würde die Christen aus dem Land fegen – und auch ein großer Teil jener Muslime wäre betroffen, die eine abweichende Glaubensauslegung verfolgen.« Sein nachdenklicher Blick blieb an Melisendes schmalen Lippen haften. »Bedeutet das, der Unbekannte in Blanche Garde weiß, wie du an den Kelch kommen könntest?«
»Ich wollte den Kelch über einen Mittelsmann von ihm kaufen«, führte die Königin scheinbar unbeeindruckt aus, »bevor jemand anderes auf die Idee kommt, die Stadt zu erobern und ihn an sich zu reißen.«
»Und woher wusstest du, dass der Mann vertrauenswürdig genug sein würde, ein solches Risiko zu rechtfertigen?«
»Er ist ein Nizâri wie du und spioniert im Dienste des Kalifen. In Wahrheit steht er auf unserer Seite. Meine Agenten arbeiten schon länger mit ihm zusammen.«
»Weiß er, um was es geht?« Khaled konnte sich kaum vorstellen, dass es so war, weil ein Nizâri sich eine Gelegenheit, die Bundeslade zu finden und sie seinem eigenen Großmeister zu übergeben, gewiss nicht entgehen lassen würde. Die Ismailiten waren die Letzten, die sich ausgerechnet einen Fatimiden wie al-Hafiz als verborgenen Imam vorstellen wollten.
»Natürlich nicht«, erwiderte Melisende. » Ihm wurde gesagt, der Kelch sei ein Andenken an meine Mutter, Gott hab sie selig. Sie hat ihn von meinem Vater zu meiner Geburt geschenkt bekommen – später wurde er bei einem Überfall von al-Hafiz-Räubern auf eine unserer Karawanen zusammen mit jeder Menge Hausrat erbeutet. Ich hänge eben immer noch sehr an meiner verstorbenen Mutter, deshalb will ich den Kelch zurückhaben.« Ihr naiver Augenaufschlag war der reinste Betrug. »Ihm wurde gesagt, solange ich den Kelch in al-Hafiz’ Besitz wähne, werde ich jede Nacht von ihrem Geist heimgesucht. Das abzustellen, ist mir das Gold wert.«
»Ich vermag es mir kaum vorzustellen «, bemerkte Khaled spöttisch. »Aber allem Anschein nach hat er diese Geschichte geglaubt. Immerhin war er so dumm, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um mir den Kelch |246|zu übergeben. Es sei denn, es war eine Falle und er hatte es bloß auf das Gold abgesehen.«
»Das hätte ich gerne herausgefunden, aber das Treffen zwischen dir und ihm wurde ja durch den Angriff der Fatimiden vereitelt. Seitdem hat man bedauerlicherweise nichts mehr von ihm gehört.«
Khaled ließ sich seine Entrüstung darüber, dass Melisende ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte, sondern wie einen Lakaien lediglich zur Geldübergabe geschickt hatte, nicht anmerken. Dabei wären die wahren Hintergründe zur Einschätzung eines Risikos wichtig gewesen. Vielleicht war der Mann bei seinem Aufbruch nach Blanche Garde entdeckt worden und hatte unter der Folter verraten, dass mitten in der Wüste eine Unmenge an Gold auf ihn wartete. Gut möglich, dass er längst nicht vertrauenswürdig war, wie sich Melisende erhoffte, und das Gold für sich haben wollte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen.
Nachdem die Königin sein Zimmer unter Androhung weiterer Pläne, in die sie ihn einbinden wollte, verlassen hatte, fühlte er sich wie nach einer durchzechten Nacht. Rasch zog er sich ein frisches Gewand über, wobei ihm Melisendes Offenbarung nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
Abgesehen davon, dass er die Königin mit einem Mal abgrundtief hasste, weil ihm unvermittelt klar geworden war, wie gnadenlos sie sein Schicksal beherrschte, blieb die Frage, ob er ihre Vermutung zu dem Kelch und der Bundeslade wirklich ernst nehmen konnte. Beim Propheten, er würde die Wahrheit auch ohne ihre Hilfe ans Licht bringen.
Es klopfte und Azim steckte den Kopf zur Tür herein. Bevor Khaled ihn davon abhalten konnte, huschte er ins Zimmer hinein und schloss die Tür hinter sich. Sein braungelockter Waffenbruder grinste wissend, als er das Durcheinander in Khaleds Gemach betrachtete. Das Bett war zerwühlt, und Khaleds zerrissene Kleidung lag auf dem Boden. Gierig sog Azim den Geruch von Sex und teurem Parfum ein. »Sollte ich dich beneiden oder bedauern?«, fragte er, als er Khaleds finstere Miene erblickte.
Khaled stand auf und schnaubte verächtlich. »Allah straft mich«, stieß er hervor und wandte sich ab. »Ich hätte mich niemals von dieser Hündin verführen lassen dürfen.«
»Bisher hat es dir genützt«, bemerkte Azim. Ohne zu fragen, ließ er sich auf Khaleds kunstvoll geschnitzter Kleiderkiste nieder. Beiläufig |247|nahm er eines der vielen Kristallfläschchen in die Hand, entfernte den Glaspfropfen und schnupperte genießerisch an der Mischung aus Moschus und Ambra. »Oder sagen wir besser, uns hat es genützt.« Schmunzelnd stellte er das Fläschchen zurück an seinen Platz. »Schließlich ist unser Orden nicht nur auf die finanziellen Zuwendungen der Königin angewiesen. Auch ihre Verbindungen und ihre Loyalität sind uns von Nutzen. Wenn wir allein von Alī bīn Wafās Unterstützung leben müssten, bliebe uns nichts anderes übrig, als Karawanen auszurauben, wie es die verfluchten Fatimiden tun.«
Khaled setzte sich aufs Bett, den Kopf in die Hände gestützt. Sein schwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht. »Ich bin euer Anführer, nicht eure Hure«, stellte er mit einem verärgerten Seitenblick unmissverständlich klar. »Ich kann das nicht mehr. Ganz gleich, durch welche Hölle wir ziehen müssen.«
»Die beiden Frauen, die wir in der Wüste gefunden haben, sind schuld, nicht wahr?« Azim sah ihn herausfordernd an. »Besonders die sanfte mit dem anmutigen Gang hat es dir angetan. Es vergeht kein Tag, den du nicht mit ihr verbracht hast, seit die Templer sie für sich beansprucht haben.«
Khaled schaute zu Boden und antwortete nicht. Er dachte nicht daran, Azim in die wahre Geschichte einzuweihen, es hätte nichts leichter gemacht, und auch den Überfall an der Westmauer hatte er seinem persönlichen Adjutanten verschwiegen. Montbard hatte ihn zum Schweigen verpflichtet, und nichts erschien ihm abwegiger, als das Vertrauen eines Mitgliedes des hohen Rates der Templer zu missbrauchen.
»Hast du sie inzwischen zu deiner Konkubine gemacht?« Azim grinste herausfordernd. »Man sagt, dass du sogar die Nächte mit ihr verbringst.« Khaled sprang auf und wollte Azim am Kragen seines Gewandes packen, doch sein Waffenbruder war schneller und sprang zur Seite, dabei zückte er seinen Dolch von seinem purpurfarbenen Gürtel. Khaled packte das Handgelenk seines Gefährten. Mit einer schnellen Drehung entwand er ihm die Waffe. Azim verzog sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse, während Khaled ihm den Arm auf den Rücken drehte und so festhielt, dass er sich nicht mehr rühren konnte.
»Es hat einen Grund, warum ich euer Anführer bin«, stieß Khaled grimmig hervor. »Wenn du noch einmal dieses Mädchen erwähnst, bist |248|du des Todes.« Mit einem Ruck ließ er ihn los. Azim hob entwaffnend die Hände und ging auf Abstand.
»Schon gut, schon gut«, murmelte er verstört. »Allah sei mein Zeuge.« Khaled atmete tief durch und goss sich einen Becher mit Wasser ein, dann trank er einen gewaltigen Schluck und ließ seinen Blick hinaus zum Fenster über das steinige Gelände vor der Stadt schweifen. »Warum bist du hier?«, fragte er schroff. Im nächsten Augenblick tat es ihm leid. Azim war nicht nur sein Kampfgefährte, sondern auch ein guter Freund, der sich mit den übrigen dreißig Brüdern der Nizâri im unteren Teil des Palastes eine Mannschaftsunterkunft teilte.
»Unsere Männer wollen wissen, wann wir mit den Christen nach Damaskus aufbrechen«, erklärte Azim.
»Wenn wir Glück haben, überhaupt nicht«, erwiderte Khaled, ohne sich umzudrehen.
»Was heißt, wenn wir Glück haben?« Azims Stimme klang ungläubig. »Ich dachte, wir wollten die Gelegenheit nutzen, um an der Stadt und ihren Bewohnern Blutrache zu üben? Außerdem winkt reiche Beute. Wir könnten unser eigenes Geld und Gut verwalten, wenn wir unseren Anteil erhalten haben, und wären nicht länger auf die Almosen dieser Hure und ihres vermaledeiten Sohnes angewiesen.«
»Ich habe es mir anders überlegt«, antwortete Khaled und drehte sich halb zu Azim um. »Der Seneschall der Templer wünscht, dass wir seine Truppen hier in Jerusalem ersetzen, während die Templer auf dem Weg nach Damaskus den König schützen.«
Azim sah ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte. »Heißt das etwa, die Templer wollen die übrig gebliebenen Schätze nach der Eroberung unter sich verteilen und wir sind draußen?«
»Es gibt keine Schätze«, entgegnete Khaled tonlos. »Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen.« Er überlegte einen Moment, ob er sein geheimes Wissen über die hinterlistigen Abmachungen der Königin mit Mugir ad-Din Abaq, dem Herrn von Damaskus, mit Azim teilen sollte. Nach allem, was Montbard mithilfe der Maschine aus der Zukunft herausgefunden hatte, waren inzwischen rund einhunderttausend Golddinar Bestechungsgelder geflossen, die Melisende und einige ihrer Barone hinter dem Rücken ihrer Verbündeten für eine Art Nichtangriffspakt von den Damaszenern erhalten hatten.
Heerführer Mu’in ad-Din Unur, ein einflussreicher Verwandter des |249|Emirs, der dessen Truppen führte und daher die eigentliche Macht über die Stadt besaß, durfte also getrost damit rechnen, dass sich große Teile des fränkischen Heeres zwar aufstellen, aber geflissentlich zurückhalten würden, wenn es um die Eroberung der Stadt ginge.
»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wer an diesem Krieg ein Interesse hat?«, fragte Khaled.
Azim schaute ihn verständnislos an. »Balduin und seine Verbündeten – und wir, weil wir noch eine Rechnung mit den Machthabern der Stadt offen haben.«
»Melisende und ihre Verbündeten sind gegen die Eroberung«, erklärte Khaled offen, »weil sie handfeste finanzielle Interessen haben. Damaskus zahlt seit Jahren Schutzgeld an Melisende, damit es von den Franken verschont bleibt und in Frieden Handel betreiben kann. Der Königin und ihren Verbündeten kann nichts daran liegen, dass am Ende Kaiser Konrad I. Herrscher von Damaskus wird. Denn dann würde er die Gewinne von Damaskus kassieren, und die Königin und ihre Barone würden leer ausgehen. Außerdem wollen die hiesigen Barone keinen deutschen Befehlshaber, der ihnen am Ende auch noch die Königin ersetzt.«
Azim schüttelte verständnislos den Kopf. »Wieso sollte der deutsche Kaiser das Königreich übernehmen? Ich dachte, Dietrich von Flandern und Guido von Beirut seien im Gespräch für eine eventuelle Herrschaft in Damaskus.«
»Denk doch mal nach, Azim! Konrad führt ein mächtiges Heer.
Die Deutschen sind bekannt für ihre Unerbittlichkeit. Melisende ist eine Frau, und gegen Konrad wird sie nicht viel ausrichten können. Balduin hingegen ist noch viel zu jung und zu unerfahren, als dass er sich gegen einen solch erfahrenen Machthaber behaupten könnte. Dass Balduin sich von König Ludwig und dem deutschen Kaiser blenden lässt und die Gefahr nicht sieht, im Falle eines Sieges über Damaskus nicht deren Anerkennung zu gewinnen, sondern vielmehr seinen Thron zu verlieren, ist das beste Beispiel dafür. Lā maqām – die Theorie des mangelnden Platzes – ist in dieser Gegend in aller Munde. Dieses Land verträgt keinesfalls noch mehr fränkische Herrscher, die sich auf Augenhöhe gegenüberstehen. Konrad I. wird seinen Anspruch auf Jerusalem erheben, wenn er erst Herrscher von Damaskus ist – und seine eigenen Leute in die Baronien einsetzen. Das kann niemand von den bereits vorhandenen fränkischen Führern wollen.«
|250|»Wer sagt das?« Azim blickte ihn misstrauisch an. »Montbard?«
Khaled nickte schwach. »Frag mich nicht warum, aber ich weiß, dass er recht hat. Wir werden zu den Verlierern gehören, ganz gleich, wie es kommt.« Natürlich konnte er Azim nichts von Lyns geheimnisvoller Maschine erzählen und dass die Zukunft womöglich bereits geschrieben war und sie des Todes waren, falls sie an der Schlacht um Damaskus teilnehmen würden.
»Und wie willst du das unseren Leuten beibringen?« Azims Blick zeigte einen Anflug von Verzweiflung. »Sie fiebern ihrer Genugtuung entgegen. Fast alle haben Familienangehörige in den Wirren der Verfolgung verloren. Sie sind mittellos und auf das Wohlwollen einer fränkischen Königin angewiesen. Allein ihr Stolz ist ihnen geblieben. Soll ich ihnen sagen, dass all ihre Hoffnungen auf Vergeltung, Reichtum und Macht nun wegen der Visionen eines alternden Templers hinfällig sind?«
»Sag ihnen vorerst gar nichts«, erwiderte Khaled mit bitterer Miene. »Die Entscheidung wird ohnehin von der Meinung des Prinzen abhängen und ob es seiner Mutter gelingt, ihn entsprechend zu beeinflussen.«
»Auf welcher Seite stehst du eigentlich?« Azim sah ihn ungläubig an. »Auf der Seite der Königin, auf der Seite des Prinzen – oder etwa der Templer?«
»Auf der Seite unseres Glaubens und auf der Seite der Vernunft.«
Khaled fühlte sich mit einem Mal, als wäre er um Jahre gealtert.
»Bei Allah«, bemerkte Azim resigniert. Bevor er fortfuhr, kniff er die Lippen zusammen. »So soll es sein.«
Als er hinausging, drehte er sich noch einmal zu Khaled um. »Du solltest es wirklich nicht mehr mit dieser alten Hexe treiben. Sie ist weit schlimmer als ein Opiumrausch. Wenn du nicht Acht gibst, saugt sie dir noch den letzten Funken Verstand aus den Knochen.«
Drei Tage später war Khaled war sicher, dass er seit drei Tagen beobachtet wurde, und er wusste sogar von wem. Als Nizâri war er auf das Ausspähen von Verfolgern geschult. Ein einziges Mal hatte er in letzter Zeit seine Achtsamkeit vernachlässigt – als er mit Lyn und Rona durch das marokkanische Viertel geschlichen war, mit dem Ergebnis, dass sie dafür beinahe mit dem Leben bezahlt hatten.
|251|Auf dem Weg zu Lyn überlegte er, wie er seine Verfolger loswerden konnte. Der Kerl im grauen Habit eines Bruders vom Heiligen Kreuz, der ihm am helllichten Nachmittag in den engen Gassen Jerusalems durch das Gewimmel der Pilger folgte, machte seine Sache noch nicht einmal gut. Er blieb stehen, wenn Khaled stehen blieb, und gab sich unnötig geschäftig, wenn Khaled sich nach ihm umschaute. Khaled machte sich einen Spaß aus der Sache, indem er abwechselnd davoneilte und dann wieder langsamer wurde, was seinen Verfolger in arge Schwierigkeiten brachte. Nachdem er einen menschenleeren Hohlweg unterhalb der Basilika des Heiligen Grabes passiert hatte, versteckte Khaled sich hinter einem der vielen Baukräne, die man wegen der Neugestaltung des Gotteshauses aufgestellt hatte, und duckte sich hinter einer gewaltigen Marmorsäule. Die fränkischen Maurer, die noch kurz zuvor daran gearbeitet hatten, beäugten ihn misstrauisch, da ihm seine muslimische Herkunft anzusehen war, doch dann besannen sie sich darauf, die Säule mit armdicken Stricken zu versehen, damit sie mittels eines Flaschenzuges aufgerichtet werden konnte.
Der falsche Bruder blieb vor einem Haufen Sand stehen, der zum Anrühren des Kalkmörtels benötigt wurde. Verstört sah er sich um und schlug nervös seine Kapuze zurück. Zum Vorschein kam ein pockennarbiger Kerl mit kurz geschorenem, blondem Haar. Khaled hatte den Mann schon in den Ställen der Königin bemerkt. Mittlerweile sollte er wissen, dass Khaled um diese Zeit zum Tempelberg ging, und dass er dabei jeden Tag einen anderen Weg nahm, gehörte inzwischen zum Spiel.
Khaled versteckte sich hinter einem Laufrad, in dem zwei halbnackte, schweißgebadete Männer unaufhörlich voranmarschierten, um den Flaschenzug zu bedienen.
Der Mann in der Kutte lief daran vorbei, und Khaled schnellte hinter seinem Versteck hervor. Sein Verfolger erstarrte vor Angst, als er von hinten gepackt wurde und einen Krummdolch an seiner Kehle spürte.
Khaled zog ihn hinter der Grabeskirche unter einen blühenden Busch. Dahinter verbarg sich eine Nische, die eine schattige Stille bot und sie ungesehen von der Betriebsamkeit der Stadt abschirmte. »Wohin des Wegs, mein Freund? Und vor allem – wer schickt dich?«, flüsterte Khaled düster. Blitzschnell tastete er den Verfolger nach Waffen |252|ab. Als der Mann nicht antwortete, verstärkte Khaled seinen Griff. »Du weißt, wen du vor dir hast. Also, wenn du nicht willst, dass deine Leiche hinter dem Grab Jesu verrottet, sag, wer dich beauftragt hat und was das Ganze soll.«
Als immer noch keine Antwort kam, ritzte Khaled die Haut des Mannes. Der Kerl geriet in Panik und bat wimmernd um Gnade.
Khaled erfuhr, was er schon geahnt hatte. Melisende ließ ihn ausspionieren – allem Anschein nach aus Eifersucht.
»Bestell deiner Königen einen schönen Gruß von mir«, raunte Khaled und entließ sein Opfer mit einem Stoß. »Sie soll sich bessere Spitzel zulegen, ansonsten muss sie sich nicht wundern, wenn ihre Tage gezählt sind.«
Der Kerl packte sich angsterfüllt an den Hals und eilte fluchend davon. Wahrscheinlich lief er auf kürzestem Weg zum Hospital des Heiligen Johannes, um seine Wunde versorgen zu lassen.
Nachdem Khaled unbehelligt die Wachen an der Hauptpforte des Templerhauptquartiers passiert hatte, führte sein Weg zu den Gastunterkünften der Könige. Eine Anweisung Montbards erlaubte es ihm, den Gästetrakt, in dem Rona und Lyn untergebracht waren, ohne weitere Kontrollen betreten zu dürfen.
Als Lyn ihm die Tür öffnete, konnte er ihr ansehen, dass irgendetwas vorgefallen war.
»Was ist geschehen?«, flüsterte Khaled und überraschte sie mit einem Beutel kandierter Aprikosen.
Lyn lächelte schwach und bedankte sich mit einem flüchtigen Kuss. »Komm herein«, sagte sie und schloss die Tür hinter ihm, nachdem er die Schuhe ausgezogen hatte, um den kostbaren persischen Teppich zu betreten.
Rona stand am offenen Fenster und schaute sich noch nicht einmal um, als er sie mit seinem obligatorischen »Allah sei mit euch« grüßte.
Lyn zerrte ihn ungeduldig zu ihrem ausladenden Baldachinbett und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Stumm reichte sie ihm einen Becher mit Wein, und dann setzte sie sich mit einem Seufzer neben ihn.
Khaled nahm einen Schluck, obwohl ihm ein Becher mit Wasser lieber gewesen wäre. Er benötigte einen klaren Kopf, um in Lyns betörender Gegenwart keine Schwäche zu zeigen. Seit Tagen beschäftigte ihn der Gedanke, wie es wäre, in diesen Kissen einmal mit ihr allein |253|zu sein, doch eine solche Gelegenheit hatte sich bisher weder geboten, noch hatte Lyn Anstalten gemacht, ihre Schwester hinauszuschicken, damit sie ungestört sein konnten.
»Wir sitzen hier fest«, sagte sie düster. »Wir haben nun mehrmals versucht, mit unserer Welt Kontakt aufzunehmen. Es tut sich nichts. Das bedeutet, wir werden vielleicht auf immer hierbleiben müssen.«
Khaled konnte nicht nachvollziehen, was genau daran so furchtbar sein sollte, hier gestrandet zu sein. Schließlich waren Lyn und ihre Geschwister einer kaum vorstellbaren Hölle entkommen, und ihm leuchtete auch nicht ein, warum es einen Segen sein sollte, dorthin zurückzukehren.
»Bruder André versorgt euch doch gut?« Mitfühlend legte er Lyn eine Hand auf die Schulter. »Oder fehlt euch etwas, das ich euch beschaffen könnte?«
Rona schnellte herum und schaute ihn wütend an. »Denkst du ernsthaft, eure chaotische Stadt ist der Nabel der Welt?« Auf der Zedernholztruhe neben ihr ruhte das geheimnisvolle Kästchen. »Wir haben unseren Auftrag erfüllt«, erklärte sie bitter. »Und auch wenn es nicht so gelaufen ist wie beabsichtigt, haben wir getan, was wir tun sollten. Und …« Ihre Stimme erstarb.
»Und?« Khaled bedachte sie mit einem verstörten Blick. »Euer Gebieter in der Zukunft wird stolz auf euch sein, dass ihr seinen Auftrag erfüllt habt, glaubst du nicht?« Er schaute Lyn an, die mit gesenkten Lidern neben ihm saß.
»Wir wissen es nicht.« Rona wandte sich um. Ihr Gesicht war wie versteinert. Khaled hoffte, dass sie nicht in Tränen ausbrach. Doch sie fing sich wieder, und ihr leerer Blick ging an ihm vorbei. »Die ganze Nacht habe ich vergeblich versucht, mit unserer Basis Kontakt aufzunehmen«, erklärte sie tonlos. Sie fuchtelte mit den Armen herum, und Khaled glaubte schon, dass sie ihm den Kasten entgegenschleudern wollte. »Niemand dort draußen ist an unserer Rückkehr interessiert!«, schrie sie ihn an. »Niemand! – Verstehst du?«
»Glaubst du deshalb, eure Mission ist gescheitert?« Khaled begann zu ahnen, worauf es hinauslief. Sie waren ausgezogen, die Zukunft zu verändern, indem sie die Vergangenheit beeinflussten, und weil sie keine Rückmeldung bekommen hatten, blieb ungewiss, ob ihre Bemühungen zum Erfolg geführt hatten.
|254|»Rona hat Angst, dass wir auf ewig in eurer Welt bleiben müssen«, erklärte Lyn leise.
Seine Miene hellte sich auf. »Das heißt, ihr geht nicht zurück? Nie?«
»Es sieht so aus«, entgegnete Rona zornig.
Khaled lächelte schief. »Und was wäre so furchtbar daran?« Der Gedanke, mit Lyn hier in Jerusalem alt zu werden, war so unrealistisch wie die Rückkehr seines Vaters zu den Lebenden. Nichtsdestotrotz gefiel es ihm, sich vorzustellen, dass sie seine Frau werden könnte und er mit ihr Nachkommen zeugte, die sein Erbe antreten würden. Abgesehen von der Tatsache, dass Lyn in seiner Nähe bleiben würde, verfügte sie über ein unglaubliches Wissen, das sich nicht nur die Eingeweihten des Tempels zunutze machen konnten, auch er selbst würde davon profitieren. Wenn sie es geschickt anstellten, konnten sie unermesslich reich werden
»Alles!«, schleuderte ihm Rona entgegen.
»Vielleicht gehen wir ein wenig nach draußen«, schlug Lyn vor und war schon aufgestanden, um Khaleds Hand zu ergreifen. »Dann erkläre ich es dir.«
Auf der Plattform erschien Khaled das Sonnenlicht weitaus heller als zuvor. Alles schien auf einmal leichter und schöner zu sein, als er Hand in Hand mit Lyn den Arkadengang vor al-Aqsa erreichte. Wäre da nicht der alternde Templer gewesen, der sich trotz seines grauen Bartes so geschmeidig bewegte wie ein Jüngling und mit seiner weißen, flatternden Chlamys direkt auf sie zulief. André de Montbard.
»Wir müssen reden«, erklärte der Seneschall und machte vor Khaled halt.
»Allein?« Khaled warf einen fragenden Blick auf Lyn.
»Sie darf ruhig mitkommen« erwiderte Montbard und nickte ihr freundlich zu. »Im weitesten Sinne betrifft es sie auch.«
André de Montbard schloss die Tür seines Sprechzimmers und bot ihnen beiden einen Platz an. Dann nahm er drei Becher und schenkte sich selbst und seinen Gästen von dem kostbaren Roten ein. Ohne ein Wort stürzte er einen halben Becher hinunter und seufzte erschöpft, bevor er ihn absetzte.
»Ich habe meinen Antrag nicht durchbekommen«, erklärte er mit belegter Stimme. »Prinz Balduin ist der Meinung, dass er bei der Eroberung von Damaskus nicht auf ortskundige Sarazenen verzichten |255|kann. Wortwörtlich sagte er – man benötige dich und deine Leute als arabische Übersetzer, aber in erster Linie als Waffe gegen den muslimischen Widerstand. «
»Und was ist mit Melisende?«, fragte Khaled, wobei er sich denken konnte, dass es falsch war, sich an unstillbare Hoffnungen zu klammern.
»Sie wurde noch nicht mal erwähnt. Entweder treibt sie ein falsches Spiel – oder sie ist mittlerweile so sehr in der Gunst ihres Sohnes gefallen, dass sie sagen kann, was sie will – er hört einfach nicht mehr auf sie.«
»Sie ist eine Hexe.« Khaled schnaubte wütend. »Man kann ihr nicht trauen. Sie lässt mich seit Tagen bespitzeln. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie persönlich dafür gesorgt hat, dass ihr Sohn unsere Unterstützung für unerlässlich hält.«
Die Sache mit der Bundeslade fiel ihm ein, und für einen Moment überlegte er, Montbard davon zu erzählen, doch dann verwarf er den Gedanken. Erstens, weil Melisendes Mutmaßungen nicht gesichert waren, zweitens, weil André de Montbard nie mit ihm über dieses Thema gesprochen hatte, und drittens, weil er der Sache zunächst selbst auf den Grund gehen wollte, bevor er sich vor dem alten Fuchs womöglich lächerlich machte.
»Was hat das alles zu bedeuten?« Lyn sah ihn mit ihren großen Augen an.
»Ich werde in den nächsten Tagen in einen Krieg ziehen, den ihr, du und deine Schwester, bereits für verloren erklärt habt«, sagte er dumpf.
Sein mutloser Gesichtsausdruck beunruhigte sie. »Mit unserem Wissen lässt er sich vielleicht gewinnen? Ich meine, ich könnte versuchen herauszufinden, welche Strategien verwendet wurden und warum alles schiefgelaufen ist.«
»Das Problem ist nicht das Wissen um mögliche Fehler«, entgegnete Montbard mürrisch. »Das Problem ist die Umsetzung. Ich habe alles versucht, was in meiner Macht stand, diesen Angriff zu verhindern. Aber ich kann nicht hingehen und sagen: Schaut her, meine Hoheiten, wir haben da zwei Zeitreisende, die Gott uns entsandt hat, um uns auf unsere Fehler aufmerksam zu machen. Haltet Euch daran und verzichtet auf die Eroberung von Damaskus.« Er schüttelte müde den Kopf. »Sie würden uns nicht glauben, und wir wären gezwungen, die Karten |256|komplett auf den Tisch zu legen. Nicht auszudenken, wenn wir ihnen erzählen, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern rund und sich um die Sonne dreht, dass es jenseits der Meere noch andere Länder gibt und die Welt hinter dem Mond und den Sternen nicht aufhört, sondern weitergeht und der Weg zu Gott nicht über den Horizont hinaus führt, sondern allenfalls in unseren Herzen zu finden ist.« Er seufzte. »Sie würden uns wegen Gotteslästerung töten.« Er schwieg einen Moment und dachte wohl darüber nach, ob er selbst in der Lage war, alles zu verstehen, was Rona ihm geschildert hatte. »Deshalb habe ich meine Strategie umgestellt und zusammen mit Everhard de Barres – den ich nicht in das eigentliche Geheimnis von Rona und Lyn eingeweiht habe – ein Konzept entwickelt, das uns aus dem Geschehen weitgehend heraushält. Ich habe ihm gegenüber mit der Überlegenheit unserer Feinde argumentiert. Ich habe behauptet, dass die Sarazenen uns eine gehörige Summe an Geld angeboten haben, falls wir von einer Eroberung absehen – und wenn wir dieses Angebot ablehnen, werden sich die muslimischen Stadtväter von den Christen abwenden und auf Nūr ad-Dīn Zankī setzen. Dieser Hurensohn des ehemaligen Alabegs von Aleppo und Mosul ist die neue Lichtgestalt der muslimischen Welt.« Montbard nahm einen Schluck Wein und räusperte sich. »Sein eigentlich verfeindeter Bruder Saif ad-Dīn Gazī lauert bereits im Norden von Mosul mit einem Heer auf die Franken, und soweit wir aus Ronas Maschine wissen, wird er angreifen, so bald wie möglich.« Montbard sah müde aus. Wahrscheinlich waren die Erkenntnisse der letzten Tage und die Sorge darum, dass das Schicksal bereits geschrieben war, selbst für einen Mann wie ihn zu anstrengend gewesen.
»Wenn zutrifft, was Ronas Maschine vorausgesagt hat«, fügte er angespannt hinzu, »werden Nūr ad-Dīn und seine unselige Sippschaft uns noch ernsthafte Schwierigkeiten bereiten.« Sein Blick traf Khaled, der durch ihn hindurchzuschauen schien.
»Und was meint de Barres dazu?«, fragte der Assassine. » Hat er verstanden, was du gesagt hast?«
»Meister Everhard teilt meine Meinung, dass Melisende uns seit dem Tod ihres Gatten immer reich beschenkt hat, und damit sie dies auch in Zukunft tun kann, dürfen wir ihr nicht in den Rücken fallen.«
»Wie tröstlich!« Khaled warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Demnach hält sie die Fäden in der Hand. Nicht nur was unser Schicksal |257|als Nizâri betrifft – auch die Templer sind offenbar auf sie angewiesen.«
»Was heißt hier angewiesen …?« Montbard unterstrich seinen Unmut mit einer wegwerfenden Geste.
Lyn ahnte, dass ihr Erscheinen genau jenen Wirbel erzeugt hatte, den Lion sich erhofft hatte. Doch das bewies noch lange nicht, dass seine Theorie einer Veränderung der Geschichte, sobald der Orden über zukünftige Katastrophen informiert war, zutreffend sein würde. Im Moment spürte Lyn die Gefahr, die im Raum stand, und plötzlich hatte sie Angst. »Und was wird mit Khaled und seinen Männern, wenn es zu einem Kampf kommt? Die historischen Aufzeichnungen sprechen von tausenden Toten auf Seiten der Christen, die beim Rückzug aus Damaskus im Pfeilhagel der Sarazenen ihr Leben lassen.«
Montbard hob eine Braue. Dann schüttelte er den Kopf mit einer Miene höchsten Bedauerns. »Khaled und seinen Kriegern wird nichts anderes übrig bleiben, als vorsichtig zu sein, wenn er sich selbst und seine Truppe nicht diesem Schwachsinn opfern will.« Der Templer sah sie entschuldigend an, dann wanderte sein besorgter Blick zu Khaled, dessen Miene keine Regung zeigte.
»Und was ist, wenn er und seine Leute fliehen – irgendwohin, wo sie keiner findet?« Ihre Stimme war verzweifelt.
»Wenn ich mit meinen Männern vor diesem Krieg fliehe, würden wir nicht nur unsere Ehre verlieren, sondern auch unsere Seelen«, erklärte Khaled niedergeschlagen. »Wir könnten uns selbst nicht mehr in die Augen schauen, geschweige denn unserem geistigen Führer.«
André de Montbard, der wusste, was diese Feststellung bedeutete, klopfte seinem Schützling väterlich auf die Schulter. »Ihr solltet euch vernünftig voneinander verabschieden«, riet er ihnen. »Niemand weiß, ob es dem Allmächtigen gefällt, euch wieder zusammenzuführen.« Er sah sie abwechselnd an. »Seid gewiss, ich werde für euch beten.«
»Das kann doch unmöglich Euer Ernst sein?« Lyn warf dem graubärtigen Templer einen ungläubigen Blick zu.
»Es tut mir leid«, fügte er entschieden sanfter hinzu, als er Lyns Verzweiflung bemerkte. »Mir sind die Hände gebunden. Khaled hat recht – eine Flucht wäre sein sicherer Tod. Nicht nur Balduin würde ihn und seine Leute hinrichten lassen, wenn er ihrer habhaft würde. Auch seine |258|eigenen Vorgesetzten in Masyāf würden eine solche Schande mit einem ehrlosen Tod bestrafen.«
»Rona und ich könnten mit ihm gehen und ihn schützen!« Lyn wollte keine Möglichkeit auslassen, um Khaled zu retten, ganz gleich, ob die beiden Männer sie für verrückt erklärten.
Montbard schüttelte entschieden den Kopf. »Was deine Schwester und dich betrifft, so ist es meine höchste Aufgabe, euer Geheimnis zu bewahren, damit ihr nicht in die Klauen dieser Wölfe geratet, die euch gnadenlos als Gotteslästerinnen verfolgen würden, sobald sie etwas über eure wahre Herkunft erfahren. Euer Leben ist mir ebenso wichtig wie der Fortbestand unseres Ordens.« Er berührte sanft ihren Arm. »Ihr seid zu wertvoll, als dass wir euer Leben in einem sinnlosen Krieg aufs Spiel setzen können.«
»Kommt gar nicht in Frage, dass ihr uns in diese Hölle begleitet«, fügte Khaled entschlossen hinzu. »Jedenfalls nicht, solange ich noch etwas zu sagen habe.«
Lyn wurde schlagartig klar, dass die beiden Männer ihr keine Wahl lassen würden. Khaleds Teilnahme an diesem Krieg und die seiner Männer war beschlossene Sache.
Als sie mit Khaled auf den weitläufigen Hof zurückkehrte, fröstelte sie trotz der warmen Nachmittagssonne und des purpurfarbenen Umhangs, den sie enger um ihre Schultern gezogen hatte. Tief in sich spürte sie Khaleds Verzweiflung.
»Es ist unsere Schuld, nicht wahr?« Lyn überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Khaled nichts von der bevorstehenden Katastrophe gewusst hätte.
Er sah sie überrascht an. »Wie kommst du denn darauf? Wir müssen euch dankbar sein. Ohne euch wüssten wir nicht, was uns erwartet, und würden mit Freude ins Verderben stürzen.«
»Vielleicht kommt es auch anders«, sagte sie hoffnungsvoll. »Was ist, wenn sich schon etwas im Ablauf der Zeit verändert hat?«
»Allahs Wille – er sei über allem erhaben – geschehe«, sagte Khaled. Entschlossen schaute er auf den Felsendom, dessen glänzende Kuppel die tiefstehende Sonne reflektierte.
»Ich muss beten«, murmelte er mehr zu sich selbst.
»Darf ich dich begleiten?« Lyn konnte sich denken, dass er in dem altehrwürdigen Gebäude die tröstliche Gegenwart seines Gottes |259|suchte, auch wenn die mürrisch dreinblickenden Mönche vom Chor des Heiligen Grabes seinesgleichen grundsätzlich ablehnten. Khaled hatte ihr erklärt, dass die christlichen Priester, denen der Felsendom mit der Eroberung Jerusalems überantwortet worden war, nur zähneknirschend der Forderung der Templer gefolgt waren, den Sarazenen den Zutritt zur heiligen Grotte zu gestatten.
»Wenn Allah dich schon an meine Seite gestellt hat«, bekannte er lächelnd, »warum solltest du nicht dabei sein, wenn ich mit ihm spreche?«
Hand in Hand gingen sie eine der vielen Freitreppen mit dem klingenden Namen Maquam un-Nabi hinauf, was »Friede sei mit ihm« bedeutete, wie Khaled ihr erklärte. »In der Nacht seiner Himmelfahrt ist der Prophet über diese Treppe zum Freiplatz hochgestiegen.«
Lyn bewunderte den Eingang zur Moschee, der von smaragdgrünen Marmorsäulen gesäumt wurde. Zögernd folgte sie Khaled ins Innere des Gotteshauses. Es war kühl und still. Zwischen den prunkvollen Marmorsäulen und kunstvollen Mosaiken roch es nach Weihrauch und Kerzenwachs.
Zwei christliche Ordensmänner, die an einem nachträglich errichteten, christlichen Altar knieten, warfen ihnen misstrauische Blicke zu, als sie auf die Treppe hinunter zur Grotte zusteuerten. Lyn konnte den Männern ansehen, dass deren ablehnende Haltung auch ihre Person betraf. Sie hassten alles, was anders war als sie selbst. In Wahrheit fühlten sie sich als die wahren Herren dieses Hauses, obwohl das Blut tausender unschuldiger Sarazenen an ihren Händen klebte.
Lyn versuchte deren negative Schwingungen zu ignorieren und zog vor dem Zugang zur Grotte wie Khaled ihre Schuhe aus, wusch sich an einer mit Wasser gefüllten Marmorschale Gesicht, Hände und Füße und folgte ihm hinab zu einer niedrigen, mit dicken, bunten Teppichen ausgelegten Krypta. Hier unten waren sie allein, eingehüllt von vollkommener Stille. An den Felswänden baumelten rote Glasampeln mit brennenden Kerzen, deren spärliches Licht den Eindruck von blutendem Felsen erweckte.
Khaled bot ihr an, sich zu setzen. Sie fühlte sich auf seltsame Art befangen, während sie sich vorsichtig umschaute. All das hier hatte sie sich nicht vorstellen können, obwohl Lion in der Vorbereitung auf diesen Einsatz so viel von den religiösen Gebräuchen dieser Zeit erzählt hatte. Khaled kniete sich in einiger Entfernung von ihr mit Blick nach |260|Südosten nieder, dort, wo er Mekka vermutete, und schlug die Hände vors Gesicht. Lyn beobachtete, wie er sich scheinbar selbstvergessen immer wieder zu Boden beugte und unaufhörlich etwas murmelte. Er hatte ihr erklärt, dass ein Gebet an diesem heiligen Ort fünfundzwanzigtausendmal mehr galt als an einer gewöhnlichen Stelle und dass man nicht darüber sprechen durfte, was man erbeten hatte.
Auch wenn Lyn nicht verstand, was er tat, so hoffte sie doch, dass er Trost dabei fand – aber am liebsten hätte sie ihm mit einer Umarmung zu verstehen gegeben, dass sie seine Trauer und seine Angst mühelos mit ihm teilte.
Nachdem er sein Gebet beendet hatte, setzte Khaled sich an ihre Seite und sah ihr in die Augen. Obwohl sie bereits gelernt hatte, dass man sich in Gotteshäusern mit Intimitäten zurückhielt, legte sie unvermittelt ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen sanft auf seinen weichen Mund. Khaled erwiderte ihren Kuss und ihre Umarmung mit einem langen Seufzer.
»Ich … ich …«, stotterte sie. Dann überfiel es sie, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre, so etwas zu sagen, noch dazu in einer fremden Sprache. »… Ana behibak – ich liebe dich!«
Khaled spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Verdammt, er wollte nicht weinen. Was sollte sie bloß von ihm denken? Dabei war ihm längst klar, dass sie eine tiefe Zuneigung für einander verspürten – und das, obwohl sie sich kaum kannten und aus völlig verschiedenen Welten stammten. Jedoch, dass Lyn so weit gehen würde, ihm offen ihre Liebe zu bezeugen, damit hatte er nicht gerechnet und am allerwenigsten an diesem Ort, der ihm so heilig war wie die Liebe selbst. »Ich dich auch …«, stammelte er und strich über ihr seidiges Haar.
»Du bist so schön und so edel wie dein Hengst«, hauchte Lyn mit einem Lächeln an seine Wange. Ihre Finger fuhren zärtlich über seinen stoppeligen Bart und durch sein schulterlanges, schwarzes Haar, das sie gerne mit der Mähne seines Pferdes verglich.
Khaled lächelte selig, dabei konnte er kaum atmen, und sein Herz raste wie wild, so sehr verlangte es ihn nach diesem Mädchen. Mit sanfter Gewalt drückte er sie auf den Teppich, so dass sie unter ihm zu liegen kam. Sie küssten sich wild, ganz ausgedörrt von all den Jahren, in denen ihnen die wahre Liebe eines anderen Menschen gefehlt hatte. |261|Lyn zerrte an seiner Kleidung, ohne zu bedenken, dass sie sich in einer Moschee befanden.
»Warte!« Khaled wehrte sie mit sanftem Widerstand ab und schaute ihr tief in die Augen. »Möchtest du, dass ich dich im Angesicht Allahs zu meiner Frau nehme?«
Ihr Blick zeigte Erstaunen. »Ja«, flüsterte sie atemlos. »Ja, ganz gleich, was es auch bedeutet, ich will es!« Doch einen Moment später hielt sie inne und musterte ihn fragend. »Was müssen wir tun?«
»Nicht viel«, erklärte er schmunzelnd. »Wir Muslime benötigen für eine Hochzeit nichts außer unseren Glauben und den Segen Allahs – und zwei Zeugen, auf die wir im Notfall verzichten können.«
»Dies scheint mir ein solcher Notfall zu sein«, wisperte sie und ihr süßes Lächeln ließ ihn vor Freude dahinschmelzen.
Als sie ihre Arme um seinen Hals schlang und ihr Mund von seinem Besitz ergriff, glaubte er sich im Paradies.
»Vor Allah will ich dich zu meiner Frau nehmen«, flüsterte er mit erstickter Stimme, als er wieder zu Atem kam und verschluckte sich dabei beinahe vor Rührung, weil er noch nie etwas Aufrichtigeres gesagt hatte. »Ich will dich lieben, ehren und schützen, bis ans Ende unserer Tage.«
»Ich möchte es ebenso«, hauchte Lyn. »Bis in alle Ewigkeit.« Ihre Augen glänzten wie reine Magie.
Für einen Moment lag er halb über ihr und lauschte ihrem bebenden Atem. Sein faszinierter Blick wanderte über ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht. Lyn lächelte schüchtern, und im gleichen Moment pulsierte reines Glück durch seine Adern. Ein berauschendes Gefühl, von dem er sich wünschte, dass es niemals enden möge.
Unvermittelt vernahm Khaled Schritte. Einer der Priester schlurfte die Treppen hinab, um nach dem Rechten zu sehen.
Khaled küsste Lyn ein hastiges, letztes Mal und löste sich widerwillig von ihr. »Komm, lass uns von hier verschwinden«, raunte er heiser. Verstört folgte Lyn ihm die Treppe hinauf, an dem finster dreinblickenden Ordensbruder vorbei.
»Das hier ist kein Freudenhaus, Heide«, schimpfte der Christ auf Latein.
»O doch, das ist es«, rief Khaled auf Arabisch zurück und lachte leise.
Hand in Hand geleitete er Lyn zur Westtreppe, und tauchte mit ihr in das goldene Nachmittagslicht ein.
|262|»Was ist mit der Hochzeitsnacht?« Lyn blieb stehen und schaute ihn mit einer rührenden Unsicherheit an. »Gehört sie nicht dazu?«
»Komm«, sagte Khaled und grinste verlegen. »Ich weiß, wo wir ungestört sein können.«
Im Laufschritt erreichten sie im Schatten der Mandelbäume einen kleinen, steinernen Rundbau mit einer Kuppel, der zu Zeiten der Sarazenen den Pilgern als Ruhestätte gedient hatte. Nun bewahrten die christlichen Herren darin wertvolle Teppiche auf, die zu Ehren von königlichem Besuch ausgerollt wurden.
Ein idealer Platz für ein heimliches Rendezvous: weich, dunkel, kühl und verschwiegen.
Nachdem Khaled den Riegel an der geschnitzten Zedernholztür beiseitegeschoben hatte, sah er sich rasch um, ob sie niemand beobachtet hatte, und zog Lyn ins Innere hinein. Der Raum bot wenig Platz, aber für das, was er vorhatte, war er ideal. Die Elfenbeingitter vor den runden Fenstern dämpften das schrägstehende Sonnenlicht und versetzten den Raum in ein schummeriges Halbdunkel. Auf dem Boden lagerten kniehoch mehrere Lagen kostbare persische Läufer und feines Seidenknüpfwerk aus Samarkand. Auch an den Wänden stapelten sich aufgerollte Kostbarkeiten, die dem Ort eine zusätzliche Gemütlichkeit verliehen. Khaled verriegelte die Tür, und ein Blick auf Lyn, die sich bereits auf dem weichen Boden ausgestreckt hatte und ihn anlächelte, reichte aus, um ihn in einen wahren Rausch zu versetzen.
»Es ist kein Himmelbett«, bemerkte er bedauernd. »Ich …«
»Mit dir ist es überall schön …« Sie streckte ihre Hand nach ihm aus.
Sein Herz pochte unruhig, als er ihr aus dem Kleid half. Rasch zog er sich den weißen Kaftan über den Kopf und ließ sich halbnackt neben ihr nieder. Seine Hände fanden wie von selbst zu ihren straffen, kleinen Brüsten, die er sanft berührte und dann abwechselnd küsste.
Lyns Blick ruhte auf seinem gebräunten, muskulösen Oberkörper. Ihre schlanken Hände ertasteten die festen Wölbungen seiner Brust und den flachen, harten Bauch. Khaled schloss die Augen und atmete konzentriert, als Lyn die Schnüre seiner Hose löste. Ihre Hand schlüpfte unter den Stoff und über sein samtiges Glied, das sich längst hart und bereit zeigte.
»Was tust du mit mir?«, raunte er mit halbgeschlossenen Augen, als er spürte, wie sie sein hartes Prachtstück umfasste.
|263|»Ich tue das, was ich denke, das in einer solchen Situation von der Braut erwartet wird.« Sie hielt inne und lächelte unsicher.
»Wenn unsere … Hochzeitsnacht … länger dauern sollte«, erklärte er mit einer abwehrenden Bewegung, »müssen wir es langsamer angehen.«
Seine Hände strichen über Lyns makellose, leicht gebräunte Haut, ihren runden Po und immer wieder über ihre Brüste. Er beugte sich über sie und bedeckte jede Stelle ihres Körpers mit seinen Küssen. Zunächst kicherte sie, doch das Kichern mündete schon bald in ein hemmungsloses Aufstöhnen, erst recht, als er ihre Schenkel spreizte und seine Zunge in ihr leicht feuchtes Inneres fuhr.
»Khaled«, presste sie atemlos hervor, ihre schmalen Finger in seinen Haarschopf gekrallt. Aus ihrem Mund klang sein Name wie ein sanfter Windhauch. »Ich will endlich mit dir tun, was Männer und Frauen in deiner Zeit tun, wenn sie sich lieben.«
»Fatima steh mir bei«, stieß Khaled hervor und richtete sich halb auf. Gehorsam kam er ihr mit den Hüften entgegen. Sein Geschlecht pochte, als es die Innenseite ihrer Schenkel berührte und sie es ohne Widerstand zuließ, dass er ihre empfindlichste Stelle weiter mit den Fingerspitzen verwöhnte. Sanft und gleichzeitig drängend küsste er ihre Brüste bis hin zu ihrem gebogenen Hals und dann ihren Mund, der sich ihm bereitwillig öffnete.
Lyn schnurrte wie ein Kätzchen. »Es ist wunderbar«, flüsterte sie. »Aber das kann doch noch nicht alles sein …?«
Khaled lachte amüsiert. »Allah hat mir offenbar ein ungeduldiges Weib geschenkt.« Mit Kraft hob er sie spielerisch in die richtige Position. Mit einer einzigen Bewegung drang er gefühlvoll in sie ein. Er wollte ihr nicht wehtun, doch sie war es, die sich ihm regelrecht entgegenschob. Er berauschte sich an dem Gefühl, sie endlich mit Haut und Haaren besitzen zu dürfen, und er spürte, wie ihr Herz unter seiner warmen Handfläche hämmerte.
»Ist es gut?«, flüsterte er mit erstickter Stimme und hielt für einen Moment inne, um sein Verlangen ein wenig zu zügeln.
Lyn öffnete ihre Lider, gerade so viel, dass er den eigentümlichen Glanz in ihren Augen erkennen konnte. Vorsichtig nahm er den gleichmäßigen Takt seiner Bewegungen wieder auf, wobei er sich auf einer Hand abstützte und die andere dazu nutzte, ihr noch mehr Vergnügen |264|zu bereiten. Lyns ganzer Körper vibrierte und war auf einmal mit Schweiß bedeckt. Ihre Brustwarzen wurden hart und stellten sich auf. Khaled neigte den Kopf und saugte daran wie ein Säugling, der nach der ersten Nahrung sucht. Lyn stieß einen kehligen Laut aus, und Khaled legte sacht eine Hand über ihre Lippen, damit man sie draußen nicht hörte. Fasziniert spürte er, wie sich die Spannung in ihrem Körper dem Höhepunkt näherte. Gerne wäre er noch einen Schritt weitergegangen, so wie er es manchmal mit Melisende getan hatte, die ihn an manchen Tagen dazu getrieben hatte, sie zum Ende hin noch härter zu nehmen. Doch bei Lyn wollte und konnte er so etwas nicht tun. Das hier war etwas anderes, etwas Heiliges und mit nichts, was er bisher erlebt hatte, zu vergleichen. Mit aller Kraft hielt sie ihn fest, und ihr Innerstes trieb ihn zu einem nicht enden wollenden, pulsierenden Beben, das sie beide gleichermaßen erfasste und ihnen die ersehnte Erlösung brachte.
Schwer atmend, hielt er sie im Arm und küsste sie voller Leidenschaft, bemüht darum, sie nicht zu erdrücken.
»Ein Bett mit einem Baldachin wäre mir trotzdem lieber gewesen als ein Teppichlager der Christen«, stieß er heiser hervor, als er sich mit einem Blick des Bedauerns von ihr löste.
»Es war gigantisch«, bemerkte sie entzückt. Ihr verklärter Gesichtsausdruck wurde von einem seligen Lächeln gekrönt. »Ich könnte das immer wieder mit dir tun, ganz gleich, wo wir uns befinden.«
Khaled strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und küsste noch einmal ihre Lippen, doch diesmal zärtlicher und nicht so erhitzt. »Schade, dass wir so bald keine Gelegenheit dazu haben werden«, bemerkte er resigniert.
Abrupt setzte Lyn sich auf und schaute umher, als ob sie etwas suchen würde. Unter ihren abgelegten Kleidern fand sie schließlich ihren Brustbeutel aus metallischem Garn, den sie stets unter der Kleidung verborgen um den Hals trug.
Einen Moment lang trafen sich ihre verwirrten Blicke. Dann legte sie die Schnur des Brustbeutels sorgsam um seinen Hals. »Das ist für dich«, sagte Lyn ernst.
Khaled setzte sich ebenfalls auf und bedachte sie mit einem fragenden Blick.
»Darin findest du eine größere Anzahl von Nanokapseln«, erklärte sie ihm mit immer noch leicht geröteten Wangen. »Wenn du oder einer |265|deiner Männer verletzt werden, lasst ihr einfach eine dieser Perlen unter der Zunge zergehen. Mit einer solchen Kapsel habe ich auch den Jungen in der Wüste geheilt. Und deine Brandwunden, auf dem Balkon.«
Er nickte. »Wie könnte ich das vergessen!«
»Allerdings hält die Wirkung leider nicht an. Es reicht für eine frische Verletzung. Wenn du nach einiger Zeit noch einmal verletzt wirst, benötigst du eine neue Kapsel. Aber bei dem Vorrat, den ich dir überlasse, dürfte es schon für einige Schwerthiebe reichen. «
Voller Ehrfurcht legte Khaled eine Hand auf den Brustbeutel und hielt für einen Moment inne. Dann fiel er ihr stumm um den Hals, und während er sie mit einer Inbrunst an sich drückte, als ob er sie nie wieder loslassen wollte, dankte er ihr in einem Schwall höchst gut gemeinter, arabischer Worte.
Als er sich wieder beruhigt hatte, löste Lyn sich von ihm. Ihre Augen waren mit einem Mal voller Trauer.
»Dort wo du hingehst, werden viele Menschen sterben.« Ihre Stimme klang rau. »Eine einzige Kapsel kann eine frische Wunde in Sekunden heilen, aber keine Gliedmaßen an- oder nachwachsen lassen und erst recht keinen Kopf. Also tu mir einen Gefallen und versprich mir, dass du im Kampf auf dich Acht gibst.«
Sie lächelte wehmütig und strich ihm mit ihrer Hand über die Wange.
»Das verspreche ich«, flüsterte er heiser, während sein Blick die unergründliche Liebe bezeugte, die er für sie empfand, den Brustbeutel so fest an sich gepresst, als ob es sich um ihr Herz handeln würde. »Allah sei mein Zeuge.«