21
»Ich dachte, sie würde zu ihnen gehören«, murmelte Hank.
Chris hielt ihre Tochter fest in den Armen und konnte nicht zu weinen aufhören.
»Mom«, sagte Darcy, »du tust mir weh.«
Sie weinte ebenfalls. Genau wie das Baby, das Chris Hank übergeben hatte, nachdem er beinah Darcy getötet hatte. Dieser Tritt … er hätte ihr das Genick gebrochen.
Wenn Chris nicht geschrien hätte.
Wenn Hank nicht so schnell gewesen wäre, so gewandt, dass er sich mitten in dem tödlichen Tritt drehen und seinen Fuß an Darcys Ohr vorbei ins Leere schießen lassen konnte.
»Mom.«
»Entschuldigung.« Sie ließ Darcy los.
Darcy drehte sich um und lief in die Arme eines großen Mannes, der nichts als eine Unterhose trug. Er strich über ihr Haar, ihren Rücken.
»Was hat er mit dir gemacht?«, fragte Darcy den Mann, der sie hielt.
»Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist irgendwo gegengeschlagen. Ich dachte, ich habe ihn, und dann … Geht’s dir gut?«
»Das soll wohl ein Witz sein«, sagte sie und schluchzte.
»Du hast mir das Leben gerettet«, entgegnete er.
»Sieht so aus. Meine Hand wird nie wieder so wie vorher sein.«
»Ich liebe dich, Darcy.«
Wer ist dieser Mann?, fragte sich Chris.
Hank klopfte ihr auf die Schulter. Sie drehte sich zu ihm um, und er reichte ihr das Baby.
»Paula«, sagte er.
Dieses eine Wort genügte, um Chris’ Freude und Erleichterung schwinden zu lassen.
Darcy wandte sich von dem anderen Mann ab. »Paula?«, fragte sie.
»Meine Tochter«, sagte Hank.
Darcy verzog den Mund, sagte jedoch nichts.
»Was ist?«
»Sie war … Sie waren zusammen.« Darcy nickte zu der Leiche des Jugendlichen.
»Ist das Kyle Mordock?«, fragte Hank.
Sie nickte erneut.
Chris sah Schmerz in Hanks Augen aufsteigen.
Er hob die Laterne auf und rannte los.
Chris stürmte ihm hinterher. Wir lassen sie im Dunkeln zurück, dachte sie. Sie hatte den Rucksack voller Taschenlampen, doch sie hielt das Baby in den Armen, deswegen konnte sie ihn nicht absetzen. Aber sie hörte, dass die beiden ihnen folgten.
Bitte, lass mit Paula alles in Ordnung sein, dachte Chris beim Laufen. Gott sei Dank hat Darcy es überstanden, auch wenn sie verletzt ist. Es wäre ungerecht, wenn Hank Paula verlieren würde.
Aus der Dunkelheit vor ihnen drangen klagende Geräusche.
Es ist schlimm da vorne, dachte sie.
Aber Hank ist so großartig. Er wird jeden erledigen, der sich uns in den Weg stellt. Er wird uns zu Paula bringen.
Bitte, lieber Gott, lass Paula noch leben.
Hank ist ein guter Mann. Er hat getötet, aber er hatte keine Wahl. Er verdient es nicht, sie zu verlieren.
Sie lief schneller. Das Baby in ihren Armen weinte nicht mehr; es zupfte an ihrem Ohr.
Sie holte Hank ein.
Seite an Seite, Darcy und Greg nicht weit hinter sich, rasten sie durch die Höhle. Vor ihnen wartete auf Hank eine schreckliche Tragödie oder große Freude. Egal was, Chris würde ihm beistehen.
In beiden Fällen, sagte sie sich, werden wir zusammen sein.
Das ist auch was wert.
Die gepeinigten Rufe wurden lauter, doch Chris bemerkte, dass keine Schreckensschreie aus der Dunkelheit hinter dem Schein von Hanks Laterne drangen.
War es vorbei? Waren die Bestien aus dem bösen Teil der Höhle besiegt oder getötet worden? Oder hatten sie sich nur zurückgezogen? Kamen sie ihnen entgegen?
Als sie um eine Kurve rannten, sah sie Licht vor sich. Das Flackern eines halben Dutzends kleiner Feuer. Sie sah bei den Feuern Leute stehen, die Hemden und Pullover in die Flammen warfen. Andere irrten herum, als hätten sie sich verlaufen. Einige hatten sich in kleinen Gruppen zusammengekauert. Nicht wenige lagen ausgestreckt auf dem Boden, manche allein, andere umsorgt von Leuten, die neben ihnen hockten. Wieder andere wurden gehalten, beweint, betrauert.
Gesichter wandten sich ruckartig dem hellen Schein von Hanks Laterne zu. Chris hörte erschrockenes Keuchen, kurze Schreie, Warnrufe. Hank blieb abrupt stehen. Sie stoppte neben ihm und nahm seinen Arm.
»PAULA!«, rief er.
Schweigen senkte sich über die Gruppe.
Einige Männer näherten sich langsam und geduckt, als bereiteten sie sich auf einen Kampf vor.
»PAULA?«, rief er erneut.
Eine schwache, vorsichtige Stimme antwortete: »Dad?«
Hinter einem Mann mit nacktem Oberkörper, der mit einer Frau in der Nähe des anderen Endes der Kammer stand, trat ein Mädchen hervor. Ein Mädchen mit dichtem langem Haar, das goldbraun im Feuerschein leuchtete. Ein Mädchen in einem karierten Hemd, das ihr viel zu groß war. Beim Gehen schlackerten die Ärmel unter ihren Händen, und die Schöße bedeckten die nackten Oberschenkel.
»Dad!« Ihre Stimme hallte nun froh und erwartungsvoll durch die Höhle, und sie rannte plötzlich, bahnte sich einen Weg durch die Überlebenden, und Hank reichte Darcy die Laterne und stürmte ihr entgegen.
Hank blieb stehen. Seine Tochter nicht. Sie warf sich an seine Brust. Chris hörte den leisen Aufprall, und Tränen verschleierten ihren Blick, als Hank das Mädchen an sich drückte und dann im Kreis herumwirbelte.
Darcy weigerte sich, in einen Krankenwagen zu steigen. Sie stand, in eine Decke gewickelt, in dem nassen Schutt am oberen Ende des Aufzugsschachts und sah zu, wie das Drahtseil von der quietschenden Trommel der Winde rollte. Es sollte mittlerweile fast unten angekommen sein. Doch es bewegte sich schrecklich langsam.
Sie hatte vorgehabt, als Letzte die Höhle zu verlassen. Das war nur recht und billig, schließlich war sie die Führerin. Zuerst wurden die Verletzten geborgen. Dann schnallten sich die Übrigen, einer nach dem anderen, in dem Gurtzeug fest und wurden hinaufgezogen, bis nur noch Darcy und Greg übrig blieben. Die Laterne hatte kein Petroleum mehr. Sie standen beisammen, und nur die Strahlen ihrer Taschenlampen hielten die Dunkelheit in Schach.
Greg bestand darauf, dass sie vor ihm die Höhle verließ.
Auch gut. Pflicht schön und gut, aber der Gedanke, dort unten mit nichts als einer Taschenlampe allein zu sein, gefiel ihr nicht. Allein, abgesehen von den Leichen.
Nun erklang leise eine Stimme aus der Tiefe des Schachts: »Ich hab’s.«
»Er hat es«, wiederholte der Feuerwehrmann, der an der anderen Seite des Lochs kniete.
Darcy hörte die Winde klacken, als sie die Richtung umkehrte.
Das Drahtseil begann, sich langsam aufwärtszubewegen.
Darcy stellte sich vor, wie Greg in dem Gurt hing und hochgehoben wurde.
Sie trat dichter an die Kante heran und spähte in den Schacht. Das schwache Licht der Abenddämmerung verblasste ein paar Meter unterhalb der Oberfläche, und sie sah nur das aufwärtskriechende Seil.
»Yeeyahhh! Nein! O Gott!«
Darcy stockte der Atem.
Das Seil ruckte, bebte, schwang.
»GREG!«, schrie sie. Darcy warf die Decke ab und sprang. Sie erwischte das aufsteigende Seil, klammerte sich mit den Beinen daran und wollte hinunterrutschen. Das Seil brannte wie Feuer an ihrer zerstochenen Hand und dem aufgerissenen Oberschenkel.
»Scheiße!«, brüllte der Feuerwehrmann und packte sie. Er zerrte sie vom Seil, zog sie vom Schacht weg und umklammerte sie von hinten, während sie versuchte, sich zu befreien. »Beruhigen Sie sich«, grunzte er. »Mein Gott, sind Sie verrückt geworden?«
»Greg!«
Sie entwand sich dem Mann und huschte über das verkohlte Geröll zur Kante des Schachts, bis er die Arme um ihre Oberschenkel schlang, ihren Hintern an seine Brust drückte und sie aufhielt.
Keuchend starrte sie in das Loch.
Aus der Dunkelheit tauchte Greg auf, der, mit dem Kopf nach unten, gekrümmt im Gurtzeug hing.
Darcy hörte ihn stöhnen.
Er wurde aus dem Schacht gehoben, nackt bis auf die Unterhose, und umklammerte seine rechte Wade. Blut lief unter seinen Händen hervor.
Der Feuerwehrmann ließ Darcy los. Sie taumelte auf Greg zu und zog ihn vom Rand des Schachts weg. Während sie ihn umarmte, befreiten ihn andere aus dem Gurt. Sie hielt ihn fest, als er weggetragen und ins Gras gelegt wurde.
Sanitäter lösten seine Hände von dem blutverschmierten Bein. Darcy sah, dass ein Stück losgerissene Haut von der Rückseite der Wade herabhing.
Der kleine Zeh war verschwunden.
»O Gott«, murmelte Darcy. »Was …?«
Greg schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war blass, verschwitzt und schmerzverzerrt. »Sie haben mich gebissen. Sind aus der Dunkelheit gekommen und …«
»Sie waren tot«, stieß Darcy hervor.
»Andere. Zwei. Vielleicht auch drei. Nicht die Toten. Andere. Ich weiß nicht, wo sie hergekommen sind.«
»Um die werden wir uns kümmern«, sagte jemand hinter Darcy. Sie blickte über die Schulter und sah einen hünenhaften Sheriff, der sich hinabbeugte und Greg ansah. Er blickte ihr in die Augen, dann richtete er sich zu voller Größe auf und wandte sich ab. »Clement! Groves! Baker! Standish! Holt die Pumpguns, wir gehen runter. Beeilt euch! Wir müssen da unten aufräumen!«
Darcy neigte sich nah zu Greg hinunter. Mit der unverletzten Hand streichelte sie seine kühle, glatte Stirn. »Das wird schon wieder«, flüsterte sie.
»Bei dir auch.« Er versuchte zu lächeln. Sein Kinn zitterte.
»Mir wird es prima gehen«, sagte Darcy.
»Mir auch.«
Sie beugte sich tiefer hinab und fühlte die milde Abendbrise an ihren nackten Beinen, spürte, wie sie durch ihren dünnen Schlüpfer drang, wusste, dass sie von Feuerwehrleuten und Sanitätern, von Überlebenden und Schaulustigen und sogar ihrer Mutter beobachtet wurde.
Aber nicht von Kyle.
Es kümmerte sie nicht, was sie sahen.
Auf Knien ließ sie sich auf Greg sinken. Sie spürte seinen Atem an ihren Lippen. »Jetzt gehörst du mir«, flüsterte sie.
»Mir fehlt ein verfluchter Zeh.«
»Das war auch mein Lieblingszeh.«
»Liebst du mich trotzdem?«
»Und wie«, sagte sie und bedeckte seinen Mund mit ihren Lippen.