Kapitel 4

Der Plan

August 2005 – Deutschland/Eifel-Forschungszentrum

C.A.P.U. T.

 

Die Morgendämmerung tauchte das romantisch anmutende Himmelbett in ein verschwommenes Licht, als Gero mit einer zärtlichen Geste nach Hannah tastete, um sicherzugehen, dass sie an seiner Seite lag. Abgestützt auf einen Ellbogen hatte er sich halb aufgerichtet und betrachtete sie mit verträumtem Blick. Dass dieser attraktive Mann mit |99|den einzigartig himmelblauen Augen ausgerechnet sie zu seiner Traumfrau auserkoren hatte, erschien ihr wie ein nicht enden wollendes Wunder. Nur zu gerne wandte sie sich ihm zu und hob ihre Hand, um ihm durch die dunkelblonden, seidigen Strähnen zu fahren, die ihm inzwischen bis zu den Schultern reichten. Ihre Finger glitten weiter nach unten über seinen kurzen, weichen Vollbart, dessen Farbe um einige Nuancen heller wirkte und den er alle paar Tage mit einem Messer auf höchstens einen Zentimeter trimmte.

Gero beugte sich ein wenig zu ihr hinab, und sie kam ihm entgegen, damit sich ihre Lippen in einem leidenschaftlichen Kuss vereinen konnten, dem sie sich einen Moment lang hingab, bis ihr Mund den Weg hinab zu seinem glattrasierten, muskulösen Hals fortsetzte und dann bis zu seiner rechten Schulter. Dort liebkoste sie eine wulstige, langgezogene Narbe, die von einer Verletzung stammte, die ihn beinahe das Leben gekostet hatte.

Mit einem verliebten Blick warf Hannah ihre kastanienbraunen Locken zurück und zog das Laken zur Seite. Lächelnd präsentierte sie ihm vollkommen nackt ihre milchweißen Brüste. Gero hieß ihre Aufforderung mit einem verwegenen Lächeln willkommen und drückte sie kraftvoll zurück in die Kissen. Sanft spreizte er ihre Schenkel und senkte seinen Mund auf ihre anschwellende Knospe. Völlig entrückt spürte sie seinen heißen Atem und seine raue Zunge, mit der er ihr eine tiefe Lust verschaffte.

Ein verräterisches Zittern durchlief ihren Körper, als sie sich ungewollt rasch ihrem Höhepunkt näherte. Als er den Grat ihrer Erregung bemerkte, ließ Gero von ihr ab und glitt mit den Hüften zwischen ihre Beine.

Mit offenen Armen empfing sie seinen muskulösen Körper, indem sie seinen Nacken mit den Händen umschloss und sich ihm so sehr öffnete, dass er mit Leichtigkeit in sie eindrang.

Er keuchte erregt und stützte sich auf den Händen ab, um sie nicht zu erdrücken, während er sich mit Macht in sie hineinschob. Ihre Hände wühlten sich in sein Haar, und sie stöhnte erstickt, als sein harter Schwanz vollends von ihr Besitz ergriff. Während er sich langsam in ihr bewegte, flüsterte er ihr lächelnd altfranzösische Obszönitäten ins Ohr, die sie nicht nur wegen der exotischen Sprache, sondern auch wegen ihrer höchst unanständigen Bedeutung als äußerst stimulierend empfand.

|100|Sein Keuchen wurde lauter, als er mit ihr in einen langsamen, stetigen Rhythmus verfiel und sie mit einer ergreifenden Leidenschaft küsste, die nicht nur seine Lust, sondern auch seine tiefe Liebe zu ihr erahnen ließ. Laut stöhnend hob sie ihm ihre Hüften entgegen, was ihn bei jedem Stoß noch tiefer in ihr versinken ließ und ihr einen himmlischen Höhepunkt versprach, den sie seit ein paar Wochen umso mehr genoss, seit sie beschlossen hatte, dass sie ein Kind von ihm wollte. Der Gedanke, dass er sie jederzeit schwängern konnte, ohne etwas davon zu wissen, gab ihrem Liebesspiel einen besonderen Reiz.

Halb ohnmächtig vor Lust krampfte sich ihr Innerstes um sein pulsierendes Glied, als er gemeinsam mit ihr den Höhepunkt erreichte. Sein Herz schlug hart und schnell in seiner Brust, die er nun schwer atmend an ihren feuchten Busen presste. Mit einem verhangenen Blick küsste er sie dann lange und intensiv auf den Mund, bevor er sich von ihr löste. Vorsichtig glitt er aus ihr hinaus und legte sich dicht neben sie, einen Arm um ihre Hüften gelegt. Mit einem genießerischen Seufzer zog er sie zu sich heran, damit er ihr aus nächster Nähe in die Augen schauen konnte. »Ich liebe dich«, flüsterte er.

»Ich dich auch«, sagte sie leise und erwiderte seine Liebkosungen, indem sie sein dichtes Haar kraulte, so lange, bis er beinahe schon wieder eingeschlafen war.

Als Hannah sich wenig später aus dem Bett erhob, schnarchte Gero leise. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht in ihrem idyllischen Fachwerkhaus befanden, sondern in einer kalten Betonburg, die auf jeder der drei Etagen eine künstlich erzeugte Gemütlichkeit vermittelte.

Dass es sich dabei um einen Hochsicherheitstrakt der amerikanischen Streitkräfte handelte, ließen die sechs Meter hohen Außenmauern erkennen, die man sah, wenn man aus dem Sicherheitsfenster spähte, und die das gesamte Gelände umringten, gekrönt von Stacheldrahtrollen und Überwachungskameras. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet, dass Tag und Nacht rund um das Areal schwer bewaffnete Spezialkräfte mit belgischen Schäferhunden patrouillierten.

In der Nacht zuvor hatte Hannah geträumt, dass Gero plötzlich in einem türkisfarbenen Lichtnebel verschwunden war und danach auf immer verschollen blieb. Ein furchtbarer Gedanke, der nicht so weit hergeholt war. Angespannt beobachtete Hannah ihren Mann, der Gott |101|sei Dank immer noch neben ihr lag. Die Fältchen um seine Augen ließen ihn älter wirken, obwohl er erst achtundzwanzig war und damit fünf Jahre jünger als sie selbst. Vielleicht lag es daran, dass er schon in jungen Jahren Dinge erlebt hatte, die sich heutzutage kein Mensch vorstellen konnte. Dabei hätte er gut und gerne ihr Urahn sein können, was sein tatsächliches Geburtsdatum betraf. 25. März – oder genaugenommen Maria Verkündigung – 1280 stand in einem abgegriffenen Stammbuch, das er im Herbst 2004 bei sich trug, als Tom Stevendahl, ihr Exverlobter nach einem Jahr Funkstille ohne Warnung bei ihr zu Hause aufgekreuzt war und den bewusstlosen Kreuzritter wie einen überfahrenen Hirsch in ihr Bett gelegt hatte. Dabei war Gerard von Breydenbach, wie sein voller Name lautete, alles andere als ein gewöhnlicher Sterblicher. Er stammte nicht nur aus einer siebenhundert Jahre entfernten Vergangenheit, sondern war zudem Kommandant der Templer-Commanderie von Bar-sur-Aube gewesen. Ein echter Ritter also und kein abgedrehter Spinner in einem seltsamen Kostüm, wie sie zu Beginn ihrer ersten Begegnung geglaubt hatte. Tom, ein dänischer Quantenphysiker mit der unbestätigten Lizenz für Zeitreisen, wie sein Luxemburgischer Kollege Paul Colbach gerne witzelte, trug eine nicht geringe Schuld daran, dass nicht nur Hannahs und Geros Leben mit einem Schlag aus den Fugen geraten war, sondern auch das des inzwischen dreizehnjährigen Matthäus von Bruch.

Der blond gelockte kleine Kerl, der optisch Geros Sohn hätte sein können, war mit ihm zusammen versehentlich in die Zukunft transferiert worden.

Matthäus war Knappe und bezeichnete Gero als seinen Herrn. Ein Umstand, an den sich Hannah Schreyber erst einmal gewöhnen musste, nachdem sie quasi über Nacht als eingefleischte Singlefrau die Verantwortung für eine mittelalterlich geprägte Familie übernommen hatte.

Dass Gero, dessen zur Ruine verfallene Heimatburg kaum zwanzig Autominuten entfernt lag, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ausgerastet war und Tom als vermeintlich Verantwortlichen für seine Misere beinahe umgebracht hatte, konnte sie im Nachhinein gut verstehen.

Im Zwielicht zeichneten sich unter dem weichen Bart Geros harte Konturen ab, und einmal mehr wurden Hannah die emotionalen Gegensätze |102|bewusst, die seinen Charakter ausmachten und die sie bereits bei ihrer ersten Begegnung magisch angezogen hatten. Schaudernd erinnerte sie sich an seine muskulöse Gestalt, die sie zutiefst verängstigt hatte, und die himmelblauen Augen, die sie regelrecht durchbohrt hatten. Wie ein wildes Tier war er ihr vorgekommen, als er mit seinen großen, kräftigen Händen in ihre langen, kastanienfarbenen Locken gegriffen hatte, um sie daran zu hindern, vor ihm Reißaus zu nehmen. Anschließend hatte er ihr ohne Anzeichen von Mitgefühl seinen sehnigen Unterarm um den Hals gelegt, in der Absicht, ihr unmissverständlich klarzumachen, wer hier das Sagen hatte. Hannah war zum Schein darauf eingegangen, weil sie Tom versprochen hatte, sich um den gestrandeten Templer zu kümmern. Dabei war Gero ihr im Umgang mit Matthäus erstaunlich liebevoll erschienen. Er bedachte seinen Knappen mit äußerster Sorge, und auch sie hatte den Jungen schnell in ihr Herz geschlossen. Verfolgt von König Philipp IV. von Frankreich und aus dem Jahr 1307 auf wundersame Weise in die Zukunft gelangt, waren sie verloren in einer Welt, die sie ohne Hannahs Unterstützung niemals würden verstehen können.

Matthäus zeigte dabei weit weniger Anpassungsschwierigkeiten als sein mitunter äußerst sturer Herr. Hannah liebte den Jungen inzwischen wie ein eigenes Kind. Die Vorstellung, ihn eines Tages wieder verlieren zu können, versetzte sie in Panik.

Ihre Hand wanderte zu Geros Schläfe, und wieder lächelte er mit geschlossenen Lidern wie ein unschuldiger Engel, als sie ihn ganz sacht zu streicheln begann. Dass diese Bezeichnung nicht auf ihn zutraf – obwohl er fünfmal am Tag betete –, wusste sie spätestens, seit er bei einem ebenso unfreiwilligen Ausflug in seine Zeit ihr Leben gerettet hatte. Mit einem Schwert, das ihm sein Vater, Richard von Breydenbach, zur Schwertleite, im Frühjahr 1297 als Geschenk überreicht hatte, hatte er ihrem Entführer die Hand abgeschlagen. Die Erkenntnis, dass er darüber hinaus im Notfall einen Feind mit den bloßen Händen töten konnte, hatte sie zunächst erschreckt. Obwohl sie sich denken konnte, dass seine Erziehung eine vollkommen andere gewesen war und seine Werte sich eindeutig von denen moderner Menschen unterschieden, liebte sie ihn mehr, als sie jemals einen Menschen ihrer Zeit geliebt hatte.

Was vielleicht daran lag, dass er im Gegensatz zu Tom, der während |103|ihrer Verlobungszeit überwiegend seine Forschungsarbeiten im Kopf gehabt hatte, intensiver lebte und als echter Ritter Werte wie Glauben, Ehre und wahrhaftige Liebe vertrat.

Obwohl sie Tom zu Beginn dafür verflucht hatte, dass er mit Wissenschaftlern aller Herren Länder im Auftrag der amerikanischen Regierung an einem spektakulären Raum-Zeit-Forschungsprojekt arbeitete und ihn für den Unfall verantwortlich machte, war sie ihm inzwischen dankbar dafür, dass er ihr auf diese Weise den Mann ihres Lebens beschert hatte.

Danach war viel passiert. Zu viel, um alles begreifen zu können. Hannah fragte sich des Öfteren, was wohl geschehen wäre, wenn sie in den Tagen nach Geros Ankunft nicht den Timeserver in der verfallenen Klosterkatakombe von Heisterbach gefunden hätten, gegen den die von Professor Hagen zuvor konstruierte, riesige Forschungsanlage wie ein Dilettantenstreich wirkte.

Ihr wäre eine Odyssee durch die Welt der Ritter, Gaukler und Henker im Jahr 1307 erspart geblieben. Dabei hatte sie dort weit mehr gefunden als Krankheit, Elend und eine völlig zu Unrecht befürchtete Rückständigkeit. Sie hatte die Liebe kennengelernt, die Treue, die Ehre und echte Freundschaften geschlossen, die sie sogar bis in ihre Zeit begleitet hatten. Dass Tom sie und ihre mittelalterlichen Begleiter nach Verfolgung und Folter unvermittelt aus dem Donjon de Coudray ins Jahr 2004 gerettet hatte, war gewiss ein Segen, aber seitdem wusste keiner von ihnen mehr so richtig, wo er sein Zuhause finden sollte. Nun lebten sie mit Gero, Matthäus und vier weiteren Templern und deren Frauen in einem geheimen Forschungsareal der Amerikaner. Nicht weit von ihrem alten Zuhause und doch in einer völlig anderen Welt. Hatte Hannah zu Beginn noch fest an ihr Glück geglaubt, so wusste sie nun, dass alles anders gekommen war und ein Zurück in die Vergangenheit ohne die Zustimmung der Amerikaner nicht möglich sein würde.

Seit diesem sensationellen Erfolg ließ das Pentagon unentwegt die Champagnerkorken knallen. Acht Menschen aus dem Mittelalter in die Zukunft zu transferieren, das stellte selbst das Klonen eines Dinosauriers in den Schatten. Gero und seine mittelalterlichen Begleiter hatte man nach ihrer Ankunft im Jahr 2004 über Nacht zu menschlichen Versuchskaninchen degradiert – auch wenn das ihnen gegenüber niemand offen aussprach.

|104|Seither kämpfte Hannah verzweifelt um ihre Rechte, ein freies Leben führen zu dürfen, und sie würde nicht eher aufgeben, bis man ihr und den anderen ein eigenes, ungebundenes Dasein jenseits aller Forschungseinrichtungen zugestand.

Bisher hatte sich niemand von den Templern beschwert, obwohl den Männern anzumerken war, dass sie trotz aller Widrigkeiten am liebsten schon morgen in ihre vertraute Umgebung zurückgekehrt wären. Gero machte da keine Ausnahme, aber er gab ihr nie das Gefühl, unglücklich zu sein.

Erst vor wenigen Wochen hatte er ihr in jener achthundert Jahre alten Klosterkapelle, in der er einst getauft worden war, ewige Treue geschworen – wie ein mittelalterlicher Lehensnehmer, der sich seiner Herrin in Liebe verpflichtet.

»Ich, Gero, Edelfreier von Breydenbach«, hatte er mit seiner ernsten, dunklen Stimme verkündet und war dabei in Anwesenheit mehrerer Zeugen vor ihr auf die Knie gefallen, »nehme dich, Hannah Schreyber, zu meinem von Gott angetrauten Eheweib … Bei meinem Herzen und meiner Ehre werde ich dich lieben und schützen – über den Tod hinaus, bis Gott der Herr uns einst im Paradies vereint.«

Mit diesen Erinnerungen stand Hannah leise auf und ging ins Bad. Seit ein paar Tagen verspürte sie ein leises Unwohlsein am Morgen und hegte einen glücklichen Verdacht.

Gero sollte davon noch nichts wissen, deshalb erschrak sie, als er Momente später in der halboffenen Tür auftauchte.

»Was tust du da?« Er zog es vor, an den Rahmen gelehnt stehen zu bleiben, wobei sein Blick irritiert schien, weil sie so erschrocken hochgefahren war.

In ein rosafarbenes, halblanges Nachthemd gehüllt, stand sie im Halbdunkel neben dem Waschbecken, wie ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Gero trug nur eine gestreifte Schlafanzughose. Sein muskulöser Oberkörper war nackt und von etlichen Narben gezeichnet, deren Herkunftsgeschichten bei Hannah eine Gänsehaut erzeugt hatten. Sein dunkelblondes Haar war noch von ihrer Liebe zerzaust, aber sein Blick wirkte trotz seines respekteinflößenden Aussehens eindeutig besorgt.

»Nichts«, sagte sie hastig, unsicher, ob sie ihm vielleicht doch sagen sollte, warum sie darauf verzichtet hatte, ihn zu wecken. »Es ist |105|nichts«, bekräftigte sie noch einmal, nachdem sie zu dem Schluss gekommen war, mit dieser Neuigkeit noch warten zu wollen, bis Dr. Baxter ihr bestätigen würde, dass mit dem Kind alles in Ordnung war. Geros erste Frau war unter grausamen Umständen im Kindbett gestorben, und er hatte ihren Tod nie wirklich verwunden.

Allerdings hatte Gero neben seiner Leidenschaftlichkeit noch andere Gaben, die ihn von einem modernen Menschen eklatant unterschieden. Sein Blick war weitaus geschulter, was die Einschätzung der menschlichen Mimik betraf. Eine lebenswichtige Errungenschaft, wenn man in Zeiten aufgewachsen war, in denen das Vertrauen in einen Menschen nicht selten über Leben und Tod entschied.

»Lüg mich nicht an!«, sagte er immer noch freundlich. Sein Schatten löste sich aus der Tür, und er kam auf sie zu. Hannah vermied es zurückzuweichen, während sie das weiße Stäbchen krampfhaft hinter ihrem Rücken verbarg. Eigentlich konnte er gar nicht wissen, welche Bedeutung diesem harmlos erscheinenden Messgerät zukam. Trotzdem ließ sie lieber Vorsicht walten. Gero war hochintelligent und lernte schnell. Er beherrschte fließend Latein, Altfranzösisch, Hebräisch und war mühelos in der Lage, Hunderte von mittelalterlichen Gedichten zu rezitieren. Seit ein paar Wochen sprach er – wenn auch noch mit einem amüsanten Akzent – Hochdeutsch. Er las viel, so dass Hannah nicht einschätzen konnte, ob ihm dieser Gegenstand schon einmal irgendwo begegnet war.

Ohne zu fragen, nahm er sie in seine Arme und drückte sie an sich. Sie spürte seine Wärme und seinen vertrauten Geruch, der sie stets mit Sehnsucht nach seiner Nähe erfüllte. Ehe sie sich versah, hatte er sie geküsst und ganz nebenbei ihr Handgelenk umfasst und es hinter ihrem Rücken hervorgezogen. Willenlos musste sie mit ansehen, wie er ihre rechte Faust mit dem Stäbchen sanft öffnete. Er schaute verdutzt. »Und was haben wir hier?«

Lediglich ein lachendes Smiley war im Display erschienen. Es bedeutete »schwanger«, doch das würde sie ihm nicht erklären.

»Nichts«, wiederholte sie tonlos, dabei sah sie ihm nicht in die Augen und lächelte halbherzig.

»Nichts?« Misstrauisch zog er eine Braue hoch.

Er kannte sie weit besser, als sie wahrhaben wollte; sie musste auf der Hut sein, damit er ihre Unsicherheit nicht bemerkte.

|106|»Es ist nur ein Messinstrument«, bekannte sie zögerlich, »das anzeigt, ob ich schwanger werden könnte oder nicht.« Sie hatte sich ohne sein Wissen das Hormonimplantat entfernen lassen. Sie wollte es darauf ankommen lassen, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte als ein gemeinsames Kind. Auch wenn Matthäus ihr noch so viel bedeutete, es würde etwas anderes sein, wenn Gero und sie ein leibliches Kind hätten. Dieses Kind würde beweisen, dass die verschiedenen Epochen, denen sie entstammten, sie nun nicht mehr trennten und es an der Zeit war, endlich zur Normalität überzugehen. Allerdings wollte sie nicht, dass Gero ihr Vorhaben bemerkte und sie womöglich davon abhielt. Und schon gar nicht wollte sie, dass Tom, der nun wissenschaftlicher Leiter des Institutes geworden war und immer noch etwas für sie empfand, von dieser Sache erfuhr. Was allerdings leicht geschehen könnte, wenn sie anfing, mit Gero darüber zu diskutieren. Erfahrungsgemäß durfte sie davon ausgehen, dass sie beinahe rund um die Uhr durch Agenten der amerikanischen Streitkräfte beschattet und selbst in ihren eigenen Unterkünften beobachtet und abgehört wurden. Dass ihre amerikanischen Gastgeber von ihrer Idee ebenso wenig begeistert sein würden wie Tom, lag auf der Hand.

Dr. Karen Baxter, eine schlanke Mittvierzigerin mit blondem Kurzhaarschnitt, die als medizinische Leiterin des Projektes fungierte, hatte ihr dringend von einer Schwangerschaft abgeraten. »Dein Mann stammt aus dem 14. Jahrhundert und war Kreuzritter. Soweit wir es beurteilen können, ist er gesund und hat keine ansteckenden Krankheiten, aber die genaue Situation seiner Antikörper im Blut lässt sich zurzeit nicht entschlüsseln.« Ihr Ton hatte wissenschaftlich nüchtern geklungen. »Es kann als gesichert angesehen werden, dass Geros Immunabwehr bei einigen Krankheitsbildern unserer Zeit hinterherhinkt. Syphilis oder AIDS waren damals noch nicht bekannt. Aber vielleicht gab es auch Seuchen, die uns heute kaum noch beschäftigen – wie etwa die Pocken oder die Pest, gegen deren Erreger er überraschenderweise eine natürliche Immunität entwickelt hat und deren Antikörper er nach wie vor in sich trägt. Und was seine genetische Ausstattung betrifft, so müssen wir noch weitere Tests durchführen. Es könnte durchaus sein, dass Geros Zellentwicklung Brüche aufweist, die in deiner Struktur nicht vorhanden sind und die bei eventuellen Nachkommen zu Komplikationen führen könnten. Schließlich hat unser moderner |107|Gen-Code eine siebenhundert Jahre länger andauernde Auslese durchlebt.«

Allein schon das Wort »Gentest« war für Hannah ein rotes Tuch. Gleich danach folgte das Wort »Labor«.

Gero fixierte erneut das lachende Gesicht auf dem Display. »Ein Messinstrument«, wiederholte er mit auffallend gleichgültiger Miene. »Ich dachte, du kannst nicht empfangen?«

»Ich habe das Stäbchen, das eine Schwangerschaft verhindert, aus meiner Achsel entfernen lassen. Es dauert allerdings eine Weile, bis ich wieder fruchtbar bin«, log sie. »Ich hätte es dir sagen sollen.«

Sein Blick war unergründlich. »Heißt das, du möchtest ein Kind?«

»Ja«, sagte sie und hob ihre Hand, um ihm mit einer sanften Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. »Aber es ist noch zu früh«, fügte sie rasch hinzu. »Deshalb kontrolliere ich mit diesem Stäbchen meine Hormone im Blut, damit ich erst dann ein Kind von dir empfange, wenn die Zeit reif dafür ist.« Sie hatte ihm die Sache mit den Hormonen erklärt und so gut wie alles, was sie über biologische Abläufe im menschlichen Körper wusste. Was sie nicht wusste, hatte sie im Internet recherchiert. Gero hatte ihr dabei fasziniert über die Schulter geschaut und sich als ziemlich wissbegierig erwiesen. Dabei war herausgekommen, dass er einiges mehr über medizinische Zusammenhänge wusste, als Professor Hertzberg, ein neunzigjähriger jüdischer Geschichtsprofessor und leitender Historiker des Unternehmens C.A.P.U. T., ihm zugetraut hatte. Der Schluss lag nahe, dass der Orden der Templer durch den Besitz des Timeservers weit besser über biologische und medizinische Hintergründe informiert gewesen war als angenommen – seine Erkenntnisse aber wegen der drohenden Inquisition nur an Eingeweihte weitergegeben hatte.

»Mein Liebste«, begann Gero leise und zog sie noch näher an sich heran. Dabei schaute er ihr tief in die Augen, während seine Linke zu ihrem noch flachen Bauch wanderte. »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir eine Familie zu gründen«, bekannte er rau. »Aber denkst du nicht, wir sollten dafür erst freie Männer und Frauen sein? Ich meine, ich sehe jeden Tag, wie du für unsere Freiheit kämpfst – aber bisher machen Tom und seine Verbündeten keine Anstalten, uns aus ihrer erniedrigenden Leibeigenschaft zu entlassen.«

Hannah schluckte. Also hatte er sich auch schon Gedanken über |108|ihre Familienplanung gemacht. Die unerträgliche Situation, in der sie sich befanden, war ihm ohnehin seit längerem bewusst, obwohl er so gut wie nie darüber sprach.

»Sieh es mal so«, begann er zögernd, »was könnte ich dir und unseren Kindern bieten außer einem Leben in Abhängigkeit?« Seine Stimme war heiser, und er kniff die Lider zusammen, als ob er einen Feind im Visier hätte. »Das ist keine gute Voraussetzung, um stolze, unabhängige Söhne und Töchter zu zeugen, findest du nicht?« Für einen Moment befürchtete sie, er würde wie sie selbst mit den Tränen ringen, doch das war ein Trugschluss. Vielmehr wirkte er überraschend kämpferisch.

»Sei versichert«, fuhr er mit entschlossener Stimme fort und schaute ihr dabei tief in die Augen, »ich denke Tag und Nacht darüber nach, wie ich uns aus dieser bitteren Unterdrückung herausführen kann.« Seine weichen Lippen berührten ihre so zart und vorsichtig, dass Hannah den Kloß in ihrer Kehle noch deutlicher spürte. Sie seufzte und legte ihren Kopf an seine Brust, wobei es ihr nicht mehr gelang, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Tropfen um Tropfen rannen ihre Wange hinunter. Er spürte die Nässe auf seiner Haut und strich sie mit zwei Fingern sanft aus ihrem Gesicht. Sein Blick war unendlich traurig, und sie hasste sich dafür, dass sie ihm durch ihre Tränen die Misere, in der sie sich befanden, erst recht vor Augen führte.

Leibeigenschaft – einen treffenderen Begriff hätte er nicht wählen können. Gleichzeitig verspürte sie eine neue, unberechenbare Angst. »Was meinst du mit ›herausführen‹?«, murmelte sie und legte den Kopf in den Nacken, um seinen Blick zu erwidern. »Du wirst doch keine Dummheiten machen, oder? Versprich mir, dass du niemanden umbringst! Auch eine Geiselnahme wäre eine äußerst schlechte Idee.«

»Mach dir keine Sorgen«, raunte er düster und küsste ihre Stirn. »Ich sage dir, was ich vorhabe, wenn es so weit ist.«

 

Das Stöhnen und Ächzen der großen, durchtrainierten Männer, die sich wenige Meter unterhalb der Tribüne einer modernen Sporthalle einen klassischen Schwertkampf lieferten, ließ Hannah jedes Mal von neuem erzittern. Am liebsten hätte sie gar nicht hingeschaut. Gero und sein schottischer Templerbruder Struan MacDhoughail nan t-eilan Ileach, wie er mit vollem gälischen Namen genannt wurde, gingen wieder |109|und wieder aufeinander los, als ob sie einander tatsächlich umbringen wollten. Nicht nur ihre Waffen waren archaisch – Originalschwerter aus dem 13. Jahrhundert –, auch ihre hölzernen Schilde, schwarzweiß und mit dünnen Eisenplatten verstärkt, machten nicht unbedingt einen vertrauenswürdigen Eindruck. Es war die einzige Deckung, die sie sich gegen den todbringenden Stahl gönnten. Ausgestattet mit Trainingsoveralls und schwarzen Springerstiefeln der amerikanischen Spezialkräfte, hatten sie wie üblich auf Kettenhemden und Ritterhelme verzichtet.

Selbst das Tragen einer modernen Zylon- oder Kevlar-Schutzweste hatten sie abgelehnt. In ihrem Orden war es nur besonders erfahrenen Kämpfern gestattet gewesen, ohne jegliche Sicherung gegeneinander anzutreten.

Dass die beiden zu dieser Elite dazugehörten, stand außer Frage. Wie alle Templer waren sie auf den Burgen ihrer Väter bereits seit ihrer Kindheit im Umgang mit Messern, Schwertern und Lanzen geschult worden. Die Tatsache, dass sie zu den Besten der kämpfenden Truppe des Templerordens gehört hatten, machte für die Wissenschaftler von C.A.P.U. T. jeden ihrer Schritte so interessant wie die Untersuchung eines gestrandeten Außerirdischen in der Area 51.

Johan van Elk, ein rothaariger flandrischer Templer mit auffallend vernarbtem Gesicht, saß zusammen mit seinen Kameraden Stephano de Sapin und Arnaud de Mirepoix vor der Tribüne auf einer Art Ersatzbank. Fachsimpelnd beobachteten sie ihren deutschen Kameraden und den ein wenig größeren Schotten, während sie auf ihren eigenen Einsatz warteten. Stephano, groß, schlank und hellblond, war ebenso wie der dunkelgelockte Arnaud, der das hitzigste Temperament von allen Kameraden besaß, ohne weibliche Begleitung in der Zukunft gelandet. Johan und Struan, die sich in Gesellschaft zweier Frauen befanden, als Tom sie in die Zukunft transferierte, hatten das unerwartete Ereignis genutzt, um sich wie Gero – entgegen den strengen Ordensrichtlinien ihrer Zeit – endlich mit der Dame ihres Herzens zu vermählen. In ihrer Zeit hatten sie dem Orden ewige Keuschheit geschworen, was bedeutete, dass ihnen als weißgewandete Ordensritter eigentlich noch nicht einmal das Küssen einer Frau erlaubt gewesen wäre.

»Ein Zeitsprung relativiert solche Verpflichtungen«, hatte Johan van Elk nach ihrer Ankunft im Jahr 2004 recht nüchtern befunden und seiner |110|Freya unvermittelt einen Antrag gemacht. Der Orden als solcher existierte nicht mehr, und schließlich durchlebten sie gewaltige Umbrüche in ihrem Leben, da kam es bestimmt nicht auf die Einhaltung irgendwelcher achthundert Jahre alter Regeln an.

Freya von Bogenhausen, eine adlige Beginenschwester mit feuerrotem, hüftlangem Haar, und Amelie Bratac, eine langbeinige, blondgelockte Kaufmannstochter aus der Champagne, die dem Schotten in inniger Liebe verbunden war, stammten wie die transferierten Templer aus dem beginnenden 14. Jahrhundert und waren so atemberaubend schön, dass ihnen sämtliche Kerle des C.A.P.U. T.-Teams wie läufige Hunde hinterherhechelten. Freya hatte sich recht schnell an die hier lebenden Menschen und die neue, faszinierende Umgebung gewöhnt, Amelie hingegen wirkte immer noch wie eine feenhafte Erscheinung aus einer anderen Welt, die nicht wahrhaben wollte, dass Gott der Herr ihnen wahrhaftig diese unerklärliche Reise zugemutet hatte. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf Struan, der allabendlich ihr Bett wärmte und sie mit seiner hingebungsvollen Liebe vor dieser fremden Welt beschützte. Alles andere ließ sie kommentarlos an sich vorüberziehen. Manchmal befürchtete Hannah, dass sie in Wahrheit depressiv war, weil sie an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung litt. In der Vergangenheit hatte sie schreckliche Dinge erlebt und durch die Flucht aus Bar-sur-Aube ohne Abschied ihren Vater verlassen müssen, dessen einzige Tochter sie war. Wofür sie sich immer noch schuldig fühlte.

Doch bei allem Glück, das hier und da trotz der widrigen Umstände durchschimmerte, würde ihnen unter den vorliegenden Umständen wohl niemals ein normales Familienleben vergönnt sein.

Toms Miene sprach Bände, als Hannah ihn vor Wochen darauf angesprochen hatte, wann damit zu rechnen sei, dass Gero und seine Freunde endlich aus dem Forschungsprogramm entlassen werden würden. Der dänische Quantenphysiker hatte eine Braue hochgezogen und sie angeschaut, als ob sie den Verstand verloren hätte. »C.A.P.U. T. wird unsere Templer und jeden, der ihr Leben teilt, erst wieder wie normale Menschen behandeln, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika das Interesse an ihnen verloren hat. Was nur geschehen wird, wenn etwas Spektakuläreres auftaucht. Aber wenn du mich fragst, ist mit einer UFO-Landung mitten im Central Park von New York im Moment nicht zu rechnen.«

|111|Toms Mitgefühl für ihre unerträgliche Lage hielt sich in Grenzen. Nachdem er Gero und den Jungen seinerzeit in ihre Obhut gegeben hatte, wollte er Hannahs Liebe tatsächlich zurückerobern. Aber dann war ihm dieser verdammte Kreuzritter in die Quere gekommen und hatte ihm Hannah mit seinem verfluchten Minnegequatsche, wie er es nannte, vor der Nase weggeschnappt.

Auch wenn das im Grunde schwachsinnig und zu kurz gedacht war, weil Hannah sich schon lange vorher nicht mehr für Tom interessiert hatte, hatte er ihre Zurückweisung nicht verkraftet und Gero dafür verantwortlich gemacht. Was zur Folge hatte, dass er am liebsten unverzüglich sämtliche Templer dorthin zurückgeschickt hätte, wo sie hergekommen waren.

»Tut mir leid, wenn ich dir nicht helfen kann. Ich bin Wissenschaftler und kein Sozialarbeiter«, hatte er mit abgeklärter Miene hinzugefügt und Hannah in der Eingangshalle zu seinem Labor stehen gelassen.

»Du enttäuschst mich! Ich dachte immer, du hättest Charakter!«, hatte sie ihm hinterhergeschrien. Danach verweigerte sie Tom für ein paar Wochen jegliche Kommunikation und ging ihm geflissentlich aus dem Weg. Zu tief saß die Wut darüber, dass er ihr offenbar kein persönliches Glück gönnte und dass sie nichts tun konnte, um ihn auf ihre Seite zu ziehen, außer sich bei ihm zu prostituieren.

»Sobald sich die Möglichkeit bietet«, hatte er ihr später am Telefon mit einschmeichelnder Stimme versichert, »werde ich Gero und seine Leute dorthin zurückbringen, wo sie hergekommen sind. Ich könnte es wie einen technischen Unfall aussehen lassen. Allerdings nur, wenn du dich von deinem Templer trennst und versprichst, wieder bei mir einzuziehen.« Bevor sie ihm widersprechen konnte, war er fortgefahren. »Ich kann nicht zulassen, dass du ihm in dieses Elend folgst. Außerdem würde mit deinem vorherigen Umzug zu mir der Verdacht entkräftet, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe, weil ich keinen Grund mehr hätte, ihn loszuwerden.«

»Lieber würde ich sterben!«, hatte sie Tom am Telefon entgegengeschleudert. Dummerweise war Tom Stevendahl der Einzige, der sich halbwegs mit der Technik des aufgefundenen Timeservers auskannte, wenn man von Paul Colbach, einem knapp dreißigjährigen Informatiker aus Luxemburg, einmal absah. Paul war für die Software zuständig |112|und assistierte Tom regelmäßig bei der Betreuung der quantenphysisch gesteuerten Verfahrenscomputer. Aber er musste über jeden Schritt, den er eigenständig unternahm, Tom gegenüber Rechenschaft ablegen. Somit gab es außer Tom niemanden, der ihnen einen Weg in die Vergangenheit und damit eine sichere Flucht vor ihren amerikanischen Peinigern hätte ermöglichen können.

Hannah kannte Gero und seine Ordensbrüder mittlerweile gut genug, um zu wissen, wie sehr die Ungeduld über die bestehenden Verhältnisse in ihrem Herzen wuchs. Nach einer anfänglichen Euphorie, dem Tode und den Schwierigkeiten des 14. Jahrhunderts entronnen zu sein, fühlten sie sich nun wie Fische, die in einem Netz auf dem Trocknen lagen. Es gab in dieser Welt keine Aufgaben für sie – außer für eine fremde Zivilisation, deren Beweggründe sie nicht nachvollziehen konnten, den Gaukler zu spielen.

Dabei schien der Schwertkampf kurioserweise im Moment das Einzige zu sein, wodurch sie ihre Aggressionen abreagieren konnten, auch weil es kaum mehr gab, das ihnen aus ihrem alten Leben geblieben war. Jeden zweiten Tag trainierten die ehemaligen Kreuzritter in dieser Halle, die früher, vor der Explosion des Instituts vor knapp einem Jahr, das alte Forschungszentrum beherbergt hatte und fünf Kilometer abseits von Spangdahlem Air Base und den dort stationierten Kampfjets entfernt lag. In unmittelbarer Nachbarschaft hatte man ein von außen modernes und unauffällig aussehendes Wohngebäude hochgezogen, in dessen mittelalterlich anmutenden Räumlichkeiten Hannah und ihre Freunde seit einem Dreivierteljahr ihr Zuhause gefunden hatten. Gleich nebenan hatte man Pferdeställe errichtet, in denen man die speziell gezüchteten Turnierpferde beherbergte, die den ehemaligen Rittern für Turnierübungen zur Verfügung standen. Die Wissenschaftler von C.A.P.U. T. unter Leitung von Professor Hertzberg und Karen Baxter überließen nichts dem Zufall und zeichneten während der Kampfübungen die Bewegungsabläufe von Pferd und Reiter in digitaler 3-D-Qualität auf, um sie später genau analysieren zu können.

Hannah empfand die ganze Angelegenheit immer noch wie einen bizarren Traum, aus dem sie jeden Moment zu erwachen hoffte, und die ständige Frage, was die Weltöffentlichkeit dazu sagen würde, wenn all das hier jemals nach außen drang, raubte ihr manchmal den Schlaf. Mitunter überlegte sie, aus reinem Frust die gesamte Story an die internationale |113|Presse zu verkaufen. Doch damit hätte sie die Probleme nur verschärft. Das Letzte, was sie sich für Gero und seine Leute wünschte, war ein öffentliches Spießrutenlaufen.

Soldaten der Special Activities Division – kurz SAD –, die zu den Spezialeinsatzkräften des Geheimdienstes CIA zählten, hatten seit einem Dreivierteljahr die Bewachung des Geländes übernommen. Die nachrichtendienstlich bestens geschulten Männer stellten sicher, dass kein Unbefugter Zugang zu Labor und Wohntrakt der Templer erhielt und damit das Geheimnis ihrer Herkunft entschlüsseln konnte.

An Flucht war also nicht zu denken, obwohl Hannah in stillen Stunden darüber nachsann, wie es wäre, wenn sie sich aus diesem Überwachungsdschungel befreien könnten.

Auf der Zuschauertribüne saßen wieder einmal Dutzende von hochrangigen Militärs und etliche wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich am lebensgefährlichen Spektakel der Ritter ergötzten. Jede Bewegung der Kämpfer wurde mit lautem Gejohle kommentiert und in der anschließenden Auswertung durch Sportmediziner und Waffenhistoriker analysiert.

Es hat etwas von Experimenten mit Affen im Zoo, dachte Hannah verbittert, denn was für Gero, Struan, Johan, Arnaud und Stephano vor Hunderten von Jahren lebensgefährlicher Alltag gewesen war, hatte für die Wissenschaftler nun den Reiz einer Sensation. Sie wollten echtes Blut sehen, von echten Rittern. Und wenn es nur aus Versehen geschah, schoss es Hannah durch den Kopf, als Gero geschickt einem Schlag seines muskulösen, schwarzhaarigen Gegners auswich. Aber diesen Gefallen würden die beiden den Gaffern nicht tun. Der Deutsche und der Schotte waren einst Brüder im Orden der Templer gewesen. Darüber hinaus waren sie Freunde fürs Leben, und das bis in alle Ewigkeit, wie Gero manchmal so treffend formulierte. Struan hatte Gero bereits einmal das Leben gerettet. Ein Gedanke, der Hannah beruhigte.

Ein kurzes, helles Glücksgefühl huschte durch ihr Herz, als Gero seine verschwitzte Mähne zurückstrich, mit seinen klaren blauen Augen zu ihr aufschaute und ihr dabei lächelnd zuzwinkerte. Als wolle er ihr sagen: Mach dir keine Sorgen, es ist alles nur ein Spiel.

Hannah liebte diesen Anblick, jedoch tief in ihrem Innern kehrte sogleich die bleierne Angst zurück, weil dieses Glück kaum von Dauer sein konnte.

|114|Der Schotte, den Hannah inzwischen ebenfalls als Freund schätzte, war Geros Blicken mit einem amüsierten Grinsen gefolgt und hatte dessen kurze Unaufmerksamkeit genutzt, um ihm einen gewaltigen Hieb auf den Schild zu verpassen. »Gare á ta tête!«, rief er auf Französisch – »Pass auf deinen Kopf auf!« –, und dann lachte er sein herzhaftes Lachen, das sein blendend weißes Gebiss zum Vorschein brachte, dessen kräftige Eckzähne Hannah immer an ein Raubtier erinnerten. Gero taumelte kurz, fing sich wieder und stieß einen deftigen Fluch in Altfranzösisch aus, den Hannah um nichts in der Welt hätte übersetzen wollen, falls sie jemand danach fragen würde. Gero parierte indessen den Schlag des Schotten mit gekonnter Souveränität, und ein Raunen ging durch das Publikum, als Struan im hohen Bogen sein Schwert verlor, das gut fünf Meter entfernt auf dem magentafarbenen Tartanbelag landete.

Gero wurde von den Zuschauern angefeuert, als er auf Struan zustürmte und es für einen Moment so aussah, als ob er den Schotten erschlagen wollte.

In einem echten Kampf auf Leben und Tod wäre das vermutlich Struans Ende gewesen, der Schotte war jedoch niemand, der leichtfertig aufgab.

Er bleckte erneut sein eindrucksvolles Gebiss zu einem überlegenen Grinsen, hob seinen Schild und startete einen blitzschnellen Angriff. Schild knallte auf Schild, und Geräusche von splitterndem Holz hallten von den Wänden der Sporthalle wider. Pfiffe und begeisterte Zurufe erschollen wie bei einem Boxkampf, als Struan seinen Schild von sich warf und wie ein gereizter Panther zum Sprung ansetzte, über den Boden abrollte und mit einer geschickten Drehung wieder seines Schwertes habhaft wurde. Dann sprang er auf und packte im Vorbeilaufen seinen Schild, um den Kampf mit nicht nachlassender Intensität fortzusetzen. Seit gut einer Stunde gönnten die beiden sich keine Pause, und wie bei einem ausdauernden Tennismatch war noch kein Ende in Sicht.

Ein dringendes Bedürfnis brachte Hannah dazu, die Zuschauertribüne zu verlassen und nach oben zu den Waschräumen zu gehen. Sie hätte auch in den Wohntrakt gehen können, doch das war ihr zu weit. Hannah hatte ihr Haus ganz in der Nähe auf Drängen der Amerikaner aufgegeben und ihren Buchladen an ihre ehemaligen Mitarbeiterinnen verkauft. Offiziell hatte sie eine Stelle in der Verwaltung der Air Base angenommen. Ihren wenigen Freundinnen hatte sie gesagt, sie habe |115|sich in einen amerikanischen Soldaten verliebt, der als Pilot im Irak eingesetzt sei, und dass sie ihm auf diese Weise nahe sein wolle. Allein ihre Haustiere, ein Pferd, ein paar Hühner und eine Katze, hatten sie hierher begleiten dürfen. Verwandte besaß sie nicht, und sämtliche Außenkontakte hatte sie seither abgebrochen.

Nachdenklich lief sie durch einen hellen Korridor den Hinweisschildern folgend zu den Restrooms für Ladies. Ein Blick durch die breiten, von außen verspiegelten Fensterfronten verriet ihr, dass die Sonne schien und der Himmel so wolkenlos blau glänzte wie Geros Augen. Ein schöner Tag, um einen Ausflug zu planen, doch ohne die ausdrückliche Erlaubnis ihrer Gastgeber durften sie das Gelände nicht verlassen.

Auf dem Rückweg zur Halle nahm sie einen anderen Weg oberhalb der Tribünen. Unten in der Halle hatte Agent Tanner auf dem Übungsplatz Aufstellung bezogen. Tanner, ein hochgewachsener Ex-Marine und Angehöriger der NSA mit blondem Kurzhaarschnitt, befand sich zusammen mit seinem eher gedrungenen Kollegen Mike Tapleton seit geraumer Zeit in einem Trainingsprogramm, das modernen Soldaten mittelalterliche Kampftaktiken vermitteln sollte. Von Kopf bis Fuß in einen modernen Schutzanzug gehüllt, trug er einen schlagfesten Einsatzhelm, um so mit einem mittelalterlichen Anderthalbhänder gegen Johan van Elk anzutreten, der wie Gero und Struan lediglich einen Overall und Stiefel trug. Johan und Stephano de Sapin hatten auf Wunsch ihrer Gastgeber die Ausbildung der beiden NSA-Agenten übernommen.

Aus einem Augenwinkel konnte Hannah beobachten, wie Johan erbarmungslos zum Angriff überging. Eine gehörige Portion Genugtuung lag in den Augen des rothaarigen Templers, als er damit begann, den Agent durch die Halle zu scheuchen. Obwohl Tanner durchtrainiert war, machte es den Eindruck, als ob er ein Kaninchen wäre, das von einem Wolf verfolgt wurde. Tanner zog es vor, auszuweichen, bis Johan ihn so sehr in die Enge getrieben hatte, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als sich zu verteidigen. Blitzschnell riss er den Schild hoch und fing einen gewaltigen Schlag ab. Dann fasste er seinen ganzen Mut zusammen und schlug sogar zurück; Johans kraftvollen Verteidigungsschlägen hatte er jedoch kaum etwas entgegenzusetzen. Hannah ahnte, was danach kommen würde, weil sie den Hergang dieses Kampfes in den letzten Wochen immer wieder beobachtet hatte. |116|Johan ließ ihn gnädigerweise aus der Ecke entkommen und gab ihm erneut eine Chance, seinen Rhythmus zu finden. Im Ernstfall wäre Tanner längst tot gewesen. Dann stellte der Templer ihn erneut, wie eine Katze, die mit einer Maus spielt, und die Jagd begann von neuem. Johan führte Tanner regelrecht vor, aber wer hätte es ihm verdenken können? Schließlich war es das Einzige, was ihm an Überlegenheit gegenüber seinen Peinigern geblieben war.

Plötzlich vernahm Hannah zwei männliche Stimmen, die in gedämpftem Ton aus einer der Ehrenlogen drangen. Die beiden Männer schienen in ein intensives Gespräch verwickelt zu sein. Einer von ihnen war Tom. Sie erkannte ihn an seiner dunklen Stimme und dem dänischen Akzent, der sogar aus seinem Englisch herauszuhören war. Auch die andere Stimme, die ziemlich verschwörerisch klang, konnte Hannah mühelos zuordnen. Es handelte sich um General Lafour, den glatzköpfigen Oberbefehlshaber der in Deutschland stationierten NSA-Einheit. Lafours Uniformjackett, das seinen kompakten Oberkörper so eng umspannte, als hätte man es ihm auf den Leib gegossen, war auf Höhe der linken Brust mit unzähligen bunten Ehrennadeln dekoriert. Seinem kritischen Blick nach zu urteilen, führte er mit Tom eine hitzige Diskussion. Dabei wirkten seine Gesichtszüge verkrampft, und die Steilfalte zwischen seinen buschigen Brauen erschien Hannah noch tiefer als sonst. Misstrauen gehörte zu den wichtigsten Eigenschaften des Generals, und in Hannah mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn sah er ohnehin eine erklärte Feindin.

Auf Zehenspitzen näherte sich Hannah den Zuschauerrängen, die für interne Führungskräfte vorgesehen waren, und spähte vorsichtig hinter einem Pfeiler hervor. Beide Männer schienen von ihrer Gegenwart nichts zu ahnen, als sie ihnen einen raschen Blick vorbei an einer beigefarbenen Abtrennung zuwarf. Toms schlanke, hochgewachsene Gestalt, lässig in einen Businessanzug gekleidet, stand in krassem Unterschied zum hochdekorierten General, dessen physische Präsenz eher einem alternden Wrestlingkämpfer ähnelte.

Durch einen Spalt sah sie Lafour, wie er mit seinen dunkel behaarten Händen wild gestikulierte, als ob er sich gegen einen imaginären Gegner verteidigen müsste. Dabei gefiel ihr ganz und gar nicht, mit welch verächtlichem Gesichtsausdruck er gelegentlich die kämpfenden Männer unten in der Halle beobachtete.

|117|Mit dem Rücken flach an die Säule gedrückt, versuchte Hannah zu verstehen, war er sagte.

»Sie sind Tiere«, bemerkte der General in Toms Richtung. »Gewalttätige Tiere. Schauen Sie sich die verbissene Miene des Flamen an! Er wurde aufs Töten abgerichtet, wie ein Kampfhund. Mann gegen Mann. Er würde Tanner, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Kopf kürzer machen, wenn man ihn ließe.«

»Ihre Ledernacken sind auch nicht gerade Unschuldslämmer«, erwiderte Tom und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich sehe da keinen großen Unterschied.«

»Ich schon«, entgegnete Lafour mit einem ironischen Grinsen. »Die Männer dort unten sind tief religiös. Sie glauben, dass ihnen der Himmel offensteht, wenn sie einen Ungläubigen töten. Ich wette mit Ihnen, dass sie keine Gnade kennen, wenn es darum geht, ihren Glauben zu verteidigen. Für diese Männer ist der Krieg erst gewonnen, wenn kein einziger Moslem mehr am Leben ist. Sie sind geborene Fanatiker, die allein ein Ziel haben – die absolute Verbreitung christlichen Glaubens, genau das, woran es unseren Soldaten im Irak und in Afghanistan fehlt.«

Tom ließ die Arme sinken, als ob er vor so viel Schwachsinn kapitulieren müsste, dabei schüttelte er verständnislos seinen braunen Lockenkopf, erwiderte aber nichts. Hannah wäre ihm dafür am liebsten an die Gurgel gesprungen. Feigling, dachte sie wütend. In den vergangenen Monaten hatte sie wieder und wieder versucht, Tom davon zu überzeugen, dass Gero und seine Ritterbrüder kultivierter waren als so mancher Mensch aus der heutigen Zeit und dass man sie sehr wohl auf die moderne Zivilisation loslassen konnte. Professor Hertzberg hatte ihre Meinung dabei in allen Punkten unterstützt. Leider erfolglos. Lafours Aussage zeigte eindeutig, wie sehr es ihm und seinen amerikanischen Auftraggebern an Respekt gegenüber den Zeitreisenden mangelte. Hannahs Wut auf den General steigerte sich so sehr, dass sie ihm am liebsten die Pistole vom Gürtel gerissen hätte, um seine von Orden geschmückte Brust zu zerfetzen.

Lafour und seine Verbündeten hatten nicht die geringste Ahnung von Geros Achtung vor Gott und dem Leben, hatte sie Hertzberg gegenüber immer wieder beteuert. Aus den vielen nächtlichen Gesprächen, die sie manchmal mit Gero führte, wusste sie, wie tiefgreifend |118|die Schuldgefühle waren, die ihn und seine Brüder quälten, wenn sie im Kampf einem Menschen das Leben genommen hatten.

»Wenn du den Tod eines Menschen verschuldest, macht das etwas mit dir«, hatte Gero ihr zu erklären versucht. »Du kannst das Gesicht des Sterbenden nicht mehr vergessen. Selbst wenn es aus Notwehr geschieht und du dich deiner christlichen Mission verpflichtet fühlst. Es ist, als ob deine Seele einen Pakt mit den Seelen der Toten eingeht, die sie für immer miteinander verbindet. Ihre Bilder erscheinen dir in der Nacht und klagen dich an. Du fühlst dich deiner Schuld regelrecht ausgeliefert und kannst nichts dagegen tun.« Danach hatte er sie nachdenklich angesehen. »Warum wohl«, gab Gero gelegentlich zu bedenken, »ist Abbitte in einer Kirche oder Kapelle zu leisten nach dem Atmen die zweithäufigste Tätigkeit eines Templers?«

»Denken Sie nicht, Sie sehen das etwas zu krass?«, wandte Tom ein, als ob er Hannahs Gedanken gespürt hätte.

Lafours Miene blieb unnachgiebig. »Schauen Sie sich die Typen doch an! Bernhard von Clairvaux hat sie nicht umsonst in den Heiligen Krieg geschickt. Hertzberg hat mir erzählt, dass man die Raubritter des elften und zwölften Jahrhunderts zu Kreuzrittern gemacht hat, weil sie von Europa ansonsten nur noch einen Scherbenhaufen übrig gelassen hätten.« Lafour lachte abschätzig. »Nein, Tom, wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, dass diese Männer nicht so sind wie wir. Dieser flämische Querkopf dort unten«, erklärte er und deutete auf Johan, der Tanner erneut mit ausgestrecktem Schwert von einer Ecke zur anderen trieb, »hätte beinahe einen unserer Reaktortechniker getötet, und das nur, weil er es gewagt hat, seine rothaarige Hexe anzusprechen. Und wenn ich mich recht erinnere, haben Sie Ihre Lektion auch schon gehabt.« Der Blick des Generals fiel für einen Moment auf Gero, der am Rande des Tartanfeldes auf einer Bank saß und den ungleichen Kampf zwischen Johan und Tanner mit amüsierter Miene beobachtete. »War es nicht der Ehemann Ihrer Ex, der Ihnen ein Messer an den Hals gesetzt hat und kurz davor war, Ihnen bei lebendigem Leib das Herz herauszureißen?«

»Na ja«, wandte Tom diplomatisch ein. » Er wollte mich nicht umbringen. Ich habe ihn provoziert. Es war meine Schuld. Ich denke, das Ganze war ein Missverständnis.«

»Das dachte ich von meinem Pitbull-Terrier auch, nachdem er mich |119|zunächst nur in den Finger gebissen hatte. Dann ist er mir irgendwann aus heiterem Himmel an die Kehle gesprungen. Ich hatte Glück, dass er ein Schockhalsband trug und ich stark genug war, ihn abzuwehren. Danach habe ich ihn einschläfern lassen müssen. Chronische Aggressivität – die Diagnose des Tierpsychologen. Genetisch veranlagt. Noch nicht einmal Medikamente zur Aggressionsunterdrückung konnten mir Sicherheit bieten, dass es nicht noch einmal passieren würde.« Lafour grinste süffisant und richtete seinen Blick erneut auf Gero und Struan. »Die Kerle sind durchgeknallt«, ergänzte er schlicht. »Sie stammen aus einer vollkommen anderen Welt. Es wäre sträflich, das zu vergessen. Sie haben das Töten bereits mit der Muttermilch eingeflößt bekommen, so etwas bringt man nicht mehr aus ihren Köpfen. Darüber hinaus fehlen ihnen ein paar Jahrhunderte an moralischer und psychischer Entwicklung.« Mit einer theatralischen Geste tippte sich Lafour gegen die Stirn. »Es ist wie mit den arabischen Terroristen. Die ticken auch nicht wie Sie und ich. Ihre geistige Entwicklung ist im Mittelalter stehengeblieben, und wir können das um nichts in der Welt ändern. Wenn Sie mich fragen, sind unsere Tempelherren aus dem gleichen Holz geschnitzt. Mit dem Unterschied, dass wir sie unter Kontrolle halten – noch. Geben Sie mir tausend von dieser Sorte, und im Irak und Afghanistan kehrt unverzüglich Ruhe ein.«

Tom räusperte sich. Ihm war anzusehen, wie abwegig er Lafours Gedankengang fand. »Soweit ich weiß, waren es die Kreuzritter, die Jerusalem verloren haben und nicht die Sarazenen.«

»Papperlapapp.« Lafour wischte Toms Einwand mit einer unwirschen Geste beiseite. »Das lag daran, dass die Christen zerstritten waren und ihnen die richtigen Waffen fehlten. Ich habe Hertzberg dazu befragt, und er muss es schließlich wissen.« Mit einem Nicken deutete er hinunter zu Gero und Struan. »Mit denen da unten ließe sich das vielleicht ändern.«

Tom sah den General begriffsstutzig an. »Wollen Sie mir damit etwa andeuten, dass ich Ihnen eine Horde von Kreuzrittern herbeitransferieren soll, damit wir den Krieg im Irak gewinnen?«

»Nein«, erwiderte Lafour mit ungeduldiger Stimme. »Eher umgekehrt. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat sich in unserer gestrigen Videokonferenz klar genug ausgedrückt. Er will, dass Sie diese beiden dort unten zusammen mit ihren drei anderen Kameraden so schnell |120|wie möglich in die Vergangenheit schicken, um einen Dritten Weltkrieg abzuwenden. Wenn wir die Araber vor achthundert Jahren besiegt hätten, müssten wir es heute nicht mehr tun. Wir rüsten unsere Templer mit den richtigen Waffen aus und geben ihnen noch ein paar Agenten der NSA hinzu, und schon ist das Schicksal unserer Erzfeinde besiegelt.«

Tom schüttelte den Kopf. »Sie mögen ja eine Menge Ahnung von Militärstrategien haben, aber die Physik überlassen Sie lieber mir. Warum, denken Sie, hat das Pentagon von der ursprünglichen Idee Abstand nehmen müssen, einen unserer Zeitreisenden ins Jahr 2001 zu entsenden, um den Anschlag auf das World Trade Center zu verhindern? Ich sage es Ihnen: Weil wir zu wenig über die Abläufe im Raum-Zeit-Kontinuum wissen, um ohne weitere Forschungsergebnisse eine Veränderung der Geschichte verantworten zu können. Das ist der Hauptgrund, warum wir die beiden Frauen finden und in unsere Zeit transferieren müssen. Sie sind die Einzigen, die uns lückenlos über die Zusammenhänge des Servers und seiner einzelnen Funktionen aufklären können. Solange uns grundlegende Erkenntnisse über die Auswirkung eines solchen Unternehmens fehlen, kann ich nur dringend davon abraten, unseren Templern bei einer möglichen Reise ins zwölfte Jahrhundert moderne Waffen mitzugeben. Hertzberg befürchtet, dass die Jungs wegen Zauberei verurteilt und geköpft oder verbrannt werden könnten. Außerdem weiß niemand, welche Auswirkungen ein solches Handeln auf unsere Zeit hätte. Obendrein steht noch nicht fest, ob ein erneuter Einsatz des Servers gelingt, erst recht nicht, ob er uns den gewünschten Erfolg bringen wird.«

Von unten war ein erneutes Aufstöhnen zu hören, gefolgt von einem angestrengten Keuchen, das von einem rasch aufeinanderfolgenden Klirren des Stahls begleitet wurde.

»Was immer Sie vorhaben«, raunte der General. »Die Schonzeit dieser Männer ist ab sofort zu beenden. Der Präsident drängt zur Eile. Bereits nächste Woche will er genaue Termine für einen Transfer vorliegen haben. Sie müssten es eigentlich besser wissen als ich. Schließlich lassen die Analysen der Timeserver-Dateien vermuten, dass uns in nicht allzu ferner Zukunft Chinesen und Inder überrollen und die USA zu einem versunkenen Atlantis verkommen, für das es keine Rettung gibt. Ohne genaues Wissen über die Gründe, die zu dieser Katastrophe führen werden, sind uns die Hände gebunden.«

|121|Tom stieß einen Seufzer aus. »Meine Exverlobte ist inzwischen mit Gero von Breydenbach verheiratet. Denken Sie ernsthaft, sie würde es zulassen, wenn wir ihren Ehemann und seine Leute wie Ihre tollwütigen Pitbulls in Käfige sperren und in einen achthundert Jahre zurückliegenden Kreuzzug schicken? Immerhin hat sie Hertzberg auf ihrer Seite.«

»Hertzberg hat seine Meinung schon vor Wochen geändert. Der Präsident hat ihn persönlich von der Notwendigkeit dieses Einsatzes überzeugt.« Lafour fasste Tom beim Ärmel seines Jacketts und zog ihn näher zu sich hin, dabei grinste er schmallippig.

»Und was Ihre Exfreundin davon hält, spielt in diesem Fall überhaupt keine Rolle. Sie kann kaum erwarten, dass wir auf diesen Barbaren Rücksicht nehmen, nur weil sie sich von ihm vögeln lässt.«

Tom verzog keine Miene und ließ sich von Lafour nicht aus der Reserve locken.

»So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist es nicht«, erwiderte er barsch. »Die Jungs müssen einverstanden sein. Wir müssen einige Laborchecks mit ihnen durchführen, ob sich ihre DNA in den vorgesehenen Zeitabschnitt einfügt. Dafür benötigen wir Männer, die mit uns kooperieren, sonst wird das nichts.«

Lafour hob eine Braue. Seine Haltung drückte aus, dass ihm Toms plötzliche Loyalität gegenüber den Templern ganz und gar nicht in den Kram passte. »Hertzberg hat sich unsere Kreuzritter vor wenigen Tagen im Auftrag des Präsidenten vorgenommen«, entgegnete der General kalt. »Zunächst Gero von Breydenbach als deren Sprecher und dann jeden Einzelnen von ihnen.«

Hannah glaubte sich verhört zu haben. Gero hatte nichts von einem Gespräch mit dem Professor erwähnt.

»Hertzberg hat unseren Templern gegenüber unmissverständlich klargestellt«, fuhr der General fort, »dass die Mission für die gesamte Menschheit von äußerster Wichtigkeit ist und sie gewissermaßen gezwungen sind, mit uns zu kooperieren, auch weil sie auf diese Weise vielleicht dazu beitragen können, Jerusalem zu retten – wenn auch verspätet. Außerdem habe ich ihm geraten, darauf hinzuweisen, dass wir ihnen im Falle einer Verweigerung diverse Annehmlichkeiten streichen müssen. Schließlich kostet es die Vereinigten Staaten von Amerika einen Haufen Geld, ihnen und ihren Gespielinnen ein Leben im mittelalterlichen |122|Luxus zu bieten. Allerdings scheint es dem alten Juden gelungen zu sein, Breydenbach und seine Brüder auch ohne Gewaltandrohung für unseren Auftrag zu begeistern. Schließlich wollen sie immer noch ihren Orden retten – und nichts anderes hat er ihnen in Aussicht gestellt. Unsere Aufklärungstrupps werden bereits in der nächsten Woche nach Jerusalem reisen und sich mit unseren Mittelsmännern in der amerikanischen Botschaft in Verbindung setzen, um einen Transfer in der Nähe des Tempelbergs vorzubereiten.« Lafour setzte eine abgeklärte Miene auf. »Also worauf warten Sie noch?«

Tom wandte sich genervt von Lafour ab, indem er sich mit starrer Miene auf dem Balkongeländer abstützte und seine Aufmerksamkeit den immer noch kämpfenden Männern widmete. Offenbar hatte er genug von der Unterhaltung mit dem General. Ein kurzer Blick genügte Hannah, um zu sehen, dass er blass geworden war. Lafour hatte sich ebenfalls wieder dem Kampfgeschehen zugewandt und tat so, als ob diese Unterhaltung nie stattgefunden hätte. Als Tom nach einer Weile von der Balustrade zurücktrat, um die Loge wortlos zu verlassen, zog Hannah sich hastig hinter den nächsten Pfeiler zurück.

Also stimmte es doch, dass man Gero und seine Kameraden für ein weiteres Experiment missbrauchen wollte, obwohl Karen Baxter und auch Tom alle Vermutungen in dieser Richtung dementiert hatten.

Hannah musste rasch etwas einfallen, um Gero und die anderen Brüder davon zu überzeugen, dass der geplante Einsatz ihren Tod bedeuten konnte. Sie würde mit Gero reden, sobald sich die passende Gelegenheit ergab. Doch zuvor würde sie Hertzberg aufsuchen. Es musste ihr gelingen, den Professor auf ihre Seite zu ziehen, indem sie ihn davon überzeugte, dass er seine liebsten Studienobjekte verlor, falls ihnen bei diesem Experiment etwas zustoßen sollte. Anstatt zur Tribüne zurückzulaufen, nahm Hannah den Weg nach draußen zu den Flachbauten der leitenden Mitarbeiter. Die Sonne ließ sie blinzeln, und die warme Luft des Nachmittags fuhr unter ihr knielanges Blümchenkleid. Eilig durchquerte sie einen kleinen Park mit Kastanienbäumen und hohen Buchen. Hertzbergs Büro war in einem Seitentrakt des Forschungsareals untergebracht, und erst nachdem er dem wachhabenden Offizier am Eingang die Erlaubnis gegeben hatte, durfte Hannah das Gebäude betreten.

Das buckelige Männchen erhob sich erstaunlich flink aus seinem |123|Sessel. Seine magere Gestalt versank regelrecht in dem hellgrauen Anzug, als er einen Schritt auf Hannah zuging und sie mit seinen kühlen, knochigen Händen so herzlich begrüßte, dass sie für einen Moment alle Vorwürfe vergaß. Die kleinen, braunen Augen lächelten freundlich, obwohl sich die Muskeln seines hageren, faltigen Gesichtes kaum bewegten. Sein schlohweißes Haar stand ihm unwirsch vom Kopf ab und unterstrich seinen störrischen, ungestümen Geist, der noch rege genug war, um es mit jedem jungen Wissenschaftler aufnehmen zu können.

»Mein liebes Kind«, stieß er mit einer großväterlich anmutenden Geste hervor, »was kann ich für dich tun?«

In den vergangenen Monaten, in denen Hertzberg als weltweit anerkannter Historiker die Templer und deren Frauen im Camp betreute, war man allgemein zu einer vertraulichen Anrede übergegangen, was jedoch nicht bedeutete, dass man sich wirklich nahegekommen war. Hannah war nicht sicher, ob Hertzberg in Wahrheit trotz aller Freundlichkeiten, die er an den Tag legte, lediglich interessante Forschungsobjekte in ihnen sah.

»Wir müssen reden!«, sagte sie, und ihr Ton verriet, dass sie nicht zu einem netten Plausch vorbeigekommen war.

»Setz dich doch«, sagte Hertzberg mit sanfter Stimme und deutete auf einen der beiden braunen Polsterstühle, die vor seinem Schreibtisch standen. »Tee, Kaffee oder ein Glas Wasser?« Seine mitfühlende Miene täuschte Hannah nicht darüber hinweg, dass der Professor offenbar die Seiten gewechselt hatte, wenn sie Lafours Ausführungen Glauben schenken durfte.

»Nur Wasser«, murmelte sie.

Der Professor verzichtete darauf, die Ordonnanz zu rufen, indem er einen einzelnen Knopf an seinem Telefon drückte. Er nahm eine Plastikflasche aus dem Kühlschrank, der neben seinem Schreibtisch stand, und goss stilles Wasser in ein Glas, das er zuvor auf den Tisch gestellt hatte. »Du siehst besorgt aus. Ist etwas vorgefallen?«

Hannah lächelte schwach. »Die Frage ist falsch gestellt«, erwiderte sie und trank rasch einen Schluck. »Sie müsste lauten: Hast du es zufällig herausbekommen, oder hat er dir gegenüber sein Schweigegelübde gebrochen?«

Zunächst reagierte Hertzberg verblüfft, doch dann verstand er anscheinend, worum es ihr ging.

|124|»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er abwehrend.

»Nein?« Sie lachte hell, doch plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte diesem alten Schuft vertraut, und nun konnte sie ihm mühelos ansehen, dass er ihr Vertrauen nicht wert war.

»Ich durfte soeben mehr zufällig erfahren, dass ein weiterer Einsatz der Templer mit dem Timeserver unmittelbar bevorsteht.« Ihre grünen, katzenhaften Augen funkelten den Professor herausfordernd an. »Und das mit deinem Wissen!« Ihre Stimme zitterte leicht. »Stimmt es, dass Gero und seine Männer bereits ihre Zustimmung zu diesem Einsatz gegeben haben?«

Hertzberg nahm seelenruhig eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus dem Wandschrank und goss sich einen Fingerbreit schottischen Whisky in ein Glas. Nachdem er einen ersten Schluck genommen hatte, schaute er zu ihr auf. »Auch einen?«, fragte er mit bemerkenswert neutraler Miene.

»Nein«, entgegnete sie scharf. »Denkst du wirklich, das würde es besser machen?«

Leicht verstört zog er sich in seinen Chefsessel zurück und nahm einen zweiten Schluck, bevor er zu einer Antwort ansetzte. »Es stimmt, was du sagst, und es hat keinen Sinn, es länger vor dir zu verheimlichen«, gab er unumwunden zu. »Früher oder später wärst du ohnehin dahintergekommen. Dabei herrscht im Moment sogar unter den beteiligten Wissenschaftlern eine strikte Nachrichtensperre. Mich würde interessieren, wer seinen Mund nicht halten konnte.«

»Lafour«, erwiderte Hannah mitleidslos. »Er hat mit Tom darüber geredet. Als ich von der Toilette zurückkam, konnte ich alles mitanhören.«

»Ausgerechnet Lafour?« Der Professor räusperte sich erstaunt. »Betont er nicht fortlaufend, Chef der geheimsten Truppe der Welt zu sein?! Wie kann er dann in aller Öffentlichkeit über solche Projekte sprechen?«

Hannah richtete sich auf. »Lafour ist vielleicht ein hirnloser Idiot«, urteilte sie scharf. »Aber viel schlimmer ist, was ich über dich erfahren musste.« Sie machte eine kleine Pause, als ob sie sich sammeln müsste. »Ich habe dir vertraut, weil ich hoffte, dass du auf unserer Seite stehst. Doch nun muss ich hören, dass du mit Leuten wie Lafour gemeinsame Sache machst.«

|125|»Gero und seine Männer haben dem Vorhaben zugestimmt«, verteidigte sich Hertzberg.

»Und kannst du mir auch verraten, warum?«

»Weil sie darin eine letzte Chance sehen, den Orden endgültig vor seinem Untergang zu bewahren. Dazu kommt die Rettung Jerusalems. Lafour hatte die Idee, dass man die Stadt bei einer erneuten Zeitreise auf ewig vor den Muslimen befreien könnte. Ich bin allerdings zusammen mit Gero der Meinung, dass man in einem erneuten Anlauf eine friedliche Allianz zwischen den drei monotheistischen Religionen vorantreiben könnte. Und weil das unser Ziel ist, können wir nicht zulassen, dass Lafour sich in einen Krieg einmischt, der achthundert Jahre zurückliegt, womöglich noch mit modernen Waffen.«

»Das ist purer Wahnsinn. Der General wird sich von dir nichts sagen lassen, und das weißt du auch!« Hannah hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. »Die Templer von damals wussten um die Zukunft, sie waren im Besitz des Servers«, sie begann vor dem Schreibtisch auf und ab zu wandern, »und doch haben sie nichts daran ändern können. Warum sollte es diesmal gelingen? Das Ganze ist so obskur, dass es von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Ich werde nicht zulassen, dass man meinen Mann für so eine Sache in den Tod schickt!« Ihr Blick hatte etwas von einer Rachegöttin und bei Gott, sie fühlte sich auch so.

»In erster Linie geht es dem Präsidenten darum, diese beiden Frauen zu finden und zu uns in die Gegenwart zu bringen.« Hertzberg war ehrlich bemüht, zum eigentlichen Ausgangspunkt der Diskussion zurückzukehren. »Das Einzige, was wir über die beiden Wissenschaftlerinnen wissen, ist, dass sie aus dem Jahre 2151 stammen und dass sie zwischen 1148 und 1153 – allem Anschein nach unbeabsichtigt – auf dem Tempelberg in Jerusalem untergebracht waren. Es wird nicht leicht sein, sie dort aufzustöbern. Der Tempelberg galt schon damals als ziemlich unübersichtlich und gut bewacht. Nur Eingeweihte durften das Areal betreten – oder Menschen, die zuvor einen Passierschein vom Orden erhalten hatten. Niemand wäre besser geeignet, als Gero und seine Brüder, den Templerorden zu dieser Zeit zu infiltrieren, um auf diese Weise zum Ziel zu gelangen.«

»Gero und seine Leute gehörten zum Orden, ja, aber sie stammen aus einer völlig anderen Zeit«, erwiderte Hannah zornig, »… sie waren noch nie zuvor im Heiligen Land und kennen sich dort ebenso wenig aus wie |126|du und ich. Sie in einer überaus fragwürdigen Mission zu opfern, bloß weil sie Templer sind, halte ich für barbarisch. Mittlerweile sind Gero und ich verheiratet und leben im einundzwanzigsten Jahrhundert und nicht in Zeiten der Kreuzzüge.« Hannah schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, dass es wehtat. »Er ist hier, um an meiner Seite ein normales, menschenwürdiges Leben zu führen. Er ist mein Ehemann und keine Laborratte!« Hertzberg wich erschrocken zurück, doch das störte Hannah nicht. »Er ist kein Ordensritter mehr«, stellte sie klar. »Das war einmal. Wann werdet ihr Amerikaner das endlich kapieren?«

»Hannah«, wandte Hertzberg beschwichtigend ein. »Erstens denkt dein Mann völlig anders. Tief im Herzen wird er immer ein Templer bleiben, ganz gleich, was noch geschieht, und zweitens befinden wir uns in einem Ausnahmezustand. Allem Anschein nach steht der Dritte Weltkrieg vor der Tür. Wenn das geschieht, was die Prophezeiungen des Servers vermitteln, werden auch eure Nachkommen davon betroffen sein. Zu denken, dass diese Zeitreisegeschichte zu keinerlei Konsequenzen führen würde, ist naiv. Du kannst nicht ernsthaft erwarten, dass die amerikanische Regierung die Tatsache ignoriert, dass man fünf Tempelritter mit einem futuristischen Zeitreisesystem in die Gegenwart transferiert hat. Sie wollen wissen, wie es dazu kommen konnte und ob die beiden Frauen in der Vergangenheit noch existieren. Schließlich tragen sie ein gewaltiges Geheimnis mit sich herum! Tom hat immer noch nicht das Energieantriebssystem des Servers vollkommen entschlüsseln können. Falls ihm das irgendwann gelingen sollte, hätte allein das weitreichende Konsequenzen für die zukünftige Energieversorgung unseres gesamten Planeten. Das Abenteuer ist also noch längst nicht vorbei – im Gegenteil, es hat gerade erst begonnen.«

Hertzbergs nüchterner Blick trieb Hannah zur Weißglut. Der Umstand, dass der Professor diesen Wahnsinn als gegeben akzeptierte und mit Argumenten zu Felde zog, denen sie kaum etwas entgegenzusetzen vermochte, zog ihr den Boden unter den Füßen weg.

»Was du ein Abenteuer nennst, bedroht mein Leben und meine zukünftige Familie«, bekannte sie bitter.

»Deine Haltung ist ziemlich egoistisch«, entgegnete Hertzberg erstaunlich ruhig. »Wenn eintrifft, was die Analysen des Servers hergeben, geht es nicht mehr um Einzelschicksale. Es betrifft alle, die das Leben in einer Demokratie zu schätzen wissen.«

|127|»Demokratie?« Hannah lachte schrill auf. »Du wagst es, die Vorgehensweise der Amis uns gegenüber als demokratisch zu bezeichnen?« Sie war fassungslos.

Hertzberg, der ihre Gefühlslage mühelos einschätzen konnte, versuchte gegenzulenken. »Gero und seine Männer werden Jerusalem sehen. Etwas, von dem sie immer geträumt haben, das ihnen aber nie vergönnt war.«

Hannah ließ sich in einen der Sessel fallen und rang nach Atem. »Dieses Vergnügen hätte man ihnen längst bereiten können«, fauchte sie aggressiv. »Dafür reicht ein First Class Flugticket der EL AL und ein Touristenarrangement, das sie zu sämtlichen religiösen Stätten führt, die das Heilige Land zu bieten hat. Dann könnten sie sich selbst davon überzeugen, dass dort heutzutage drei Weltreligionen unter einer Verwaltung leben und es nichts mehr gibt, was noch zu retten wäre.«

»Du verstehst es nicht«, versuchte Hertzberg sie zu überzeugen. »Gerade die heutige Situation ist alles andere als zufriedenstellend. Es vergeht kein Tag, an dem es in Israel keine Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslimen gibt. Was letztendlich zu dem angekündigten Desaster führen wird. Und die Christen spielen faktisch keine Rolle in diesem Land. Von Frieden und Ausgleich kann also kaum die Rede sein. Ich denke, wenn Gero in der Zeit zurückreist und den richtigen Männern im Orden erklärt, wie die Zukunft tatsächlich aussieht, kann die Eroberung der Stadt durch die Sarazenen verhindert und eine friedliche Einigung zwischen Christen, Muslimen und Juden erzielt werden, die das Gleichgewicht der Kräfte auf ewig herstellen wird.«

»Das sind völlig ungesicherte Erkenntnisse«, entgegnete Hannah. »Niemand weiß, ob und wie sich etwas verändern wird. Ich aber weiß, dass dort, wo man sie hinschicken will, reines Chaos herrscht. Menschen schlachten sich gegenseitig mit archaischen Waffen ab, es gibt Seuchen, aber kaum ernstzunehmende medizinische Hilfe. Ich habe das alles im vierzehnten Jahrhundert selbst erlebt. Von Toms unausgegorener Technik, die alles andere als zuverlässig ist und die Probanden ebenfalls töten kann, ganz zu schweigen.«

»Die Amerikaner haben an alles gedacht.« Hertzberg schaute für einen Moment zu Boden. »Der Einsatz wird von einem Sicherheitsteam begleitet, das jederzeit medizinische Hilfe auf höchstem Niveau |128|leisten kann. Lafour hat dabei an Tanner und Tapleton gedacht. Sie besitzen eine fundierte Sanitätsausbildung, und er will sie zudem mit modernen Waffen ausstatten, damit sie sich adäquat verteidigen können, falls es zu einer aussichtslosen Situation kommen sollte.«

»Das bedeutet, es gibt tatsächlich niemanden, der diesen Wahnsinn verhindern will?« Hannah stand auf und ging zur Tür. Sie fürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen, so elend fühlte sie sich.

»Es tut mir leid«, erwiderte Hertzberg mit ausdruckslosem Gesicht. »Die Maschine ist längst angelaufen, und nur ein Wunder könnte sie stoppen.«